Prolog

Er war nicht wirklich unser Bruder, und ich wurde jedesmal wütend, wenn jemand ihn so nannte. Früher habe ich es mir immer gewünscht, ich wollte einen Bruder wie ihn haben, ich wollte so sein wie er, aber mit der Zeit hat sich das geändert, ich habe mich geändert - und er auch. Ich war es leid, daß er mein Vorbild sein sollte, und mochte er zehnmal so stark und so schön und so klug sein wie ich, und mochte er noch so hart arbeiten, ich wußte es besser. Mein sogenannter Bruder war nicht ganz richtig im Kopf, und immer wenn er durchdrehte, war ich derjenige, der ihn suchen gehen mußte. Als ob ich nichts besseres zu tun hatte!
Abgesehen von ihm, waren wir fünf richtige Geschwister: Mein Bruder Edrik und meine Schwester Noran und ich und Harkon und Alsa. Das reicht völlig aus - hätten unsere Eltern mehr Kinder gebraucht, hätten sie selbst welche bekommen können. Varyn war nichts als der Bastard unserer Tante. Sie starb bei der Geburt, und niemand wußte, wo der Vater war, und wenn ich sehe, was aus Varyn in der letzten Zeit geworden ist, bin ich auch ganz froh darüber… Seine Mutter war nicht einmal die richtige Schwester unseres Vaters. Sie war ein Findelkind, das eines Tages auf der Türschwelle lag, und da es in unserer Familie einen stark überzogenen Hang zur Mildtätigkeit gibt, wurde sie gleich an Kindes statt aufgenommen. Unsere Eltern machen es sich so einfach: Zu essen bekommt nur, wer auch dafür gearbeitet hat, und das gilt, von den ganz Kleinen abgesehen, für alle, auch für Findlinge und Bastarde.
Wenn er verschwand, passierte es immer auf die gleiche Weise, und immer, während wir schliefen. Seit zwei Jahren versuchten wir beide, unsere - meine ‑ Eltern davon zu überzeugen, daß es, wenn wir schon im selben Bett schlafen mußten, besser war, uns in verschiedene Schichten zu stecken. Aber nein, wir mußten immer alle zusammen arbeiten, alle sechs, und alle gleichzeitig schlafen. Es gab wahrscheinlich auf der ganzen Welt niemanden, der so laut schnarchte wie Varyn. Er schnarchte nicht - außer, wenn er zuviel getrunken hatte, und dann schnarcht jeder - aber er redete im Schlaf. Manchmal schrie er auch, und natürlich weckte er mich jedesmal damit auf. Dann schlug und trat er um sich, bis er oder ich - üblicherweise natürlich ich - aus dem Bett fiel. Dann wachte er auf, oder ich schlug so lange auf ihn ein, bis er wach wurde, und dann fragte ich ihn, was war, und er sagte: »Nichts.« Ich fragte nicht mehr weiter, wir legten uns wieder schlafen, und irgendwann weckte mich ein Geräusch auf, zum Beispiel Edrik, der zu schnarchen anfing, und ich lag alleine im Bett. Varyn war weg.
Das war dann jedesmal der schönste Moment der Nacht, denn dann konnte ich mich einmal richtigausstrecken und das Bett für mich allein haben und so tun, als ob es nie einen Varyn gegeben hätte.
Aber dann dämmerte der Morgen, Mutter scheuchte uns aus den Betten, und ich war immer noch allein.
»Gaven, wo ist dein Bruder?«
Schulternzuckend zeigte ich auf Edrik und Harkon, und bekam eine Ohrefeige.
»Du suchst ihn - sofort!«
»Kann ich mich erst noch anziehern?« Und noch eine Ohrfeige. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie Varyn zuletzt geschlagen hätten. Wahrscheinlich habe ich gerade die passende Größe, daß sie sich nicht die Arme dafür verrenken müssen…
Ich zog mir also meine Hosen an und lief raus, um den Blödmann zu finden. Wo sollte er schon hingelaufen sein, im Hemd, mitten in der Nacht? Ich suchte ihn hinter dem Haus, im Hühnerstall und auf dem Klo. Natürlich nichts. Ich wollte nicht noch mehr Zeit verlieren, ich wußte genau, daß sie nicht mit dem Frühstück auf mich warten würden, und mit dem Beginn der Schicht auch nicht. Also versuchte ich, so wie er zu denken, und bekam sofort Kopfschmerzen. Es stimmt, daß Varyn klüger ist als wir, das haben wir auch schon oft genug zu hören bekommen, seit er angefangen hat, überall die Zeichen hinzumalen, die er sich ausgedacht hatte - Achtung, Einsturz und Gute Ader und derganze Rest, er hat sie uns allen beigebracht, ob wir wollten oder nicht. Alle Leute haben schon früher immer gesagt, daß er etwas besonderes ist - dann sage ich ihm, ich weiß, daß er etwas besonderes ist, er ist der einzige Bastard in unserer Familie - und was tut Varyn daraufhin? Nicken.
Ich brauchte einen Moment, bis ich auf die Idee kam, ihn im Toten Mann zu suchen, dem alten, stillgelegten Stollen, aber das sah ihm wieder einmal ähnlich, und da war er dann auch. Er hockte mitten im Dunkeln, ich konnte ihn gerade so eben erkennen, aber wer hätte er auch sonst sein können?
»He, Schlafwandler!« rief ich. »Wenn du auf dein Frühstück verzichten willst, in Ordnung, aber wenn es darum geht, dich vor der Arbeit zu drücken…«
»Ist die Nacht vorbei?« rief Varyn zurück.
Ich verdrehte die Augen. »Komm raus und sieh nach! Du bekommst noch zwei Ohrfeigen von mir!«
Varyn kroch aus dem Stollen, schmutzig von oben bis unten. Sein Gesicht war, soweit ich das erkennen konnte unter dem Kohlenstaub, in dem er sich offenbar gewälzt hatte, ernst. »Weil ich nicht da war?« fragte er. Ich nickte grimmig. Er biß die Zähne zusammen. »Das ist nicht gerecht. Also gut, schlag mich!«
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, aber ich fühlte mich mies dabei. Varyn mußte immer ekelhaft gerecht sein. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als er unser König war, als er zwei Jungen, die mich verprügeln wollten, packte und mit den Köpfen zusammenschlug, bis sie schrien und versprachen, es nie wieder zu tun - natürlich versuchten sie es doch wieder, aber Varyn verpaßt ihnen jedesmal eine blutige Nase. Er schreckte nicht davor zurück, Edrik zu verteidigen, obwohl der fast ein ganzes Jahr älter war, und wehe dem, der es gewagt hätte, unsere Schwestern - die Große oder die Kleine, egal - auch nur schräg anzusehen! Es war praktisch, aber auch damals schon lästig, denn wenn Harkon mich ärgerte und ich ihn dafür schlug, ging wieder Varyn dazwischen, und dann sah es schlecht für mich aus - »Wenn ich noch einmal sehe, daß du einen Jüngeren schlägst -«, schrie er, und ich mußte mich ducken, um seinen Ohrfeigen auszuweichen. Er war zwei Jahre älter als ich, aber das war natürlich egal.
Eigentlich war Varyn schon damals komisch, aber er war unser Bruder, und wir waren stolz auf ihn. Er war größer als Edrik, beinahe so groß wie Vater, und auch ebenso stark, schon als er dreizehn Jahre alt war. Jetzt bin ich selbst so alt, und wenn ich daran denke, was er alles schon damals konnte und durfte, werde ich wütend. Mutter sagt, wir sollen uns nicht beschweren, wenn wir nur neidisch sind, aber das hat nichts mit Neid zu tun. Varyn war einfach in allem was er anfaßte, perfekt, und irgendwann, als wir keinen König mehr brsuchten, hatten wir die Nase voll von ihm.
Aber dann wurde er schlimmer. Er fing an, auf uns loszugehen, entschuldigte sich hinterher mit vielen Worten und hieß uns ihn schlagen, aber wir wunderten uns nicht weiter. Schließlich hatten wir schon bei Edrik gesehen, was passierte, wenn ein Junge den Rest der Welt davon überzeugen wollte, daß er jetzt ein Mann war. Doch es war wie mit allem, was Varyn anfangen mußte: Er übertrieb. Maßlos.
Dann eines Tages, als wir zusammen an der Flöz arbeiteten - Edrik und Varyn als Hauer, und Noran und ich, um das Geröll wegzuschaffen - ließ Varyn plötzlich die Hacke fallen, kippte zur Seite und krümmte sich zusammen. Wir sprangen zu ihm hin, weil wir dachten, daß er sich verletzt hatte, aber er blutete nicht - und überhaupt war Varyn der letzte, der mit der Spitzhacke ausrutschen würde - lag nur da, zuckte, verdrehte die Augen und gurgelte.
»Varyn!« schrie Noran und schüttelte ihn - wir hatten eigentlich gedacht, sie wird eines Tages seine -Frau, aber das ist jetzt sicher das letzte, was sie will. Varyn reagierte nicht.
Wir schlugen auf ihn ein, spritzten ihm Wasser ins Gesicht - schließlich war es das erste Mal, daß es passierte, und wir machten uns wirklich Sorgen um ihm. Irgendwann hörte Varyn auf zu zucken und atmete wieder normal, er hatte schon richtigen Schaum vor dem Mund. Aber er sah uns nicht an, kniff nur die Augen zusammen und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
»He, ist alles in Ordnung?« fragte wir, aber er fegte nur unsere Hände beiseite mit flatternden Bewegungen, und er schüttelte den Kopf, und alles, was er sagte, war: »Nein, nein!«
Wir wollten laufen und einen Erwachsenen holen, aber dafür sah es nicht schlimm genug aus, und wir wollten nicht, daß irgend jemand von dem Anfall unseres Bruders erfuhr.
Endlich hörte Varyn auf zu zappeln, stand auf, nahm seine Hacke, und als wäre nichts gewesen, schlug er auf die Flöz ein wie Besessener. Er sprach kein Wort, bis unsere Schicht vorbei war, und selbst dann konnten ihn nicht dazu bewegen, aufzuhören. Edrik und Noran gingen, doch ich blieb bei Varyn, weil schließlich einer das Geröll wegschaffen mußte, und weil ich endlich wissen wollte, was los war. Aber ich habe es nie erfahren, bis heute nicht.
Danach hörte Varyn auf, unser Bruder zu sein, und wurde zu etwas, für das wir uns schämen mußten.

Wenn er in der Nacht verschwand, konnte man ihn am anderen Morgen immer im Toten Mann finden, und ich gewöhnte mich daran, alle paar Tage in aller Frühe durch die Gegend zu rennen, um Varyn zu holen.
»Zieh doch um!« fuhr ich ihn an. »Nimm dir eine Decke und leg dich gleich im Stollen schlafen, wenn du so gerne hier bist. Du arbeitest doch sowieso, bis du umfällst!«
»Gaven«, sagte Varyn ruhig, »wenn man dich ließe, würdest du überhaupt nicht arbeiten, und ich rede dir auch nicht rein.«
Ich starrte ihn an, mein Gesicht brannte vor Wut, nicht einmal so sehr wegen seiner Worte, sondern wegen seines Tonfalls - als wolle er mich los sein, als ob ich es nicht wert war, daß er seine Stimme anstrengte. Ich suchte nach Worten. Und dann sagte ich das, was ihn, so hoffte ich, am Härtesten treffen würde: »Du bist nicht gerecht!«
Varyn zuckte die Schultern. »Wir können nicht immer gerecht sein.«
Es fühlte sich an wie eine Ohrfeige, obwohl ich lieber eine richtige bekommen hätte. Ich hob meine Laterne - ich hatte dazugelernt, nahm jetzt immer eine Laterne mit, wenn ich Varyn suchen ging, ebenso wie er sich jetzt nachts anzog, bevor er verschwand - und leuchtete ihm ins Gesicht.
Varyn blinzelte und nahm seine Hand hoch, um seine Augen zu schützen. Seine Augen würden immer verraten, daß er keiner von uns ist, und am meisten fällt es auf, wenn sein Gesicht schwarz vor Staub ist, so wie in diesem Moment. Meine Geschwister und ich, wir haben alle dunkle Augen, fast schwarz, wie unsere Haare. Varyns Haare waren nicht schwarz - ich kann nicht einmal sagen, welche Farbe sie eigentlich hatten, meistens waren sie einfach nur schmutzig - aber seine Augen konnte die Kohle nicht ändern. Sie waren von einem sehr hellen Grau, fast farblos, nur wenn er wütend war, wurden sie dunkler. Aber in diesem schwarzen Gesicht sahen sie gespenstisch aus, wie die Augen eines blinden Mannes. Sie waren blutunterlaufen. Ich weiß nicht, was Varyn tut, wenn er sich nachts in den Toten Mann setzt, aber schlafen tut er sicher nicht.
»Du hast heimlich getrunken, stimmt's?« fragte ich bissig.
Er schüttelte den Kopf, und seit erstem Mal seit langem sah ich ihn wieder lächeln. »Ich bin zu alt, um es heimlich tun zu müssen.«
»Angeber!« knurrte ich, aber er hatte Recht. Edrik und er konnten Abends mit den Männern trinken gehen und taten es auch oft genug; sie wetteiferte, wer mehr vertrug, und natürlich war es immer Varyn, der gewann. Einmal haben sie mich mitgenommen, und ich habe die halbe Nacht lang gekotzt. Varyn blieb auf und kümmerte sich um mich, und am anderen Morgen, als ich alles konnte außer aufstehen und frühstücken, sagte er zu Mutter: »Laß den heute mal schlafen, Tante - ich habe letzte Nacht zuviel getrunken, und er hat mich wieder auf die Beine gebracht - euer Mittlerer ist einer, auf den könnt ihr stolz sein.« Ich bezweifele, daß Mutter ihm das glaubte, denn ich war doch sehr offensichtlich grün im Gesicht, aber sie akzeptierte die Erklärung. Varyn bekam kein Frühstück, und bis ich am Nachmittag auf den Beinen war und zu arbeiten anfangen konnte, hatte er tatsächlich schon fast soviel geräumt, wie ich in der Zeit geschafft hätte. Edrik sagte zu dem ganzen nichts, und obwohl er genausoviel Schuld hatte wie Varyn - oder genausowenig, denn letztendlich war ich derjenige, der gebettelt und mitgewollt hatte - kam er nicht auf die Idee, Varyn zu helfen oder sich zu entschuldigen. Aber es hatte auch niemand Varyn gezwungen, für mich zu lügen und alles auf sich zu nehmen.
Und jetzt, vielleicht ein Jahr später, aber mehr bestimmt nicht, standen Varyn und ich uns am Eingang vom Toten Mann gegenüber, und er war nicht mehr mein Bruder.
»Gaven«, sagte er wieder in diesem gelangweilten Tonfall - aber vielleicht tat ich ihm auch Unrecht, vielleicht war er einfach nur müde - »wenn du vor der Arbeit noch etwas in den Magen bekommen willst, solltest du dich besser beeilen.«
»Und du?« fragte ich.
»Ich komme nach.«
Ich schüttelte den Kopf. »Dann warte ich auf dich.« Ich wußte selbst nicht, wie ich dazu kam - ich wollte endlich frühstücken und nicht hier draußen rumstehen, aber wenn ich Varyn holen ging, dann kam ich auch mit Varyn zurück. Ich hatte Angst, er könne noch länger hier bleiben, bis es hell war, und irgend jemand könne vorbeikommen und ihn sehen. Es reichte mir, was man sich im Dorf über Varyn erzählte, seit wir seine Anfälle nicht länger verheimlichen konnten. Wir haben alles getan, um ihn - und vor allem uns - zu beschützen; wenn er durch die Gegend rannte und wirres Zeug redete, haben wir gesagt, gebt nichts darum, der hat zuviel getrunken - aber die Leute im Dorf denken zuviel und arbeiten zuwenig. Zumindest das Letzte stimmt - kein anderer Junge, abgesehen von denen, die Vater in der Mine beschäftigt, arbeitet so viel wie ich. Wir sagen immer, wir sind stolz, daß wir alle so hart arbeiten können, aber in Wirklichkeit wäre ich natürlich lieber nicht ganz so stolz und hätte dafür mehr Zeit für mich.
Jedenfalls kam eines Tages Pavlik, der Junge vom Schmied, zu mir- er ist ungefähr so alt wie ich, nur natürlich größer - und sagte: »He, stimmt es, daß euer Bruder Gesichter hat?«
Ich stellte mich erst mal dumm. »Welcher Bruder?« Das Komische ist, wenn die Leute sagen 'Dein Bruder', meinen sie niemals Harkon oder Edrik. Immer nur Varyn.
Und natürlich sagte Pavlik: »Welcher schon? Varyn natürlich.«
»Der ist nicht mein Bruder«, spie ich zurück.
Pavlik lachte. Er hatte, wie alle anderen, den Respekt vor Varyn verloren. Früher meinten wir Varyn, wenn wir sagten 'Dann hol ich meinen großen Bruder', aber auch das hat sich geändert.
»Und hat er Gesichter?« fragte Pavlik höhnisch.
Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte - konnte schlecht ja sagen, aber ein Nein hätte bedeutet, Varyn zu verteidigen, und dazu hatte ich keine Lust - als von der Seite her jemand antwortete: »Ja.«
Pavlik und ich drehten den Kopf - es braucht nicht viele Worte, um Varyns Stimme zu erkennen, sie ist anders als unsere, ziemlich leise und immer etwas heiser vom Kohlenstaub, aber eigentlich eine schöne Stimme. Varyn war der einzige von uns, der singen konnte.
Da stand also Varyn und blickte uns an, und ich wußte nicht, seit wann schon und wieviel er gehört hatte. Aber Pavlik hörte auf zu lachen - das traute er sich offenbar doch nicht, denn er ist zwar größer und stärker als ich, doch Varyn ist größer und stärker als er, und er hat ihn im Lauf der Jahre oft genug verprügelt. Er fragte nur: »Wirklich?«
»Ja«, sagte Varyn noch einmal. »Zwei. Ein sauberes und ein schmutziges. Das bringt die Arbeit mit sich.« Dann grinste er mir zu und sagte: »Komm, Mittlerer, wir gehen.«
Mir gefiel, was er gesagt hatte, es war das Beste seit langem, und er hatte mich wieder Mittlerer genannt, wie damals, als er mein Bruder war - und so hakte ich mich bei ihm ein und ging mit ihm nach Hause. Ich drehte mich nur noch kurz zu dem verdatterten Pavlik um und rief: »Und du hast auch zwei Gesichter, eins vorne und eins hinten!«
Varyn und ich lachten, als wir gingen, über Pavliks dummes Gesicht, aber das änderte nichts daran, daß ich genau wußte, was mit dieser Frage wirklich gemeint war, und daß es stimmte.
»Das hast du gut gemacht, Mittlerer«, sagte Varyn und knuffte mich. Früher hätte mich nichts mehr gefreut als ein solches Lob - von ein paar eßbaren Dingen einmal abgesehen - aber nun, da es von ihm kam, nicht mehr. »Glaubst du, du bist der einzige, der so was kann?« knurrte ich und zog meinen Arm zurück.
»Wie du willst, Gaven«, sagte Varyn ruhig.
Danach hat er mich nicht mehr 'Mittlerer' genannt. Und ich war froh darüber.

Jeden Tag nahm ich mir vor, Varyn zu folgen, wenn er sich das nächste Mal in der Nacht davonschlich. Ich wollte sehen, was er tat, ich wollte endlich wissen, was er träumte, was mit ihm los war. Es war schön und gut, zuzusehen, wie unser Bruder - oder der, der einmal unser Bruder gewesen war - sich immer mehr veränderte, sich immer weiter von uns zurückzog. Er war derjenige, der damit anfing, der nichts mehr mit uns zu tun haben wollte, und wir zogen nach, verstießen ihn, so wie er uns verstoßen hatte. Es war leicht, über ihn zu fluchen. Aber wenn ich an den Varyn zurückdachte, den ich einmal gekannt hatte, an meinen großen Bruder, dann war ich ihm zumindest schuldig zu fragen: Warum?
Aber jedesmal, wenn ich dann in der Nacht aufwachte, und hatte ich mir auch noch so fest vorgenommen, sofort auf- und in meine Kleider zu springen, siegte doch der Drang nach Schlaf. Es gab noch so viele andere Nächte, in den Varyn durchdrehen würde, also konnte ich dieses eine Mal zumindest noch einen Moment liegenbleiben… und dann streckte ich mich aus, wälzte mich genüßlich auf die andere Seite, und als nächstes wurde ich von Mutter, mal mit, mal ohne Ohrfeigen, aus dem Haus gescheucht, Varyn finden. Aber ich war so klug wie zuvor, und das hieß, im Vergleich zu Varyn: Gar nicht.
»Worauf wartest du dann noch?« und hielt meine Laterne noch näher an sein Gesicht. »Zu essen bekommst du hier nichts.«
Zumindest hatte ich ihn reizen können. Er drückte meine Hand nach unten, schob mich zur Seite und stapfte aus dem Stollen, ohne noch etwas zu sagen. Ich wollte schon hinter ihm herlaufen, als mir etwas auffiel. Seine schmutzigen Finger hatten Abdrücke auf meinem Handgelenk hinterlassen, die ich wegwischen wollte - es reichte mir, daß ich jeden Abend schwarz vor Kohle nach Hause kam, da wollte ich zumindest sauber sein, wenn ich mit der Arbeit anfing - aber dann merkte ich, daß es keine Kohleflecken waren, zumindest nicht nur. Kohle, und etwas weißes. Ich leckte daran. Es war Kreide.
»Varyn!« rief ich. »Warte!« Er blieb stehen und sah zu mir hinüber.
»Ich dachte, du hast es so eilig?«
Aber in diesem Moment siegte meine Neugier über meinen Magen. Ich ging zwei Schritte weit in den Tunnel hinein und leuchtete die Wände an. Erst sah ich nichts, aber als ich weiterging, war plötzlich die ganze Wand mit Varyns Zeichen vollgeschmiert, von oben bis unten.
Wenn der fahrende Händler ins Tal kam - früher drei- oder viermal im Jahr, in letzter Zeit häufiger - gab Vater uns Geld zum Ausgeben.
»Zeigt ihnen, daß wir keine armen Leute sind«, sagte er dann. »Kauft euch, was immer ihr haben wollt. Seid stolz. Ihr seid ehrliche, hart arbeitende Kohlenkinder, und ihr habt euch einen Lohn redlich verdient.« Er gab jedem von uns gleich viel, obwohl Varyn mehr arbeitete als wir anderen, und er lobte uns immer alle gemeinsam. »Kauft euch Bänder, Mädchen!« sagte er. »Kauft alles, was farbig ist. Zeigt ihnen, daß ihr nicht schwarz und schmutzig seid. Ihr seid die bestgeschrubbten Kinder im ganzen Tal.« Womit er zweifelsohne recht hatte. Niemand wurde so oft gewaschen wie wir, und niemandem sah man es weniger an. Vater sorgte sich immer darum, was über uns erzählt wurde - er wollte nicht, daß man uns für Hungerleider hielt. Mutter verbrachte den halben Tag damit, unsere Kleider zu waschen und zu flicken, nur damit sie wieder zerreißen und schmutzig werden konnten. Vermutlich gehörten wir tatsächlich zu den reichsten Familien im Tal, aber wir sahen nicht so aus. Darum mußten wir es zeigen, wenn der Händler kam.
Natürlich brachte er immer bunte Bänder und Tücher mit, aber Noran und Alsa hatten schon so viele und konnten sie doch niemals tragen, und so kauften sie am Ende immer nur das, was wir Jungen auch kauften: Zuckerstangen und anderes süßes Zeug. Nur Varyn nicht. Er redete lange mit dem Händler, und dann kam er zu uns herüber - wir saßen in der Sonne und lutschen an unserem Zuckerzeug - und zeigte uns, was er gekauft hatte. Es erinnerte an unsere Zuckerstangen, nur daß die Brocken kürzer und dicker waren, und eckig - aber als Harkon fragte, ob er eins probieren dürfe, lachte Varyn ihn aus.
»Das ist nicht zum Essen da.«
»Warum hast du es dann gekauft?«
»Das ist Kreide. Sie liegt im Boden, genau wie Kohle, und sie kommt von weit weg, aus Koristan. Schaut mal, was ich damit kann!«
Er kniete sich hin, wischte mit dem ärmel einen Stein am Boden trocken und fuhr mit einem Kreidestück darüber. Es gab eine weiße Linie.
»Mit Kohle kannst du das auch«, sagte ich. »Da brauchst du doch kein Geld für ausgeben.«
»Schon«, erwiderte Varyn, und grinste. »Aber nicht auf Kohle.«
Dann begann er, uns von seinen Zeichen zu erzählen. Er hatte immer schon Muster in den Boden gekratzt und versucht, Stollenwände mit Kohle zu markieren, aber wir dachten, das tat er aus Langeweile. Welcher Mensch, der bei Verstand war, würde hingehen und Mustern und Gekrakel Namen geben? Aber weil es von Varyn kam, dachten wir, es müsse irgend einen Sinn haben. Wir hielten viel von ihm. Damals.
Das erste Zeichen, daß er uns beibrachte, bedeutete 'Gefahr', und der erste Ort, an den er es schrieb, war der Eingang des Toten Mannes - es war uns immer schon verboten, dort zu spielen, weil die Balken dort alt und morsch waren und einstürzen konnten. Sagten unsere Eltern, und sagte Varyn, und wenn wir doch hingingen, gab es Prügel, an die ich mich so sehr gewöhnt habe, daß ich heute den Toten Mann nur sehr zögerlich betrete. Man darf nicht behaupten, daß ich nicht lerne!
Selbst jetzt, als Varyn praktisch im Toten Mann wohnte und ihm noch nie etwas passiert war, wagte ich - und wer mich kennt, weiß, daß ich eigentlich mutig bin - mich nicht besonders weit hinein. Ich sah Varyns Zeichen an der Wand, doch ich erkannte nur wenige. Gefahr kam ein paarmal vor, und die Sonne, - Varyn malte in jeden neuen Stollenabschnitt eine Sonne, damit sie auch tief im Berg bei uns war - und vier Striche nebeneinander, von denen ich meinte, daß sie Feuer heißen sollte. Keines der anderen Zeichen hatte ich jemals gesehen.
»Was ist das?« fragte ich.
Varyn stürzte auf mich zu und riß mich von der Wand fort, und dann, als ob er wieder einen Anfall hatte, begann er, mit den Händen und den ärmeln die Kreide fortzuwischen.
»Varyn!« schrie ich. »Hör auf!«
Meine Stimme hallte unheimlich in dem toten Stollen. Ich wußte, daß wir im Berg nicht schreien durften, und in diesem Tunnel am Allerwenigsten, aber in diesem Moment dachte ich nicht daran. Varyn hörte nicht auf mich, fuhr damit fort, mit beiden Armen seine Zeichen zu verschmieren. Er mußte Unmengen an Kreide verbraucht haben, und es konnte nicht alles aus dieser Nacht stammen.
Schließlich packte ich Varyn, und es gelang mir, ihn nach draußen zu zerren. »Du Blödmann!« brüllte ich, daß es wahrscheinlich das halbe Dorf hören konnte. »Was tust du hier? Was soll das?«
Varyn sah mich an; er war immer noch aufgebracht und brauchte lange, bis er eine Antwort fand - aber ich hätte etwas besseres von ihm erwartet als: »Das ist nichts.«
»Nichts? Ich hab es doch gesehen!« Seit mehr als einem Jahr war Varyn komisch, und immer wenn man ihn fragte, wich er aus oder sagte gar nichts. Jetzt riß mir die Geduld - warum eigentlich erst jetzt, fragte ich mich. Warum ließen wir uns die ganze Zeit über für dumm verkaufen?
»Es ist nichts, was du wissen müßtest«, sagte Varyn und tat so, als lache er. »Ich habe ein paar neue Zeichen ausprobiert und wollte wissen, ob sie deutlich genug sind, daß man sie von den anderen unterscheiden kann.« Er drehte sich um, als wolle er endlich in Richtung Haus gehen. Aber das hätte er früher tun können. Jetzt war es zu spät.
»Nein!« rief ich, lief an ihm vorbei, stellte mich ihm in den Weg und versuchte, ihn in Richtung Stolleneingang zu schubsen und zu stoßen, bis er zumindest hinfiel. »Wenn du jemals mein Bruder gewesen bist, dann lüg mich jetzt nicht an!«
Varyn lag auf dem Rücken, blickte durch mich hindurch, als sei ich gar nicht da und er habe sich nur hingelegt, um sich ein wenig auszuruhen.
»Paß auf«, sagte ich. Ich hatte mich noch nie so ruhig erlebt, und ich hatte fast Angst vor mir. »Ich bin nicht so blöd, wie du denkst. Jeder im Dorf, jeder im ganzen Tal, erzählt, daß du Gesichter hast, und die Wahrheit ist, es stimmt. Du siehst Sachen, aber du willst sie uns nicht sagen, weil du was besseres bist als wir, du schreibst nur alles auf, damit du hinterher sagen kannst, du hast es ja gewußt.«
Es war alles nur so dahingeraten, irgendwie zusammengereimt, so daß es Varyn möglichst hart treffen sollte - aber eigentlich glaubte ich selbst nicht daran. Es war weitaus leichter, sich vorzustellen, daß mein Bruder seinen Verstand verloren hatte, als daß er wirklich die Zukunft sehen konnte… Aber mit Varyns Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Er fing an zu heulen.
Varyn weinte niemals, schon als er klein war, und er lachte uns aus, wenn wir es taten, sogar die Mädchen. Ich heule manchmal vor Wut, wenn mich jemand verprügelt hat, aber nicht einmal das tat Varyn. Um so schlimmer sah er jetzt aus, als er sich zusammenkrümmte und, ohne einen Laut von sich zu geben, weinte.
Vielleicht wollte er, daß ich Mitleid mit ihm hatte, aber das konnte ich nicht. In diesem Moment widerte er mich nur noch mehr an als zuvor. Mein Bruder Varyn weinte niemals.
Ich fragte nicht weiter, blickte nur auf ihn herunter, in sein Gesicht, daß von Tränen und Kohlenstaub verschmiert war, und schüttelte den Kopf.
Dann ging ich weg.

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