Der Stollen führte sanft, aber stetig nach unten. Der Tag
würde kommen, an dem sie mit ihren Spitzhacken die Grenze
zischen Welt und Abgrund durchbrachen und hineinstürzten.
Varyn wünschte sich diesen Tag herbei, während er
mitkräftigen Schlägen das Gestein zerschlug. Wenn der
Nilomar sie verschlang, hatte das alles ein Ende.
Varyn schwitzte, obwohl es in dem Stollen kühl war. Doch die
Arbeit strengte ihn längst nicht mehr so sehr an wie noch vor
einem halben Jahr, obwohl er inzwischen fast zweimal schneller
arbeitete als Edrik. Je mehr er sich heute verausgabte, desto
stärker würde er morgen sein, und es dauerte immer
länger, bis er am Ende seiner Kräfte angelangt war. Am
liebsten arbeitete Varyn bis zur völligen Erschöpfung,
wenn er nur noch nach Hause stolpern konnte, sich eilig waschen und
dann ins Bett zu fallen, um wie ein Stein zu schlafen, traumlos. An
Abenden, wo ihm das nicht gelang, konnte er immer noch mit den
Männern trinken gehen - doch das war nur eine Notlösung,
denn dann konnte es passieren, daß die Träume erst recht
kamen, und heftiger als gewöhnlich. Manchmal blieb ihm nichts
anderes übrig, als sich ins Freie zu setzen, oder in den Toten
Mann, und die Nacht hindurch zu wachen. Es machte einfach keinen
Spaß mehr. Sein Leben bestand nur noch darin, sich
kaputtzuarbeiten oder kaputtzutrinken, um den Dingen, die er sah,
auszuweichen. Lange ging das nicht mehr so weiter.
Um ihn herum war alles voller Schutt. Varyn wollte sich endlich an
die Kohle machen können, aber erst mußte das Geröll
weg. Er haßte es, mit den Kindern arbeiten zu müssen.
Noran war zu schwach, und Gaven einfach nur faul. Sie richteten
sich lieber nach Edrik als nach ihm.
»Könnt ihr nicht schneller räumen?« rief er
wütend über seine Schulter. »Soll ich hier
vielleicht im Schotter ersticken?«
Er erhielt keine Antwort und drehte sich um, die Hacke erhoben wie
eine Waffe. Die drei anderen arbeiteten im gleichen langsamen Takt
weiter wie bisher, als hätten sie ihn nicht gehört. Varyn
ließ die Hacke sinken, lehnte sie gegen die Wand,
verschränkte die Arme vor der Brust, und wartete. Seine
Geschwister kümmerten sich nicht um ihn. Schließlich
hielt Varyn es nicht mehr aus. Wenn er nicht arbeiten konnte,
verlor er noch den Verstand!
Zu seinen Füßen legte Noran mit betonter Langsamkeit
Gesteinsbrocken in ihren Korb. Varyn stieß sie beiseite,
kniete sich hin und begann, selbst die Klumpen in den Korb zu
werfen, so schnell er nur konnte, bis sie sich über dem Rand
türmten. Um ihn herum wurde es still. Das
gleichmäßige Schlagen von Edriks Hacke war verstummt.
Varyn wußte, daß sie ihn anstarrten, doch er hörte
nicht eher auf, als bis der Korb zu schwer zum Schieben war, sogar
für ihn, und die Steine oben herunterfielen. Dann hielt er
inne, und kämpfte ein Zittern nieder.
»Seht ihr?« stieß er hervor. »So
müßtet ihr arbeiten, wenn ihr nicht solche verdammten
Faulpelze wärt!«
Gaven nahm Noran beim Arm und streckte Edrik die andere Hand hin
und sagte, ohne Varyn anzusehen: »Gehen wir. Wenn er unsere
Arbeit übernehmen will - soll er doch. Wir machen uns einen
schönen Tag. Geht sowieso nur ohne ihn.«
Die Welt barst vor Varyns Augen und machte etwas anderem Platz,
das hell war und brannte. Varyn schrie auf und kniff die Lider
zusammen, und es verschwand wieder, aber Varyn konnte nicht
aufhören zu schreien. Er umklammerte seinen Kopf mit den
Händen, um ihn nicht gegen die Wand schlagen zu müssen,
aber das war das Letzte, was er noch selbst tun konnte.
Er sah sich selbst, als wären seine Augen außerhalb
seines Körpers, und außerhalb seines Verstandes. Er sah
sein schwarzes, verzerrtes Gesicht, seine roten Augen, seinen
schreienden Mund. Er sah sich in die Knie gehen und dann, langsam,
zusammenbrechen. Er haßte, was er sah. Hätte er in
diesem Moment die Möglichkeit gehabt, dieses… Etwas zu
töten - er hätte es getan. Das war nicht er. Dieses Wesen
sah ihm nicht einmal ähnlich! Aber Varyn? Den gab es nicht
mehr. Er mußte vor einiger Zeit unbemerkt gestorben
sein…
Aber er sah noch mehr. Er sah seine Geschwister - Edrik, der die
Hacke wieder aufnahm, Gaven und Noran, die ruhig anfingen, die
überflüssigen Steine aus dem Korb zu nehmen, um ihn ins
Freie zu schieben. Ganz so, als sei Varyn nicht da. Vielleicht war
er wirklich nicht da?
Die Welt wurde grau.
Als Varyn sich wieder rühren konnte, tat ihm der Hals weh.
Sein Gesicht brannte, und das Blut pochte in seinen Adern, aber es
war vorbei. Varyn machte sich daran, die Kohle wegzuschlagen.
Eine Hand packte von hinten seinen Arm und drehte ihn herum.
»Was war das gerade?« fragte Edrik.
»Nichts«, sagte Varyn, wie er es immer tat.
»Arbeiten wir weiter.«
Edrik verpaßte ihm eine Ohrfeige. »Varyn, das
reicht!«
Varyn wischte sich über das Gesicht und versuchte, dem Blick
auszuweichen. Es ging nicht weiter. Jeder wußte, was mit ihm
los war - oder glaubte es zumindest - und haßte ihn
dafür. Varyn wußte es nicht, und haßte sich
dafür um so mehr. Es war nichts, worüber er reden konnte,
oder wollte.
»Glaubst du vielleicht, mir reicht es nicht?« fragte
er. »Aber jammere ich deswegen rum? Also laß mich in
Frieden!«
»Vielleicht solltest du mal deswegen jammern?«
fragte Noran, aber sie klang eher feindselig als mitfühlend.
»Aber nein, du mußt immer so tun, als ob du was
Besseres bist.«
»Er ist was Besseres«, warf Edrik höhnisch
ein.
Nur Gaven schüttelte den kopf. »Stimmt nicht. Heute
früh war er am Heulen. Und er hat zugegeben, daß er
Gesichter hat.«
Varyn rannte weg, aus dem Stollen hinaus in den Tag, der noch
unerbittlich weit vom Abend entfernt war. Er rannte vor seinen
Geschwistern davon. Aber alles, was ihn jagte, nahm er mit.
Varyn blieb nicht stehen, als bis
er den Toten Mann erreichte. Dann zögerte er. Er wollte seine
Ruhe haben - war es dann klug, ausgerechnet an den Ort zu gehen, wo
Gaven ihn sofort finden würde? Aber dann schüttelte er
den Kopf. Gaven würde jetzt alles tun, außer ihn suchen
gehen. Seine sogenannten Geschwister wollten längst nichts
mehr mit ihm zu tun haben, und er konnte es ihnen nicht verdenken.
Er konnte mit ihnen schließlich auch nicht mehr viel
anfangen. Sie waren solche Kinder im Vergleich zu ihm, obwohl Edrik
älter war.
Vorsichtig betrat Varyn den Stollen. Daß es dort dunkel war,
machte ihm wenig aus - im Dunkeln sehen gehörte zu den Dingen,
die er besser konnte als alle anderen, und daran hatte sich nichts
geändert. Laternen blendeten ihn mehr, als daß sie ihm
halfen, und wenn er nachts allein unterwegs war, nahm er niemals
ein Licht mit. Aber er wußte, warum der Tote Mann ein
verbotener Ort war - es war dort für die Kinder zu
gefährlich. Varyn hatte keine Angst, aber er achtete auch sehr
darauf, sich nicht unvorsichtig zu bewegen, gegen keinen
Stützpfeiler zu stoßen, nicht
herumzutrampeln…
Varyn mochte diesen Ort, gerade weil er dunkel und gefährlich
war. Dieser Stollen gehörte ihm, mehr als irgendwo sonst war
Varyn, der nicht einmal soviel besaß wie ein eigenes Bett, zu
Hause. Nicht einmal Gaven, der ihn morgens nach Hause holte, wagte
es, hereinzukommen, niemand würde jemals die Schätze
entdecken, die Varyn am Ende des alten Stollens versteckt hatte -
armselige Schätze für jeden, der Geld hatte, aber doch
deutlich besser, als wie die Kohlenkinder alles Geld, das sie in
die Finger bekamen, für Zuckerstangen auszugeben und diese
sofort aufzuessen. Varyns Schätze waren sein Kreidevorrat -
Kreide war so billig, daß er immer alles kaufte, was der
Händler dabeihatte - und eine Flasche mit Wacholderschnaps. Im
Moment hatte Varyn nicht die Kreide im Sinn… Wenn die
Männer abends im Wirtshaus saßen und tranken, taten sie
das, weil es sonst nach der Arbeit nichts für sie zu tun gab.
Früher ging Varyn mit ihnen, um einer von ihnen zu sein - so
wie Edrik und die anderen Jungen im Dorf. Aber seit er diese
Visionen hatte, trank Varyn nicht mehr, um anzugeben und sich
erwachsen zu fühlen, sondern um betrunken zu werden und
schlafen zu können. Am Anfang hatte es Varyn Spaß
gemacht, zu trinken, aber nun haßte er es, und er ekelte sich
vor sich selbst. Doch es war immer noch besser, als glauben zu
müssen, daß er den Verstand verlor. Er konnte sehr
schnell betrunken werden, wenn er es wollte.
Das war das einzig Gute daran. Es ersparte ihm, mehr als unbedingt
nötig von dem Wacholder trinken zu müssen. Varyn zog den
Korken aus der Flasche und bemühte sich, nicht daran zu
riechen. Er konnte es nicht ausstehen. Ihm wurde zwar nicht
schlecht davon - ihm wurde eigentlich niemals schlecht, ebenso wie
er niemals krank war - doch manchmal wünschte er sich, es
wäre so und er könne einfach alles wieder auskotzen.
Varyn haßte Alkohol, doch sein Körper liebte ihn und war
nicht bereit, ihn so schnell wieder herzugeben… Wieviel war
noch in der Flasche? Sie war aus Ton und selbst so schwer,
daß man es schlecht abschätzen konnte. Es war jetzt bald
ein viertel Jahr her, seit der Händler den Wacholder als
Wundermittel angepriesen hatte. Mit etwas Glück war die
Flasche bald leer.
Die ersten zwei, drei Schlucke mußte Varyn hinunterzwingen,
die Lippen zusammenkneifen, um nicht sofort wieder auszuspucken. Er
schüttelte sich, wartete einen Moment und trank dann weiter.
Jetzt machte es ihm nicht mehr soviel aus. Eigentlich gar nichts
mehr. Eigentlich hätte er jetzt so weitertrinken können,
bis nichts mehr übrig war… Dies war der Moment, den
Varyn am meisten haßte und fürchtete. Schnell korkte er
die Flasche wieder zu und schob sie tief in den Spalt zurück,
so daß es schwierig sein würde, sie wieder
herauszuholen., Er wollte es sich nicht wieder anders
überlegen.
Einen Moment lang saß er ruhig am Boden, die Beine
ausgestreckt, daß sie beinahe die gegenüberliegende Wand
berührten, in seinem Rücken das unebene, grob behauene
Gestein. Dann sagte er laut: »Es ist dir also lieber, wenn
dich die Leute für einen Säufer halten, als für
verrückt?« Manchmal redete er mit sich selbst. Mit
irgend jemandem mußte er es schließlich. Aber diese
Frage beantwortete er sich nicht. Er kannte die Antwort, doch er
wollte sie nicht laut hören: Niemand von den Leuten im
Dorf hielt ihn für einen Säufer. Nur - wofür wollte
er sich selbst halten?
»Wenn du wirklich glaubst, die Gesichter kommen vom Saufen,
vielleicht solltest du dann damit aufhören?« fragte er
weiter. »Und, wo du gerade dabei bist, auch mit den
Selbstgesprächen?«
Er mußte lachen. Aber es verging ihm schnell wieder. Das
waren alles keine Lösungen. Es gab keine Lösung für
ihn. Er saß in einer Sackgasse.
»Der Tote Mann ist eine Sackgasse«, sagte er, tastete
blind neben sich nach der Kreide und schrieb es an die Wand. Wenn
er betrunken war, fing er früher oder später damit an zu
schreiben, um sich hinterher darüber zu wundern. Sackgasse war
eines seiner allerersten Zeichen, sehr einfach gezeichnet: Ein
Viereck, bei dem die rechte Seite fehlte. Aber es hatte damals noch
nicht soviel bedeutete. Varyn starrte einen Moment auf das Zeichen,
dann malte er, so langsam, daß seine Hand zu zittern begann,
den fehlenden vierten Strich. Jetzt hieß es Falle. Oder
Gefängnis. Die beiden anderen Zeichen - Tod und
Mann - standen nicht mehr für den Stollen, sondern
für Varyn selbst. Mit dem ärmel wischte er die Zeichen
weg und malte dann neue darüber: Eigentlich die gleichen wie
zuvor, nur daß das Viereck die anderen Zeichen diesmal
umschloß. Der Tote Mann kann nicht entkommen.
Eine Zeit lang starrte Varyn wie gelähmt auf die Wand und
fragte sich, was er da tat, oder warum. Aber er hatte schon vor
langer Zeit aufgehört, sich selbst zu verstehen. Langsam
nahmen seine Gedanken Gestalt an. Langsam begriff er, daß es
eine Lösung gab, eine einzige, die all seine Probleme auf
einen Schlag beenden würde, wenn er nur den Mut hatte. Was
konnte er schon verlieren? Doch nur ein Leben, das nichts mehr wert
war…
Die Gedanken gefielen Varyn nicht, doch er ließ sie treiben,
ohne etwas dagegen zu unternehmen. Es gab hier so viele
Möglichkeiten, wie er sich umbringen konnte - am Einfachsten
war es, den Stollen zum Einsturz zu bringen. Ein paar Tritte gegen
die morschen Pfeiler, etwas herumtoben, und es war
vorbei…
Varyn sprang auf. Das war nicht wirklich! Das dachte nicht mehr
er! Das war so etwas wie die Visionen, nur heimtückischer.
Wenn er nicht einmal mehr wu0te, welche Gedanken von ihm selbst
stammten und welche von dort kamen, wo die Bilder entstanden, die
Träume und Täuschungen… Varyn rannte aus dem
Stollen. Von dort, wo er gesessen hatte, genügte ein einziger
Tritt, für den er nicht einmal aufstehen mußte, um die
Decke runterzubringen! Und er stand so kurz davor, es
tatsächlich zu tun… Er fing an zu schreien, bis sein
Hals weh tat, nur um diese Gedanken zu vertreiben. Aber er konnte
die Stimme nicht stillegen, die Stimme, die in dem Ganzen ruhig
blieb und nur fragte: »Warum rennst du weg? Wärst du
nicht froh, es endlich hinter dir zu haben?«
Kurz vor dem Ausgang stolperte Varyn, der zwar noch geradeaus
laufen konnte, nicht mehr jedoch auf den Boden achten, über
einen Stein und fiel der Länge nach hin, rappelte sich
fluchend auf, und war endlich draußen. Schwer atmend lehnte
er sich gegen den Felsen. Der Stollen hinter ihm war totenstill,
aber vor seinem inneren Auge sah Varyn noch immer - oder wieder,
wieder und wieder und wieder - wie alles einstürzte und ihn
unter sich begrub.
Aber hier war er, draußen und am Leben, auch wenn seine Knie
schmerzten und sich die Welt, vermengt mit schwarzen Flecken und
tanzenden Schatten, vor seinen Augen drehte. Er hatte es geschafft.
Für wie lange?
Varyn hob den Kopf und schaute nach oben, zum Gipfel des Berges,
zur Sonne. Er bemühte sich, nicht zu blinzeln. Es war immer
noch besser, geblendet zu werden und gar nichts mehr zu sehen, als
Dinge, die nicht da waren. Die Sonne war zu weit fort. Er konnte
sie niemals erreichen, den ganzen Himmel nicht. Aber was war mit
den Berggipfeln? Varyn war in diesem Tal geboren und groß
geworden, er wußte, wie die Berge von innen aussahen - aber
was jenseits der Berge lag, war für ihn ebenso fern wie der
Elomar. Kreide aus Koristir… sie hätte ebensogut vom
Mond kommen können.
Quer durch das Tal führte die Straße. Auf ihr kamen die
Karren, die das Erz in die Gießerei brachten, auf ihr kamen
die Händler. Die Reisenden kamen und gingen wieder, und sie
wunderten sich, daß das Tal keinen Namen hatte.
»Wir brauchen keinen Namen dafür«, sagte Varyn.
»Es ist das einzige, das wir haben.« Eigentlich hatte
es einen Namen: Das Tal, ebenso wie das Dorf Das Dorf hieß.
Aber das verstandne sie Leute nicht. Man hatte sie mit ihrer Frage
zu Varyn geschickt - »welcher der klügste Kopf im ganzen
Tal ist. Er hat die Zeichen erfunden.« Varyn spie aus. Er
hatte niemals darum gebeten, der Klügste zu sein, oder der
Stärkste, aber er hatte es doch immer gerne akzeptiert. Aber
es gab keine Geschenke im Tal, auch nicht für Varyn. Er hatte
hingenommen, daß er besser war als der Rest. Nun zahlte er
dafür. Von allen acht Elomaran haßte Varyn im Moment
keinen so sehr wie Tolimander, den Engel der Gerechtigkeit.
Das Tal brauchte keinen Namen. »Ihr kennt die ganze
Welt«, sagte Varyn zu den Reisenden. »Aber gebt Ihr ihr
einen Namen? Warum auch? Es gibt nur diese eine Welt. Für uns
gibt es nur diese eine Tal. Ihr mögt darüber lachen. Die
Götter lachen über Euch.«
Varyn, der so etwas sagen dürfte. Varyn, der den Namen der
Götter in den Mund nehmen durfte, ohne daß man ihn
dafür ohrfeigte. Varyn, der die Zeichen erfunden hatte. Kluger
Varyn. Starker Varyn. Schöner Varyn. Wir brauchen keine Welt,
solange wir das Tal haben. Die Welt ist das Tal. Das Tal ist die
Welt.
»Ich gehe«, sagte Varyn laut.
Es war ein wunderschöner Tag
im Sommer. Die Vögel sangen, und die Sonne schien aus
einem strahlendblauen Himmel hinab. Reisewetter also, wie man es
sich besser nicht vorstellen konnte. Die Straße führte
in das Tal hinein und wieder aus ihm hinaus, und Varyn würde
ihr folgen, noch heute, sofort. Niemand sagte, daß es an
ihrem Ende besser war. Varyn konnte nicht glauben, daß die
Träume im Tal zurückblieben, wenn er fortging. Aber sie
würden auch nicht fortgehen, wenn er blieb. Es würde
vielleicht nicht besser werden, aber zumindest… anders.
Varyn lehnte an der Felswand, neben ihm der dunkle Stolleneingang
und die kaum noch leserlichen überreste seiner allerersten
Zeichen: Gefahr und Tod. Varyn mußte lachen. So
wie das da stand, konnte es das ganze Tal meinen, oder die ganze
Welt. Er hatte sich von Anfang an über seine Zeichen
hinweggesetzt. Jetzt mußte er nur noch gehen.
Vorsichtig schlich Varyn zum Haus hinüber. 'Schleichen' war
vielleicht das falsche Wort, Varyn stolperte dreimal und machte
wahrscheinlich so viel Krach, daß jeder im Tal es gehört
hätte - wenn nicht jeder außer Varyn gerade arbeitete
oder schlief - aber er gab sich wenigstens Mühe.
Am liebsten hätte er nie wieder einen Fuß in das Haus
gesetzt, es wollte es gar nicht wiedersehen, dieses schäbige
kleine Haus, und seine Familie auch nicht - es war ja nicht
wirklich seine Familie, er gehörte nicht hierher, nicht in
dieses Tal voller Leute, die alle gleich aussahen und ihm nicht im
geringsten ähnlich, schwarzhaarig und dunkeläugig, wie
sie alle waren. Warum war Varyn nicht schon vor Jahren
gegangen?
Aber er mußte noch einmal in das Haus zurück, er wollte
ein sauberes Hemd anziehen und saubere Hosen, und er wollte den
Kopf unter die Pumpe halten, um den Kohlenstaub abzuwaschen - er
wollte nicht als Kohlenjunge in die Welt ziehen, und er wollte
zumindest ein wenig von dem Nebel aus seinem Kopf vertreiben. Er
fühlte sich gut in diesem Moment, aber nicht, weil er
betrunken war, sondern weil er eine Lösung gefunden hatte - er
brauchte diesen Rausch nicht mehr, würde ihn nie wieder
brauchen, denn er hatte jetzt etwas, das besser war: Entweder die
Welt, oder den Tod.
Aber es gab noch eine Sache, die Varyn im Haus suchte: Das Geld
seines Onkels. Er wußte, daß es da war, konnte sich
auch denken, wo - irgend einen Sinn mußte es doch machen,
daß er der Klügste im ganzen Tal genannt wurde - und
zumindest ein Teil davon stand ihm zu. All die Jahre über
hatte Varyn in der Grube geschuftet, härter als alle anderen,
auch härter als die Männer, die sein Onkel für die
Arbeit bezahlte, und doch bekam er nur etwas Geld, um sich
Süßigkeiten oder Schnaps zu kaufen, wenn der
Händler kam, und sonst nie etwas. Sicher, er konnte im
Wirtshaus trinken, und sein Onkel kam dafür auf - doch der
zahlte auch Edriks Zeche, und dafür aß Varyn jetzt nicht
mehr soviel wie früher. Es war nur gerecht, wenn Varyn jetzt,
wo er fortging, einen Teil des Geldes mitnahm… es war nicht
Stehlen. Nicht wirklich.
Varyn schaffte es, ohne nennenswerte Probleme, in den Hof bis zur
Pumpe. Er zog sein Hemd aus und ließ es dort liegen, sollte
Gaven es tragen, wenn er hineingewachsen war - und fing an, sich zu
waschen, wie er es jeden Abend tat. Manchmal kam es ihm so vor, als
spülten sie jeden Tag ebensoviel Kohle, wie sie abgebaut
hatten, in die Senke. Der Dreck saß einfach überall.
Varyn verfluchte sich, daß nicht erst seine Kleider geholt
hatte, er wollte sich richtig waschen können, überall,
auch zwischen den Beinen - und jetzt bedeutete es, daß er
entweder gleich noch einmal zur Pumpe zurückmußte oder
nackt ins Haus laufen. Für einen nüchternen Kopf
wäre sicher die erste Möglichkeit die bessere gewesen,
doch Varyn entschied sich für die zweite. Er hatte ohnehin
nicht vor, seiner Tante über den Weg zu laufen, und selbst
wenn - sie war seit bald zwanzig Jahren die Frau eines Bergmannes.
Wenn sie an eines gewöhnt war, dann an den Anblick von
nackten, nassen Männern. Varyn zog seine Hosen aus und wusch
sich. Er kannte kaum etwas, das sich besser anfühlte als
frisches, kaltes Wasser.
Tropfnaß, mit Haaren, die ihm ins Gesicht hingen, aber
einigermaßen klaren Kopf, rannte Varyn ins Haus und erinnerte
sich gerade noch rechtzeitig daran, besser keinen Krach zu machen.
In der Waschküche konnte er seine Tante rumoren hören.
Sie lachten immer über die Waschküche und sagten, wenn
sie nicht wäre, gäbe es genug Platz, um mehr Betten
aufzustellen - aber das konnte Varyn jetzt egal sein. Er schlich an
der geschlossenen Tür vorbei ins Schlafzimmer, stemmte die
Truhe auf - sie quietschte entsetzlich - und fischte eine Hose und
ein Hemd heraus, von dem er hoffte, daß sie ihm gehörten
und nicht Gaven, der fast einen ganzen Kopf kleiner war. Wieso
dieser Junge bei seiner Gefräßigkeit nicht wuchs,
wußte niemand.
Die Sachen paßten, und Varyn wollte sich schon auf die Suche
nach dem Geld machen, als ihm seine Schuhe einfielen. Die standen
immer noch draußen neben der Pumpe. Also mußte er noch
einmal hinaus, und danach wieder hinein, und dann auf und
davon… Varyn zog seinen Gürtel zusammen, stopfte das
Hemd in den Hosenbund und lief zurück zu seinen Schuhen. Er
wußte - was immer er in der Welt finden konnte, bessere
Schuhe als diese würde er niemals bekommen, niemand trug
bessere Schuhe als ein Bergmann… Einen Moment lang tat es
ihm um die Arbeit leid, und darum, daß die Grube ab jetzt
ohne ihn auskommen mußte - er hatte hier eigentlich immer
eine glückliche Zeit gehabt, wenn man das letzte Jahr
vergaß… Varyn schluckte, scheuchte die Traurigkeit
dann fort und konzentrierte sich darauf, seine Schnürsenkel
zuzubinden, was ihm in diesem Moment schwierig genug fiel.
»Varyn!« Er schreckte zusammen. Seine Tante hatte er
nicht kommen hören. Aber es gelang ihm, gelassen zu
bleiben.
»Ja, Tante?« Varyn blickte sie ruhig an und konnte in
ihrem Gesicht alle Fragen lesen, die ihr durch den Kopf gingen und
von denen sie keine stellte.
»Was tust du hier?« fragte sie schließlich.
Er lächelte, wie er es immer tat, um einen Gegner zum Freund
zu machen. »Ich ziehe meine Schuhe an.« Er wollte sagen
'Ich gehe fort', aber das konnte er nicht. Sie würden es schon
noch merken.
Sie sah ihn nur an, und ihr Gesicht wurde traurig, und er
wußte, daß sie es wußte. Seine Kehle
schnürte sich zusammen. Das hatte seine Tante nicht verdient!
Er stand schnell auf und mußte sich an der Pumpe festhalten,
als ihm schwindelig wurde. Seiner Tante entging auch dies nicht,
aber sie sagte wieder nichts und nahm ihm so die Gelegenheit, sich
zu rechtfertigen.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Jetzt bist du
böse, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du mußt tun, was du
für richtig hältst, Varyn. Wir wissen nicht, was in dir
vorgeht. Also kann ich nicht böse auf dich sein. Aber ich kann
dir auch nicht helfen.«
»Niemand kann das«, erwiderte Varyn dumpf.
Ihr Blick war bohrend, aber er wich ihr nicht aus.
»Zumindest einen Freund scheinst du ja gefunden zu
haben. Wenn er dir damit besser geht…«
Varyn erinnerte sich an unzählige Gelegenheiten, zu denen sie
versucht hatte, mit ihm zu reden. Sie hatten ihn niemals anders
behandelt als ihre eigenen Kinder, und obwohl es ihnen doch soviel
ausmachte, wie man im Tal über sie redete, hatten sie doch die
ganze Zeit über zu Varyn gehalten, ihm niemals Vorwürfe
gemacht. Varyn wäre lieber gewesen, wenn doch. Es hätte
das Fortgehen deutlich vereinfacht.
»Ich bin kein Säufer«, sagte er. »Ich bin
nur verrückt.«
Sie strich ihm mit dem Finger eine Haarsträhne aus dem Auge.
»Wenn du bleibst, wirst du bald beides sein.«
Varyn wich zurück. Plötzlich bekam er Angst vor ihr.
Warum redete sie nicht auf ihn ein, versuchte nicht, ihn
zurückzuhalten? War er ihnen so egal? Wollten sie ihn los
sein? Aber vielleicht war das alles gar nicht wahr! Das war nicht
seine Tante. Hier draußen war niemand außer ihm und
seinem Verstand, der Dinge sah und hörte, wo keine waren.
Nichts von dem hier war wirklich. Wer sagte denn, daß er den
Toten Mann jemals verlassen hatte? Wer sagte denn, daß er
noch lebte? Hatte er nicht den Stollen einstürzen
sehen?
»Es gibt dich nicht!« stieß er hervor.
»Rühr mich nicht an! Ich werde nicht mit dir
gehen!«
»Hör mir zu, Varyn! Sieh mich an!« Die Frau kam
auf Varyn zu. Ihre Stimme klang verzerrt in seinen Ohren, leise und
bösartig. Und ihre Augen… Varyn blinzelte. Sie waren
doch nicht wirklich rot? Oder etwa… doch.
»Verschwinde!« schrie Varyn. »Du bekommst mich
nicht! Ich habe dich durchschaut!« Er wollte weiter
zurückweichen, doch er stieß gegen den großen
steinernen Trog und kam nicht weiter.
»Jetzt reicht es, Varyn!« Er sah ihre Hand kommen,
bevor sie sein Gesicht erreichen konnte, und packte ihren Unterarm,
hielt ihn fest. Mit der anderen Hand schlug er selbst zu, und
traf.
Die Wucht des Schlages ließ die Frau rückwärts
stolpern, und sie wäre gefallen, hätte Varyn nicht ihren
Arm gehalten. Aber sie verschwand nicht. Sie war keine Einbildung,
und kein Schreckgespenst. Sie war seine Tante. Varyn sah ihre
Augen, groß und dunkel und angsterfüllt, er sah das Blut
in ihrem Gesicht, und an seinen Händen. Er starrte auf seine
Hände, verbarg sein Gesicht dahinter, und dann ließ er
sie sinken, langsam, bis sich seine Finger um seinen Hals
legten…
»Varyn, was beim Himmel tust du da?«
Varyn öffnete seine Augen wieder. Vor ihm stand seine Tante,
wütend, aber ohne Blut. Es war nicht wirklich geschehen. Er
hatte sie nicht geschlagen… oder hatte er…
»Ich wollte es nicht!« rief er zur Sicherheit,
entschuldigte sich lieber für etwas, das niemals war, als
einmal zu wenig für die Wirklichkeit - falls es so etwas
überhaupt noch für ihn gab. »Es tut mir
leid.«
»Nein«, sagte sie. Ihre Stimme hätte nicht
trauriger klingen können, wenn er wirklich zugeschlagen
hätte. »Es tut mir leid, Varyn. Ich kann nichts
mehr für dich tun, bis auf eines: Wenn du ein wenig Geduld
hast, werde ich dir etwas zu essen machen, für den Weg. Und
dein Onkel hat etwas Geld für dich zurückgelegt, das du
haben sollst.«
Varyn schüttelte den Kopf. Das war ebenso echt wie alles
andere. So mochte seine Tante in einem Traum reden, aber niemals in
der Wirklichkeit. Und sie konnten nicht wissen, daß er
fortging - bevor er es nicht über sich brachte, es ihnen zu
sagen.
Wieder veränderte sich die Welt vor seinen Augen…
Varyn drehte sich um und rannte wieder weg, zurück zum Toten
Mann, wie er zu spät feststellte, erst, als er halb drinnen
war. Er mußte fortgehen. Er konnte nicht bleiben. Aber er
mußte in der Lage sein, es seiner Familie ins Gesicht zu
sagen, denn sonst würden ihre Bilden ihn verfolgen, wohin er
auch ging…
Wenn er den Wacholder austrank, war er zumindest dieses widerliche
Zeug ein und für alle Mal los.
Varyn wußte nicht, wie lange
er geschlafen hatte, als er auf dem schmutzigen Steinboden
aufwachte. Er erinnerte sich vage an Dinge, die Träume sein
konnten oder geschehen, an eine Begegnung mit seiner Tante, die
dreimal unterschiedlich geendet hatte… alles nur
Träume. An diesem Tag hatte er den Toten Mann niemals
verlassen. Nach dem Streit mit Gaven, nach dem Zusammenbruch, hatte
er angefangen zu trinken und erst aufgehört, als nichts mehr
übrig war. Die Tonflasche lag noch neben ihm, leer, das
einzige wirkliche Ding in einer Welt, in der Varyn nicht einmal
wußte, ob es sie gab. Er erinnerte sich daran, gearbeitet zu
haben… Wenn Edrik zuviel trank, konnte er sich hinterher an
vieles nicht mehr erinnern, aber Varyn erinnerte sich an mehr
Sachen, als tatsächlich passiert sein konnten.
»Ich gehe fort«, flüsterte Varyn und versuchte,
aufzustehen. Er mußte lange geschlafen haben, aber ihm war
immer noch schwindelig, und er mußte sich an der Wand
festhalten. Dann blickte er zum Ausgang hin. Kein Licht fiel herein
außer einem kleinen wenig Mondschein. War es noch Nacht, oder
schon wieder? Aber warum war es dann so hell? Langsam begriff
Varyn, daß von links, aus den Tiefen des Stollens, der Schein
eines Lichtes drang. Oder war er so betrunken, daß er nicht
mehr wußte, wo oben und wo unten war, wo Sackgasse, und wo
der Ausgang? Er starrte unschlüssig blinzelnd in Richtung des
Lichtes, rieb sich die Augen. Sein Gesicht fühlte sich sauber
an, und seine Hand auch. Er blickte an sich hinunter. Kohlenstaub
haftete an seinen Kleidern - doch er erkannte sein gutes Hemd
darunter. Also schien zumindest dieser Teil des Traumes zu
stimmen…
Varyn schüttelte den Kopf und wankte auf das Licht zu. Es
schien zu tänzeln, sich zu bewegen, selbst als Varyn
stehenblieb und den Kopf stillhielt. Und es war zu klein, um ein
tagheller Ausgang zu sein. Wieviel mußte ein Mann trinken, um
nicht mehr unterscheiden zu können zwischen der Sonne und
einer Laterne?
Varyn lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schnaubte.
»Das reicht«, sagte er leise zu sich selbst.
»Wenn ich dich noch einmal beim Saufen erwische, schlage ich
dich grün und blau.« Dann stutzte er. Von der Seite kam
ein Geräusch. Und das Licht bewegte sich - auf ihn zu.
Varyn zwang sich gerade zu stehen, zumindest so gerade er konnte,
um klopfte den Dreck ab. Wenigstens konnte er mit Bestimmtheit
sagen, daß jemand dort war, ein Mensch mit einer Laterne.
Aber nur das Licht war zu erkennen. Es nahm ihm die Sicht auf
alles, was dahinter war.
»Gaven?« rief er. Es konnte eigentlich nur Gaven sein
- niemand sonst würde sich dem Toten Mann auch nur
nähern. Aber es kam keine Antwort. »Bist du das,
Mittlerer?«
Spätestens jetzt hätte Gaven ihn Schlafwandler genannt,
oder Blödmann, oder Suffkopf. Gaven kannte nicht viele
Beleidigungen, aber er sparte nicht an ihnen. Es ware nicht Gaven.
Wer dann?
Die Gestalt hob das Licht und leuchtete es direkt in Varyns Augen,
ganz so, wie er es haßte. Jetzt konnte er überhaupt
nichts mehr sehen.
»Ausgeschlafen?« fragte sie. Es war eine Frau. Varyn
hatte ihre Stimme im Leben noch nie gehört. Sie sprach andres
als die Frauen im Dorf, aber da Varyn die alle kannte, wußte
er auch so, daß sie eine Fremde war. Eine Fremde. Mit einer
Laterne. Im Toten Mann.
»Wer bist du?« fragte er.
Sie lachte leise, so schön, wie keine Frau im Dorf lachen
konnte. »Das wüßte manch einer gerne. Aber dir
will ich es verraten. Ich bin der Dämmervogel.«
»Was?« fragte Varyn verwirrt. Wenn das wieder so
ein… Wahn war…
»Dämmervogel«, wiederholte sie. »Mein Name,
und zugleich mein Titel.« Sie hielt die Laterne noch
näher an sein Gesicht heran, so daß er ihre Hitze
einatmen konnte. Gerade so eben konnte er die Hand oben am Henkel
ausmachen, die zierlichsten weißesten Finger, die er jemals
gesehen hatte.
»Nimm das Licht weg«, sagte er leise, »damit ich
dich sehen kann.«
Wieder lachte sie. »Aber dann kann ich dich nicht mehr
sehen, Varyniel. Und es ist mein Licht, nicht deines.«
Wenn sie ihn ärgern wollte - sollte sie es ruhig versuchen.
»Wahrscheinlich gut, daß ich dich nicht sehen kann.
Wahrscheinlich bist du häßlich wie die Nacht.«
»Nicht wie die Nacht«, erwiderte sie. »Wie die
Dämmerung. Ich bringe das Licht, und ich nehme es fort. Ich
bin schön, Varyniel, schöner als jede Frau, die du jemals
gesehen hast, aber du mußt dir meinen Anblick erst verdienen,
und solange du betrunken bist, hast du kein Anrecht auf mein
Gesicht.«
»Also werde ich dich niemals zu Gesicht bekommen«,
sagte Varyn und lachte unbekümmert. »Denn ich bin ein
Säufer, und wo ich es noch nicht war, treibt mich der Kummer,
vor dir so behandelt zu werden, dazu.« Varyn wußte
nicht, woher diese Worte kamen. So redete er nicht, so redete
niemand im Tal. Aber es gefiel ihm. So mußte man reden
können, um eine Frau zu gewinnen! Er mußte es einmal bei
der Tochter des Wirtes ausprobieren… Nein, bei der nicht,
die schlief mit jedem, aber vielleicht…
»Ich werde in deinen Träumen sein«, sagte
sie.
»Und woran werde ich dich erkennen?« fragte Varyn. Er
fühlte sich seltsam leicht, und seltsam glücklich.
»Du wirst mich erkennen, Varyniel«, sagte sie.
»Verlaß dich darauf.«
»Warum nennst du mich immerzu so?« fragte er.
»Mein Name ist einfach nur Varyn.« Und woher kannte sie
ihn?
Sie antwortete nicht auf seine Frage. Statt dessen schwenkte sie
die Laterne auf die Wand mit seinen Aufzeichnungen zu. Varyn
versuchte, hinter dem Licht einen Blick auf ihr Gesicht zu
erhaschen, aber alles, was er erkennen konnte, war eine Andeutung
von schwarzen Augen, und schwarzem Haar, kein Gesicht, nicht einmal
ein Alter. »Das hast du doch geschrieben, oder?«
Varyn nickte und hoffte, daß sie ihn nicht zwingen
würde, ihr die Bedeutung zu verraten. Selbst Gaven hatte schon
zuviel gesehen.
»Und das hier ist doch dein Name, oder?« Ihr Licht
konzentrierte sich auf ein Zeichen, das Varyn erst mit dem Finger
nachfahren mußte, um es zu erkennen, so verschmiert war es.
Er blinzelte und fuhr das Zeichen noch einmal nach, während
ihm plötzlich kalt wurde. Dieses Zeichen stand nicht für
seinen Namen. Dafür hatte sich Varyn niemals etwas ausgedacht.
Aber dieses Zeichen stand für das schwerste Wort, das Varyn
jemals versucht hatte zu malen. Er war nicht zufrieden damit
gewesen und hatte es sofort wieder halb ausgewischt. »Das
heißt: ich«, sagte er.
»Nun gut«, entgegnete sie. »Und wenn mir das
hier nicht deinen Namen verraten hat - woher kenne ich ihn
dann?«
Varyn zuckte die Schultern. »Wenn du im Dorf Fragen stellst
- fast immer bin ich die Antwort. Wer ist der Klügste in
diesem Tal? Wer ist der schönste Mann? Der größte
Säufer? Der fleißigste Arbeiter? Das ärmste
Schwein? Die Antwort ist immer die gleiche: Varyn. Der
verrückte Varyn.«
»Dann werde ich ihn wohl so erfahren haben«, sagte der
Dämmervogel. »Wahrscheinlich durch die Frage: Wer ist
der größte Schwätzer weit und breit?«
Varyn lachte. »Ja, wahrscheinlich.«
Auch sie lachte, ein leises Lachen, das freundlich war, aber vor
allem geheimnisvoll - und unheimlich. »Dann schau dir einmal
das hier an, Varyniel!«
Bevor Varyn auch nur »Was?« fragen konnte, hielt sie
ihm die Laterne vors Gesicht, so daß er direkt hineinblickte.
Das Licht war noch heller als zuvor, und es tat seinen Augen weh.
Varyn nahm eine Hand vors Gesicht und machte einen Schritt
zurück. Etwas strich in der Schwärze an ihm vorbei, eine
flüchtige Hand, ein leises Lachen. Dann war er allein.
Verwirrt lehnte sich Varyn gegen die Wand. War das wirklich? Hatte
er gerade eine geheimnisvolle Frau getroffen, oder spielte schon
wieder der Wahn mit ihm? Denk nach, Varyn! Er schlug sich
mit der flachen Hand ins Gesicht, auf beide Wangen, bis er keinen
Zweifel mehr hatte, daß es zumindest ihn selbst gab.
Vorsichtig an der Wand entlangtastend, bewegte sich Varyn zum
Ausgang, dorthin, wo der Gang anstieg. Er konnte sich hier nicht
verlaufen, auch wenn seine Augen immer noch nur Flecken sahen.
Unter seinen Füßen knirschte der feine Kohlenstaub mit
jedem Schritt.
Varyns Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Er
wußte genau, daß die Schritte des Dämmervogels
nicht geknirscht hatte. Also nur eine Einbildung. Welch beruhigende
Vorstellung.
Draußen war tatsächlich tiefste Nacht. Varyn
fühlte sich erschöpft, todmüde. Wann hatte er
zuletzt richtig geschlafen? Er zögerte nur kurz, dann schlich
er sich, wie er es noch nie getan hatte, nach Hause, zog sich aus
und legte sich schlafen. Niemand wachte auf, nicht einmal
Gaven.
In dieser Nacht fürchtete Varyn seine Träume nicht. Der
Dämmervogel war nur eine Einbildung. Aber Wort halten
würde sie trotzdem.
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