Es kam selten vor, daß Gaven morgens von selbst wach wurde.
Mitten in der Nacht war das anders, da reichten schon leise
Geräusche, um seinem Schlaf ein Ende zu machen. Aber wenn dann
morgens die Sonne aufging, schlief Gaven für gewöhnlich
so tief und fest, daß es oft genug Schreien, Schütteln
und Schläge brauchte, um ihn aus dem Bett zu holen. Gaven
meinte, man solle es ihm gönnen. Immerhin war er derjenige,
der wegen Varyn die halbe Nacht wachliegen und außerdem auf
sein Frühstück verzichten mußte.
Aber an diesem Morgen war es anders. Etwas störte Gaven,
verschiedene Dinge, die er nicht benennen konnte ohne aufzuwachen,
also tat er das. Die Sonne war noch lang nicht aufgegangen, und
seine ganze Familie schlief noch. Gaven reckte sich und
überlegte, was besser war - sich noch einmal auf die andere
Seite drehen, oder sich schon einmal etwas zu essen machen und
anfangen, Varyn zu suchen? Er hatte Dreck zwischen den Zehen, das
haßte er. Es juckte und scheuerte. Gaven wußte genau,
daß er sich nach der Arbeit gründlich gewaschen hatte
und noch einmal, bevor er zu Bett ging - er würde sich
niemals ungewaschen schlafen legen. Aber jetzt war Dreck im
Bett, feiner Kohlenstaub, der piekste und sich überall
hinsetzte, wo Gaven ihn überhaupt nicht haben wollte - nicht
besonders viel davon, aber doch eindeutig zuviel. Der Rest von
Gaven wurde wach, und dann begriff er plötzlich, was ihn
geweckt hatte. Neben ihm lag Varyn.
Noch niemals in seinem Leben war Gaven ohne fremde Hilfe so schnell
aus dem Bett gesprungen wie in diesem Moment. Ging das jetzt bei
ihm auch schon los, daß er Dinge sah, die nicht da waren?
Aber es blieb wahr, hier lag Varyn, man konnte ihn sehen und
hören und fühlen. Vor allem konnte man ihn riechen.
Gaven beugte sich über das Bett seiner Schwestern und weckte
Noran, nicht besonders zimperlich, denn das war sie mit ihm auch
nie.
»Schau dir das an!« flüsterte er. »Das
glaubst du nicht!«
Noran setzte sich auf, rieb sich die Augen und murmelte:
»Nein, das glaube ich wirklich nicht. Du bist noch nie von
selbst wachgeworden.«
»Das meine ich nicht«, zischte Gaven. Warum war er
eigentlich so leise, wenn ohnehin gleich alle aufstehen
würden? »Aber Varyn ist wieder da. Er muß heute
Nacht zurückgekommen sein.«
»Ich weiß«, erwiderte Noran. »Er hat mich
geweckt.« Sie schnüffelte, und Gaven stellte sich vor,
wie sie im Dunkeln die Nase rümpfte. Vielleicht sollten sie
schon mal die Lampen anzünden? »Er riecht wie eine
Destille. Bestimmt hat er wieder die halbe Nacht lang
gesoffen.«
Gaven lachte. »Freu dich doch, wenn er einmal im Leben etwas
Normales macht!«
»In der Kneipe war er jedenfalls nicht«, meldete sich
Edriks Stimme aus der Ecke - seit wann war der denn auch schon
wach?
»Ja, aber du!« schnappte Noran, während sie zum
Waschtisch ging und Wasser in die Schüssel goß.
Gaven konnte verstehen, daß sie deswegen ärgerlich war.
Sie durfte die gleiche Arbeit verrichten wie die Jungen und die
gleichen schäbigen Hosen tragen und hatte schorfige Knie und
schwielige Hände - aber wenn es Abend wurde und die Arbeiter
im Wirtshaus zusammensaßen, half Noran zuhause mit der
Wäsche. Jeder wußte, was für Mädchen es waren,
die ins Wirthaus gingen - aber Gaven wußte auch, daß
dieses Argument nicht einen Deut taugte. Niemand im Tal wäre
auf die Idee gekommen, seine Schwester für ein Mädchen zu
halten.
»Geht das nicht leiser?« knurrte Varyn. »Es ist
noch dunkel!«
Gaven fing an zu lachen. »Ja, und ich möchte wetten, du
bist verdammt froh darüber, alter Suffkopf!«
Varyn antwortete nicht, aber er stand auf, was Gaven ihm beinahe
übel nahm - ihm war danach, auf dem Bastard herumzuhacken, und
das machte viel mehr Spaß, wenn dieser leidend mit einem
Brummschädel im Bett lag und zu schlafen versuchte.
Noran trat beiseite und ließ Varyn an das Wasser. »Da -
du hast es nötiger als ich.« Manchmal merkte man eben
doch, daß sie ein Mädchen war. Sie war einfach viel zu
nett.
»Danke«, sagte Varyn. »Aber ich wasche mich
draußen.« Und fort war er. Kopfschüttelnd sahen
die anderen ihm nach. Jetzt war es wieder ein ganz normaler Morgen
ohne Varyn - sie konnten zwar Witze über ihn machen, aber er
war nicht da, um sie zu hören, und es machte keinen
Spaß. Also sprachen sie auch nicht mehr von ihm.
»Die Sonne geht gleich auf«, sagte Noran.
»Schmeiß Hakon aus dem Bett, Edrik, er ist längst
wach und tut nur so, als ob er schläft.«
Im Halbdunkel versuchte sie, Alsas Schuhe zuzubinden. Die kleine
konnte es zwar schon längst, behauptete aber hartnäckig
jeden Morgen das Gegenteil, um sich vor der Arbeit zu drücken.
»Hör sofort auf, herumzuzappeln! Sonst mußt du
heute mit Varyn arbeiten!«
Alsa quietsche, und die drei Jungen lachten sie aus - und in dem
Moment kam Varyn wieder herein. Alle verstummten, als hätte er
das Lachen ausgeblasen wie eine Lampe.
»Was starrt ihr mich die ganze Zeit so an?« fragte er.
»Ich kann schreien, weil ich euch alle sterben sehe, und ihr
interessiert euch nicht für mich. Also - was ist
los?«
Noran ließ Alsas Schuh auf den Boden fallen, aber das war
auch die einzige Regung im Zimmer. Gaven schluckte. Ihm war kalt,
nicht nur, weil mit dem Morgen auch der Frühnebel zum offenen
Fenster hereinzog. Varyn sah unheimlich aus im Zwielicht, wie er
dort stand - ein bleicher, nasser Geist, etwas, das im Fluß
ertrunken war und nun zurückkehrte, um den Tod zu
verkünden.
»Was ist nun?« fragte Varyn. »Warum so
maulfaul?«
Gaven hätte ihn schon oft am liebsten erschlagen wollen, doch
kaum jemals so sehr wie in diesem Moment. »Du hast doch nie
etwas gesagt!« schrie er. »Jetzt tu nicht so, als ob
wir schuld sind! Du hast es die ganze Zeit gewußt, und
du hast nie auch nur ein verdammtes Wort gesagt!« Und bei
allen Engeln, er wünschte sich, Varyn hätte es immer noch
nicht getan. »Warum sagst du es jetzt? Willst du sagen,
daß es heute passiert? Ich hasse dich! Wir hassen dich
alle!«
Diesmal war es Edrik, der ihn schlug. »Halt dein Maul, Gaven.
Sonst fängst du gleich eine von Vater.«
Aber Varyn ging dazwischen. »Laß ihn, Großer. Er
hat Recht. Ich hätte euch längst sagen müssen, was
ich sehe. Jetzt ist es zu spät. Es tut mir leid.« Seine
Stimme war zu leise, zu sanft, zu müde. Gaven wollte ihn
weiter anschreien, aber er konnte Varyns Augen sehen: Es hätte
keinen Unterschied mehr gemacht.
So zog er nur die Nase hoch. »Dann sag jetzt wenigstens,
daß es vorbei ist!«
Varyn lächelte. »Ich will nicht hoffen, daß es
vorbei ist. Aber was das andere angeht - ich werde euch keine
Probleme mehr machen.«
Es war nicht das gleiche. Aber das sagte Gaven nicht.
An diesem Abend wurde die Arbeit
abrupt unterbrochen, aber ausnahmsweise lag das nicht an Varyn. Er
schien sein Versprechen wahr machen zu wollen und verschonte seine
Umgebung mit Anfällen. Natürlich arbeitete er viel zu
schnell - nicht nur für Gavens Geschmack - aber das konnte man
ihm wohl auch kaum noch austreiben. Er war so stark, daß er
sich nicht einmal besonders anstrengen mußte - einen Moment
lang ertappte Gaven sich bei dem Wunsch, eines Tages so zu sein wie
Varyn, zumindest so stark - aber dann schüttelte er den Kopf
und war froh, daß seine Geschwister nicht hören konnten,
was er dachte. Nur weil Varyn einmal einen guten Tag hatte,
hieß das nicht, daß alles wieder so war wie
früher.
Sie arbeiteten schweigend und konzentriert - die Hacken machten
schon genug Lärm. Draußen hätte ein Feuer
ausbrechen, ein Erdrutsch niedergehen können - im Tunnel
wäre nichts davon zu hören gewesen.
So dauerte es auch etwas, bis sie begriffen, daß jemand am
Stolleneingang stand und ihnen etwas zurief. Die Worte kamen in
Bruchstücken an, als hätte die Hacke sie zerschlagen, und
nichts war mehr zu verstehen. Varyn hielt inne und hob die Hand -
natürlich, die besten Ohren hatte er auch -, und wie
früher hörten Gaven und seine Geschwister auf ihn.
»Was ist los?« rief Varyn. »Wir arbeiten
hier!«
»Kommt raus!« wehte eine leise Stimme zu ihnen, nur ein
Hauch, verglichen mit Varyns Dröhnen. »Hier gibt es
was!«
Gaven konnte nicht erkennen, wer das war - jemand von den
Bergleuten konnte es nicht sein, denn die wären
hereingekommen, statt sich da draußen heiserzubrüllen.
Also jemand aus dem Dorf?
»Pavlik«, erwiderte Varyn, als hätte er die
Gedanken gehört, und er sagte es mit solcher
Selbstverständlichkeit, daß Gaven einen Moment lang
Angst bekam vor dem, was Varyn sah. »Ich werde mal
nachschauen.«
»Wir kommen alle mit«, sagte Edrik. »Glaub
bloß nicht, du bekommst als einziger von uns eine
Pause!«
Aber Varyn lachte nur. »Ich dachte, ihr könnt die Zeit
nutzen, um ein bißchen von dem aufzuholen, was ich
vorgearbeitet habe.«
Er lief zum Ausgang, bevor sie ihn schlagen konnten, also blieb
ihnen nichts anderes übrig, als ebenfalls zu lachen und ihm zu
folgen.
Draußen stand Pavlik in seinen speckigen Ledersachen,
verschwitzt und kaum weniger voll Ruß als die anderen voll
Kohle.
Aber bevor sie ihn fragen konnten, was denn nun los war,
hörten auch sie die Trommeln, ein tiefes fröhliches
Dröhnen.
»Die Spielleute sind gekommen!« rief Noran.
Doch Pavlik schüttelte verächtlich den Kopf.
»Hättet ihr wohl gerne! Nein, das ist was besseres. Die
Soldaten sind da.«
Er blickte Varyn einen Moment lang an, als wolle er sagen 'Sie sind
gekommen, um dich mitzunehmen, Verrückter.' Er sagte es nicht,
doch es lag in seinen Augen. Gaven biß die Lippen zusammen -
so etwas auch nur zu denken, stand niemandem außerhalb
ihrer Familie zu. Schließlich waren sie auch diejenigen, die
unter Varyn zu leiden hatten. Doch Varyn lächelte nur , sein
übliches Red-du-nur-ich-bin-besser-als-du-Lächeln
und sah dem Schmiedejungen so lange und so fest in die Augen, bis
dieser den Blick abwandte. Wer wurde auch schon gerne von einem
Verrückten angestarrt?
»Nun gut«, sagte Varyn schließlich. »Ich
werde es mir einmal ansehen. Ihr anderen könnt solange
weiterarbeiten.«
Aber noch bevor Gaven oder eines seiner Geschwister protestieren
konnten, war Pavlik schon dazwischengegangen. »Nichts da! Ihr
müßt alle hin, das heißt - bis auf Noran, alle
Männer müssen sich versammeln. Ist euer Vater nicht da
drin?« Mit einem schmutzigen Daumen deutete er in Richtung
Stollen.
Die Kohlenkinder lachten. »Weißt du nicht, daß
wir drei von der Sorte haben? Vater ist im Oststollen - zusammen
mit den Kleinen, und Farkin, und Latar. Dann sag ihnen mal
schön Bescheid! Wir folgen dem Ruf!« Dem dumm
dreinblickenden Pavlik schnitten sie noch ein paar Gesichter - das
heißt, zumindest Gaven tat das, denn mit den großen
Jungen konnte ihm nichts passieren - als sie zum Dorfplatz
hinunterliefen.
Dort waren tatsächlich beinahe Männer des Dorfes
versammelt - »Fast so viele wie abends im Wirtshaus«,
flüsterte Edrik Gaven zu - und auch ein großer Teil der
Frauen. Aber Gaven hatte kein Auge für sie. Er sah nur die
Reiter.
Fünf Männer auf riesigen schwarzen Pferden - keine
klapprigen Ackergäule, sondern richtige Hengste,
Streitrösser, unter deren Leib zumindest Alsa bequem
hätte durchspazieren können. Und auch die Männer
waren beeindruckend in ihren Rüstungen aus schwarzem Leder und
gehärtetem Stahl, ihre Gesichter verborgen im Schatten der
Helme.
»Das königliche Kriegsheer«, wisperte Noran
atemlos. Gaven konnte nur nicken. Das Heer war legendär - seit
Gaven sich erinnern konnte, hatte sich nie auch nur ein Soldat in
das Tal verirrt; nur Geschichten ihrer Heldentaten mit den
Händlern, den Reisenden und Erzkarren. Und nun gleich
fünf auf einmal!
Keiner von ihnen rührte die Trommel. Das war ein Junge,
vielleicht so alt wie Gaven, aber wahrscheinlich noch jünger,
der kein Pferd hatte und keinen Helm, aber auch schon Stahlplatten
auf seiner Lederkleidung. Seine Haare flatterten im Wind, und er
sah stolz aus, stolz und glücklich und frei… Gaven
konnte nicht sagen, wie sehr er ihn beneidete.
Varyn schob sich bis nach vorne durch, anstatt sich in die hintere
Reihe zu stellen, und Gaven und die anderen quetschen sich hinter
ihm her - in diesem Moment konnten sie Brüder sein, solange
sie alle gut sehen konnten. Einige Männer drehten sich um, als
sie beiseitegeschubst wurden, doch sie sagten nichts. Allein
hätte Gaven nichts von dem wagen können, was Varyn hier
tat. Es war toll - fast ein wenig wie früher…
Aber Varyn tat nur so, als ob alles in Ordnung war. Er war viel zu
aufgekratzt, auch ohne zu schreien und sich auf dem Boden zu
wälzen. Gaven ahnte, daß er jeden Moment durchdrehen
konnte, und hier, vor all den Leuten und den Soldaten…
Plötzlich bereute er es, daß sie in der ersten Reihe
standen.
Auch die Reiter bemerkten sie, blickten zu ihnen hinunter. Gaven
bemühte sich, unerschrocken zurückzuschauen.
»Sind das jetzt alle?« fragte der größte der
Reiter, ein noch recht junger Mann mit kurzem, hellen Bart. Seine
Stimme war laut, klang aber so, als ob er sich noch
zurückhielt. Wie laut mußte man brüllen, um ein
Schlachtfeld übertönen zu können? Gaven schauderte
es, auf diese angenehme Art, wie wenn man eine Gruselgeschichte
hörte.
Der Schmied schüttelte den Kopf. »Einer fehlt
noch.«
An Gavens Seite zischte Varyn durch die Zähne. »Sicher,
jetzt muß er tun, als ob er der Dorfvorsteher ist! Soldaten
und Waffenschmiede gehören zusammen.« Er spuckte aus,
nicht verächtlich, sondern so, wie sie es immer taten -
Bergleute durften spucken, wo immer sie gerade waren. Aber der
General - Gaven hatte beschlossen, daß der Mann mit dem
hellen Bart ein General war - schien das nicht zu wissen, denn er
lehnte sich vor und zog drohend die Augenbrauen zusammen.
Vielleicht hatte er auch Varyns Worte gehört… Gaven
stieß Varyn in die Rippen und hoffte, daß der General
auch das bemerken würde.
»Das ist egal«, bellte der Blondbärtige. »Er
wird es schon noch erfahren. Wir können nicht auf alle
warten.«
Ein Lachen glitt durch die Menge, das Gaven verletzte, weil es
immerhin um seinen Vater ging. Auch Varyn lachte, aber er drehte
sich dabei zu Gaven um und zwinkerte. »Denk doch mal
nach!« wisperte er. »Pavlik fehlt doch auch noch! All
die Rennerei für nichts!« Nun mußte auch Gaven
grinsen, aber er biß die Lippen zusammen.
Mit einem Wink bedeutete einer der Reiter dem Trommler, lauter zu
schlagen. Das Dröhnen schwoll an, und als das Lachen endlich
verstummte, schwieg auch die Tommel. Es hatte gewirkt.
»Es herrscht Krieg!« schrie der General. Gaven machte
erschrocken einen Schritt rückwärts - sein Vater konnte
anständig brüllen, Edrik gab sich alle Mühe, und
Varyn tat es zu oft - aber dies… Er stolperte gegen
jemanden, der hinter ihm stand, aber es war nur Edrik.
»Loringaril hat uns den Krieg erklärt! Sie haben Blut
aus Vigilanders Volk vergossen! Und wißt ihr, was das
heißt?«
Bevor irgend jemand - bevor Varyn - antworten konnte, holte
Gaven Luft und rief, so laut er konnte: »Rache!«
Von zwei, drei anderen Stellen in der Menge ertönte der
gleiche Schrei, doch Gaven stellte zufrieden fest, daß er der
erste war.
Die Reiter lachten, tief und laut und rollend - und grimmig.
»Genau. Rache«, wiederholte der schwarzbärtige
Reiter ganz links.
»Und an wem«, fuhr der General fort, »ist es nun,
diesen Mord zu rächen?«
Gaven zögerte nicht und dachte auch nicht nach, außer
darüber, daß er seinen Vorsprung weiter ausbauen
mußte. »Vigilander!«
Aber nun lachte der General höhnisch. »Ja, euer
König rächt sein Land - natürlich stimmt das.«
Gaven preßte den Mund zusammen. Er hatte den Engel gemeint -
nicht den König. »Aber wer soll an seiner Seite
streiten, wenn ihr alle auf der faulen Haut liegt?« Langsam
wurde Gaven sauer. Ihre Arbeit hatte weniger mit Faulheit zu tun
als das, was der General machte, herumreiten und brüllen.
»Es ist an euch allen, diese Bluttat zu rächen. Euer
Land, euer König und euer Engel brauchen euch!«
Im Hintergrund fragte eine rauhe, ruhige Stimme: »Ihr seid
gekommen, um unsere Söhne anzuwerben?«
Gaven schrak zusammen, als er seinen Vater erkannte, und drehte
sich um, doch er konnte ihn nicht sehen zwischen all den
Leuten.
»Nein«, sagte der General, und das Lachen war wieder in
seiner Stimme, ein unangenehmes, höhnisches Lachen. »Wir
sind gekommen, um alle kriegstauglichen Männer aus diesem Dorf
einzuziehen.«
Erst an dem dreckigen Lachen aus dem Hintergrund merkte Gaven,
daß noch mehr Fremde als die Reiter ins Dorf gekommen waren.
Dort am Rand hockten Männer und junge Burschen, die sich in
ihrer Kleidung nicht von den Dörflern unterschieden, aber
nicht hierher gehörten - wahrscheinlich im Nachbardorf
angeworben… Die jüngsten von ihnen sahen kaum
älter aus als Gaven… Aus seinen Zehenspitzen stieg eine
freudige Spannung in Gaven auf, und er reckte sich, um
größer auszusehen. Raus aus dem Tal! Raus aus der Mine!
Gleich würde der General alle aussortieren, die er für
geeignet hielt - und wehe, Gaven war dann nicht dabei! So eine
Gelegenheit gab es niemals wieder. Nicht vor dem nächsten
Krieg, jedenfalls.
»Das geht nicht!« rief sein Vater. »Laßt
mich durch!«
Die Leute bildeten eine Gasse. Gaven freute es, daß alle
Leute Respekt vor seinem Vater hatten - so würden sie eines
Tages auch vor ihm zurückweichen… Aber ich werde
derjenige sein, der auf dem Pferd sitzt. Ich werde der in der Mitte
sein, der auf dem Pferd.
»Ihr könnt unsere Söhne nicht haben«, sagte
sein Vater zum General. »Und auch nicht unsere Onkel,
Vettern, Brüder und Väter.«
'Nur den Bastard könnt ihr haben', setzte Gaven im Kopf hinzu
und schielte zu Varyn hinüber. 'Der ist mit niemandem hier
verwandt.«
Aber der General war nicht beeindruckt. Er setzte die Hände
auf die Hüften und blickte hinunter auf den Mann vor ihm -
verglichen mit dem Schmied, war Gavens Vater schmächtig, und
er mußte sich sehr beeilt haben, um auf den Dorfplatz zu
kommen, denn sonst ging er niemals unter die Leute, ohne sich den
Kohledreck abgewaschen zu haben. Gaven wußte nicht, ob er in
diesem Moment stolz auf seinen Vater sein sollte oder sich seiner
schämen. In diesem Moment wäre er lieber der Sohn des
Schmiedes gewesen.
Der General lachte nur. »Guter Mann, ich habe eine Urkunde
mit dem Siegel des Königs!«
»Und ich«, sagte Gavens Vater nicht minder
unbeeindruckt, »habe ein Bergwerk. Ondreg da hat eine
Schmiede. Askir und Vernon haben eine Eisengießerei. Das hier
ist kein einfaches Bauerndorf, das ihr für euren verdammten
Krieg melken könnt. Ohne unser Dorf, ohne unsere Männer
wird es euren Krieg nicht geben.« Er drehte sich um und
blickte die Dorfleute an. »Euch ist klar, daß ein Krieg
Arbeit bedeutet? Mehr Waffen rauchen mehr Stahl, und mehr Stahl
mehr Kohle. Ich muß einen neuen Stollen aufmachen, und wir
werden Nachtschichten einlegen. Wer in der Lage ist, eine Hacke
hochzuheben, kommt zu mir. Alle übrigen Männer melden
sich bei Vernon, die Blasebalge dürfen nicht stillstehen. Und
Ondrek« - er nickte dem Schmied zu - »du suchst dir
deine Männer selbst raus, nicht wahr?«
Diesmal waren es die Leute aus dem Dorf, die lachten, und Gaven
lachte mit ihnen - er wünschte sich nichts mehr, als mit den
Soldaten ziehen zu dürfen, aber es gefiel ihm, wie dumm dieser
aufgeblasene Blondbart aus seiner Rüstung guckte, als sich
Gavens Vater wieder ihm zuwandte.
»Ihr seht, in unserem ganzen Tal gibt es niemanden, den ihr
einziehen könnt. Wir werden Euch und Eure Männer gerne
beherbergen und verpflegen - aber wir behalten unsere Söhne.
Und unsere Töchter auch.«
An Gavens Seite klatschte und johlte Varyn mit den anderen - aber
als Gaven das nächste Mal zu ihm hinüberblickte, war er
fort.
Erst am späten Nachmittag
tauchte Varyn wieder auf, aber Gaven konnte nicht behaupten, ihn
bis dahin sonderlich vermißt zu haben. Es war ein
denkwürdiger Tag - die Soldaten waren da, und jetzt
mußte niemand mehr arbeiten. Die Männer saßen im
Wirtshaus und berieten sich, und sie scheuchten alle Kinder, die
ihnen dabei zuhören wollten - oder, was das eigentlich
Interessante war, einen Blick aus der Nähe auf die ebenfalls
eingekehrten Soldaten werfen - gnadenlos fort. Auch Gaven wurde vor
die Tür gesetzt.
»Tut mir leid«, sagte sein Vater, »aber hier ist
wirklich kein Platz für dich.« Natürlich stimmte
es, die Schankstube, zur Hälfte ausgefüllt von den
Soldaten, war gerammelt voll. Aber natürlich durfte Edrik
dabei sein, und neben dem Schmied saß Pavlik und
feixte… Wütend schlug Gaven die Tür zu.
»Ach, mach dir nichts draus«, versuchte ihn Noran zu
trösten. »Das ist doch sowieso langweilig. Komm mit, wir
wollen zum Fluß und sehen, ob wir ein paar Fische fangen
können.«
Gaven schnaubte. Am Fluß spielen - das war etwas für
Kinder, etwas, das sie jeden Tag machen konnten - nein, nicht
wirklich, eigentlich konnten sie nie am Fluß spielen, weil
sie arbeiten mußten - aber die Soldaten waren nur einen Tag
lang da, und morgen wieder fort. »Ihr könnt von mir aus
reinfallen, aber beschwert euch dann nicht, wenn ihr
absauft«, murrte er. »Ich bleibe hier.«
Noran versuchte nicht, ihn umzustimmen. Sie schnappte sich die
beiden Kleinen und verschwand. Bestimmt würden sie mit
Gänseblümchenketten zurückkommen…
Gaven blieb unschlüssig auf dem Dorfplatz stehen. Die Sonne
schien ihm ins Gesicht, und er wußte nichts mit sich
anzufangen. Ein Tag ohne Arbeit - da mußte man etwas wirklich
Besonderes tun. Nur was? Varyn saß auf Garantie wieder im
Toten Mann. So ein Blödmann!
Aus dem Wirtshaus ertönte Stimmengewirr. Aber Gaven hörte
noch etwas: Ein Wiehern aus den Ställen. Er nickte zufrieden.
Das war wirklich etwas Besonderes! Dann schlich er sich in den
Stall.
Gaven mochte Pferde, solche Pferde, und hier standen sie,
abgesattelt, aber nicht minder eindrucksvoll. Sie
flößten Gaven fast noch mehr Respekt ein, als ihre
Reiter es getan hatten. Vorsichtig schlich Gaven auf das
größte Pferd zu, das Pferd des Generals, und erwartete
gleichzeitig, daß draußen ein großes Gebrüll
anfangen würde: Alsa ist in den Fluß gefallen,
oder zur Not auch Harkon - in besonderen Momenten kam immer etwas
dazwischen… Aber dann stand er direkt vor dem Pferd, blickte
ihm in die großen schwarzen Augen. Der Hengst legte die Ohren
zurück und beschnupperte ihn mit einer Mischung aus Neugier
und Argwohn.
Lachend riß Gaven eine Handvoll Heu aus der Raufe und hielt
sie dicht unter das dampfende Maul, daß einige Halme fast in
die Nüstern stachen. Das Pferd zog die Lippen zurück, und
einen Augenblick fürchtete Gaven, zu weit gegangen zu sein und
seine Hand an die bemerkenswert großen Zähne zu
verlieren. Aber dann nahm das riesige Tier das Heu behutsam auf. Es
kitzelte ein bißchen. Aber jetzt wußte Gaven, daß
der Hengst vielleicht ein Kriegstier war, aber weder wild noch
bösartig.
»Du«, flüsterte Gaven. »Du wirst mich doch
nicht abwerfen?«
Das Pferd schüttelte den Kopf, was bei dieser Frage sowohl ja
als auch nein bedeuten konnte. Er mußte es einfach riskieren.
»Halt still«, sagte er zu dem Pferd, kletterte auf die
Raufe und von dort auf den glänzenden schwarzen
Rücken.
Einen Moment lang stand das Pferd ganz still, und Gaven auf seinem
Rücken fühlte sich so stolz und großartig, wie nur
ein Engel selbst es konnte. Triumphierend gab er dem Pferd einen
Klaps auf die Flanke. Er hätte es besser wissen
müssen.
Als das Pferd sich aufbäumte, fiel Gaven nicht sofort
hinunter. Einen Moment lang noch konnte er sich in den dicken
schwarzen Haaren der Mähne festkrampfen, bevor er den Halt
verlor und hinunterrutschte. Gaven landete halb auf seinem Hintern,
halb auf der Seite im weichen, beinahe frischen Stroh, und lachte
erleichtert auf, als er merkte, daß er sich nicht einmal
wehgetan hatte. Dann begriff er, warum er im Stroh lag. Er war zu
dem Pferd in die Box gefallen. In die verriegelte Box. Zu einem
Pferd, das aufgebracht mit den Hufen in alle Richtungen ausschlug.
Ein wieherndes, wildgewordenes Kriegspferd - würden die
hölzernen Wände das aushalten?
Die Wände vielleicht…
Gaven hatte Angst. Es war so leicht, über Varyn zu lachen,
wenn der sich vor blinder Furcht nicht mehr rühren konnte,
aber jetzt hatte Gaven Angst, und er hatte allen Grund dazu. Um zur
Tür hin zu kommen, mußte Gaven an dem Pferd vorbei, und
bis er auf der anderen Seite den Riegel gelöst hatte - das war
zu gefährlich. Was hätte Varyn - der alte Varyn - an seiner Stelle getan?
Hektisch blickte sich Gaven in der Box um. Die hölzerne
Stallwand hinter ihm, die schulterhohen gezimmerten Wände
links und rechts - zu hoch zum drüberklettern. Aber die
Futterkrippe stand auf vier Beinen, und darunter war Platz…
Gaven betete zu allen Engels gleichzeitig, als er einen Moment
abpaßte, in dem der Weg frei war, und sich dann blitzschnell
unter die Krippe rollte. Er war in Sicherheit. Früher oder
später würde das Pferd sich beruhigen…
Strohstaub kitzelte in Gavens Nase, aber er unterdrückte ein
Niesen. Er konnte nicht einmal richtig den Kopf heben. Die Krippe
erzitterte unter den Schlägen des Pferdes. Aber es mußte
gleich damit aufhören… Gaven war froh, nicht geschrieen
zu haben. Niemand sollte von seiner Angst wissen, und niemand
sollte ihn retten wie ein dummes kleines Kind.
Die Stalltür ging auf, Schritte, und dann wurde die Tür
der Box aufgerissen, und zwei Kräftige Arme zerrten Gaven aus
dem Stroh. Varyn. Immer wenn man ihn gerade nicht brauchte,
mußte er auftauchen. Er war auch immer derjenige, der die
Kinder aus dem Fluß fischte, wenn sie es geschafft hatten,
hineinzufallen - natürlich, schwimmen konnte er auch noch,
auch wenn es ihm nie jemand beigebracht hatte… Erst jetzt
merkte Gaven, daß er am ganzen Körper zitterte.
»Dummkopf!« fuhr ihn eine Stimme an, die nicht Varyn
gehörte. »Raus hier! Sofort!« Es war der General.
Gaven versank im Boden vor Scham. »Raus!« bellte der
General. »Und draußen wartest du. Ich versuche, ihn zu
beruhigen. Und wenn er verletzt ist, zahlst du - also
raus!«
Jetzt gehorchten Gavens Füße ihm endlich wieder so weit,
daß er dem General gehorchen konnte. Sein Verstand riet ihm,
wegzurennen, aber er blieb im Hof stehen und wartete, bis das
Poltern aus dem Stall verstummte und der General herauskam. Er trug
den Helm nicht mehr, aber was seinem Gesicht dadurch an Drohung
fehlte, machte die Wut in seinen Augen wett. Wahrscheinlich
wäre Gaven doch besser weggerannt - nicht, um abzuhauen, aber
um Varyn zur Hilfe zu holen. Das war einer von den Momenten, wo man
ihn brauchen konnte… Der General packte Gaven am
Schlafittchen. Er roch nach Schweiß und Bier, aber er war
ganz sicher nicht betrunken.
»Ich hätte mir denken können, daß du das
warst«, grollte er. »Du bist mir schon vorhin
aufgefallen. Sei froh, daß ich dich nur für einen dummen
Jungen halte und nicht glaube, daß du die Pferde stehlen
wolltest - sonst wärst du jetzt tot.«
»Tut mir leid«, murmelte Gaven. »Ich wollte doch
nur -«
»Du hast nicht zu wollen!« fuhr ihn der General an.
»Ich dachte, du wolltest ein Soldat werden?«
Gaven nickte. Langsam ließ seine Angst nach. Er war daran
gewöhnt, angebrüllt zu werden, und gleich würde er
noch ein paar Ohrfeigen bekommen, und noch etwas Ärger - aber
ohne Helm war auch der General nur ein Mann, und ein noch recht
junger dazu.
»Du bist kein Soldat«, knurrte der General. »Du
bist dumm, leichtsinnig und töricht - glaubst, daß du
ein Held bist, und kannst nichts. Glaub es oder nicht, aber ich
danke deinem Vater, daß er mir euch erspart hat.«
Gaven starrte ihn verwirrt an. »Was meint Ihr -«, fing
er an, brach ab und fragte statt dessen: »Woher wißt
Ihr, wer mein Vater ist?«
Jetzt lachte der General. »Man sieht, daß du aus einem
Bergwerk kommst, schwarz wie du bist. Wenn der Herr dieser Grube
nicht dein Vater wäre - warum sollte er ausgerechnet dir
Arbeit geben? Jetzt hat er das halbe Dorf unter sich, und ich
wünsche ihm Glück dabei. Aber ich muß weiter zur
nächsten Aushebung, und mich mit dem nächsten Haufen
Dummköpfe herumschlagen.« Seine Stimme klang
verächtlich, aber nur einen Moment später fror seine
Miene ein. Vielleicht hätte er niemals so viel verraten
dürfen…
»Ihr seid kein General, oder?« fragte Gaven.
»General? Bewahre. Ich bin Hauptmann. Keiner von denen, die
jetzt schnell zum Hauptmann erklärt wurden, weil man im Krieg
mehr davon braucht - mehr Männer, mehr Verschleiß - aber
trotzdem nur ein Hauptmann. Kein General.«
»Tut mir leid«, sagte Gaven.
»Es gibt Schlimmeres. Mein Pferd zum Durchdrehen bringen, zum
Beispiel. Bist du bereit, deine Strafe zu empfangen?«
Noch vor ein paar Minuten wäre Gaven bereit gewesen, aber
jetzt hatte er fast vergessen, worum es ging. Trotzdem nickte er
schnell und tapfer. Der Hauptmann war eigentlich ganz nett, und
besonders wütend schien er auch nicht zu sein.
»Gut«, sagte der Hauptmann, und ein Grinsen ließ
sein kantiges Gesicht noch breiter aussehen. »Dann komm
mit.«
»Wohin?« fragte Gaven verwirrt. Seine Ohrfeigen konnte
er genausogut hier an Ort und Stelle bekommen.
»Rein«, antwortete der Hauptmann und deutete mit dem
Kinn auf die Tür des Wirtshauses. »Du willst doch sicher
meine Leute kennenlernen.«
Entgeistert starrte Gaven ihn an. Das war doch keine Strafe! Das
war nicht mehr und nicht weniger als Gavens größter
Wunsch, zumindest, seit die Soldaten aufgetaucht waren. Und mit dem
Hauptmann dabei konnte ihm wirklich nichts mehr passieren…
Er mußte sich zusammennehmen, um nicht vor Freude auf und ab
zu hüpfen, als er die Wirtsstube betrat, im Schatten des
Hauptmanns, damit sein Bruder oder sein Vater nicht sofort auf ihn
aufmerksam wurden. Man mußte ja nicht gleich alles
übertreiben…
»Wen bringst du da mit, Mendrion?« fragte einer der
anderen Hauptmänner am Tisch. »Doch noch ein
Rekrut?«
Die Männer um ihn herum, vor allem die jüngeren, lachten
schallend. Wütend biß Gaven die Lippen aufeinander. Als
ob die Vorstellung so abwegig war? Auch sein Hauptmann - Mendrion
hieß er also - lachte, als er den Kopf schüttelte.
»Pferdedieb«, sagte er. »Macht Platz, damit er
sich zu euch setzen kann!«
Während er auf einem Schemel am Ende des Tisches Platz nahm,
fand sich Gaven zwischen zwei Burschen wieder, die etwas älter
sein mußten als Edrik.
»Und was hast du jetzt mit ihm vor?« fragte der
Schwarzbärtige.
»Laß das meine Sorge sein«, erwiderte Mendrion
gutgelaunt. »Er erinnert mich an meine längst vergangene
Jugend.«
»Du hast Pferde gestohlen, Hauptmann?« fragte ein
rothaariger Junge auf der anderen Tischseite, zu breit grinsend, um
seinen ungläubigen Tonfall ernst klingen zu lassen, und er
bekam auch sofort von den Jungen neben ihm links und rechts ein
paar Knüffe verpaßt. Gaven dachte daran, wie sehr er ihn
beneidete, aber dann fiel ihm ein, daß er das jetzt ja gar
nicht mehr mußte - saß er nicht mitten zwischen
ihnen?
Mendrion ging nicht auf den Witz ein. Er lehnte sich zu Gaven
hinüber. »Wie ist es, Junge - du hast doch sicher
Durst?«
Gaven schwante Übles, doch er nickte. So also sollte die
Bestrafung aussehen - Mendrion wollte ihn mit Bier abfüllen,
um ihn dann entweder höhnisch seinem Vater zurückzugeben
oder ihn… mitnehmen? Er hatte Geschichten gehört von
Preßpatrouillen, die junge Männer betrunken machten,
ihnen ein Handgeld in die Finger drückten und ihnen am anderen
Morgen sagten, daß sie nun Soldaten waren…Gaven
wußte, daß er ein oder zwei Bier trinken konnte, ohne
daß etwas passierte, doch danach wurde es kritisch…
Aber er wollte doch, daß die Soldaten ihn mitnahmen! Und wenn
sie ihn unwiderruflich rekrutierten, konnte auch sein Vater nichts
mehr dagegen unternehmen. »Sicher habe ich Durst!«
sagte er stolz. Und selbst wenn sie ihn hinterher doch nur wieder
bei seinen Eltern ablieferten - wer aus dem Dorf konnte sonst von
sich behaupten, mit den Soldaten getrunken zu haben?
Der Rekrut links von ihm klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
»Mutig, Kleiner, mutig!«
Gaven ignorierte ihn. Er beobachtetre Mendrion, als er Venna zu
sich hinüberwinkte, die Wirtstochter und Schankmagd, sie zu
sich hinterzog - das war etwas, das sie nur allzu gerne mit sich
machen ließ - und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Dabei
zeigte er auf Gaven. Venna schüttelte den Kopf und kicherte,
doch als Mendrion ihr noch einen Klaps versetzte, verschwand sie
wieder hinter der Theke. Gaven mußte grinsen. Offenbar
würde er doch nicht der einzige aus dem Dorf sein, der heute
etwas mit den Soldaten erlebte.
Venna kam zurück, nicht mit einem großen Bierkrug,
sondern einem kleinen Holzbecher, den sie vor Gaven hinstellte.
»Wohl bekomm's«, sagte sie mit einem etwas zu
schadenfrohen Unterton, nickte Mendrion noch einmal zu, und ging
wieder.
Ein wenig zögerlich nahm Gaven den Becher - von allen Seiten
wurde er nun angestarrt, und das behagte ihm gar nicht. Die
Tuscheleien und das Lachen der Soldaten hatte aufgehört. Nun
warteten sie gespannt, was mit Gaven passierte…
»Nur zu«, sagte Mendrion. »Trink aus, wenn du es
schaffst. Du hast es dir verdient!«
Wenn Gaven noch länger wartete, konnte er nichts gewinnen.
Ohne die Augen von Mendrion zu lassen, trotzig und kampfbereit, hob
er den Becher und nahm einen Schluck. Er erwartete den bitteren
Geschmack von Bier, aber das war…
»Milch«, sagte Mendrion lächelnd. »Ich
hoffe, sie ist nicht zu stark.«
Wie auf Kommando brachen alle Soldaten in brüllendes
Gelächter aus. Gaven fühlte, wie er rot wurde, und setzte
den Becher lieber nicht ab, damit es niemand sah. Sein Gesicht
brannte vor Zorn und Scham, er fühlte sich verärgert, und
verraten…
Ein zu breites Grinsen vertrieb endgültig den Mißmut aus
Mendrions Gesicht, als er seinen Becher hob und Gaven zuprostete.
»Strafe muß sein, Junge. Und Prügel hättest
du zu schnell wieder vergessen.«
Was blieb Gaven anderes übrig? Er setzte den Becher ab, sein
ganzer Mund erfüllt von dem süßen pelzigen
Geschmack der Milch. Er konnte schlecht zugeben, daß er Milch
eigentlich viel lieber mochte als Bier, aber…
»Danke«, sagte er nur, und nach einer kurzen Pause
fügte er hinzu: »Hauptmann.«
Von links und rechts wurde er geknufft und gerempelt. Die Soldaten
lachten noch immer, lachten ihn aus. Gaven biß die Lippen
zusammen.
Der Rothaarige gegenüber beugte sich vor. »Ach, mach dir
nichts draus. Du kannst was von meinem haben.« Er schob Gaven
seinen Krug zu, der noch zur Hälfte gefüllt war, und
nickte aufmunternd, als Gaven nicht sofort zugriff.
Gaven wartete noch einen Moment, dann schnappte er sich den Krug
mit beiden Händen, bevor der Bursche auf die Idee kam, ihn im
letzten Augenblick zu aller Belustigung wieder wegzuziehen. Aber
der Rothaarige lachte nur. »Für was hältst du mich?
Nimm schon!«
Endlich erstarb das Lachen. Dankbar lächelte Gaven seinen
Retter an. Jetzt konnte auch der Hauptmann nichts mehr sagen. Der
Rothaarige stand auf und versuchte, Venna zu sich
hinüberzuwinken, aber statt dessen bekam er Mendrions
Rache.
»Du bist ein vernünftiger Mann, Pogge, daß du
weißt, wann du genug hast, und das freut mich. Du willst
sicher nicht deinen Kameraden beim Trinken zusehen, sondern dich
nützlich machen. Mein Pferd ist etwas mitgenommen, es
muß gestriegelt werden.«
Der Rothaarige blickte ihn unglücklich an, offenbar unsicher,
inwieweit Mendrion es ernst meinte. »Aber,
Hauptmann…«
»Worauf wartest du noch?« donnerte Mendrion. »In
den Stall mit dir, aber hurtig! Und du, Kohlenjunge - trink deine
Milch aus, bevor sie schal wird.«
Den Becher in der einen Hand, kletterte Gaven von der Bank. Er
hatte genug von den Soldaten, und vielleicht durfte er Pogge ja
beim Striegeln helfen. Dann fiel sein Blick auf den Bierkrug.
Geschenke waren so selten, man durfte sie nicht verkommen lassen,
und er konnte ihn Venna oder den Wirt hinterher immer noch
zurückgeben… Als Gaven nach dem Krug griff, legte sich
von hinten eine Hand auf seine Schulter.
»Was hast du hier zu suchen, Gaven? Hatte ich dir nicht
gesagt -«
»Er hat mich eingeladen!« sagte Gaven schnell und
deutete mit dem Holzbecher auf Hauptmann Mendrion.
Zornig zogen sich die buschigen Augenbrauen von Gavens Vater
zusammen. »Du hast auf niemanden zu hören als mich, von
deiner Mutter einmal abgesehen, verstehst du? Also nach Hause mit
dir - aber sofort!«
Gaven gehorchte - ihm blieb nichts anderes übrig. Aber
während er davonschlich, entging ihm nicht das breite Grinsen
des Hauptmanns. Als Gaven an der Tür war, rief ihm sein Vater
quer durch die Schankstube zu: »Und wasch dich
endlich!«
Das war genug Demütigung für Gaven an einem Tag. Er ging
tatsächlich heim. Das Bier goß er unterwegs in ein
Gestrüpp. Es schmeckte ohnehin nicht. Aber trotzdem - von ein
paar Kleinigkeiten abgesehen, war Gaven mit dem Verlauf dieses
Tages voll und ganz zufrieden.
Als sie dann am Abend alle
zusammensaßen und aßen, tauchte auch Varyn wieder auf.
Gaven bekam Ärger für seinen Ungehorsam, auch wenn zum
Glück niemand von dem Pferd wußte, und Noran, weil sie
zugelassen hatte, daß Alsa und Harkon ins Wasser fielen - und
da Noran sie diesmal selbst herausgefischt hatte, waren alle
naß wie ertrunkene Katzen - und Edrik bekam Ärger, weil
er zuviel getrunken hatte, auch wenn ihm das herzlich wenig
auszumachen schien. Nur Varyn war wieder der alte Sonnenschein, der
Engel, der niemals einen Fehler machte… Gaven hätte am
liebsten ein paar von seinen Ohrfeigen an den Bastard
weitergegeben, doch das konnte er später immer noch tun, also
ließ er es bleiben.
Schweigend tunkte er sein Brot in den Eintopf, schweigend
aßen sie alle - das hieß, bis auf Edrik, der
zwischendurch immer wieder in Gelächter ausbrach, ohne jedoch
jemals zu erklären, was genau denn nun so komisch war.
Nur Varyn rührte sein Essen kaum an, was nicht weiter
ungewöhnlich war - Gaven fragte sich oft genug, wie der Junge
es schaffte, so hart zu arbeiten, wo er doch so wenig aß.
Trotzdem wartete Varyn, bis alle anderen aufgegessen hatten, ehe er
seine Schüssel beiseite schob und aufstand.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er und setzte hinzu,
bevor irgend jemand etwas darauf erwidern konnte: »Ich werde
mit den Soldaten gehen. Morgen früh, wenn sie aufbrechen, bin
ich fort.«
Einen Moment lang herrschte Stille am Tisch. Dann sagte Gavens
Vater ruhig: »Nein, Varyn. Ich verbiete es dir.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich muß gehen. Ich
kann nicht hierbleiben. Die Soldaten sind vielleicht meine letzte
Gelegenheit, aus dem Tal rauszukommen.«
»Ja, geh doch!« rief Edrik dazwischen. »Geh doch,
hau bloß ab!«
»Halt den Mund, Edrik«, knurrte Varyn, »und
laß mich ausreden. Wenn du so wenig verträgst, leg dich
schlafen!« Er schob seinen Schemel unter den Tisch.
»Onkel, Tante - kann ich draußen in Ruhe mit euch
darüber reden?«
Gaven Vater schüttelte den Kopf. »Ich wüßte
nicht, was es zu bereden gäbe. Ich habe nein gesagt. Keines
meiner Kinder wird in diesen Krieg ziehen.«
Varyns Augen veränderten sich, wenn er zornig war, ihr helles
Grau wurde dunkel wie Schiefer, und Funken schienen daraus zu
sprühen wie aus einem Flintstein. »Du zwingst mich,
etwas zu sagen, was ich niemals sagen wollte«, zischte er
durch zusammengebissene Zähne. »Ich bin nicht euer Kind,
ich gehöre nicht zu euch, und ich gehöre nicht hierher.
Ihr wollt mich vom Krieg fernhalten, um mich zu beschützen,
aber die Wahrheit ist, mit jedem Tag, den ihr mich zwingt
hierzubleiben, geht es mir schlechter.«
Als niemand etwas erwiderte, nicht einmal Edrik ihm ins Wort fiel,
wurde seine Stimme lauter. »Ich werde gehen, und ihr
könnt mich nicht aufhalten. Du hast jetzt das halbe Dorf in
der Grube, Onkel, und das dürfte reichen, um dich über
den Wegfall meiner Arbeit hinwegzutrösten.« Er lachte
bitter. »Außer, daß du gezwungen sein wirst, sie
zu bezahlen. Aber ich bin weg. Sag ihm, was passiert, wenn ich
bleibe, Tante! Oder sag du es ihm, Gaven! Sagt ihm, was ich sehe,
und was ich dann tue - wenn er es noch nicht selbst
weiß!« Dann schrie er: »Wenn ich hierbleiben
muß, bringe ich mich um!«
Endlich schwieg er, doch seine Augen funkelten weiter, und er
blickte sich gehetzt in der Stube um wie ein Tier in der Falle.
Doch Gavens Vater blieb ruhig. »Wenn du in den Krieg
ziehst«, sagte er leise, »bringst du dich auch
um.«
»Er hat Recht, Tamrik«, erwiderte Gavens Mutter.
»Wir müssen ihn ziehen lassen.«
»Aber nicht in den Krieg! Jederzeit hätte er kommen
können, an jedem Tag im Jahr, und Abschied nehmen - meinen
Segen hätte ich ihm drauf gegeben, von ganzem Herzen. Und wenn
er nächste Woche gehen will oder nächsten Monat - soll er
das auch. Er ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er kann
in die Welt ziehen, um sein Glück zu finden, oder von mir aus
seinen Vater, oder was immer er will - aber nicht den Tod.«
er sah Varyn nicht an, während er sprach, und seine Worte
waren mehr an seine Frau gerichtet als an irgend jemand anderen,
aber natürlich war es Varyn, der darauf antwortete.
»Wenn ich den Tod suchte, würde ich hierbleiben. Ich
verspreche dir, daß ich nicht im Krieg sterben werde, Onkel.
Ich schwöre es dir sogar. Und wenn ich's doch tue - will ich
tot umfallen.« Einen Moment lang lächelte er, aber nur
einen Moment.
Gavens Vater stand auf. »Dann stirb doch!« schnaubte
er, und ging.
Varyn lief ihm nicht nach. Statt dessen setzte er sich wieder.
»Es tut mir leid, wenn ich euch alle so vor den Kopf
stoßen muß«, sagte er. Seine Stimme war noch
etwas heiserer als gewöhnlich. »Aber nichts anderes habe
ich das letzte Jahr über gemacht. Ich wollte nur sagen,
daß ich euch vermissen werde, euch alle.«
»Wir dich nicht«, murmelte Edrik, und Varyn
verpaßte ihm einen Klaps in den Nacken, ganz wie früher.
Gaven sah Varyn an, und in diesem Moment traf er eine
Entscheidung.
»Wenn Varyn geht, gehe ich mit ihm«, sagte er. Sein
Vater war aus dem Zimmer - das machte es leichter. »Oder er
mit mir, was das angeht. Ich habe schon mit dem Hauptmann
gesprochen, und er ist bereit, mich mitzunehmen.« Das stimmte
zwar nicht ganz, aber doch so gut wie. Gaven hatte mit dem
Widerstand seiner Mutter gerechnet. Doch nicht mit Varyn.
»Nein«, sagte Varyn. »Du bleibst zuhause. Ich
muß dieses Tal verlassen. Du nicht, du wirst hier gebraucht.
Du kommst nicht mit.«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen!« fauchte Gaven.
»Mich braucht hier keiner, genausowenig wie dich. Das sagst
du bloß, weil du mich nicht dabeihaben willst!«
Ein bösartiges Lächeln verzog Varyns Züge.
»Stimmt«, erwiderte er.
Wie versteinert, sprachlos, starrte Gaven ihn an, doch ein
Geräusch an seiner Seite ließ ihn aufschrecken. Noran
ergriff mit jeder Hand ein Kind und zog sie hinaus. Erst dachte
Gaven, sie wolle die Kleinen in Sicherheit bringen, bevor es
zwischen ihm und Varyn zu einer Schlägerei kam - aber als
Noran die Tür hinter sich zuschlug, begriff Gaven, daß
seine Schwester hier die eigentlich Wütende war. Die Soldaten
waren eine verlockende Möglichkeit, aus dem Tal heraus zu
kommen, aber nicht für Mädchen… Gab es irgend
jemanden, von den alten Leuten mal abgesehen, der nicht von hier
fort wollte?
Varyn schüttelte den Kopf. »Du mußt nicht denken,
ich verstehe dich nicht, Mittlerer. Aber du bist einfach noch zu
klein. Warte noch ein paar Jahre. Wir sind ein kriegerisches Volk,
Vigilanders auserwählte Kinder. Heute in drei Jahren wird
wieder ein Hauptmann in das Tal reiten, und dann bist du fein raus
- Edrik muß hierbleiben, er ist dann vielleicht Herr der
Grube, wenn dein Vater ihn läßt - hier draußen ist
er nicht zu gebrauchen, heute nicht und auch dann nicht - aber aus
dir wird nie ein richtiger Bergmann, und dann bist du zu alt, um
die Körbe zu schleppen, das macht dann Harkon. Dann kannst du
sagen, Vigilander braucht dich dringender als die Grube - und dann
kannst du deinen Krieg haben. Versuch, bis dahin noch etwas zu
wachsen. Und wenn du auf der Arbeit zur Abwechslung auch mal
arbeitest, bist du dann auch kein solcher Schwächling mehr
-«
Gaven ließ ihn reden. Je mehr er sich jetzt mit Varyn stritt,
desto eher würde Varyn alles, was er sagte, niedermachen, und
ihm vielleicht seine Entscheidung noch wieder ausreden - Varyn
konnte das, daran gab es keinen Zweifel… So nickte Gaven
bloß.
»Ach, sei still, Bastard, du hast ja Recht… zieh du
doch in den Krieg und laß dich tot stechen, wenn du
Spaß dran hast.«
Er bemühte sich, nicht zu lächeln. Wenn Varyn erst einmal
weg war, gab es niemanden mehr, um Gaven im Tal zu
halten.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2000 - 2015 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.
Kommentare und Diskussionen zu diesem Kapitel
Kommentar verfassen