Zweites Kapitel

Es kam selten vor, daß Gaven morgens von selbst wach wurde. Mitten in der Nacht war das anders, da reichten schon leise Geräusche, um seinem Schlaf ein Ende zu machen. Aber wenn dann morgens die Sonne aufging, schlief Gaven für gewöhnlich so tief und fest, daß es oft genug Schreien, Schütteln und Schläge brauchte, um ihn aus dem Bett zu holen. Gaven meinte, man solle es ihm gönnen. Immerhin war er derjenige, der wegen Varyn die halbe Nacht wachliegen und außerdem auf sein Frühstück verzichten mußte.
Aber an diesem Morgen war es anders. Etwas störte Gaven, verschiedene Dinge, die er nicht benennen konnte ohne aufzuwachen, also tat er das. Die Sonne war noch lang nicht aufgegangen, und seine ganze Familie schlief noch. Gaven reckte sich und überlegte, was besser war - sich noch einmal auf die andere Seite drehen, oder sich schon einmal etwas zu essen machen und anfangen, Varyn zu suchen? Er hatte Dreck zwischen den Zehen, das haßte er. Es juckte und scheuerte. Gaven wußte genau, daß er sich nach der Arbeit gründlich gewaschen hatte und noch einmal, bevor er zu Bett ging - er würde sich niemals ungewaschen schlafen legen. Aber jetzt war Dreck im Bett, feiner Kohlenstaub, der piekste und sich überall hinsetzte, wo Gaven ihn überhaupt nicht haben wollte - nicht besonders viel davon, aber doch eindeutig zuviel. Der Rest von Gaven wurde wach, und dann begriff er plötzlich, was ihn geweckt hatte. Neben ihm lag Varyn.
Noch niemals in seinem Leben war Gaven ohne fremde Hilfe so schnell aus dem Bett gesprungen wie in diesem Moment. Ging das jetzt bei ihm auch schon los, daß er Dinge sah, die nicht da waren? Aber es blieb wahr, hier lag Varyn, man konnte ihn sehen und hören und fühlen. Vor allem konnte man ihn riechen.
Gaven beugte sich über das Bett seiner Schwestern und weckte Noran, nicht besonders zimperlich, denn das war sie mit ihm auch nie.
»Schau dir das an!« flüsterte er. »Das glaubst du nicht!«
Noran setzte sich auf, rieb sich die Augen und murmelte: »Nein, das glaube ich wirklich nicht. Du bist noch nie von selbst wachgeworden.«
»Das meine ich nicht«, zischte Gaven. Warum war er eigentlich so leise, wenn ohnehin gleich alle aufstehen würden? »Aber Varyn ist wieder da. Er muß heute Nacht zurückgekommen sein.«
»Ich weiß«, erwiderte Noran. »Er hat mich geweckt.« Sie schnüffelte, und Gaven stellte sich vor, wie sie im Dunkeln die Nase rümpfte. Vielleicht sollten sie schon mal die Lampen anzünden? »Er riecht wie eine Destille. Bestimmt hat er wieder die halbe Nacht lang gesoffen.«
Gaven lachte. »Freu dich doch, wenn er einmal im Leben etwas Normales macht!«
»In der Kneipe war er jedenfalls nicht«, meldete sich Edriks Stimme aus der Ecke - seit wann war der denn auch schon wach?
»Ja, aber du!« schnappte Noran, während sie zum Waschtisch ging und Wasser in die Schüssel goß.
Gaven konnte verstehen, daß sie deswegen ärgerlich war. Sie durfte die gleiche Arbeit verrichten wie die Jungen und die gleichen schäbigen Hosen tragen und hatte schorfige Knie und schwielige Hände - aber wenn es Abend wurde und die Arbeiter im Wirtshaus zusammensaßen, half Noran zuhause mit der Wäsche. Jeder wußte, was für Mädchen es waren, die ins Wirthaus gingen - aber Gaven wußte auch, daß dieses Argument nicht einen Deut taugte. Niemand im Tal wäre auf die Idee gekommen, seine Schwester für ein Mädchen zu halten.
»Geht das nicht leiser?« knurrte Varyn. »Es ist noch dunkel!«
Gaven fing an zu lachen. »Ja, und ich möchte wetten, du bist verdammt froh darüber, alter Suffkopf!«
Varyn antwortete nicht, aber er stand auf, was Gaven ihm beinahe übel nahm - ihm war danach, auf dem Bastard herumzuhacken, und das machte viel mehr Spaß, wenn dieser leidend mit einem Brummschädel im Bett lag und zu schlafen versuchte.
Noran trat beiseite und ließ Varyn an das Wasser. »Da - du hast es nötiger als ich.« Manchmal merkte man eben doch, daß sie ein Mädchen war. Sie war einfach viel zu nett.
»Danke«, sagte Varyn. »Aber ich wasche mich draußen.« Und fort war er. Kopfschüttelnd sahen die anderen ihm nach. Jetzt war es wieder ein ganz normaler Morgen ohne Varyn - sie konnten zwar Witze über ihn machen, aber er war nicht da, um sie zu hören, und es machte keinen Spaß. Also sprachen sie auch nicht mehr von ihm.
»Die Sonne geht gleich auf«, sagte Noran. »Schmeiß Hakon aus dem Bett, Edrik, er ist längst wach und tut nur so, als ob er schläft.«
Im Halbdunkel versuchte sie, Alsas Schuhe zuzubinden. Die kleine konnte es zwar schon längst, behauptete aber hartnäckig jeden Morgen das Gegenteil, um sich vor der Arbeit zu drücken. »Hör sofort auf, herumzuzappeln! Sonst mußt du heute mit Varyn arbeiten!«
Alsa quietsche, und die drei Jungen lachten sie aus - und in dem Moment kam Varyn wieder herein. Alle verstummten, als hätte er das Lachen ausgeblasen wie eine Lampe.
»Was starrt ihr mich die ganze Zeit so an?« fragte er. »Ich kann schreien, weil ich euch alle sterben sehe, und ihr interessiert euch nicht für mich. Also - was ist los?«
Noran ließ Alsas Schuh auf den Boden fallen, aber das war auch die einzige Regung im Zimmer. Gaven schluckte. Ihm war kalt, nicht nur, weil mit dem Morgen auch der Frühnebel zum offenen Fenster hereinzog. Varyn sah unheimlich aus im Zwielicht, wie er dort stand - ein bleicher, nasser Geist, etwas, das im Fluß ertrunken war und nun zurückkehrte, um den Tod zu verkünden.
»Was ist nun?« fragte Varyn. »Warum so maulfaul?«
Gaven hätte ihn schon oft am liebsten erschlagen wollen, doch kaum jemals so sehr wie in diesem Moment. »Du hast doch nie etwas gesagt!« schrie er. »Jetzt tu nicht so, als ob wir schuld sind! Du hast es die ganze Zeit gewußt, und du hast nie auch nur ein verdammtes Wort gesagt!« Und bei allen Engeln, er wünschte sich, Varyn hätte es immer noch nicht getan. »Warum sagst du es jetzt? Willst du sagen, daß es heute passiert? Ich hasse dich! Wir hassen dich alle!«
Diesmal war es Edrik, der ihn schlug. »Halt dein Maul, Gaven. Sonst fängst du gleich eine von Vater.«
Aber Varyn ging dazwischen. »Laß ihn, Großer. Er hat Recht. Ich hätte euch längst sagen müssen, was ich sehe. Jetzt ist es zu spät. Es tut mir leid.« Seine Stimme war zu leise, zu sanft, zu müde. Gaven wollte ihn weiter anschreien, aber er konnte Varyns Augen sehen: Es hätte keinen Unterschied mehr gemacht.
So zog er nur die Nase hoch. »Dann sag jetzt wenigstens, daß es vorbei ist!«
Varyn lächelte. »Ich will nicht hoffen, daß es vorbei ist. Aber was das andere angeht - ich werde euch keine Probleme mehr machen.«
Es war nicht das gleiche. Aber das sagte Gaven nicht.

An diesem Abend wurde die Arbeit abrupt unterbrochen, aber ausnahmsweise lag das nicht an Varyn. Er schien sein Versprechen wahr machen zu wollen und verschonte seine Umgebung mit Anfällen. Natürlich arbeitete er viel zu schnell - nicht nur für Gavens Geschmack - aber das konnte man ihm wohl auch kaum noch austreiben. Er war so stark, daß er sich nicht einmal besonders anstrengen mußte - einen Moment lang ertappte Gaven sich bei dem Wunsch, eines Tages so zu sein wie Varyn, zumindest so stark - aber dann schüttelte er den Kopf und war froh, daß seine Geschwister nicht hören konnten, was er dachte. Nur weil Varyn einmal einen guten Tag hatte, hieß das nicht, daß alles wieder so war wie früher.
Sie arbeiteten schweigend und konzentriert - die Hacken machten schon genug Lärm. Draußen hätte ein Feuer ausbrechen, ein Erdrutsch niedergehen können - im Tunnel wäre nichts davon zu hören gewesen.
So dauerte es auch etwas, bis sie begriffen, daß jemand am Stolleneingang stand und ihnen etwas zurief. Die Worte kamen in Bruchstücken an, als hätte die Hacke sie zerschlagen, und nichts war mehr zu verstehen. Varyn hielt inne und hob die Hand - natürlich, die besten Ohren hatte er auch -, und wie früher hörten Gaven und seine Geschwister auf ihn.
»Was ist los?« rief Varyn. »Wir arbeiten hier!«
»Kommt raus!« wehte eine leise Stimme zu ihnen, nur ein Hauch, verglichen mit Varyns Dröhnen. »Hier gibt es was!«
Gaven konnte nicht erkennen, wer das war - jemand von den Bergleuten konnte es nicht sein, denn die wären hereingekommen, statt sich da draußen heiserzubrüllen. Also jemand aus dem Dorf?
»Pavlik«, erwiderte Varyn, als hätte er die Gedanken gehört, und er sagte es mit solcher Selbstverständlichkeit, daß Gaven einen Moment lang Angst bekam vor dem, was Varyn sah. »Ich werde mal nachschauen.«
»Wir kommen alle mit«, sagte Edrik. »Glaub bloß nicht, du bekommst als einziger von uns eine Pause!«
Aber Varyn lachte nur. »Ich dachte, ihr könnt die Zeit nutzen, um ein bißchen von dem aufzuholen, was ich vorgearbeitet habe.«
Er lief zum Ausgang, bevor sie ihn schlagen konnten, also blieb ihnen nichts anderes übrig, als ebenfalls zu lachen und ihm zu folgen.
Draußen stand Pavlik in seinen speckigen Ledersachen, verschwitzt und kaum weniger voll Ruß als die anderen voll Kohle.
Aber bevor sie ihn fragen konnten, was denn nun los war, hörten auch sie die Trommeln, ein tiefes fröhliches Dröhnen.
»Die Spielleute sind gekommen!« rief Noran.
Doch Pavlik schüttelte verächtlich den Kopf. »Hättet ihr wohl gerne! Nein, das ist was besseres. Die Soldaten sind da.«
Er blickte Varyn einen Moment lang an, als wolle er sagen 'Sie sind gekommen, um dich mitzunehmen, Verrückter.' Er sagte es nicht, doch es lag in seinen Augen. Gaven biß die Lippen zusammen - so etwas auch nur zu denken, stand niemandem außerhalb ihrer Familie zu. Schließlich waren sie auch diejenigen, die unter Varyn zu leiden hatten. Doch Varyn lächelte nur , sein übliches Red-du-nur-ich-bin-besser-als-du-Lächeln und sah dem Schmiedejungen so lange und so fest in die Augen, bis dieser den Blick abwandte. Wer wurde auch schon gerne von einem Verrückten angestarrt?
»Nun gut«, sagte Varyn schließlich. »Ich werde es mir einmal ansehen. Ihr anderen könnt solange weiterarbeiten.«
Aber noch bevor Gaven oder eines seiner Geschwister protestieren konnten, war Pavlik schon dazwischengegangen. »Nichts da! Ihr müßt alle hin, das heißt - bis auf Noran, alle Männer müssen sich versammeln. Ist euer Vater nicht da drin?« Mit einem schmutzigen Daumen deutete er in Richtung Stollen.
Die Kohlenkinder lachten. »Weißt du nicht, daß wir drei von der Sorte haben? Vater ist im Oststollen - zusammen mit den Kleinen, und Farkin, und Latar. Dann sag ihnen mal schön Bescheid! Wir folgen dem Ruf!« Dem dumm dreinblickenden Pavlik schnitten sie noch ein paar Gesichter - das heißt, zumindest Gaven tat das, denn mit den großen Jungen konnte ihm nichts passieren - als sie zum Dorfplatz hinunterliefen.
Dort waren tatsächlich beinahe Männer des Dorfes versammelt - »Fast so viele wie abends im Wirtshaus«, flüsterte Edrik Gaven zu - und auch ein großer Teil der Frauen. Aber Gaven hatte kein Auge für sie. Er sah nur die Reiter.
Fünf Männer auf riesigen schwarzen Pferden - keine klapprigen Ackergäule, sondern richtige Hengste, Streitrösser, unter deren Leib zumindest Alsa bequem hätte durchspazieren können. Und auch die Männer waren beeindruckend in ihren Rüstungen aus schwarzem Leder und gehärtetem Stahl, ihre Gesichter verborgen im Schatten der Helme.
»Das königliche Kriegsheer«, wisperte Noran atemlos. Gaven konnte nur nicken. Das Heer war legendär - seit Gaven sich erinnern konnte, hatte sich nie auch nur ein Soldat in das Tal verirrt; nur Geschichten ihrer Heldentaten mit den Händlern, den Reisenden und Erzkarren. Und nun gleich fünf auf einmal!
Keiner von ihnen rührte die Trommel. Das war ein Junge, vielleicht so alt wie Gaven, aber wahrscheinlich noch jünger, der kein Pferd hatte und keinen Helm, aber auch schon Stahlplatten auf seiner Lederkleidung. Seine Haare flatterten im Wind, und er sah stolz aus, stolz und glücklich und frei… Gaven konnte nicht sagen, wie sehr er ihn beneidete.
Varyn schob sich bis nach vorne durch, anstatt sich in die hintere Reihe zu stellen, und Gaven und die anderen quetschen sich hinter ihm her - in diesem Moment konnten sie Brüder sein, solange sie alle gut sehen konnten. Einige Männer drehten sich um, als sie beiseitegeschubst wurden, doch sie sagten nichts. Allein hätte Gaven nichts von dem wagen können, was Varyn hier tat. Es war toll - fast ein wenig wie früher…
Aber Varyn tat nur so, als ob alles in Ordnung war. Er war viel zu aufgekratzt, auch ohne zu schreien und sich auf dem Boden zu wälzen. Gaven ahnte, daß er jeden Moment durchdrehen konnte, und hier, vor all den Leuten und den Soldaten… Plötzlich bereute er es, daß sie in der ersten Reihe standen.
Auch die Reiter bemerkten sie, blickten zu ihnen hinunter. Gaven bemühte sich, unerschrocken zurückzuschauen.
»Sind das jetzt alle?« fragte der größte der Reiter, ein noch recht junger Mann mit kurzem, hellen Bart. Seine Stimme war laut, klang aber so, als ob er sich noch zurückhielt. Wie laut mußte man brüllen, um ein Schlachtfeld übertönen zu können? Gaven schauderte es, auf diese angenehme Art, wie wenn man eine Gruselgeschichte hörte.
Der Schmied schüttelte den Kopf. »Einer fehlt noch.«
An Gavens Seite zischte Varyn durch die Zähne. »Sicher, jetzt muß er tun, als ob er der Dorfvorsteher ist! Soldaten und Waffenschmiede gehören zusammen.« Er spuckte aus, nicht verächtlich, sondern so, wie sie es immer taten - Bergleute durften spucken, wo immer sie gerade waren. Aber der General - Gaven hatte beschlossen, daß der Mann mit dem hellen Bart ein General war - schien das nicht zu wissen, denn er lehnte sich vor und zog drohend die Augenbrauen zusammen. Vielleicht hatte er auch Varyns Worte gehört… Gaven stieß Varyn in die Rippen und hoffte, daß der General auch das bemerken würde.
»Das ist egal«, bellte der Blondbärtige. »Er wird es schon noch erfahren. Wir können nicht auf alle warten.«
Ein Lachen glitt durch die Menge, das Gaven verletzte, weil es immerhin um seinen Vater ging. Auch Varyn lachte, aber er drehte sich dabei zu Gaven um und zwinkerte. »Denk doch mal nach!« wisperte er. »Pavlik fehlt doch auch noch! All die Rennerei für nichts!« Nun mußte auch Gaven grinsen, aber er biß die Lippen zusammen.
Mit einem Wink bedeutete einer der Reiter dem Trommler, lauter zu schlagen. Das Dröhnen schwoll an, und als das Lachen endlich verstummte, schwieg auch die Tommel. Es hatte gewirkt.
»Es herrscht Krieg!« schrie der General. Gaven machte erschrocken einen Schritt rückwärts - sein Vater konnte anständig brüllen, Edrik gab sich alle Mühe, und Varyn tat es zu oft - aber dies… Er stolperte gegen jemanden, der hinter ihm stand, aber es war nur Edrik.
»Loringaril hat uns den Krieg erklärt! Sie haben Blut aus Vigilanders Volk vergossen! Und wißt ihr, was das heißt?«
Bevor irgend jemand - bevor Varyn - antworten konnte, holte Gaven Luft und rief, so laut er konnte: »Rache!«
Von zwei, drei anderen Stellen in der Menge ertönte der gleiche Schrei, doch Gaven stellte zufrieden fest, daß er der erste war.
Die Reiter lachten, tief und laut und rollend - und grimmig. »Genau. Rache«, wiederholte der schwarzbärtige Reiter ganz links.
»Und an wem«, fuhr der General fort, »ist es nun, diesen Mord zu rächen?«
Gaven zögerte nicht und dachte auch nicht nach, außer darüber, daß er seinen Vorsprung weiter ausbauen mußte. »Vigilander!«
Aber nun lachte der General höhnisch. »Ja, euer König rächt sein Land - natürlich stimmt das.« Gaven preßte den Mund zusammen. Er hatte den Engel gemeint - nicht den König. »Aber wer soll an seiner Seite streiten, wenn ihr alle auf der faulen Haut liegt?« Langsam wurde Gaven sauer. Ihre Arbeit hatte weniger mit Faulheit zu tun als das, was der General machte, herumreiten und brüllen. »Es ist an euch allen, diese Bluttat zu rächen. Euer Land, euer König und euer Engel brauchen euch!«
Im Hintergrund fragte eine rauhe, ruhige Stimme: »Ihr seid gekommen, um unsere Söhne anzuwerben?«
Gaven schrak zusammen, als er seinen Vater erkannte, und drehte sich um, doch er konnte ihn nicht sehen zwischen all den Leuten.
»Nein«, sagte der General, und das Lachen war wieder in seiner Stimme, ein unangenehmes, höhnisches Lachen. »Wir sind gekommen, um alle kriegstauglichen Männer aus diesem Dorf einzuziehen.«
Erst an dem dreckigen Lachen aus dem Hintergrund merkte Gaven, daß noch mehr Fremde als die Reiter ins Dorf gekommen waren. Dort am Rand hockten Männer und junge Burschen, die sich in ihrer Kleidung nicht von den Dörflern unterschieden, aber nicht hierher gehörten - wahrscheinlich im Nachbardorf angeworben… Die jüngsten von ihnen sahen kaum älter aus als Gaven… Aus seinen Zehenspitzen stieg eine freudige Spannung in Gaven auf, und er reckte sich, um größer auszusehen. Raus aus dem Tal! Raus aus der Mine! Gleich würde der General alle aussortieren, die er für geeignet hielt - und wehe, Gaven war dann nicht dabei! So eine Gelegenheit gab es niemals wieder. Nicht vor dem nächsten Krieg, jedenfalls.
»Das geht nicht!« rief sein Vater. »Laßt mich durch!«
Die Leute bildeten eine Gasse. Gaven freute es, daß alle Leute Respekt vor seinem Vater hatten - so würden sie eines Tages auch vor ihm zurückweichen… Aber ich werde derjenige sein, der auf dem Pferd sitzt. Ich werde der in der Mitte sein, der auf dem Pferd.
»Ihr könnt unsere Söhne nicht haben«, sagte sein Vater zum General. »Und auch nicht unsere Onkel, Vettern, Brüder und Väter.«
'Nur den Bastard könnt ihr haben', setzte Gaven im Kopf hinzu und schielte zu Varyn hinüber. 'Der ist mit niemandem hier verwandt.«
Aber der General war nicht beeindruckt. Er setzte die Hände auf die Hüften und blickte hinunter auf den Mann vor ihm - verglichen mit dem Schmied, war Gavens Vater schmächtig, und er mußte sich sehr beeilt haben, um auf den Dorfplatz zu kommen, denn sonst ging er niemals unter die Leute, ohne sich den Kohledreck abgewaschen zu haben. Gaven wußte nicht, ob er in diesem Moment stolz auf seinen Vater sein sollte oder sich seiner schämen. In diesem Moment wäre er lieber der Sohn des Schmiedes gewesen.
Der General lachte nur. »Guter Mann, ich habe eine Urkunde mit dem Siegel des Königs!«
»Und ich«, sagte Gavens Vater nicht minder unbeeindruckt, »habe ein Bergwerk. Ondreg da hat eine Schmiede. Askir und Vernon haben eine Eisengießerei. Das hier ist kein einfaches Bauerndorf, das ihr für euren verdammten Krieg melken könnt. Ohne unser Dorf, ohne unsere Männer wird es euren Krieg nicht geben.« Er drehte sich um und blickte die Dorfleute an. »Euch ist klar, daß ein Krieg Arbeit bedeutet? Mehr Waffen rauchen mehr Stahl, und mehr Stahl mehr Kohle. Ich muß einen neuen Stollen aufmachen, und wir werden Nachtschichten einlegen. Wer in der Lage ist, eine Hacke hochzuheben, kommt zu mir. Alle übrigen Männer melden sich bei Vernon, die Blasebalge dürfen nicht stillstehen. Und Ondrek« - er nickte dem Schmied zu - »du suchst dir deine Männer selbst raus, nicht wahr?«
Diesmal waren es die Leute aus dem Dorf, die lachten, und Gaven lachte mit ihnen - er wünschte sich nichts mehr, als mit den Soldaten ziehen zu dürfen, aber es gefiel ihm, wie dumm dieser aufgeblasene Blondbart aus seiner Rüstung guckte, als sich Gavens Vater wieder ihm zuwandte.
»Ihr seht, in unserem ganzen Tal gibt es niemanden, den ihr einziehen könnt. Wir werden Euch und Eure Männer gerne beherbergen und verpflegen - aber wir behalten unsere Söhne. Und unsere Töchter auch.«
An Gavens Seite klatschte und johlte Varyn mit den anderen - aber als Gaven das nächste Mal zu ihm hinüberblickte, war er fort.

Erst am späten Nachmittag tauchte Varyn wieder auf, aber Gaven konnte nicht behaupten, ihn bis dahin sonderlich vermißt zu haben. Es war ein denkwürdiger Tag - die Soldaten waren da, und jetzt mußte niemand mehr arbeiten. Die Männer saßen im Wirtshaus und berieten sich, und sie scheuchten alle Kinder, die ihnen dabei zuhören wollten - oder, was das eigentlich Interessante war, einen Blick aus der Nähe auf die ebenfalls eingekehrten Soldaten werfen - gnadenlos fort. Auch Gaven wurde vor die Tür gesetzt.
»Tut mir leid«, sagte sein Vater, »aber hier ist wirklich kein Platz für dich.« Natürlich stimmte es, die Schankstube, zur Hälfte ausgefüllt von den Soldaten, war gerammelt voll. Aber natürlich durfte Edrik dabei sein, und neben dem Schmied saß Pavlik und feixte… Wütend schlug Gaven die Tür zu.
»Ach, mach dir nichts draus«, versuchte ihn Noran zu trösten. »Das ist doch sowieso langweilig. Komm mit, wir wollen zum Fluß und sehen, ob wir ein paar Fische fangen können.«
Gaven schnaubte. Am Fluß spielen - das war etwas für Kinder, etwas, das sie jeden Tag machen konnten - nein, nicht wirklich, eigentlich konnten sie nie am Fluß spielen, weil sie arbeiten mußten - aber die Soldaten waren nur einen Tag lang da, und morgen wieder fort. »Ihr könnt von mir aus reinfallen, aber beschwert euch dann nicht, wenn ihr absauft«, murrte er. »Ich bleibe hier.«
Noran versuchte nicht, ihn umzustimmen. Sie schnappte sich die beiden Kleinen und verschwand. Bestimmt würden sie mit Gänseblümchenketten zurückkommen…
Gaven blieb unschlüssig auf dem Dorfplatz stehen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, und er wußte nichts mit sich anzufangen. Ein Tag ohne Arbeit - da mußte man etwas wirklich Besonderes tun. Nur was? Varyn saß auf Garantie wieder im Toten Mann. So ein Blödmann!
Aus dem Wirtshaus ertönte Stimmengewirr. Aber Gaven hörte noch etwas: Ein Wiehern aus den Ställen. Er nickte zufrieden. Das war wirklich etwas Besonderes! Dann schlich er sich in den Stall.
Gaven mochte Pferde, solche Pferde, und hier standen sie, abgesattelt, aber nicht minder eindrucksvoll. Sie flößten Gaven fast noch mehr Respekt ein, als ihre Reiter es getan hatten. Vorsichtig schlich Gaven auf das größte Pferd zu, das Pferd des Generals, und erwartete gleichzeitig, daß draußen ein großes Gebrüll anfangen würde: Alsa ist in den Fluß gefallen, oder zur Not auch Harkon - in besonderen Momenten kam immer etwas dazwischen… Aber dann stand er direkt vor dem Pferd, blickte ihm in die großen schwarzen Augen. Der Hengst legte die Ohren zurück und beschnupperte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn.
Lachend riß Gaven eine Handvoll Heu aus der Raufe und hielt sie dicht unter das dampfende Maul, daß einige Halme fast in die Nüstern stachen. Das Pferd zog die Lippen zurück, und einen Augenblick fürchtete Gaven, zu weit gegangen zu sein und seine Hand an die bemerkenswert großen Zähne zu verlieren. Aber dann nahm das riesige Tier das Heu behutsam auf. Es kitzelte ein bißchen. Aber jetzt wußte Gaven, daß der Hengst vielleicht ein Kriegstier war, aber weder wild noch bösartig.
»Du«, flüsterte Gaven. »Du wirst mich doch nicht abwerfen?«
Das Pferd schüttelte den Kopf, was bei dieser Frage sowohl ja als auch nein bedeuten konnte. Er mußte es einfach riskieren. »Halt still«, sagte er zu dem Pferd, kletterte auf die Raufe und von dort auf den glänzenden schwarzen Rücken.
Einen Moment lang stand das Pferd ganz still, und Gaven auf seinem Rücken fühlte sich so stolz und großartig, wie nur ein Engel selbst es konnte. Triumphierend gab er dem Pferd einen Klaps auf die Flanke. Er hätte es besser wissen müssen.
Als das Pferd sich aufbäumte, fiel Gaven nicht sofort hinunter. Einen Moment lang noch konnte er sich in den dicken schwarzen Haaren der Mähne festkrampfen, bevor er den Halt verlor und hinunterrutschte. Gaven landete halb auf seinem Hintern, halb auf der Seite im weichen, beinahe frischen Stroh, und lachte erleichtert auf, als er merkte, daß er sich nicht einmal wehgetan hatte. Dann begriff er, warum er im Stroh lag. Er war zu dem Pferd in die Box gefallen. In die verriegelte Box. Zu einem Pferd, das aufgebracht mit den Hufen in alle Richtungen ausschlug. Ein wieherndes, wildgewordenes Kriegspferd - würden die hölzernen Wände das aushalten?
Die Wände vielleicht…
Gaven hatte Angst. Es war so leicht, über Varyn zu lachen, wenn der sich vor blinder Furcht nicht mehr rühren konnte, aber jetzt hatte Gaven Angst, und er hatte allen Grund dazu. Um zur Tür hin zu kommen, mußte Gaven an dem Pferd vorbei, und bis er auf der anderen Seite den Riegel gelöst hatte - das war zu gefährlich. Was hätte Varyn - der alte Varyn - an seiner Stelle getan?
Hektisch blickte sich Gaven in der Box um. Die hölzerne Stallwand hinter ihm, die schulterhohen gezimmerten Wände links und rechts - zu hoch zum drüberklettern. Aber die Futterkrippe stand auf vier Beinen, und darunter war Platz… Gaven betete zu allen Engels gleichzeitig, als er einen Moment abpaßte, in dem der Weg frei war, und sich dann blitzschnell unter die Krippe rollte. Er war in Sicherheit. Früher oder später würde das Pferd sich beruhigen…
Strohstaub kitzelte in Gavens Nase, aber er unterdrückte ein Niesen. Er konnte nicht einmal richtig den Kopf heben. Die Krippe erzitterte unter den Schlägen des Pferdes. Aber es mußte gleich damit aufhören… Gaven war froh, nicht geschrieen zu haben. Niemand sollte von seiner Angst wissen, und niemand sollte ihn retten wie ein dummes kleines Kind.
Die Stalltür ging auf, Schritte, und dann wurde die Tür der Box aufgerissen, und zwei Kräftige Arme zerrten Gaven aus dem Stroh. Varyn. Immer wenn man ihn gerade nicht brauchte, mußte er auftauchen. Er war auch immer derjenige, der die Kinder aus dem Fluß fischte, wenn sie es geschafft hatten, hineinzufallen - natürlich, schwimmen konnte er auch noch, auch wenn es ihm nie jemand beigebracht hatte… Erst jetzt merkte Gaven, daß er am ganzen Körper zitterte.
»Dummkopf!« fuhr ihn eine Stimme an, die nicht Varyn gehörte. »Raus hier! Sofort!« Es war der General. Gaven versank im Boden vor Scham. »Raus!« bellte der General. »Und draußen wartest du. Ich versuche, ihn zu beruhigen. Und wenn er verletzt ist, zahlst du - also raus!«
Jetzt gehorchten Gavens Füße ihm endlich wieder so weit, daß er dem General gehorchen konnte. Sein Verstand riet ihm, wegzurennen, aber er blieb im Hof stehen und wartete, bis das Poltern aus dem Stall verstummte und der General herauskam. Er trug den Helm nicht mehr, aber was seinem Gesicht dadurch an Drohung fehlte, machte die Wut in seinen Augen wett. Wahrscheinlich wäre Gaven doch besser weggerannt - nicht, um abzuhauen, aber um Varyn zur Hilfe zu holen. Das war einer von den Momenten, wo man ihn brauchen konnte… Der General packte Gaven am Schlafittchen. Er roch nach Schweiß und Bier, aber er war ganz sicher nicht betrunken.
»Ich hätte mir denken können, daß du das warst«, grollte er. »Du bist mir schon vorhin aufgefallen. Sei froh, daß ich dich nur für einen dummen Jungen halte und nicht glaube, daß du die Pferde stehlen wolltest - sonst wärst du jetzt tot.«
»Tut mir leid«, murmelte Gaven. »Ich wollte doch nur -«
»Du hast nicht zu wollen!« fuhr ihn der General an. »Ich dachte, du wolltest ein Soldat werden?«
Gaven nickte. Langsam ließ seine Angst nach. Er war daran gewöhnt, angebrüllt zu werden, und gleich würde er noch ein paar Ohrfeigen bekommen, und noch etwas Ärger - aber ohne Helm war auch der General nur ein Mann, und ein noch recht junger dazu.
»Du bist kein Soldat«, knurrte der General. »Du bist dumm, leichtsinnig und töricht - glaubst, daß du ein Held bist, und kannst nichts. Glaub es oder nicht, aber ich danke deinem Vater, daß er mir euch erspart hat.«
Gaven starrte ihn verwirrt an. »Was meint Ihr -«, fing er an, brach ab und fragte statt dessen: »Woher wißt Ihr, wer mein Vater ist?«
Jetzt lachte der General. »Man sieht, daß du aus einem Bergwerk kommst, schwarz wie du bist. Wenn der Herr dieser Grube nicht dein Vater wäre - warum sollte er ausgerechnet dir Arbeit geben? Jetzt hat er das halbe Dorf unter sich, und ich wünsche ihm Glück dabei. Aber ich muß weiter zur nächsten Aushebung, und mich mit dem nächsten Haufen Dummköpfe herumschlagen.« Seine Stimme klang verächtlich, aber nur einen Moment später fror seine Miene ein. Vielleicht hätte er niemals so viel verraten dürfen…
»Ihr seid kein General, oder?« fragte Gaven.
»General? Bewahre. Ich bin Hauptmann. Keiner von denen, die jetzt schnell zum Hauptmann erklärt wurden, weil man im Krieg mehr davon braucht - mehr Männer, mehr Verschleiß - aber trotzdem nur ein Hauptmann. Kein General.«
»Tut mir leid«, sagte Gaven.
»Es gibt Schlimmeres. Mein Pferd zum Durchdrehen bringen, zum Beispiel. Bist du bereit, deine Strafe zu empfangen?«
Noch vor ein paar Minuten wäre Gaven bereit gewesen, aber jetzt hatte er fast vergessen, worum es ging. Trotzdem nickte er schnell und tapfer. Der Hauptmann war eigentlich ganz nett, und besonders wütend schien er auch nicht zu sein.
»Gut«, sagte der Hauptmann, und ein Grinsen ließ sein kantiges Gesicht noch breiter aussehen. »Dann komm mit.«
»Wohin?« fragte Gaven verwirrt. Seine Ohrfeigen konnte er genausogut hier an Ort und Stelle bekommen.
»Rein«, antwortete der Hauptmann und deutete mit dem Kinn auf die Tür des Wirtshauses. »Du willst doch sicher meine Leute kennenlernen.«
Entgeistert starrte Gaven ihn an. Das war doch keine Strafe! Das war nicht mehr und nicht weniger als Gavens größter Wunsch, zumindest, seit die Soldaten aufgetaucht waren. Und mit dem Hauptmann dabei konnte ihm wirklich nichts mehr passieren… Er mußte sich zusammennehmen, um nicht vor Freude auf und ab zu hüpfen, als er die Wirtsstube betrat, im Schatten des Hauptmanns, damit sein Bruder oder sein Vater nicht sofort auf ihn aufmerksam wurden. Man mußte ja nicht gleich alles übertreiben…
»Wen bringst du da mit, Mendrion?« fragte einer der anderen Hauptmänner am Tisch. »Doch noch ein Rekrut?«
Die Männer um ihn herum, vor allem die jüngeren, lachten schallend. Wütend biß Gaven die Lippen aufeinander. Als ob die Vorstellung so abwegig war? Auch sein Hauptmann - Mendrion hieß er also - lachte, als er den Kopf schüttelte. »Pferdedieb«, sagte er. »Macht Platz, damit er sich zu euch setzen kann!«
Während er auf einem Schemel am Ende des Tisches Platz nahm, fand sich Gaven zwischen zwei Burschen wieder, die etwas älter sein mußten als Edrik.
»Und was hast du jetzt mit ihm vor?« fragte der Schwarzbärtige.
»Laß das meine Sorge sein«, erwiderte Mendrion gutgelaunt. »Er erinnert mich an meine längst vergangene Jugend.«
»Du hast Pferde gestohlen, Hauptmann?« fragte ein rothaariger Junge auf der anderen Tischseite, zu breit grinsend, um seinen ungläubigen Tonfall ernst klingen zu lassen, und er bekam auch sofort von den Jungen neben ihm links und rechts ein paar Knüffe verpaßt. Gaven dachte daran, wie sehr er ihn beneidete, aber dann fiel ihm ein, daß er das jetzt ja gar nicht mehr mußte - saß er nicht mitten zwischen ihnen?
Mendrion ging nicht auf den Witz ein. Er lehnte sich zu Gaven hinüber. »Wie ist es, Junge - du hast doch sicher Durst?«
Gaven schwante Übles, doch er nickte. So also sollte die Bestrafung aussehen - Mendrion wollte ihn mit Bier abfüllen, um ihn dann entweder höhnisch seinem Vater zurückzugeben oder ihn… mitnehmen? Er hatte Geschichten gehört von Preßpatrouillen, die junge Männer betrunken machten, ihnen ein Handgeld in die Finger drückten und ihnen am anderen Morgen sagten, daß sie nun Soldaten waren…Gaven wußte, daß er ein oder zwei Bier trinken konnte, ohne daß etwas passierte, doch danach wurde es kritisch… Aber er wollte doch, daß die Soldaten ihn mitnahmen! Und wenn sie ihn unwiderruflich rekrutierten, konnte auch sein Vater nichts mehr dagegen unternehmen. »Sicher habe ich Durst!« sagte er stolz. Und selbst wenn sie ihn hinterher doch nur wieder bei seinen Eltern ablieferten - wer aus dem Dorf konnte sonst von sich behaupten, mit den Soldaten getrunken zu haben?
Der Rekrut links von ihm klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Mutig, Kleiner, mutig!«
Gaven ignorierte ihn. Er beobachtetre Mendrion, als er Venna zu sich hinüberwinkte, die Wirtstochter und Schankmagd, sie zu sich hinterzog - das war etwas, das sie nur allzu gerne mit sich machen ließ - und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Dabei zeigte er auf Gaven. Venna schüttelte den Kopf und kicherte, doch als Mendrion ihr noch einen Klaps versetzte, verschwand sie wieder hinter der Theke. Gaven mußte grinsen. Offenbar würde er doch nicht der einzige aus dem Dorf sein, der heute etwas mit den Soldaten erlebte.
Venna kam zurück, nicht mit einem großen Bierkrug, sondern einem kleinen Holzbecher, den sie vor Gaven hinstellte.
»Wohl bekomm's«, sagte sie mit einem etwas zu schadenfrohen Unterton, nickte Mendrion noch einmal zu, und ging wieder.
Ein wenig zögerlich nahm Gaven den Becher - von allen Seiten wurde er nun angestarrt, und das behagte ihm gar nicht. Die Tuscheleien und das Lachen der Soldaten hatte aufgehört. Nun warteten sie gespannt, was mit Gaven passierte…
»Nur zu«, sagte Mendrion. »Trink aus, wenn du es schaffst. Du hast es dir verdient!«
Wenn Gaven noch länger wartete, konnte er nichts gewinnen. Ohne die Augen von Mendrion zu lassen, trotzig und kampfbereit, hob er den Becher und nahm einen Schluck. Er erwartete den bitteren Geschmack von Bier, aber das war…
»Milch«, sagte Mendrion lächelnd. »Ich hoffe, sie ist nicht zu stark.«
Wie auf Kommando brachen alle Soldaten in brüllendes Gelächter aus. Gaven fühlte, wie er rot wurde, und setzte den Becher lieber nicht ab, damit es niemand sah. Sein Gesicht brannte vor Zorn und Scham, er fühlte sich verärgert, und verraten…
Ein zu breites Grinsen vertrieb endgültig den Mißmut aus Mendrions Gesicht, als er seinen Becher hob und Gaven zuprostete. »Strafe muß sein, Junge. Und Prügel hättest du zu schnell wieder vergessen.«
Was blieb Gaven anderes übrig? Er setzte den Becher ab, sein ganzer Mund erfüllt von dem süßen pelzigen Geschmack der Milch. Er konnte schlecht zugeben, daß er Milch eigentlich viel lieber mochte als Bier, aber… »Danke«, sagte er nur, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Hauptmann.«
Von links und rechts wurde er geknufft und gerempelt. Die Soldaten lachten noch immer, lachten ihn aus. Gaven biß die Lippen zusammen.
Der Rothaarige gegenüber beugte sich vor. »Ach, mach dir nichts draus. Du kannst was von meinem haben.« Er schob Gaven seinen Krug zu, der noch zur Hälfte gefüllt war, und nickte aufmunternd, als Gaven nicht sofort zugriff.
Gaven wartete noch einen Moment, dann schnappte er sich den Krug mit beiden Händen, bevor der Bursche auf die Idee kam, ihn im letzten Augenblick zu aller Belustigung wieder wegzuziehen. Aber der Rothaarige lachte nur. »Für was hältst du mich? Nimm schon!«
Endlich erstarb das Lachen. Dankbar lächelte Gaven seinen Retter an. Jetzt konnte auch der Hauptmann nichts mehr sagen. Der Rothaarige stand auf und versuchte, Venna zu sich hinüberzuwinken, aber statt dessen bekam er Mendrions Rache.
»Du bist ein vernünftiger Mann, Pogge, daß du weißt, wann du genug hast, und das freut mich. Du willst sicher nicht deinen Kameraden beim Trinken zusehen, sondern dich nützlich machen. Mein Pferd ist etwas mitgenommen, es muß gestriegelt werden.«
Der Rothaarige blickte ihn unglücklich an, offenbar unsicher, inwieweit Mendrion es ernst meinte. »Aber, Hauptmann…«
»Worauf wartest du noch?« donnerte Mendrion. »In den Stall mit dir, aber hurtig! Und du, Kohlenjunge - trink deine Milch aus, bevor sie schal wird.«
Den Becher in der einen Hand, kletterte Gaven von der Bank. Er hatte genug von den Soldaten, und vielleicht durfte er Pogge ja beim Striegeln helfen. Dann fiel sein Blick auf den Bierkrug. Geschenke waren so selten, man durfte sie nicht verkommen lassen, und er konnte ihn Venna oder den Wirt hinterher immer noch zurückgeben… Als Gaven nach dem Krug griff, legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter.
»Was hast du hier zu suchen, Gaven? Hatte ich dir nicht gesagt -«
»Er hat mich eingeladen!« sagte Gaven schnell und deutete mit dem Holzbecher auf Hauptmann Mendrion.
Zornig zogen sich die buschigen Augenbrauen von Gavens Vater zusammen. »Du hast auf niemanden zu hören als mich, von deiner Mutter einmal abgesehen, verstehst du? Also nach Hause mit dir - aber sofort!«
Gaven gehorchte - ihm blieb nichts anderes übrig. Aber während er davonschlich, entging ihm nicht das breite Grinsen des Hauptmanns. Als Gaven an der Tür war, rief ihm sein Vater quer durch die Schankstube zu: »Und wasch dich endlich!«
Das war genug Demütigung für Gaven an einem Tag. Er ging tatsächlich heim. Das Bier goß er unterwegs in ein Gestrüpp. Es schmeckte ohnehin nicht. Aber trotzdem - von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, war Gaven mit dem Verlauf dieses Tages voll und ganz zufrieden.

Als sie dann am Abend alle zusammensaßen und aßen, tauchte auch Varyn wieder auf. Gaven bekam Ärger für seinen Ungehorsam, auch wenn zum Glück niemand von dem Pferd wußte, und Noran, weil sie zugelassen hatte, daß Alsa und Harkon ins Wasser fielen - und da Noran sie diesmal selbst herausgefischt hatte, waren alle naß wie ertrunkene Katzen - und Edrik bekam Ärger, weil er zuviel getrunken hatte, auch wenn ihm das herzlich wenig auszumachen schien. Nur Varyn war wieder der alte Sonnenschein, der Engel, der niemals einen Fehler machte… Gaven hätte am liebsten ein paar von seinen Ohrfeigen an den Bastard weitergegeben, doch das konnte er später immer noch tun, also ließ er es bleiben.
Schweigend tunkte er sein Brot in den Eintopf, schweigend aßen sie alle - das hieß, bis auf Edrik, der zwischendurch immer wieder in Gelächter ausbrach, ohne jedoch jemals zu erklären, was genau denn nun so komisch war.
Nur Varyn rührte sein Essen kaum an, was nicht weiter ungewöhnlich war - Gaven fragte sich oft genug, wie der Junge es schaffte, so hart zu arbeiten, wo er doch so wenig aß. Trotzdem wartete Varyn, bis alle anderen aufgegessen hatten, ehe er seine Schüssel beiseite schob und aufstand.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er und setzte hinzu, bevor irgend jemand etwas darauf erwidern konnte: »Ich werde mit den Soldaten gehen. Morgen früh, wenn sie aufbrechen, bin ich fort.«
Einen Moment lang herrschte Stille am Tisch. Dann sagte Gavens Vater ruhig: »Nein, Varyn. Ich verbiete es dir.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich muß gehen. Ich kann nicht hierbleiben. Die Soldaten sind vielleicht meine letzte Gelegenheit, aus dem Tal rauszukommen.«
»Ja, geh doch!« rief Edrik dazwischen. »Geh doch, hau bloß ab!«
»Halt den Mund, Edrik«, knurrte Varyn, »und laß mich ausreden. Wenn du so wenig verträgst, leg dich schlafen!« Er schob seinen Schemel unter den Tisch. »Onkel, Tante - kann ich draußen in Ruhe mit euch darüber reden?«
Gaven Vater schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, was es zu bereden gäbe. Ich habe nein gesagt. Keines meiner Kinder wird in diesen Krieg ziehen.«
Varyns Augen veränderten sich, wenn er zornig war, ihr helles Grau wurde dunkel wie Schiefer, und Funken schienen daraus zu sprühen wie aus einem Flintstein. »Du zwingst mich, etwas zu sagen, was ich niemals sagen wollte«, zischte er durch zusammengebissene Zähne. »Ich bin nicht euer Kind, ich gehöre nicht zu euch, und ich gehöre nicht hierher. Ihr wollt mich vom Krieg fernhalten, um mich zu beschützen, aber die Wahrheit ist, mit jedem Tag, den ihr mich zwingt hierzubleiben, geht es mir schlechter.«
Als niemand etwas erwiderte, nicht einmal Edrik ihm ins Wort fiel, wurde seine Stimme lauter. »Ich werde gehen, und ihr könnt mich nicht aufhalten. Du hast jetzt das halbe Dorf in der Grube, Onkel, und das dürfte reichen, um dich über den Wegfall meiner Arbeit hinwegzutrösten.« Er lachte bitter. »Außer, daß du gezwungen sein wirst, sie zu bezahlen. Aber ich bin weg. Sag ihm, was passiert, wenn ich bleibe, Tante! Oder sag du es ihm, Gaven! Sagt ihm, was ich sehe, und was ich dann tue - wenn er es noch nicht selbst weiß!« Dann schrie er: »Wenn ich hierbleiben muß, bringe ich mich um!«
Endlich schwieg er, doch seine Augen funkelten weiter, und er blickte sich gehetzt in der Stube um wie ein Tier in der Falle.
Doch Gavens Vater blieb ruhig. »Wenn du in den Krieg ziehst«, sagte er leise, »bringst du dich auch um.«
»Er hat Recht, Tamrik«, erwiderte Gavens Mutter. »Wir müssen ihn ziehen lassen.«
»Aber nicht in den Krieg! Jederzeit hätte er kommen können, an jedem Tag im Jahr, und Abschied nehmen - meinen Segen hätte ich ihm drauf gegeben, von ganzem Herzen. Und wenn er nächste Woche gehen will oder nächsten Monat - soll er das auch. Er ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er kann in die Welt ziehen, um sein Glück zu finden, oder von mir aus seinen Vater, oder was immer er will - aber nicht den Tod.« er sah Varyn nicht an, während er sprach, und seine Worte waren mehr an seine Frau gerichtet als an irgend jemand anderen, aber natürlich war es Varyn, der darauf antwortete.
»Wenn ich den Tod suchte, würde ich hierbleiben. Ich verspreche dir, daß ich nicht im Krieg sterben werde, Onkel. Ich schwöre es dir sogar. Und wenn ich's doch tue - will ich tot umfallen.« Einen Moment lang lächelte er, aber nur einen Moment.
Gavens Vater stand auf. »Dann stirb doch!« schnaubte er, und ging.
Varyn lief ihm nicht nach. Statt dessen setzte er sich wieder. »Es tut mir leid, wenn ich euch alle so vor den Kopf stoßen muß«, sagte er. Seine Stimme war noch etwas heiserer als gewöhnlich. »Aber nichts anderes habe ich das letzte Jahr über gemacht. Ich wollte nur sagen, daß ich euch vermissen werde, euch alle.«
»Wir dich nicht«, murmelte Edrik, und Varyn verpaßte ihm einen Klaps in den Nacken, ganz wie früher. Gaven sah Varyn an, und in diesem Moment traf er eine Entscheidung.
»Wenn Varyn geht, gehe ich mit ihm«, sagte er. Sein Vater war aus dem Zimmer - das machte es leichter. »Oder er mit mir, was das angeht. Ich habe schon mit dem Hauptmann gesprochen, und er ist bereit, mich mitzunehmen.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber doch so gut wie. Gaven hatte mit dem Widerstand seiner Mutter gerechnet. Doch nicht mit Varyn.
»Nein«, sagte Varyn. »Du bleibst zuhause. Ich muß dieses Tal verlassen. Du nicht, du wirst hier gebraucht. Du kommst nicht mit.«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen!« fauchte Gaven. »Mich braucht hier keiner, genausowenig wie dich. Das sagst du bloß, weil du mich nicht dabeihaben willst!«
Ein bösartiges Lächeln verzog Varyns Züge. »Stimmt«, erwiderte er.
Wie versteinert, sprachlos, starrte Gaven ihn an, doch ein Geräusch an seiner Seite ließ ihn aufschrecken. Noran ergriff mit jeder Hand ein Kind und zog sie hinaus. Erst dachte Gaven, sie wolle die Kleinen in Sicherheit bringen, bevor es zwischen ihm und Varyn zu einer Schlägerei kam - aber als Noran die Tür hinter sich zuschlug, begriff Gaven, daß seine Schwester hier die eigentlich Wütende war. Die Soldaten waren eine verlockende Möglichkeit, aus dem Tal heraus zu kommen, aber nicht für Mädchen… Gab es irgend jemanden, von den alten Leuten mal abgesehen, der nicht von hier fort wollte?
Varyn schüttelte den Kopf. »Du mußt nicht denken, ich verstehe dich nicht, Mittlerer. Aber du bist einfach noch zu klein. Warte noch ein paar Jahre. Wir sind ein kriegerisches Volk, Vigilanders auserwählte Kinder. Heute in drei Jahren wird wieder ein Hauptmann in das Tal reiten, und dann bist du fein raus - Edrik muß hierbleiben, er ist dann vielleicht Herr der Grube, wenn dein Vater ihn läßt - hier draußen ist er nicht zu gebrauchen, heute nicht und auch dann nicht - aber aus dir wird nie ein richtiger Bergmann, und dann bist du zu alt, um die Körbe zu schleppen, das macht dann Harkon. Dann kannst du sagen, Vigilander braucht dich dringender als die Grube - und dann kannst du deinen Krieg haben. Versuch, bis dahin noch etwas zu wachsen. Und wenn du auf der Arbeit zur Abwechslung auch mal arbeitest, bist du dann auch kein solcher Schwächling mehr -«
Gaven ließ ihn reden. Je mehr er sich jetzt mit Varyn stritt, desto eher würde Varyn alles, was er sagte, niedermachen, und ihm vielleicht seine Entscheidung noch wieder ausreden - Varyn konnte das, daran gab es keinen Zweifel… So nickte Gaven bloß.
»Ach, sei still, Bastard, du hast ja Recht… zieh du doch in den Krieg und laß dich tot stechen, wenn du Spaß dran hast.«
Er bemühte sich, nicht zu lächeln. Wenn Varyn erst einmal weg war, gab es niemanden mehr, um Gaven im Tal zu halten.

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