Drittes Kapitel

Sie war nicht in seinen Träumen, und auch sonst nirgendwo. Und doch hatte sie ihre Spuren in Varyns Leben hinterlassen. Es war nicht mehr so wie früher. Niemals zuvor hatte Varyn eine Entscheidung getroffen, und nun war ihm seltsam leicht, nicht in seinem Kopf, aber in seinem Herzen. Dämmervogel - er versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, so daß es zu ihrer Stimme passen mochte, aber selbst ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch in seiner Erinnerung. Dämmervogel - Varyn hätte gerne von ihr geträumt. Aber er träumte gar nichts in dieser Nacht, er schlief nur ein und wachte am anderen Ende wieder auf, erholt wie schon seit einem Jahr nicht mehr.
Noch vor Sonnenaufgang war Varyn auf den Beinen, ausgeschlafen und erholt, auch wenn er sich nicht wirklich genug fühlte, um wach zu sein. Er griff unter das Bett und zog das Bündel hervor, das er am Abend gepackt hatte - seine Wäsche, seine zweite Hose, alles was er besaß, nicht viel, aber was brauchte ein Soldat schon? - eingeknotet in ein altes Umschlagtuch seiner Tante. Er war froh um das Tuch, so konnte er etwas mitnehmen von seiner Familie, die er niemals wiedersehen würde. Und vom Tal? Auch das Tal würde ihm fehlen.
Varyn folgte seinen Füßen, die ihn zum Toten Mann trugen, wie an jedem Morgen. Er nahm seine Kreide mit, auch wenn er sie nie wieder brauchen wollte, und einen Stein von der Abraumhalde. Keine Kohle. Kohle wollte er nie wieder sehen… Varyn warf einen letzten Blick auf seine Schriftzeichen, widerstand dem Drang, sie auszuwischen - das Tal sollte etwas von ihm behalten, so wie er vom Tal. Und es war gut so, denn niemand konnte sie verstehen. Niemand konnte ihn verstehen… Mit dem Fuß stieß er gegen die leere Tonflasche, die dort lag seit der vorletzten Nacht. Varyn fluchte; sie erinnerte ihn an etwas, von dem er nichts mehr wissen wollte - und er kämpfte den Druck nieder, nachzusehen, ob sie auch wirklich leer war, als er sie aufnahm und gegen die Wand schmetterte, wieder und wieder, bis sie endlich zerbrach und seine Handgelenke schmerzten. Es war der stechende Geruch des Alkohols, vor dem er floh, nicht das leise Dröhnen, das durch den Berg zog - aber daß er den Stollen auf dem schnellsten Weg verlies, war das Beste. Man sollte ihm Toten Mann nichts mehr gegen die Wände schlagen.
Doch der Berg grollte nur, stürzte nicht ein. Das Schicksal wollte nicht, daß er Varyn unter sich begrub - Varyn würde nicht sterben, bevor er nicht den Dämmervogel wiedersah - aber er wartete auf ein anderes Opfer. Einen Moment lang glaubte Varyn, es könnte Gaven sein, und wieder wurde er einen Moment lang wehmütig. Aber von all seinen Geschwistern war es sicher Gaven, um den er sich die wenigsten Sorgen machen mußte. Unkraut verging nicht.
»Auf Nimmerwiedersehen, Tal«, murmelte Varyn, während er sich im Bach die Kohle von den Händen wusch. »Und Guten Morgen, Rest der Welt! Von heute an gehörst du mir!« Er lachte - das stimmte nicht, die Welt hatte ihm schon immer gehört - und machte sich auf den Weg ins Dorf.
Die Sonne ging hinter den Bergen auf, und es dauerte lange, bis ihre Strahlen das Tal erreichten. Varyn fragte sich, ob es in anderen Teilen der Welt früher Morgen wurde, oder zumindest früher hell. Hier begann ein jeder Tag mit langen grauen Schatten, und manchmal, im Winter, wollte die Nacht niemals enden. Aber jetzt war es bald Sommer, und die Schatten würden dem Licht weichen, in ein paar Stunden zumindest.
Noch schliefen alle. Das Wirtshaus war dunkel, seine Tür verriegelt. Varyn hockte sich auf die Schwelle und wartete. Der Wirt tat ihm ein wenig leid, der erst bis tief in die Nacht sein Bier ausschenken und dann wieder in aller Frühe aufstehen mußte, um seine Gäste herauszulassen. Aber der Wirt war ein reicher Mann; mit ihm mußte man kein Mitleid haben, und niemand zwang ihn, Wirt zu sein.
Endlich war es soweit, von drinnen waren Stimmen zu hören, müde und knurrig, dann schlurfende Schritte, und dann wurde der Riegel zurückgezogen. Varyn sprang auf und klopfte sich den Staub ab.
Die Tür ging auf, zwei junge Burschen kamen heraus und gingen zum Stall. Sie beachteten Varyn nicht, und Varyn musterte sie nur kurz - das waren nur Rekruten, niemand, den er brauchen konnte. Varyn wollte den Hauptmann sprechen.
Er betrat die Wirtsstube, sein Bündel unter dem Arm geklemmt, ganz mutig und munter. Er wollte nicht aussehen wie jemand, der Angst hatte, dem seine Entscheidung leid tat. Betreute er denn? Nicht wirklich. Er war nicht wirklich genug, um zu bereuen.
»Guten Morgen!« rief Varyn, die Stimme fest, fröhlich, entschlossen. »Wo finde ich den Hauptmann?« Es war eine dumme Frage; er sah Hauptmann mit dem Wirt reden, doch er fragte mit Absicht. Es gefiel ihm, klug zu sein, manchmal wurde man dafür bewundert, aber es hatte ihn auch einsam gemacht. Varyn hatte daraus gelernt.
»Hier«, sagte der Hauptmann und blickte unwirsch auf wie einer, der aus einem wichtigen Gedanken gerissen wird. »Was gibt es?«
»Ich will mich euch anschließen«, sagte Varyn.
Der Hauptmann lachte grimmig und stand auf. »Willst du?«
»Von Herzen gern«, erwiderte Varyn.
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Dann bist du hier falsch, denn der Krieg hat nichts mit Herzen zu tun, auch nicht mit gern.« Er winkte einen anderen Soldaten zu sich herüber. »Hier, trag ihn ein, der Faulpelz will lieber sterben als arbeiten.«
Varyn biß die Lippen zusammen. Niemand durfte ihn Faulpelz nennen! Doch dann mußte er lächeln. Irgendwie stimmte es. »Ich werde nicht sterben«, sagte er. »Ich hab’s versprochen.«
»Junge«, knurrte der Hauptmann, »tu mir den Gefallen, und halt dein Maul. So früh am Tag mag ich mich nicht mit Dummköpfen herumschlagen.«
Varyn nickte nur; ihm lagen Erwiderungen auf der Zunge, gescheite wie gemeine, doch noch wollte er nicht auffallen. Er mochte den Hauptmann, es schien ein anständiger Kerl zu sein, der genug um die Ohren hatte.
Den Schreiber hingegen mochte er weniger. Überhaupt - Schreiber. Leute, die sich für etwas besseres hielten, nur weil sie eine Feder in die Tinte tauchen konnte… Dann wieder mußte er bei sich grinsen. Vom Tal aus gesehen, war er selbst der Schreiber. Und war er nicht auch etwas besseres?
»Ach, das Feixen vergeht dir noch«, brummelte der Schreiber, kaum wacher als der Hauptmann selbst und sicher müder als Varyn. »Sag mir lieber deinen Namen!«
»Varyn«, antwortete Varyn und blickte interessiert auf die Zeichen, die der Mann malte. Er hatte seinen Namen noch nie geschrieben gesehen, und so sah es nicht richtig aus - Varyns Zeichen waren besser, passender.
»Wie alt?«
»Neunzehn«, log Varyn. Er wußte nicht, wie alt man sein mußte, um in den Krieg zu ziehen - die anderen Rekruten konnten zum Teil nicht älter sein als er, oder Edrik, aber wenn sie ihn wirklich ernst nehmen sollten und ihn ein Schwert führen lassen, war es sicher besser, er legte gleich mehrere Jahre drauf. So alt, wie er aussah, schien man ihm das sogar zu glauben. Anstandslos.
»Name deines Vaters?« fragte der Schreiber.
Varyn zuckte die Schultern. »Hab keinen.«
Der Schreiber machte einen Strich. »Dann deine Mutter.«
»Ist tot«, erwiderte Varyn gleichmütig, und dann lächelte er. »Waise oder Bastard, ganz wie Ihr’s nennen mögt - ich habe keine Familie.« Im Geiste bat er Onkel und Tante um Verzeihung. Aber man sollte ihn bloß nicht nach Hause schicken.
»Gut«, sagte der Schreiber mit einem so breiten Grinsen, daß Varyn erstaunt die Augenbrauen hob. »Dann müssen wir wenigsten keine Nachricht schicken, wenn du draufgehst.«
»Ich geh nicht drauf«, versicherte Varyn nochmals. Wieso rechnete jeder, aber auch wirklich jeder, damit, daß Varyn fallen würde? Jeder Krieg kostete Leben, natürlich, aber es gab doch immer mehr Überlebende als Tote. Auch der Bergbau tötete Männer, und doch hatte sich noch niemand deswegen Sorgen um Varyn gemacht. Überhaupt - um Varyn!
»Starr keine Löcher in die Luft!« grunzte der Schreiber. »Hier, nimm die Feder, wehe du brichst sie mir ab, und mach da ein Kreuz hin!«
Er deutete auf eine Stelle auf seinem Blatt. Varyn blickte auf die lange spalte von Kreuzen darüber, und fragte: »Warum Kreuz?«
Jetzt wurde das Grinsen zu einem mitleidigen Lächeln. Varyn wurde selten angeblickt wie ein Schwachsinniger, doch er verstand es sofort. »Weil da alle ein Kreuz hinmachen.«
»Aber warum?« fragte Varyn noch einmal.
»Wer nicht schreiben kann, macht halt ein Kreuz.« Sein Blick sagte ‘Und Schreiben kannst du eh nicht’.
Varyn biß die Lippen zusammen. »So ein Kreuz kann jeder.« Er bleckte die Zähne. »Ich hab ein eigenes Zeichen, eins, das so gut ist wie mein Name.«
»Dann mach es, um Himmels Willen!«
Varyn merkte, daß sie zum Aufbruch drängten, doch er ließ sich Zeit. Er nahm die Feder, tunkte sie in die Tinte, sah zu, wie sie sich den gespaltenen Kiel hinaufzog, und dann setzte er sie, ganz leicht nur, vorsichtig, auf das Pergament und malte sein Zeichen, das einzige, was er zwischen all den anderen Lesen konnte. Es ärgerte ihn. Sonst war er immer der einzige, der alles lesen konnte, aber die fremden Schnörkel verhöhnten ihn. Wut auf den Schreiber, Wut auf die Feder, die kaum so wollte wie er, die sich bog unter seiner Hand - ein Kreidebrocken, so rauh und unförmig er auch in der Hand liegen mochte, tat niemals etwas anderes, als er sollte, außer wenn er abbrach, und nicht einmal das war schlimm. Die Feder dagegen - sie blieb nur mit Mühe ganz, und auch das Ergebnis sah falsch aus: Weiß auf schwarz, daran war Varyn gewöhnt, aber umgekehrt mußte er umdenken.
Ich
, schrieb Varyn, und wußte, daß es eigentlich sein Name war - zwei Zeichen, ineinander geschrieben, Mann und Welt. Wenigstens sah es besser aus als die ganzen Kreuze. Varyn nickte, halbwegs zufrieden, und schob dem Schreiber das Blatt zurück, zusammen mit der Feder.
Dieser blickte nur einen Moment lang auf Varyns Zeichen, dann winkte er den Hauptmann zu sich herüber. »Mendrion?«
Der Hauptmann kam, und hatte offenbar schon genug von der vorausgegangen Diskussion gehört, um mehr als einen Blick auf die Zeichen zu werfen, bevor er Varyn am Kragen packte.
»So nicht, Freundchen«, grollte er leise. Sein Griff war stark, doch Varyn wußte, daß er stärker war, daß er den Mann sofort hätte abschütteln können. »Solche Mätzchen nimmt sich hier keiner raus!«
Varyn blieb ruhig und spielte Unschuld. »Wie - Mätzchen?«
»Du weißt genau, was ich meine.« Der Hauptmann zog den Griff etwas fester, drückte Varyns Kopf runter und beinahe mit der Nase in das Pergament. »Willst den König verhöhnen mit Krickelkrakel in der Liste, oder was?« Seine Stimme wurde lauter, dröhnender.
Varyn wußte, daß ihn alle anstarrten, daß er es wieder einmal geschafft hatte. Einen Moment lang resignierte er, überlegte er, doch im Tal zu bleiben. Egal in welchem Teil der Welt, es würde überall so sein. Kaum war Varyn da, wurde er zum Außenseiter…
»Nein«, sagte er durch zusammengebissene Zähne und mit halb zugedrücktem Hals. »Das ist kein Hohn. Das ist mein Zeichen, mein eigenes. Mein Name.«
Während er sprach, ließ ihn der Hauptmann los, drehte ihn um, und die letzten Worte sagte Varyn aufrecht, mit geradem Rücken, und blickte direkt in die Augen des Hauptmanns. Unerschrocken.
Der Hauptmann ließ ihn ausreden. Dann fragte er: »Ich verstehe das richtig - du hast dir eine eigene Schrift ausgedacht?«
Varyn zuckte die Schultern. »War keiner da, der mich Eure gelehrt hätte…« Er brach ab, als er das Funkeln bemerkte in den Augen des Hauptmanns. Dieser Mann konnte kämpfen. Er konnte eine Truppe befehligen, Leute zusammenstauchen, doch um neue Leute zu rekrutieren, brauchte er einen Schreiber. Er gehörte zu den Männern, die ein Kreuz machten anstelle ihres Namens. Varyn konnte etwas, das er nicht konnte. Und sie wußten es beide.
»Du glaubst also, du bist was besseres?« fragte der Hauptmann in so verächtlichem Tonfall, daß Varyn beinahe geantwortet hätte ‘Nein, ich weiß es’ und nur gerade so eben den Mund hielte. »Ich werde ein Auge auf dich haben, Freundchen, das kannst du mir glauben.«
»Mein Name ist Varyn«, entgegnete Varyn, und lächelte. »Die Zeichen sind kein Geheimnis, ich bringe sie Euch gerne bei, wenn Ihr mit zeigt, wie man ein Schwert gebraucht.«
Es sollte so etwas wie ein Friedensangebot sein. Die von seiner Familie und ein paar im Tal hatten Varyns Zeichen auch gelernt, zumindest einige davon - Alsa und Harkon natürlich nicht, aber selbst Gaven konnte sie lesen. Ein ernstgemeintes Friedensangebot…
Hauptmann Mendrion verpaßte ihm eine Maulschelle. »Und ob du lernen wirst - du wirst lernen zu gehorchen, Kohlenjunge, und dein dreckiges Mundwerk zu halten!«
Varyn atmete durch. Er hatte nicht erwartet, daß es einfach werden würde. So nickte er bloß, sah dem Hauptmann in die Augen, und nickte.
Gehorchen lernen. Und - mit einem Schwert umgehen.

Als die Nacht kam, schliefen sie in Zelten. Ein Tag war vorbei, ein ganzer kostbarer Tag, Varyns erster Tag in Freiheit - und was hatte er ihm gebracht? Nichts. Außer, daß er jetzt ein Zelt aufbauen konnte.
Hinter dem Tag kam ein anderes Tal. Die Berge hatten andere Gesichter, und vielleicht auch andere Namen, für Leute, die einem Berg Namen geben mußten - doch sie waren nicht größer als daheim, oder schöner - sie waren nur fremd.
Varyn bemühte sich, mutig zu sein, das Vertraute nicht zu vermissen, doch ihm war plötzlich klamm ums Herz. Die Menschen waren fremd - das war nichts absonderliches, alle waren Fremde für Varyn, seit einem Jahr und mehr. Aber daheim gab es immer noch die Möglichkeit, mit sich selbst zu reden, wenn er allein war. Hier gab es kein allein. Hier gab es nur einsam.
Varyn redete nicht mit sich selbst, und auch mit den anderen nur das Nötigste. Nicht auffallen. Nicht für verrückt gehalten werden. Er ließ die anderen reden, hielt sich ein paar Schritte abseits und belauschte sie, um sie kennenzulernen, bevor sie ihn kennenlernten. Es war nicht weiter schwer. Sie waren nicht anders als die Männer und Burschen aus dem Tal, einfache Naturen, schlichte Seelen - Varyn wußte, daß er ihnen überlegen war, doch er ließ es sich nicht anmerken. Er kannte ihre Namen noch nicht, noch nicht alle, hieß das, doch er nannte sie im Geist nach den Leuten, die er kannte. Es gab die lauten, es gab die leisen, es gab die Schwätzer. Sie kannten einander schon, ein neues Gesicht fiel nicht weiter auf - der Hauptmann mochte ihn im Auge halten, doch sonst merkte an diesem Tag kaum jemand, daß Varyn da war.
Als die Nacht kam, lag Varyn auf einem Stück Sackleinen auf der Erde und konnte nicht einschlafen. Die Härte des Bodens machte ihm nichts aus, und auch nicht die Kälte - da war er schlimmeres gewöhnt, wenn er im Toten Mann übernachtete. Auch das Schnarchen der anderen störte ihn nicht. Aber er war wach, viel zu wach. Sein Kopf war zu klar, zu frisch, zu voll von neuen und fremden Eindrücken. Sein Körper war zu munter. Was er an diesem Tag gemacht hatte, war keine Anstrengung - nichts im Vergleich zu dem, was er sonst in der Grube schaffte. Und wo er sonst ins Wirtshaus gehen und sich müde trinken konnte, war hier nichts als karge Weiden und Felder und eine Handvoll Zelte. Und ein Stück Sackleinen - sein erstes eigenes Bett…
Leise schob Varyn die Decke, die ihren Namen nicht verdiente, beiseite und kroch aus dem Zelt. Draußen lag die Nacht im gleichen Dunkel wie drinnen, aber es atmete sich leichter. Die Luft machte ihn noch wacher, als er ohnehin schon war. Wach genug, um wieder nach Hause zu laufen, und zurück ins Lager, zu rennen, wenn es sein mußte.
Schlaf brauchte er ohnehin keinen. Manch eine Nacht in seinem Leben hatte er schlaflos verbracht und war glücklicher um sie als um jede, in der er geträumt hatte. Dämmervogel hin oder her - Varyn durfte nicht riskieren zu träumen. Schreiend aufzuwachen, und sich die immer gleichen Fragen fragen lassen, und dann nach Hause geschickt zu werden als ein Verrückter. Sie wollten keine Verrückten im Krieg. Zumindest nicht mit einer Waffe in der Hand…
Varyn begann, auf und ab zu hüpfen, erst ein wenig, dann federte er tief in die Knie und hoch hinauf, barfuß wie er war, und biß die Zähne zusammen, als sich die spitzen Steine in seine Sohlen bohrten. Er hüpfte und hüpfte - seine Beine waren nicht so stark wie seine Arme, es war an der Zeit, daß er an ihnen arbeitete.
Aber es half nicht viel. Müde wurde er nicht davon, und die Nacht ging nicht schneller vorbei. Das Blut rauschte in seinen Ohren, oder war das der Fluß… der Fluß…
Varyn lächelte. Der Fluß - das war nicht irgendein Fluß. Das warsein Fluß. Der Gleiche wie im Tal. Noch etwas, das er mitgenommen hatte. Wasser von Zuhause - wieso freute ihn der Gedanke so? War er nicht froh, fort zu sein?
Aber der Fluß war eine gute Idee. Varyn war heiß vom Herumhüpfen in der lauen Nacht. Ohne noch lange zu überlegen, zog er Hemd und Hosen aus, legte einen Stein darauf, und sprang ins Wasser. Es umarmte ihn wie einen alten Freund.
Der Fluß war nicht besonders tief, aber tief genug um zu ertrinken, und die Strömung war stärker, als Varyn erwartet hatte. Aber das war gut. Das war eine Herausforderung. Varyn ließ sich treiben. Mit der Strömung zu schwimmen war keine Kunst. Varyn tat nichts weiter, als den Kopf oben zu halten und bis tausend zu zählen. Reglos auf dem Rücken schwimmen - nannte man das nicht auch Toter Mann? Varyn mußte lachen und bekam Wasser in die Nase. Er hustete, machte ein paar Kraulzüge und fing noch einmal von vorne an zu zählen und zu treiben.
Die Sterne zogen über ihn hinweg. Varyn zählte. Bis tausend. Es paßte zusammen - die Sterne und die Zahlen. Es ging immer noch weiter. Hinter jeder Zahl kam eine Zahl, hinter jedem Stern ein Stern. Es ging immer weiter. Hinter dem Mond, und hinter der Tausend. Varyn war zufrieden. Mehr noch. Beinahe glücklich.
Es tat gut, Zahlen im Kopf zu haben. Varyn hätte früher daran denken müssen. Sie ließen nichts anderes in den Kopf. Und sie halfen, die Zeit im Auge zu behalten. Wenn er bei fünfhundert war, konnte er nicht plötzlich wieder bei zweihundert sein. Dann wußte er, wenn etwas nicht stimmte.
Varyn zählte, bis tausend und weiter. Das Wasser umschmeichelte ihn wie eine Freundin, eine rauschende kalte Freundin. Er versuchte, die Stimme des Dämmervogels in den Fluten zu hören, und darüber schlief er beinahe ein.
Dann aber schreckte er hoch - seine linke Schulter stieß gegen einen umgestürzten Baum, der halb im Wasser hing, und unwillkürlich griff Varyn ins Geäst und hielt sich daran fest, ehe er noch weiter abtrieb. Wo war er gelandet? Wie spät war es? Varyn schüttelte sich. Plötzlich war er müde und konnte es weniger brauchen denn je - es war an der Zeit, daß er zurückschwamm zum Lager. Aber er hatte noch Zeit. Es war tief in der Nacht, der Morgen fern, und der Weg konnte nicht so weit sein. Neben dem Fluß konnte er im Sternen licht die Straße erkennen, und Berge, die seinen ähnelten. Sicher würde er nicht mehr viel Schlaf bekommen in dieser Nacht, dann aber dafür um so besser schlafen in der nächsten.
Gegen die Strömung zu schwimmen war gut. Es war anstrengend und forderte alle Kraft, die Varyn aufbringen konnte. Das Wasser schlug ihm ins Gesicht, drückte ihn zurück, wollte ihn mit sich reißen, aber Varyn war stärker als der Fluß. Es war ein guter Kampf. Es war ein guter Kampf, weil Varyn wußte, daß er gewinnen würde.
Ein Bergmann liebte die Sonne, aber direkt danach sollte für alle das Wasser kommen. Trotzdem schwamm niemand außer Varyn gern im Fluß - sie dachten nicht daran, daß jeder Stollen sie unter sich begraben konnte, wenn sie arbeiteten, aber beim Fluß dachten sie alle nur ans Ertrinken.
Varyn dachte nicht ans Ertrinken. Er dachte an gar nichts. Sein Körper war zu beschäftigt, als daß er Kopf noch hätte arbeiten können. Kein Tod in diesem Moment. Keine Träume, keine Gesichter, kein Wahn. Nur sein Kampf gegen den Fluß. Varyns Arme durchpflügten das Wasser wie ein Mühlrad. Und er kam gut vorwärts.
Zumindest kam es ihm so vor - er konnte nicht gut sehen, wo er war, außer im Wasser, und er wußte auch nicht, wo das Lager war, aber das würde er schon finden. Das Wasser kämpfte wie er, hatte kein leichtes Spiel mit ihm - also kam er gut vorwärts.
Doch es war weiter, als er gedacht hatte, und anstrengender als erhofft. Varyns Arme und Schultern begannen zu schmerzen, müde zu werden, doch wann immer Varyn zum Ufer sah, diesen Weg war er nicht gegangen, also schwamm er weiter, kämpfte, und schwamm.
Vielleicht besser etwas langsamer… Aber dann kam er nicht mehr gegen die Strömung an, dann nahm sie ihn wieder mit - wohin eigentlich? Das Meer lag hinter den Bergen, doch den Fluß trieb es von ihnen fort, zum Flachland hin. Sollte ein Fluß nicht zum Meer fließen? Aber vielleicht war der Fluß wie Varyn. Er wußte auch nicht, was er wollte. Wohin er gehörte.
Varyn wußte, was er wollte: Ans Ziel kommen, zurück ins Lager. Aber er hatte sich verschätzt. Er hatte sich überschätzt. Er war zu schwach. Immer wieder wurde er mitgerissen, abgetrieben, immer wieder stürzte er sich zornig vorwärts gegen den Strom, immer wieder, immer wieder unterlag er. Er lachte wild, schnappte nach Luft und schluckte Wasser, und gab nicht auf. In seinem Kopf rauschte es wie Stimmen. Armer kleiner Varyn. Wer hast du denn gedacht, daß du bist? Der Engel der Stärke? Der Engel des Meeres?
War das der Dämmervogel? Lachte sie ihn aus? Varyn wußte es nicht. Er wußte nichts. Um ihn herum, über ihm, begann es zu dämmern. Schwarz wurde zu grau. Es war ihre Zeit. Vielleicht wartete sie im Lager auf ihn, ausgerechnet jetzt?
Die Vorstellung gab Varyn Kraft. Sein ganzer Körper schmerzte, innen wie außen, jede Faser in seinem Körper schrie - das war nicht besser als die Alpträume. Vielleicht war es nur ein Traum? Varyn versuchte aufzuwachen, versuchte die Welt bersten zu lassen, doch die Welt barst nicht, nur er. Und doch kämpfte er sich weiter vorwärts, schwamm und kämpfte und schrie und kämpfte und schwamm.
Irgendwo ging die Sonne auf.
Varyn konnte nicht mehr. Er wußte nicht, wo er war, ob er auch nur drei Schritt zurückgelegt hatte. Es ging nicht mehr. Er war am Ende. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich das einzugestehen.
Mit Stechen in den Fingern krallte sich Varyn in der Böschung fest. Erst glaubte er noch, nur einen Moment lang Kraft schöpfen zu wollen, dann begriff er. Das war vielleicht der schlimmste Moment. Varyn gab auf.
Er kroch aus dem Wasser, mehr tot als lebendig, und schleppte sich zurück ins Lager, barfuß und nackt, aber das machte nichts mehr. Er mußte nur ankommen, bevor die anderen aufstanden, bevor sie merkten, daß er fort war. Er versuchte zu rennen, stolpern, rennen. Die Sonne sickerte langsam über die Berge, als Varyn die Zelte vor sich im Frühnebel aufragen sah.
Varyn rannte, sah nicht nach links und rechts - noch standen da nur Zelte, und die Pferde, aber keine Männer. Seine Kleider? Wo waren seine Kleider? Am Ufer, am Ufer, er hatte einen Stein daraufgelegt! Etwas krächzte, rechts von ihm. Da war der Stein, eine Elster saß darauf. Varyn scheuchte sie fort, schnappte sich seine Kleider, und war noch nicht ganz in seinen Schuhen, als der Hauptmann aus dem Zelt kam.
Er blickte sich nicht um, sondern verschwand sofort wieder in einem der anderen Zelte, aus dem kurz danach der kleine Trommlerjunge gekrochen kam. Wo anderswo die Hähne krähten, zerriß nun das Dröhnen der Trommel den Morgen. Ein bedrohliches Geräusch, rumpelnd wie ein Grollen im Berg. Das Lied des Krieges. Für einen Moment verstummten die Vögel.
Die Nacht war vorüber, bevor sie auch nur begonnen hatte.

Varyn hielt durch bis zum frühen Nachmittag, immerhin, bevor er zusammenbrach. Aber dann geschah es schnell: Bevor er noch unauffällig zurückfallen konnte, um am Wegrand, im Schatten, für einen Moment auszuruhen, brachen die Beine unter ihm weg, und er stürzte, bäuchlings, vor aller Augen.
»Der hält ja wirklich nichts aus«, hörte er einen sagen.
»Voll auf die Schnauze«, einen anderen.
Dann waren es keine Worte mehr, sondern nur noch Lachen, dumpfes Lachen, dröhnendes Lachen.
Varyn biß die Zähne zusammen und versuchte sich aufzurappeln, seine Zunge blutete schon an mehreren Stellen, so fest hatte er zugebissen, um nicht schlappzumachen, es konnte nicht mehr lange dauern, sie hatten schon kein Mittagessen gehabt, es war Zeit für eine Rast, gleich schon, hinter der nächsten Wegbiegung, und niemand würde ihm mehr etwas anmerken… Den ganzen Vormittag über hielt er durch, mittags stolperte er blind weiter, seine Augen brannten von Schweiß, sein Herz pumpte, aber er hielt durch, er gab nicht nach, und wenn es bis zum Abend sein sollte - aber dann reichte es eben doch nicht bis zum Abend.
Jede Kraft war aus Varyn gewichen, selbst seine Arme waren zu schwach, um seinen Sturz abzufangen, oder um ihn vom Boden wieder hochzubringen. Atmen ging noch, rasselnd, gerade so eben. Seine Ohren machen keinen Unterschied mehr zwischen dem Dröhnen des eigenen Blutes und dem höhnischen Lachen ringsum.
Er empfind Tritte in die Rippen, auf die es nicht mehr ankam, er fühlte sie kaum, sein Körper schmerzte auch so. Ein Schwall Wasser folgte, vielleicht ein Kochtopf voll Fluß, aber auch der war egal, naß war Varyn schon bis auf die Haut von Schweiß.
Die Schläge der Trommel hallten noch nach in der Luft, einsam und schrittlos, verloren wie Varyn, bis auch sie verstummten, und Varyn konnte nicht sagen, ob der Junge nun weitergetrommelt hatte oder sie nur in seinem Schädel Echo spielten.
Varyn japste, er hörte es, es tat weh, aber immerhin - es war das erste Geräusch, das er wieder erkennen konnte. Immer noch schwindelig, versuchte er sich aufzustützen und war froh um die Hände, die ihm dabei halfen. Alles war schwarz, alles drehte sich.
»Was lacht ihr so blöd?« fragte der Hauptmann, und das Lachen verebbte zumindest so weit, daß es man es wieder erkennen konnte. »Ihr werdet noch genug Männer umkippen sehen.« Er klopfte Varyn auf die Schultern. »Hier, bleib einen Moment sitzen und atme durch, ja?« Die Worte hätten besorgt klingen können, aber sie waren es nicht. »Und nun zu euch.«
Varyn rieb sich das Gesicht, rieb sich die Augen, drückte an seinen wehen Beinen herum, verfluchte die schweren Schuhe, die viel zu hart und viel zu eng erschienen, verfluchte sich selbst und war doch froh, daß er zumindest das wieder konnte. Ein wenig genoß er es, wie Hauptmann Mendrion seine Männer zusammenstauchte.
»Warum seid ihr stehengeblieben, na? Habe ich euch gesagt, ihr sollt stehenbleiben?«
»Er… ist umgefallen«, meinte einer der vorlauten Stimmen.
»Und? Glaubt ihr, das ist etwas besonderes? Was meint ihr, wie viele von euch noch umfallen werden?«
Man hörte ein Schlucken durch die Menge gehen. Die Worte… und nicht wieder aufstehen lagen in der Luft.
»Also was bleibt ihr stehen? Bleibt ihr im Feld auch stehen, wenn einer umkippt? Habe ich euch gesagt, ihr sollt stehenbleiben? Wenn ich sage, ihr marschiert, marschiert ihr, und zwar so lange, bis ich euch sage, daß ihr etwas anderes tun sollt. Verstanden?«
Raunen, Murmeln, Nicken, ein, zwei Stimmen brüllten: »Jawohl!«
»Gut.« Dem Hauptmann schien das fürs erste zu genügen. »Und jetzt zu dir.« Er packte Varyn bei der Schulter. »Kannst du aufstehen?«
»Jawohl, Hauptmann«, brachte Varyn hervor, auch wenn er wußte, daß es gelogen war, und versuchte es zumindest. Es ging, mit des Hauptmanns Hilfe. Varyns Knie schlotterten kraftlos.
»Stehen kannst du vielleicht, aber laufen nicht. Steig auf mein Pferd!«
»Was?« entfuhr es Varyn, und »Nein!«
»Steig auf mein Pferd, habe ich gesagt! Du wirst reiten. Ich werde zu Fuß gehen, bis du dich erholt hast.«
Varyn hörte das Raunen, das durch die Gruppe der Rekruten ging, und fühlte eine Woge der Feindseligkeit auf ihn zurollen. Wenn viele Leute das gleiche dachten oder empfanden, konnte Varyn es fühlen, und das gefiel ihm nicht - daß, und was. Er hob den Blick und sah den Hauptmann an. Der Hauptmann nickte. Er wußte es. Und er wollte es.
Varyn preßte seine Knie zusammen, damit sie still hielten, und schüttelte den Kopf. »Danke für das Angebot«, sagte er heiser. »Aber ich werde gehen wie alle anderen. Ich bin nur gestolpert. Es tut mir leid.«
Der Hauptmann ohrfeigte ihn. »Das war kein Angebot - das war ein Befehl! Du willst nicht einen Befehl verweigern, oder?« Seine Stimme wurde drohend und grollte in Varyns Kopf nach.
»Ich -«, begann Varyn, doch der Hauptmann unterbrach ihn.
»Sieh mich an, wenn du mit mir redest!«
Die Worte ‘Ich werde zu Fuß gehen’ lagen schon auf Varyns Zunge, aber als er seinen Kopf wieder hochzwang, sah er nicht nur das Gesicht das Hauptmanns. Er sah auch die Gesichter der anderen Jungen und Männer. Und er wußte, daß er verloren hatte, daß er verloren hatte in dem Moment, als er zusammenbrach, und daß er auch mit Widerstand gegen den Hauptmann nicht mehr einer von ihnen werden konnte. Er sagte: »Ich werde gehorchen, Hauptmann.«
»Gut«, sagte der Hauptmann. »Das werdet ihr alle.« Seine Augen verengten sich. Er war nicht zufrieden. Vielleicht hätte er Varyn gerne härter bestraft. Er nickte seinen Männern zu. »Helft ihm auf mein Pferd!«
Einer der Gerüsteten stieg ab, schleifte Varyn zum Pferd des Hauptmanns, bevor Varyn protestieren konnte und es ohne Hilfe versuchen, und schwang ihn in den Sattel, daß Varyn sich am Leder festhalten mußte, um nicht auf der anderen Seite herunterzurutschen.
»Sitz wenigstens aufrecht!« fuhr der General ihn an. »Das ist ein Reitpferd und kein Packpferd!«
Varyn sagte nicht, daß er noch nie auf einem Pferd gesessen hatte. Er hatte schon genug Reitern zugesehen, um ihre Bewegungen nachahmen zu können. Und wenn er auch müde und entkräftet war - irgendwo in ihm mußte doch noch etwas von dem alten Varyn sein, der alles konnte, was er auch versuchte… Er blinzelte gegen die zu helle Sonne, seine Lippen verzogen sich, er machte ein Grinsen daraus. Das Pferd war groß, und Varyn, eben noch im Staub zu Füßen der Männer, thronte nun über ihnen allen. Für den Moment war das ein netter Trost, und kein schlechter Tausch… Er mußte nur das Beste daraus machen.
Dann begann die Trommel wieder zu schlagen. Das Pferd setzte sich in Bewegung, zusammen mit den anderen Pferden und den Männern, ohne daß Varyn es hätte antreiben müssen. Irgendwie war das schade. Varyn hätte gerne ein wildes, stürmisches Pferd gebändigt, den anderen gezeigt, daß er kein Schwächling war, daß er doch zu etwas taugte -
Dann sackte er auf dem Pferderücken zusammen.
Der Hauptmann stimmte ein Lied zur Tommel an, und die Männer sagen mit, ihre Bewegungen wurden eins mit dem Rhythmus und dem Herzschlag der Trommel.

Wenn das Blut der Rache brennt
müssen wir marschieren.
Daß der Mensch die Feinde kennt
trennt ihn von den Tieren.
Niemals wollen wir verzeihn
Rache ist das Ziel allein,
heilig, heilig soll sie sein -
Froh laßt und marschieren.

Es war ein Kriegslied, es mußte nicht schön klingen. Aber es machte einen Haufen Burschen, von denen keiner die Farben des Königs trug, sondern ein jeder seine Arbeits-, Alltags- oder Reisetracht, und denen keiner wie der andere aussah, zu einer Gruppe. Männer, die eines waren, die eine gemeinsame Aufgabe hatten, und einen gemeinsamen Gegner. Dieser Gegner war nah.
Er saß auf dem Pferd des Hauptmann und war zu schwach, um auch nur eine Zeile mitzusingen, er war einsam und hilflos und verloren, und sein Name war Varyn.

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