Als Gerrat in das Zelt trat, troff sein Umhang von Regen, und er
roch wie ein nasser Hund. Aber das war nicht der Grund, warum
Dannen sitzen blieb, anstatt aufzustehen und seinen Bruder zu
umarmen. Einen Moment lang beäugten sich sie wie zwei
Fremde.
Aber Gerrat verstand es nicht, sah nicht die Mauer, die zwischen
ihnen gewachsen war, und fragte nur: »Müde?«
Und Dannen, anstatt es ihm zu erklären, nickte.
Es stimmte, müde war er auch. Er war früh aufgebrochen,
lange vor Sonnenaufgang, um auf jeden Fall der erste bei dem
Treffen zu sein. Nur, um ein paar ungestörte Worte wechseln zu
können… Aber nicht mit Gerrat. Daß Gerrat,
ausgerechnet, als nächster kommen sollte, damit hatte er nicht
gerechnet. Es gefiel ihm nicht.
Gerrat blickte sich suchend in der bis auf Tisch, Stühle und
Dannen leeren Hütte um. »Ist sonst noch jemand
da?«
»Bestimmt«, sagte Dannen. »Ich habe das hier
nicht aufgebaut.« Er versuchte zu lachen. Ihm war nicht
danach.
»Ich meine - hast du Vater schon gesehen?«
Dannen schüttelte den Kopf, und Gerrat legte endlich den
Mantel ab und setzte sich, aber er ließ zwei Stühle frei
zwischen ihnen. Also war auch er nicht grundlos so früh
gekommen… Es gefiel Dannen immer weniger.
»Und nun?« fragte Gerrat, vielleicht unsicher,
vielleicht verärgert.
»Wir könnten etwas spielen«, schlug Dannen vor.
Sie hatten seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr miteinander
gespielt… Er zog die Würfel aus der Tasche und
ließ sie über den Tisch rollen.
»Du würfelst?« fragte Gerrat, jetzt ehrlich
verblüfft.
»Habe ich einem meiner Männer abgenommen.« Der
Regen prasselte jetzt noch lauter auf das Bretterdach, und die
Wände begannen bereits, von innen feucht zu werden. Es hatte
schon Sinn, daß sie diese Jagdhütte lange nicht mehr
benutzt hatten.
Gerrat schüttelte den Kopf, belustigt. »Ich wußte
nicht, daß du es jetzt mit dem Glücksspiel
hast.«
»Ich glaube nicht an das Glück«, sagte Dannen
vergnügt. »Die Würfel sind gezinkt.« Er warf
noch einmal. Dreimal ein Auge.
Auch Gerrat lachte. »Und dann erzählst du mir das auch
noch?«
Schlagartig wurde Dannen wieder ernst. »Ich betrüge
meinen Bruder nicht«, sagte er.
Gerrat stand auf, nahm seinen Umhang, und verließ das Zelt.
Einen Moment lang wollte Dannen sich schon freuen, er war ihn los,
er hatte seinen Frieden, doch das war es auch nicht. Dannen schlug
die Handflächen auf die Tischplatte, dann zusammen, dann
folgte er seinem Bruder hinaus in den Regen. Seinen eigenen Mantel
ließ er zurück - der war noch so durchweicht, innen wie
außen, man wurde mit nasser als ohne -
Gerrat stand nur wenige Schritte von der Tür, als habe er
gewartet. Hatte er wohl auch… Sie kannten sich eben zu gut.
Vielleicht war das gerade das Schlimme.
»Das habe ich nicht gesagt!« schnaubte Dannen, noch
bevor Gerrat zum Angriff übergehen konnte. »Aber was
erwartest du von mir? Daß ich Freudengesänge
anstimme?«
Gerrat schüttelte den Kopf. Auch er trug keine Kapuze. Den
Umhang hielt er über dem Arm - auf den ersten Blick nutzlos,
aber besser, er hielt den Mantel in der Hand, als sein Schwert.
»Ich habe auch nicht erwartet, daß du… Verdammt,
es ist nun mal passiert!«
»Fluch nicht!« fuhr Dannen ihn an. »Wenn dich
irgend jemand hört - es muß nur einer hier
unterwegs sein - und weißt, wie abergläubisch die Leute
sind!« Daß es soweit kommen mußte - daß er
seinen großen Bruder zurechtwies… Dannen
schüttelte den Kopf. »Nichts für ungut, ja?«
sagte er. »Ich will keinen Krieg mit dir anfangen. Mir reicht
der Krieg, den wir hier draußen schon haben.«
Dann wartete er. Jetzt war es an Gerrat, etwas zu erwidern.
Und Gerrat erwiderte. »Weißt du, Dannen, genau das ist
dein Problem. Du gibst einfach zu schnell auf.«
»Was?« entfuhr es Dannen. Was wollte Gerrat - sich
prügeln?
»Du gibst auf. Jetzt schon wieder. Bei Hana
genauso.«
Dannen verschränkt die Arme, um ruhiger zu wirken, und damit
seine Hände etwas zum Festhalten hatten. Ihm war schwindelig .
Jetzt ein Schwert haben… »Wärst du nicht
gewesen…« , sagte er durch die Zähne.
Gerrat schüttelte den Kopf. »Woher sollte ich wissen,
daß es dir ernst war? Wenn du sie sofort
freigibst -«
»Ich habe sie freigegeben«, sagte Dannen dumpf.
»Aber nicht für dich.« Und fürchtete schon
Gerrats Antwort: »Wenn du sie freigibst, ist sie
frei.«
Aber das sagte Gerrat nicht. Nur: »Es war nicht so
geplant.«
Dannen glaubte ihm; das machte es schlimmer. Gerrat war immer
ehrlich, oder sah zumindest immer so aus. Er mußte es. Ein
König, der sein Volk in einen Krieg schickte, sollte dabei
zumindest glaubwürdig aussehen. Und Gerrat war der
zukünftige König. Und niemand, mit dem Dannen sich
anlegen wollte.
Dannen war wütend, aber er war hilflos. Er wollte nicht an
diesem Tag sein, oder an diesem Ort. Er wollte vor drei Monaten
sein und den einzigen Fehler rückgängig machen, den er
jemals wirklich bereut hatte. Er wollte Hana wiederhaben, die er
verloren hatte, ehe er sie besaß.
Aber er konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Er konnte sie nur
loslassen. »Ich habe sie freigegeben«, sagte er, mehr
zu sich selbst denn zu seinem Bruder. »Und es ist ihre
Entscheidung, wen sie lieben will.«
Als er sie das erste Mal sah,
schien die Sonne, und es war Herbst.
Das Licht brach sich im Herbstlaub, bevor es auf Hana schien, und
so dachte Dannen zuerst, daß ihre Haare rot waren. Erst bei
ihrem zweiten Treffen merkte er, daß sie blond war. Aber da
war es schon zu spät. Wann immer sie ihm in den Sinn kam,
hatte sie rotes Haar. Aber das war egal. Dannen suchte Frauen nicht
nach der Haarfarbe aus… Und dennoch hatte er sich als erstes
in ihr Haar verliebt.
Nein, das stimmte nicht. Das Erste war ihr Falke. Ein prachtvolles
Tier, und auch seine Federn leuchteten rot und golden im
Herbstlicht. Dannen sah den Falken am Himmel und sah ihn
niedergehen, und folgte ihm zu dem Baumgrüppchen, wo Hana
wartete. Auf den Falken, nicht auf Dannen, aber vielleicht
doch.
Der Falke landete auf ihrer Hand, deren zarte Glieder unter dem
groben Lederhandschuh nur zu erahnen waren, und dann wandten beide
gleichzeitig die Köpfe und blickten zu Dannen hinüber.
Frau und Vogel glichen sich in dem Moment, ihre Augen scharf, ihre
Gesichter reglos, ohne ein Lächeln, abwartend.
Dannen saß ab, froh, alleine ausgeritten zu sein, ohne
Diener oder Jagdgesellschaft. »Was für ein prachtvolles
Tier«, sagte er anerkennend. Hier draußen konnte er
frei sprechen, ohne jedes Wort dreimal abwägen zu müssen.
Die Frau hatte ihn nicht erkannt, oder wollte ihn nicht erkennen,
und stand vor ihm wie eine Ebenbürtige, und war es auch,
für den Moment.
»Er ist noch jung«, sagte die Frau, fast
entschuldigend.
»Wessen Vogel ist es?« fragte Dannen und wußte
im gleichen Moment, das Falsche gesagt zu haben.
»Er gehört mir«, sagte die Frau. »Wie auch
der Handschuh, und das Kleid, das ich trage, und die Luft, die ich
atme, und der Wind in meinem Haar.« Während sie sprach,
setzte sie ihrem Falken die Maske auf und kettete seinen Fuß
an ihren Handschuh, und als zöge sie die Maske auch über
die Sonne, verdunkelte sich das Licht durch eine Wolke, und Gold
wurde zu grau.
Dannen senkte den Kopf. »Verzeiht mir«, sagte er
leise. »Aber ich habe noch nie eine Falknerin gesehen. Ist
Eurer Mann gestorben?«
Und obwohl noch Frieden herrschte an diesem Tag, mußte
Dannen doch plötzlich an all die Männer denken, die der
letzte Krieg verschlungen hatte, wie lang war es her? Dannen war
noch ein Junge im letzten Krieg. Und die Frau wohl noch ein
Mädchen…
»Was geht es Euch an?« fragte die Frau. »Wollt
Ihr mich heiraten?«
»Nein«, sagte Dannen. Er sagte nicht
Später und nicht Ich kenne Euch doch kaum,
sondern Nein, schnell und ohne zu zögern. Und damit sie
nicht dachte, er habe Übles im Sinn, setzte er hinterher:
»Aber ich möchte Euch den Vogel gern
abkaufen.«
Es sollte nicht nach Almosen klingen - eine Frau, die einen Falken
besaß, bedurfte keiner Almosen. Aber reich konnte sie auch
nicht sein.
»Ich handle nicht auf der Heide«, sagte sie.
»Und während ich meinen Falken erziehe, sucht Euch eine
Frau, die das gleiche mit Euch tut.«
Dannen lächelte und brachte eine Antwort zustande, auf die er
in dem Augenblick sehr stolz war, denn er hatte bereits begonnen,
sich in diese schöne stolze Falknerin zu verlieben. »Das
wird schwer sein«, sagte er. »Denn Ihr habt Euch
bereits Eurem Falken versprochen, und sonst wüßte ich
keine.«
War das ein Lächeln in ihrem Gesicht? Vielleicht, aber es
sprach mehr von Mitleid denn von Herzesliebe. »Dann bittet
Eure Schwester um Erziehung, Prinz Dannen, oder vergeßt mich
und geht wieder jagen mit Euren Freunden.«
Dannen hielt sich am Halfter seines Pferdes fest, um nicht
zurückzuweichen ob der plötzlichen Kälte in ihrer
Stimme. Sie wußte, wer er war, und auch wenn er nur als ein
Dannen vor ihm stand, nannte sie ihn Prinz - wenn sie es so wollte,
sollte sie es haben. Dannen biß die Lippen zusammen,
während er den Geldbeutel von seinem Gürtel löste,
und warf ihr ein Goldstück zu. Warum nahm er überhaupt
Gold mit, wenn er nur ausreiten wollte? »Für den
Falken«, sagte er.
Sie fing das Geld in der Luft, sah es nicht an, sondern
schloß die Hand darum zur Faust. »Das wird nicht
reichen«, sagte sie.
»Nur eine Anzahlung«, sagte Dannen. »Ich kaufe
nicht auf der Heide. Kommt auf meine Burg, wenn Ihr mit dem Vogel
fertig seid, und ich werde Euch einen guten Preis dafür
zahlen, sofern Eure Arbeit gut ist.«
Blitzten ihre Augen? War das nicht etwas, das eine jede Frau sich
wünschen konnte - eine Einladung auf eine Burg, wo die
Reichtümer warteten?
»Ich werde mir Euer Angebot anhören, Prinz
Dannen«, erwiderte sie. »Und wenn es gut ist - dann
werde ich meinen Falken um so lieber behalten, denn dann weiß
ich, daß meine Arbeit gut ist und eines Königs
würdig. Aber bis dahin«, - und sie lachte, und die Sonne
kehrte zurück und war wieder in ihrem Haar, und ihrem Lachen -
»gehabt Euch wohl.«
Dannen schwang sich zurück in den Sattel. »Nennt mir
noch Euren Namen!« rief er, während er schon sein Pferd
wendete.
»Wozu? Damit Ihr mich von den Hunderten von anderen
Falknerinnen unterscheiden könnte?«
Dannen schüttelte den Kopf und ritt noch eine Volte.
»Nein«, sagte er leise. »Damit ich weiß,
wer Ihr seid.«
Sie lächelte. »Dann«, sagte sie, »bin ich
Hana.«
Es vergingen einige Wochen, in
denen Dannen Hana nicht sah, aber auch nicht viel an sie dachte. Es
kam ab und an vor, daß er eine nette Frau kennenlernte, ein
paar Worte mit ihr wechselte und sich danach wünschte, ein
anderer zu sein, einer, der es nicht bei ein paar Worten belassen
mußte. Manchmal kam es auch vor, daß er es nicht bei
ein paar Worten beließ… Und so sah er zu, wie der
goldene Herbst grau wurde, ohne ihm nachzutrauern. Bis die Frau mit
dem Falken nach Car Lamanthul kam.
Es war die letzte Woche des Herbstes, die Woche der Jagd auf den
Roten Fuchs, mit der sie das alte Jahr zu Grabe trugen und den
Winter einläuteten. Es war ein alter Brauch, älter
vielleicht noch als die Elomaran und vielleicht auch heidnisch,
aber das störte niemanden: Der Fuchs war die Sonne, und je
tiefer er sich in seinem Bau verkroch, desto länger und
kälter würde der Winter sein. Darum hetzten sie ihn mit
Hunden und scheuchten ihn aus seinem Loch und schlugen ihm Kopf und
Schwanz und Pfoten ab. Den Kopf vergruben sie in der Erde, damit
daraus eine neue Sonne wachsen konnte, und den Schwanz und die
Pfoten nagelten sie über die Tür, um die Sonne auch im
Winter im Haus zu halten.
Dannen jagte den Fuchs jedes Jahr mit seinen Brüdern, seit
sie als Jungen mit ihrem Vater auf die Jagd gegangen waren. Aber
nun waren sie erwachsen, führten ihre eigenen Höfe, und
jeder von ihnen wollte seinen eigenen Fuchs. Und so war von Dannens
Brüdern in diesem Jahr nur Gerrat in seiner Jagdgesellschaft.
Ausgerechnet Gerrat war da. Ausgerechnet an dem Tag, als Hana kam
und den Falken brachte.
Die Jagd war vorüber. Ein Fuchsschwanz prangte über dem
Tor der Burg Car Lamanthul, das Festessen war verspeist, und der
Winter durfte kommen, als eine Frau an die Tür klopfte.
Dannen hörte es nicht. Es hatte sich hingelegt, völlig
erschöpft nach einem harten Tag und einer nahezu schlaflosen
Nacht. Ein Tag auf dem Duellplatz, ein Tag auf dem Schlachtfeld
konnte nicht schlimmer sein als diese Nacht, die letzte Nacht des
alten Jahres, für einen Fürsten. Die Barone, seine
Lehensnehmer, kamen, um an seiner Jagd teilzunehmen… und ihm
danach, einer nach dem anderen, ihre Vorratsplanung für den
kommenden Winter darzulegen.
Dannen ertrug die Nacht, ohne mit der Wimper zu zucken. Er ertrug
seine Lehensmänner, ihre schlechten Witze und ihre Frauen. Er
lachte, wenn andere lachten, aber nicht zu laut oder derb -
Engelsgeborene mußten ein Vorbild sein können, selbst in
einer Nacht wie dieser -
»Du hast dich gut gehalten«, sagte Gerrat und schlug
ihm herzhaft auf den Rücken, als endlich der letzte Gast die
große Halle verlassen und sich auf den Weg zu den
Gästequartieren gemacht hatte. Aber dieser Schlag kostete
Dannen das Gleichgewicht. Er schwankte für einen Moment,
schluckte, und stützte sich auf der Tischkante ab.
Plötzlich war ihm schwindelig. Alle Selbstbeherrschung, alles
Zähnezusammenbeißen hielt nur, solange es unbedingt
nötig war. Dann forderte der Tag seinen Tribut, und die
folgende Nacht, und der Wein, der beides zusammenhielt.
»Ich werde noch ein wenig ausreiten«, sagte Dannen,
mit soviel Ruhe und Festigkeit in seiner Stimme, wie seine
Konzentration noch zuließ. »Ich brauche frische
Luft.«
»Du brauchst Schlaf«, erwiderte Gerrat. »Du
reitest heute nirgendwo mehr hin - ich habe keine Lust, nachher
durch die Kälte zu laufen und dich zu suchen, weil dein Pferd
ohne dich zurückkommt.« Er faßte ihn beim Arm,
aber Dannen schüttelte ihn ab.
»Ich kann noch laufen! Wenn du dich abstützen
mußt, tu es, aber sonst laß mich los!« Er sprach
lauter als beabsichtigt, viel lauter, und aggressiver. Er
schüttelte den Kopf. »Ich werde mich jetzt schlafen
legen«, sagte er.
Und das tat er dann auch.
Es kümmerte ihn nicht, daß draußen bereits Tag
war. Niemand war da, um ihn zu sehen, und am liebsten hätte er
mindestens bis zum anderen Morgen weiterschlafen mögen, aber
selbst im Schlaf wußte er, daß das nicht ging.
So ging es ohnehin nicht. Er wurde gestört.
»Dannen!«
Es klopfte an der Tür. Dannen drehte sich um und brummelte
etwas - sollte Gerrat hereinkommen, wenn es wichtig war, oder gehen
- er kam herein.
»Dannen, du hast Besuch.«
Dannen stöhnte. »Und dafür weckst du mich?«
Die ganze Burg war schon voller Gäste, was kam es da auf einen
an? »Laß mich schlafen.«
Gerrat lachte. »Der Gast… ist eine Frau.«
Aber auch das war in diesem Moment nichts für Dannen. Er
hatte an diesem Tag genug Frauen gesehen. Und Kinder, was das
anging, und betraf. Er versuchte, im Halbschlaf zu lachen.
»Eine Frau hätte ich am Nachmittag brauchen können,
jetzt nicht mehr.« Frauen waren gut mit Buchführung und
dergleichen…
»Und jetzt?« fragte Gerrat. »Soll ich sie
wegschicken?«
Dannen schüttelte seinen Kopf, schwer und müde.
»Vertritt mich.« Gerrat hatte ein leichtes
Händchen mit Frauen. »Schab dir den Bart ab, und tu, als
wärst du ich.«
Gerrat antwortete nicht, aber er mußte wohl gegangen sein,
denn Dannen konnte wieder einschlafen, ohne noch einmal
gestört zu werden. Er schlief nicht mehr gut. Seine
Träume waren wirr, wild und wüst, sprachen von zuviel
Wein, von wilden Hunden und Füchsen und Falken, ein einziges
unzusammenhängendes Durcheinander -
Dannen wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, oder was
geträumt, als er plötzlich wach wurde, richtig
wach. Einen Moment lang fühlte er Panik. Ein Alptraum? Dannen
schüttelte sich. Träume waren egal. Aber was gerade in
der Wirklichkeit geschehen mochte…
Dannen sprang aus dem Bett, und froh, in Kleidern geschlafen zu
haben, zwängte er sich in seine Stiefel. Unten im Hof
hörte er Stimmen, und eine Art Rauschen - Dannen stieß
das Fenster auf, warf einen Blick hinaus und griff nach seinem
Fellumhang, um hinunterzulaufen und das Schlimmste zu
verhindern.
Im Hof waren Gerrat und Hana. Und offenbar gab Gerrat alles, um
seinen kleinen Bruder würdig zu vertreten.
Der Falke saß friedlich auf Hanas Hand, den Kopf wieder
unter der Maske verborgen. Auf dem Rand des Brunnens lag ein
Schneehase, sehr offensichtlich sehr tot. Es war der erste
Schneehase, den Dannen diesen Winter sah. Aber es war ja auch der
erste Tag in diesem Winter. Es machte Dannen traurig, und auch
wütend. So führte Hana ihren Falken also Gerrat vor, wo
sie es doch Dannen versprochen hatte!
Er verlangsamte seine Schritte, als er in den Hof trat. Es war
eine Sache, mit wirrem Haar und wehendem Mantel eine Treppe
hinunterzustürzen, wo ihn niemand sehen konnte, als vielmehr
einer Frau zu begegnen, von der er erst jetzt begriff, wie sehr er
sie liebte. Dannen rückte seinen Mantel zurecht und wischte
sich kurz über das Gesicht, um sich der letzten Fettreste vom
Essen zu entledigen, falls er dies noch nicht getan haben sollte.
Er war plötzlich sehr unsicher über sein Auftreten. Waren
seine Kleider noch sauber? Und sein Haar… Aber das war das
Dankbare an Locken, sie waren eigentlich immer in Unordnung.
Dannen rang mit sich. Seine Füße wollten in den Hof
stürmen, seine Hände wollten Gerrat ohrfeigen, aber sein
Kopf wußte, daß so keine Frau zu gewinnen war, und Hana
erst recht nicht. Und so trat er in den Hof, ruhig, ohne seinen
Bruder oder die Falknerin zu beachten, ging zum Brunnen und nahm
den toten Hasen auf. Mit kalter Geduld untersuchte er die
Verletzungen des Tieres. Der Falke hatte es im Genick gerissen, mit
einem Schlag getötet - das war gute Arbeit, kein
unnötiges Zappeln und Leiden.
»Dannen! Du bist aufgestanden!« Hatte ihn Gerrat
wirklich erst jetzt bemerkt, oder tat er nur so?
»Ach, beachtet mich gar nicht«, sagte Dannen gelassen.
»Macht einfach so weiter wie bisher. Tut so, als gebe es mich
nicht.« Er war ungerecht, das wußte er auch. Aber
Vigilanders Kinder waren nicht für ihren Gerechtigkeitssinn
bekannt. Gerrat und Hana hatten sich nur unterhalten. Aber mit ihm
unterhielt sie sich nicht…
Hana blickte ihn an und sah für einen Moment so aus, als
wolle sie ihn schlagen. »Es ehrt mich, daß Ihr geruht
aufzustehen - oder sollte ich sagen, es ehrt meinen
Falken?«
Dannen blickte nach unten, auf den Hasen, in den Brunnenschacht,
überall hin, nur nicht in ihr Gesicht. »Mein Bruder
sagte mir nicht, daß Ihr es seit. Für niemand
anderen hätte ich aufstehen mögen.«
Sie lächelte, aber in ihren Augen blitzte die Wut.
»Das«, sagte sie, »glaube ich euch gern. Aber
zumindest habt Ihr Euren Fuchs.«
Dannen nickte. »Ihr werdet Recht haben. Gerrat, ich danke
dir.« Erfühlte sich nicht dankbar. »Vertritt mich
noch einen weiteren Moment, ja?« Er zog den Mantel enger um
sich. Es war kälter als am Vortag. Der Winter kam in diesem
Jahr mit schnellen Schritten.
Dannen verließ den Hof, verließ die Burg und ging zum
Vortor, wo sie den Schwanz und die Pfoten festgenagelt hatten.
Über den Winter verwitterten sie, bis die Überreste
irgendwann herunterfielen oder im Frühling von den Fliegen
gefressen wurden. Aber noch hielten sie. Dannen rollte ein leeres
Faß herbei - waren die alle aus der letzten Nacht? Dannen
wurde schwindelig bei der Vorstellung, und noch schwindeliger, als
er auf das Faß stieg. Vier Pfoten und ein Schwanz - was
für ein Überfluß! Man sollte meinen, daß drei
Pfoten reichen sollten, selbst für eine Burg wie Car
Lamanthul. Mit einer Hand stützte er sich am Tor ab, mit der
anderen zerrte er den langen Holznagel aus der Wand. Es gelang ihm,
mit Glück, und mit Glück gelang es ihm auch, oben zu
bleiben. Er steckte die Pfote in die Tasche, sprang vom Faß,
rollte es wieder beiseite - der Weinhändler würde die
leeren Fässer in den nächsten Tagen wieder abholen - und
ging in den Hof zurück.
Wo Gerrat immer noch mit Hana plauderte.
Die Pfote in der Hand, stellte sich Dannen mit hinter dem
Rücken verborgenen Armen vor Hana hin. »Ihr seid einen
weiten Weg bis hier gelaufen - darf ich Euch ein wenig Sonne
schenken?«
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Was meint
Ihr?«
»Ein Stück Sonne«, sagte Dannen und reichte ihr
die Pfote.
Hana blickte ihn an und hob eine Augenbraue, doch sie
lächelte nicht. Sie nahm die Pfote, nichtsdestotrotz, und
schloß ihre Finger darum wie damals um die Münze. Mit
der anderen Hand löste sie die Kette des Falken von ihrer
Schulter. Sie zog ihm die Haube vom Kopf, und wieder überfiel
Dannen ein kurzer Schauer, als er in die kalten klaren
Raubvogelaugen blickte. Wollte Hana ihm nun -
Der Falke flatterte auf und ließ sich auf Hanas Hand nieder.
Er wandte den Kopf wachsam hin und her, als spähe er nach
neuer Beute. Hana pfiff kurz und schnell. Und dann schleuderte sie
die Fuchspfote in hohem Bogen in die Luft.
Der Falke schoß hinterher, und noch bevor die Pfote in ihrem
Fall wieder auf Augenhöhe angelangt war, hing sie in den
Krallen des Vogels, eine leblose rotbraune Beute.
Dannen wußte nicht, was er sagen sollte, oder davon halten.
Bedeutete ihr das Geschenk nur so wenig? Wollte sie ihm den Falken
in all seiner Pracht vorführen? Dannen zögerte einen
Moment zu lange, und in diesen Moment hinein begann Gerrat zu
applaudieren.
»Einen vortrefflichen Vogel habt Ihr da, Hana! Er vermag
sogar die Sonne zu schlagen!«
Hana lachte, und Dannen wünschte sich, es wären seine
Worte gewesen. Er beeilte sich, in den Applaus einzufallen. Der
Falke legte die Pfote vor Hana nieder, und was eben noch stolz und
rot vom Torbogen geleuchtet hatte, war nun etwas unansehnliches,
totes. Es tat Dannen im Herzen weh, doch Hana nahm die Pfote auf,
strich vorsichtig die Haare glatt und den Staub ab und schob sie
dann sorgsam in ihren Beutel. »Danke, Dannen. Ich werde sie
in Ehre halten.«
Dannen sagte nicht‘Das habe ich gesehen’, sondern:
»Ein Falke, der schneller fliegt, als die Sonne fällt -
nennt mir Euren Preis, und ich kaufe ihn Euch ab.«
Hana lächelte. »Jeden Preis?« Ihre Stimme war
listig.
Dannen fühlte den Blick seines Bruders auf ihm ruhen, als die
Vernunft siegte und er sagte: »Jeden angemessenen
Preis.« Es ging ihm nicht wirklich um den Falken. Er hatte
schon Jagdfalken, auch gute. Und die Frau konnte und wollte er
nicht kaufen.
»Seid unbesorgt«, sagte Hana. »Ich habe nicht
vor, sie zu verkaufen.« Und mit diesen Worten zog sie ihren
ausgeblichenen Wollmantel zusammen, nahm den Falken, und ehe Dannen
ihr noch seine Begleitung anbieten konnte, war sie auch schon
fort.
Am Abend saßen die
Brüder noch beim Wein zusammen und redeten. Es war der Tag,
für den Dannen Gerrat bis ans Ende aller Tage verachten
würde, der Tag, an dem Gerrat ihm Hana ausredete.
Dabei war es ein schöner Abend, ein ruhiger Abend, die
Gäste waren fort bis auf Gerrat, die Spuren der Nacht
beseitigt, und im Kamin prasselte ein Feuer, groß genug, um
einer ganzen Kompanie einzuheizen, und mußte doch für
niemanden reichen als die beiden Brüder.
Dannen legte sich zurück und schloß die Augen.
»Wenn das Jahr so weitergeht, wie es angefangen
hat…«, murmelte er.
»Was dann?« fragte Gerrat, wacher und wachsamer als
Dannen.
»Na ja«, sagte Dannen. »Meine eigene Burg, eine
schöne Frau - was will man mehr?« Er seufzte und nahm
einen Schluck Wein, der von der Nähe des Feuers selbst schon
ganz warm war.
»Meinst du Hana?« fragte Gerrat zurück, und als
Dannen nickte, fuhr er fort: »Sie ist nichts für
dich.«
»Wie meinst du das?« fragte Dannen und brauste auf:
»Meinst du, ich bin nicht gut genug für sie? Willst du
sie lieber selbst?«
Gerrat ließ sich Zeit mit der Antwort, und Dannen nutzte
sie, um sich wieder zu beruhigen. »Laß mich ausreden,
ja?« sagte Gerrat leise. »Ich erwarte nicht, daß
du dich jetzt freust, aber - weißt du, wie viele Frauen du
mir schon aus dem Kopf geschlagen hast? Und glaubst du, in den
Momenten habe ich mich gefreut?«
Widerwillig mußte Dannen schmunzeln. »Ja, aber das war
etwas anderes, deine ganzen Frauengeschichten…«
»Es war nichts anderes. Es war genau das, und du hattest
Recht, und jetzt habe ich Recht. Hana ist nichts für
dich.«
»Du meinst, sie ist nicht gut genug für
mich?«
Gerrat schüttelte den Kopf und schob ihm den Weinkrug zu.
»Das ist keine Frage von gut, oder schlecht«, sagte er.
»Sie ist einfach keine Frau für unseresgleichen.
Daß, was dich an ihr fasziniert, wird sie verlieren in dem
Moment, in dem du sie in deine Burg sperrst. Wie ein Falke im
Käfig.«
Dannen lachte grimmig, nahm den Wein, doch er trank nicht. Vom
Wein hatte er erst einmal genug. »Ich denke, das trifft auf
jede Frau zu.«
Nun lachte Gerrat. »Vielleicht. Du solltest dich jedenfalls
nicht zu sehr auf sie versteifen. Ich glaube nicht, daß du
sie wirklich liebst.«
»So? Bin ich aus Glas? Kannst du durch mich
durchsehen?«
»Ich bin dein Bruder«, sagte Gerrat, und sein Tonfall
sagte ‘Dein großer Bruder’. »Ich
kenne dich.«
»Ich liebe sie aber«, entgegnete Dannen, und seine
Stimme wurde unfreiwillig so trotzig wie die von jedem kleinen
Bruder, der sich gegen den älteren auflehnte, auch wenn es nur
zwei Jahre waren, die sie trennten. »Ich liebe sie mehr, als
irgendeiner von uns jemals eine Frau geliebt hat.«
Jetzt lachte Gerrat laut, und vermutlich hatte er Recht damit.
Dannen bereute bereits, so dick aufgetragen zu haben, als Gerrat
sagte: »Davon hat man aber vorhin nicht viel
gemerkt.«
Dannen konnte nicht mehr zurück. Er konnte nur noch
vorwärts, und sich lächerlich machen. »Ich habe
halt nicht dein Händchen mit Frauen, oder deine
Erfahrung.« Hoffentlich saß der Hieb! »Darum habe
ich ihr die Fuchspfote geschenkt. Um ihr zu zeigen, was sie mir
bedeutet.«
Der Hieb saß nicht. Gerrat schüttelte nur den Kopf.
»Was meinst du, woran ich gemerkt habe, daß es dir eben
nicht so ernst ist? Du schenkst ihr eine Pfote, gut, damit bleiben
dir noch drei. Das ist kein Opfer. Wenn du sie wirklich liebtest,
hättest du ihr den Fuchsschwanz geschenkt.«
Dannen schwieg. Er schloß die Augen und ging in sich. Er
wollte Gerrat nicht Recht geben, keineswegs, aber er wollte auch
keinen Narren aus sich machen. Wie er selbst schon so oft zu Gerrat
gesagt hatte: Zu viele Augen lagen auf Vigilanders Haus, als
daß sich seine Söhne ohne weiteres irgendwelche
Liebschaften erlauben konnten. Vor allem, da sie schon einen
Bastard in der Familie hatten, und das war ein Bastard
zuviel…
Dannen ging in sich und suchte die Liebe, suchte diese flatterige
warme Gefühl, doch alles was er fand, waren Bauchschmerzen und
Zweifel. Er versuchte, sich Hanas Gesicht vorzustellen, ihr
Lächeln, ihre Augen, doch es funktionierte nicht.
»Wie oft hast du sie getroffen?« fragte Gerrat weiter.
»Zweimal, und für wie lange? Keine Stunde jeweils. Nicht
besonders viel. Ich glaube, ich weiß schon mehr über sie
als du.«
Dannen hätte nun sagen können ‘Wen
wundert’s, so wie du dich an sie herangemacht hast’,
aber er ließ es sein. Jedes Wort von ihm, jedes Wort von
Gerrat konnte nun alles nur noch schlimmer machen. Je länger
sie stritten, desto mehr begann Dannen, Gerrat Recht zu geben, und
desto weiter entfernte sich sein Herz von Hana.
»Hör auf!« sagte er. »Laß gut
sein.«
Gerrat hob eine Augenbraue. »Schon? Du gibst auf?«
»Nein! Ich gebe nicht auf. Es ist nur… vielleicht
hast du Recht, vielleicht nicht, ich weiß es nicht.«
Dannens Kopf dröhnte und brummte. Das war definitiv genug Wein
für die nächsten Tage. »Ich weiß es eben
nicht«, sagte er noch einmal. »Vielleicht, wenn ich sie
das nächste Mal sehe…«
Gerrat nickte und ließ es gut sein, und sie sprachen nicht
weiter von Hana, und es vergingen Wochen, bis Dannen sie wiedersah.
Dann wußte er, daß er sie wirklich liebte. Aber es war
bereits zu spät.
Denn als er Hana wiedersah, war sie schon Gerrats Geliebte.
Nun war der Winter vorüber,
wo einst Schnee lag, fiel nun Regen, und wo einst Frieden war,
herrschte nun Krieg. Noch wurde nicht gekämpft, noch zogen die
Rekrutierer durch das Land und hoben die wehrfähigen
Männer aus, aber all das gehörte schon zum Krieg. Der
König versammelte seine Kinder an einem geheimen Ort, um ihnen
seine Strategie zu besprechen. Dannen wäre es lieber gewesen,
dieser geheime Ort hätte etwas anderes dargestellt als eine
kalte feuchte Jagdhütte am Rande von Nirgendwo.
Dannen schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Lust«,
murmelte er, nicht, weil er das Bedürfnis hatte, sein
Innerstes nach außen zu kehren, sondern weil das Schweigen
schlecht zu ertragen war. Wo blieben eigentlich die anderen? Es
wurde langsam Zeit…
»Worauf diesmal nicht?« fragte Gerrat.
»Alles«, sagte Dannen. Vielleicht hätten sie doch
besser würfeln sollen… »Diesen ganzen Krieg -
hätte Vater nicht wenigstens bis zum Sommer warten
können?«
»Wie redest du? Vater hatte keine Wahl!«
Dannen lachte. »Ja, das sagen wir immer. Aber im Ernst -
glaubst du nicht, die ganze Welt lacht über uns, wenn wir
einen Krieg vom Zaun brechen, um einen versoffenen Botschafter zu
rächen? Das ist doch kein Grund!«
»Was ist kein Grund wofür?«
Dannen nickte und drehte sich um. Er lächelte ein wenig und
senkte den Kopf, um seinen Vater zu grüßen. »Ich
sehe wenig Sinn in diesem Krieg«, sagte er dann. Er durfte
das sagen, als Sohn. Das war vielleicht ein Privileg. Auch, wenn
sein Wort nichts zur Sache tat.
»Darüber reden wir nachher«, sagte der König.
»Du mußt nicht glauben, daß ich mich mit Freude
in diesen Krieg stürze. Wo sitzt wer?«
»Hier ist dein Stuhl«, sagte Gerrat und kam als erster
auf die Idee, dem Vater aus dem nassen Mantel zu helfen.
Natürlich saß der König am Kopf des Tisches, auf
dem größten Stuhl, und wußte das auch. Aber auch
er schien gerne das Thema wechseln zu wollen.
»Wie auch immer der Anlaß, freuen wir uns lieber
darüber, endlich wieder einmal die ganze Familie unter einem
Dach zu haben.«
»Großartiges Dach«, sagte Dannen. Jetzt tropfte
es schon an verschiedenen Stellen durch. Was sollte als
nächstes kommen?
Sein Vater lachte. »Immer noch der alte Schwarzseher! Komm
her, laß dich umarmen!«
Dannen gehorchte halb widerwillig - er hatte lange darauf gewartet,
seinen Vater wiederzusehen, aber unter Gerrats Augen war es ihm
unangenehm. Natürlich wurde Gerrat nicht gedrückt - er
lebte mit ihm in Car Pentras und sah ihn jeden Tag. Es war Monate
her, daß Dannen den König zuletzt gesehen hatte. Und nun
konnten sie nicht einmal ruhig miteinander reden. Nur weil
ausgerechnet Gerrat ausgerechnet heute einmal zu früh kommen
mußte…
Leota war die nächste, die erschien, dann Rul, dann, mit einer
Verspätung, die ihm ähnlich sah, Jaro. Das waren dann
alle. Nur die Familie - kein Generäle, keine Politiker, keine
Diener. Nur eine glückliche Familie, die formlos, in geheimer
Umgebung, im gemütlichen Umfeld über einen Krieg
plauderte. Dannen hätte ebensogut daheimbleiben können.
Wann ließ sich ein Vater schon von seinen Kindern etwas
sagen? Von seinen Generälen, vielleicht, die hatten die
nötige Erfahrung, aber von fünf Kindern, von denen keines
älter war als sechsundzwanzig? Von denen eines eine Frau war,
eines ein Bastard, eines ein halbes Kind, und eines viel zu
schlechte Laune hatte? Sicher nicht. Der König hätte sie
besser nach Car Pentras bestellt, um ein offizielles
Familienportrait malen zu lassen, bevor sie alle in Stücke
gehackt wurden…
Es war schon gruselig, sie um den Tisch herum sitzen zu sehen: Alle
sechs mit den gleichen krausen dunkelbraunen Haaren. Ihren
schönen, harten Gesichtern, die man nicht mehr schön
finden konnte, wenn es weit und breit kein häßliches zum
Vergleich gab. Ihre grünlichbraunen Augen. Der Vater wie seine
Söhne, mehr Fleisch auf den Rippen, mehr Grau im Bart, und
doch aus einem Guß.
Dannen fürchtete nichts mehr als diese Momente, in denen sie
alle gleich waren. Er trug keinen Bart, auch wenn man ihn deswegen
verlachte - es machte ihn zu etwas eigenem, zumindest von
außen. Aber es reichte nicht. Er würde immer nur
aussehen wie der Sohn seines Vaters, seines Großvaters, jedes
verdammten Ahn bis hin zu Vigilander selbst. Mehr als zwanzig
Generationen von Männern, denen im Leben kein anderes Ziel
heilig sein durfte als Rache.
Und dann sollte er seinem Bruder verzeihen?
»So«, sagte der König. »Wir haben uns hier
vielleicht nicht aus dem erfreulichsten Grund versammelt, aber es
ist immer noch eine Art Familientreffen, und ich bin froh, euch
alle hier gesund und munter zu sehen, auch wenn Dannen gleich sagen
darf, warum er so grimmig dreinschaut.«
Dannen warf Leota ein verstohlenes Lächeln zu. Im Moment
fühlte er sich mit ihr am engsten verbunden - sie war nur ein
Jahr älter als er, und sie trug auch keinen Bart,
natürlich, zum Glück.
Leota erwiderte das Lächeln nicht, zuckte nur die
Schultern.
»Darf ich?« fragte Dannen.
Der König nickte. »Das hier ist eine informelle
Beratung. Jeder von euch kann sagen, wo ihn der Schuh drückt,
ohne sich um irgendwelche Protokolle sorgen zu müssen.«
Er lächelte, doch er hörte rasch damit auf, als Dannen
auszuholen begann.
»Also«, sagte Dannen. »Erst einmal das
Offensichtliche. Ich bin mehrere Tage und Nächte geritten, um
an diesen Ort zu kommen, habe kaum geschlafen, noch weniger
gegessen, und es regnet. Und warum das Ganze? Um dir zuzustimmen,
daß dieser unsinnige Krieg das Beste für unser Land ist,
denn ein Nein willst du nicht hören.«
Das Gesicht des Königs verfinsterte sich. »Habe ich dich
zu einem Feldherrn gemacht, damit du unseren Krieg und die Ehre
Doubladirs in den Schmutz ziehst?«
Dannen lachte bitter. »Hast du mich gefragt, ob ich Feldherr
werden will? Oder ob ich diesen Krieg will? Es ist Frühling,
die Bauern gehören auf die Felder und nicht in die Schlacht.
Wenn es Herbst wird, verfault die Ernte auf den Feldern, weil kein
Mann da ist, sie einzufahren. Wir haben die besten Waffen der Welt,
und sonst nichts. Wir schlafen in kalten, zugigen Burgen und
hüllen uns im Winter in Felle wie die wilden Tiere,
während sie in Loringaril goldene Kutschen fahren. Doch wir
führen keinen Krieg, um diese Schätze zu stehlen, sondern
um sie zu zerstören, und nennen das Heilige Rache.«
»Wenn du -«, sagte der König, doch jetzt wahr
Dannen in Fahrt, und er ließ seinen Vater nicht ausreden.
»Ich bin noch nicht fertig.« Er stand auf, um zumindest
für den Moment größer zu sein als alle anderen, und
stützte sich mit den Handflächen auf dem Tisch ab, der
diesen Namen eigentlich nicht verdient hatte. »Du wolltest
wissen, was mich ärgert, also laß es mich
gefälligst sagen! Ich habe zuhause einen Haufen Männer,
die ich alle deiner großartigen Idee verdanke, einen
Feldherrn aus mir zu machen, und die keine Ahnung haben, wie man in
eine Schlacht reitet, aber statt daß ich es ihnen wenigstens
zeigen kann, zwingst du mich hierher, und dann soll ich auch noch
munter sein?« Er schnaubte, als der König seinen Stuhl
zurückschob und ebenfalls aufstand. Dannens Geschwister wichen
ein Stück zurück.
»Das reicht, Dannen!« rief der König zornig.
»Du bist mein Sohn, aber ich lasse dich nicht mit mir reden
wie deine Mutter!«
»Wenn ich mit dir spräche wie Mutter«, entgegnete
Dannen, »würde ich dir noch ganz andere Sachen
sagen!« Er sah nicht auf seinen Vater, als er sprach, nur auf
dessen Hände, so angespannt, daß die Knöchel
weiß wurden. Niemand mochte es, wenn das Gespräch auf
Mutter kam. Sie gaben sich lieber wie ein Witwer und vier Waisen.
Aber nicht Dannen hatte das Thema angesprochen…
»Hinaus!« donnerte der König. »Dannen,
hinaus! Sofort!«
»Oder was?« höhnte Dannen. »Forderst du mich
zum Duell? Erklärst du Car Lamanthul den Krieg? Oder
mußt du nicht auch dafür zuerst warten, daß es dir
dein Schwert befielt? Seit wann triffst du eigene
Entscheidungen?«
Dannen wußte, daß er zu weit ging. Er zitterte vor Wut.
Aber auch sein Vater ging zu weit. Und es war zu spät. Jetzt
konnten sie nicht mehr einfach aufhören und sich die
Hände schütteln. So wurden schon Kriege vom Zaun
gebrochen. Aber noch nie innerhalb der königlichen
Familie.
Irgendwo war eine Stimme. »Gib auf! Entschuldige dich!«
Vielleicht war es Gerrat, aber wahrscheinlicher Dannens Gewissen.
Oder seine eigene Feigheit. Dannen biß die Zähne
zusammen. Er zitterte stärker.
Langsam, sehr langsam, zog der König das Schwert. Lautlos
glitt es aus seiner Scheide - mehr als lautlos, denn in diesem
Moment erstarben auch alle anderen Geräusche, alle, jeder
Atemzug, selbst der Regen schien einen Moment innezuhalten.
Auch Dannen stand wie gelähmt, seine Augen wie gebannt durch
die Heilige Klinge. Das war Angst, nackte Angst; bis Dannen wieder
Herr seiner selbst war, reihte er Stoßgebet an
Stoßgebet, flehte einen Engel, der nicht vergab, um Vergebung
an.
Doch er sprach kein Wort. Dannen kniete vor seinem Engel, nicht vor
seinem Vater.
Einen Augenblick lang rührte sich niemand. Dann schob der
König das Schwert in die Scheide zurück, so langsam, wie
er es gezogen hatte. Dannen konnte nicht anders, als erleichtert
aufzuatmen.
»So«, sagte der König. »Du wirst es nie
wieder verhöhnen, noch mich, noch mein Land.«
Dannen biß die Lippen zusammen. Jetzt gar nichts mehr
sagen!
»Hast du ihn nicht gehört?« Es war ausgerechnet
Rul, der das sagte. Ausgerechnet Rul, der aufstand und Dannen beim
Arm packte. »Entschuldige dich, oder gehorche ihm
zumindest!«
»Rul«, sagte Dannen durch die Zähne. »Halt
dich raus!« Das war eine Sache zwischen ihm und seinem Vater.
Und wenn sie einen nichts
anging, dann den Bastard. Es war schlimm genug, daß er hier
zwischen den anderen sitzen durfte, aber daß er sich jetzt
auch noch aufführte -
»Laß ihn los!« sagte Gerrat. Ausgerechnet Gerrat.
Das war zuviel.
Dannen sagte nichts mehr. Er fegte Ruls Arm beiseite, drehte sich
um und stapfte aus der Hütte, hinaus in den Regen.
Was zuviel war, war zuviel. Vielleicht war dieser Krieg doch ganz
gut. Er konnte Dannen seine ganze verdammte Familie vom Hals
schaffen…
Dannen kniff die Augen zusammen. Der Regen lief ihm über das
Gesicht, als er sein Pferd losband, sich in den Sattel schwang und
losritt. Blind vor Regen. Blind vor Wut.
Es dauerte nicht lange, da war
Dannen in erster Linie nur noch auf sich selbst wütend. Wie
konnte er nur! Und dann auch noch! Und so weiter. Der Regen war
sehr hilfreich.
Aber etwas war falsch. Und nachdem er zwei Runden um das
Wäldchen galoppiert war, begriff Dannen auch, was es war: Er
saß auf dem falschen Pferd
Dannen wußte nicht, ob er fluchen oder lachen sollte. Das war
ihm noch nie passiert, noch nicht mal im Suff - aber er saß
wirklich auf Gerrats Wallach. Es war leicht, die Pferde zu
verwechseln, versuchte Dannen sich herauszureden. Die Pferde waren
Geschwister aus der selben Zucht, am selben Baum angebunden…
Dannen mußte lachen. Zumindest hatte ihm niemand zugesehen.
Und die Pferde würden sich nichts verraten.
Und dann fiel Dannen etwas ein. Dieses Pferd konnte ihm doch etwas
verraten. Und zwar nicht weniger als Hanas Aufenthaltsort! Pferde
hatten ein gutes Gedächtnis für Wege. Wenn Gerrat von dem
Hof, auf dem er Hana untergebracht hatte, hergeritten war - und
woher sollte er sonst gekommen sein? - dann mußte das Pferd
auch dorthin zurückfinden können.
Dannen ließ die Zügel locker. »Lauf zu,
Haleon!« Er gab dem Wallach einen Klaps. »Lauf zu! Lauf
nach Hause!«
Das Pferd - Haleon - setzte sich in Bewegung. Erst gemütlich
im Schritt, dann verfiel es in leichten Trab, vielleicht, um dem
Regen zu entkommen? Schneller beim Futter zu sein? Eigentlich
wollte es Dannen nicht wissen. Wer begab sich schon gerne auf die
Gedankenebene eines Pferdes? Wieder mußte Dannen lachen,
wunderte sich noch kurz über seine gute Laune und freute sich
wieder über seine gute Idee -
Und fand sich vor der königlichen Jagdhütte wieder, wo
Haleon seinen Bruder Horalon mit freudigem Schnauben
grüßte. Keine Hana weit und breit. Und ein Pferd, das
seine Geheimnisse hütete. Dannen lachte, fluchte, schickte
Haleon in den Nilomar und schnappte sich sein eigenes Pferd. Idiot.
Trottel. Versager.
Dannen saß nicht auf. Er stand da mit den Zügeln in der
Hand, naß bis auf die Haut, und verachtete sich. Vertraute
lieber einem Pferd, als seinem Verstand! Konnte nichts richtig
machen! Gab immer klein bei. Konnte nicht mal seinem Vater die
Stirn bieten, geschweige denn den eigenen Brüdern. Gab die
Frau, die er liebte, kampflos auf. Und so weiter. Gerrat hatte
Recht. Dannen verdiente Hana nicht.
Von der Hütte her drang Stimmengewirr durch das Rauschen des
Regens. Zumindest waren sie auch ohne ihn nicht einer Meinung. Aber
das half nicht, Dannen aufzubauen. Er wollte noch nicht wieder
zurück. Ein einziges Mal nicht gleich wieder kleinmütig
angekrochen kommen… Dannen atmete ruhig durch. Dann
saß er auf und ritt los. Einmal die Wut loslassen. Den Kopf
freikriegen. Sich einfach treiben lassen. Es ging um die Liebe. Und
da konnte er sich, selbst als Vigilanders Nachkomme, einmal von
seinem Herzen leiten lassen.
Und so ritt Dannen einfach drauflos, hinaus ins Grüne, in den
Wald hinein, an dessen Ende ein Horizont liegen mochte oder
sonstwas - vielleicht Hana? Vielleicht eine andere Frau, die ihr
ebenbürtig war? Dannen stellte keine Fragen, beschloß
nur, die Antwort zu akzeptieren, wie immer sie auch lauten
mochte.
Dann geschah das erstes Wunder: Es hörte auf zu regnen -
ließ erst nach und endete dann ganz. Dann quoll die Sonne
durch einen Riß in der Wolkendecke, und alles begann zu
leuchten und zu glänzen. Bestimmt gab es auch irgendwo einen
Regenbogen. Doch als Dannen den Kopf reckte und zum Himmel blickte,
sah er etwas anderes: Die Silhouette eines Raubvogels.
Es konnte ein Sperber sein oder ein Bussard, aber Dannen
wußte, wußte ganz sicher, daß es ein Falke war.
Er trieb das Pferd an und galoppierte los, den Weg entlang, dem
nächsten Haus entgegen.
Und dort traf er Hana.
Sei stand am Brunnen, blickte zum Himmel und dann in seine
Richtung, und wieder war ihr Haar wie rotes Gold in der Sonne.
Dannen fiel in Schritt, langsamen Schritt, er wollte diesen Anblick
genießen, nicht zerstören. Sie war schön. Sie war
von einer schönen Stärke, die jeden, der ihr verfiel,
schwächen konnte. Aber in diesem Augenblick machte ihr Anblick
Dannen stark, und froh.
Sie kam auf ihn zu, und einen Augenblick lang hoffte Dannen - oder
wünschte es sich zumindest - sie möge ihn mit seinem
Bruder verwechseln, doch sie tat es nicht, und doch lächelte
sie.
Dannen saß ab. Er fühlte sich strahlen, und traurig war
er zugleich.
»Dannen«, rief sie. »Ist etwas
passiert?«
Beschwichtigend hob Dannen die Hände. »Nein, keine
Angst, es ist alles in Ordnung.«
Irritiert runzelte Hana die Stirn. »Aber - warum kommt Ihr
dann?«
Was hatte er erwartet? Daß sie ihm freudestrahlend um den
Hals fiel? Jetzt wußte er nicht, was er sagen sollte,
außer ‘Um mich endgültig zum
Narren zu machen’. Und so blieb er still.
Hana schüttelte den Kopf. »Und wie Ihr ausseht - Ihr
seid ganz naß. Wie eine ertrunkene Katze seht Ihr
aus.«
Dannen fühlte sich zusammenschrumpfen. Und zittern mußte
er plötzlich auch. Auf einmal war ihm kalt. Die nassen Kleider
zerrten an ihm. Er schüttelte sich.
Hana trat auf ihn zu und faßte ihn bei der Hand. »Kommt
mit! Kommt ins Warme!« Ihr Griff war warm und fest. Sie war
mehr als einen Kopf kleiner als Dannen, und auch ihre Hand war viel
kleiner als seine, aber er ließ sich widerstandslos ziehen
und dachte gerade noch daran, Horalon mit der anderen Hand
mitzuführen. Seine Füße berührten den Boden
kaum. Wenn das seine Antwort war, wollte er sie gerne
akzeptieren.
An der großen Linde vor dem Hof blieb Hana stehen. Sie
ließ seine Hand los und senkte den Blick. »Dannen,
ich… es tut mir leid.« Sue barg das Gesicht in ihrer
Hand.
Dannen widerstand dem Drang, sie an sich zu drücken, und legte
ihr nur den Arm um die Schultern. »Was ist denn?« Wenn
sie unglücklich war - wenn Gerrat sie unglücklich gemacht
hatte -
Doch Hana schüttelte den Kopf und drehte sich aus der
Umarmung. »Bitte, Dannen… Ihr tropft mich voll. Es ist
nichts.«
»Aber?« fragte Dannen und lehnte sich, etwas trotzig,
gegen sein Pferd.
»Ich kann Euch nicht mit hineinnehmen«, sagte Hana
leise. »In der Küche ist die Bauersfrau, und - ich
weiß nicht, was sie denken wird. Euer Bruder bezahlt die
Bauern fürstlich für unseren Aufenthalt, und wenn ich
dann mit Euch ankomme…« Es klang wie Ausflüchte.
Als habe sie mehr Angst vor Gerrat als vor den Bauern.
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Dannen, auch wenn es
nicht stimmte. Wir können uns auch hier unterhalten.« Er
band das Pferd an den Baum und setzte sich ins Gras. Nasser als
naß konnte er ohnehin nicht mehr werden.
Hana drehte sich um und wandte sich zum Gehen. »Wartet hier.
Ich hole Euch etwas Warmes.« Dann verschwand sie in Richtung
Haus.
Dannen wollte schon wieder aufstehen und davonreiten, aber er blieb
sitzen. Einmal mußte er eine Sache zu Ende bringen. Und dies
war vielleicht die letzte Gelegenheit, sich in Ruhe und allein mit
Hana zu unterhalten. Auch, wenn er sich mehr als nur eine
Unterhaltung herbeiwünschte.
Dann kam Hana zurück, mit einem Krug in der Hand und etwas
über der Schulter, daß sich als dicke Wolldecke
herausstellte. »Hier, vielleicht hilft das, etwas besseres
habe ich nicht finden können. Und etwas Warmes ist das hier
auch nicht.« Sie reichte ihm erst die Decke, die Dannen sich
etwas unschlüssig über die Schultern legte, und dann den
Krug. Hana blickte ihn erwartungsvoll an. »Ich drehe mich
dann um. Und wenn Ihr soweit seid, meldet Ihr Euch.«
Irritiert schüttelte Dannen den Kopf. »Was?«
»Ihr wollt das nasse Zeug nicht anbehalten«, sagte Hana
ruhig. Und drehte sich um.
Selten war Dannen derart schnell aus seinen Kleidern gekommen. Zum
einen, weil sie wirklich kaum erträglich naß waren, und
zum anderen, weil egal, wo er stand, er immer noch von irgendwo aus
sichtbar blieb. Er warf sich die Decke um und die nassen Sachen auf
einen Haufen. Barfuß im nassen Gras, nackt unter einer
halbfeuchten Decke - er konnte nicht sagen, daß ihm jetzt
wärmer war. Aber vielleicht hatte Hana ja -
»Seid Ihr soweit?« fragte Hana.
Dannen raffte die Decke enger um sich. »Das schon«,
sagte er. »Aber -«
Hana wandte sich wieder um. Und schüttelte den Kopf.
»Also wirklich, Dannen, manchmal muß man Euch einfach
gern haben.« Sie hob die nassen Sachen auf, ein Stück
nach dem anderen, wrang sie aus und hing sie über die
Äste der Linde.
»Es wird eine Weile dauern, bis sie trocknen«, sagte
Dannen. »Mögt Ihr mir solange Gesellschaft
leisten?« Er hockte sich hin und lehnte sich gegen den Stamm
der Linde.
»Habe ich eine Wahl?« fragte Hana.
Dannen seufzte. »Ich zwinge Euch zu nichts. Es ist
nur…«
»Nur was?« fragte Hana.
»Ich habe meine ganze Familie gegen mich aufgebracht«,
sagte Dannen leise. »Ich bin durch den Regen geritten auf der
Suche nach einer Antwort. Ich habe sehr viel Wasser gefunden und
Euch, und jetzt sitze ich hier und meine Kleider sitzen da, und eine Antwort habe
ich nicht.«
»Vielleicht«, sagte Hana, und setzte sich zu ihm,
»weil Ihr nicht fragt.«
Dannen zögerte noch. Eine Frage, eine Antwort, und alles
konnte vorbei sein. Die richtige Frage. Und die richtige Antwort.
Er nahm einen Schluck aus dem Krug. Kaltes Wasser, sehr kaltes
Wasser, aber seltsam erfrischend. Er fühlte sich sehr nackt
unter der Decke. Hanas Augen lagen auf ihm. Und sie schienen nicht
nur durch die Wolldecke hindurchzuschauen, sondern auch durch
ihn.
Eine Weile sagte niemand etwas. Dann, endlich, faßte Dannen
sich ein Herz. Er brauchte diese Antwort, egal um welchen Preis.
»Ihr liebt Gerrat, nicht wahr?« Obwohl seine Frage eine
andere war.
Hana gab sich sichtlich Mühe, nicht allzusehr zu strahlen, und
dafür dankte er ihr. »Ja«, sagte sie ohne
Zögern. »Ja, sehr.« Mehr sagte sie nicht, und auch
dafür war er ihr dankbar.
Dannen schluckte. »Bin ich… so anders als
er?«
Er dankte ihr auch für ihre Bedenkzeit, dabei suchte sie wohl
nur nach den rechten Worten. »Ja«, sagte Hana.
»Und Ihr wärt selbst am unglücklichsten, wenn es
anders wäre. Gerrat ist etwas Besonderes. Und Ihr seid es
auch.«
Sie wußte es. Sie wußte es, daß er sie liebte.
Vielleicht schmeichelte es ihr. Vielleicht störte es sie. Aber
sie liebte ihn nicht. Hatte ihn nie geliebt. Würde ihn nie
lieben. Es tat weh. Aber zugleich war es auch eine Erleichterung,
auf gewisse Weise.
Ohne sich um seine Familie und den Kriegsrat zu scheren, blieb
Dannen mit Hana unter der Linde sitzen, bis seine Kleiner trockner
waren. Er unterhielt sich mit ihr, über das Wetter, über
die Jagd, über den Krieg, und als sie sich verabschiedeten,
umarmten sie sich, wie Freunde, auch wenn es weh tat.
Ein kühler Wind kam auf. Es begann wieder zu regnen.
Und Dannen nickte Hana noch ein letztes Mal zu.
Und stieg auf.
Und ritt davon.
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