Varyn erinnerte sich, dem Tod begegnet zu sein, in einer mondhellen
Nacht. Sonst erinnerte er sich an nichts mehr, nichts von dem, was
danach kam, bis es der andere Tag war und er aufwachte. Er erhob
sich, federleicht und ausgeruht, blickte hinunter auf die
schlafenden Körper, und glitt aus dem Zelt hinaus in das
Zwielicht. Ob des dem Morgen gehörte oder dem Abend,
wußte er nicht, und es war egal. Jetzt war keine Zeit. Sie
stand still, für ihn, für die anderen, für die Welt.
Für das Zwielicht war der Tag nur ein Traum, und die Nacht nur
ein Trugbild. Die Wirklichkeit war das, was dazwischen lag. Stille
und Grau und Flieder. Varyn liebte es, und er lächelte.
Vielleicht begriff er schon in dem Moment, daß es nur ein
Traum war - doch vielleicht auch nicht, denn es stimmte nicht,
für einen Traum gab es kein nur, nur war das
Wachen dazwischen, das, umgekrempelt, dorthin verschwunden war,
wohin bei Tag die Träume gingen. Dies war eine andere Welt,
regiert von anderen Engeln, und aus Gnade ließen sie Varyn
für ein paar Schritte daran teilhaben.
Varyn stellte keine Fragen - er wußte es besser, als an einen
Traum Fragen zu stellen: Er wußte, warum er hier war.
»Dämmervogel«, sagte er. »Ich bin bereit.
Ich erwarte dich.« Die Luft trug seine Worte nicht fort. Wo
kein Atem war, konnte auch keine Stimme sein. Varyn hörte
nicht, was er sagte. Aber er konnte es sehen.
Zeichen wie Nebel quollen aus seinem Mund, als er sprach, und
hingen still in der Luft, wo sie langsam zu verblassen begannen,
ohne jemals ganz zu verschwinden. Varyn sah sie, staunend. Das
waren seine Zeichen, wie er sie erfunden hatte, doch sie sahen noch
nie so echt aus. So wirklich. Er fuhr mit der Hand hindurch. Die
Zeichen waren unfühlbar, und die Hand glitt durch sie wie
durch Rauch, still und folgenlos. Varyn machte ein paar Schritte,
beschrieb einen kleinen Kreis um seine Zeichen. Von der Seite waren
sie flach, kaum zu sehen. Von hinten waren sie lustig und machten
keinen Sinn mehr. Es gefiel ihm. Für den Moment war der
Dämmervogel vergessen. Wenn das seine Zeichen waren - was war
dann mit den Worten, für die er sich keine ausgedacht hatte?
Varyn entfernte sich ein paar Schritte von dem ersten Satz, um
freie Luft vor sich zu haben, und sagte langsam: »Ich bin
Varyn.«
Atemlos sah er zu, wie die Worte seinen Mund verließen. Dann
hingen sie vor ihm in der Luft. Still. Und schön. Varyn
mußte lächeln. Das waren zweimal die gleichen Zeichen:
Ich bin ich bin, stand dort. Oder Varyn Varyn.
Aber es machte ihm auch Angst. Er redete oft mit sich selbst, nur
für sich, wo ihn niemand sonst hören konnte. Doch was er
hier sagte, war für die Ewigkeit gemacht. Jeder konnte kommen
und seine Worte lesen. Wie die Aufzeichnungen im Toten Mann. Wer
außer ihm konnte hierherkommen. Der Dämmervogel, und wer
noch?
»Ich fürchte euch nicht«, sagte Varyn und malte
die Worte wie eine Warnung in die Luft. »Dies soll mein Reich
sein.«
Ein neues Reich. Ein neuer Toter Mann. Ein Ort, der nur ihm
gehörte, den er lieben und hassen konnte, ein Ort zum
Einsamsein. Er hatte gehofft, nie wieder etwas wie das zu brauchen,
aber nun war es gut, und tröstlich. Etwas Angst kam über
Varyn, daß es vielleicht nur für einmal sein sollte,
daß er nie wieder herkommen konnte, wenn die Soldaten
weiterzogen.
Varyn ging weiter, fort vom Lager, hin zum Fluß, der schlief
wie die Luft und das Gras und die Bäume. Es war Zeit, Abschied
vom Fluß zu nehmen. Er wurde fremd - viel breiter war er hier
als im Tal, zu viele Bäche flossen mit ihm, er trug immer noch
das Wasser aus der Heimat, doch es war nur noch ein Teil von
ihm.
War es mit Varyn ebenso? Wieviel vom Tal war noch in ihm, und
wieviel Welt? So viele neue Orte, neue Namen, neue Gesichter - das
Tal entschwand. Und bis der Fluß ins Meer mündete, war
nur noch ein Tropfen von ihm Tal.
Varyn trat ans Ufer und kniete nieder. Der Fluß gab keinen
Laut. Die Oberfläche war immer noch Wasser, doch es war
erstarrt, nicht wie Eis, nicht wie Glas, immer noch Wasser,
erstarrte Eile. Varyn berührte den Fluß, erst nur mit
der Fingerspitze, dann mit der ganzen Handfläche. Eintauchen
konnte er nicht - es war, als versuche man, die Hand durch einen
Tisch zu stecken, aber was ihn hier zurückhielt, war die
verharrende Zeit. Varyn hielt still, und wartete. Es war ein Moment
der Ruhe und Stille, etwas, das ihm fehlte, seit Jahren schon. Er
bedauerte, diesen Ort nicht früher entdeckt zu haben.
»Wem gehörst du, außer mir?« fragte Varyn
stumm. Er sah sein Spiegelbild auf dem Fluß, nur die
Erinnerung eines Bildes; das Wasser war dunkel und behielt, was es
sah. »Wer hat dich erschaffen? Die Elomaran?«
Varyn blickte auf. Er erwartete keine Antwort, und eigentlich war
es ihm egal, aber er wollte das Wort sehen. Elomaran. Wie
schrieb man ein Wort, von dem man nicht einmal wußte, was es
wirklich bedeutete? Die Tante hatte ihm und den Kindern früher
gesagt, es hieße soviel wie ‘Großer Mann mit
Flügeln’, doch die Zeichen, die nun über dem Wasser
schwebten, waren vier andere: Oben, eines, das er nicht kannte,
Schacht und Auge. Varyn starrte sie fasziniert an, vor allem das
zweite Zeichen: Es paßte zu den anderen, und doch war es
nicht von ihm… Vielleicht war es neu. Woher kamen die
anderen Zeichen? Vielleicht auch aus Träumen? Das neue Zeichen
war eine verdrehte Schlinge, die auf der Seite lag. Oben Schlinge
Schacht Auge - daß das Elomaran heißen sollte, was
seltsam. Doch dann kam etwas noch seltsameres. Varyn…
verstand.
Plötzlich machte das Zeichen Sinn, nicht allein, sondern im
Zusammenhang mit dem nächsten. Allein bedeutete es nichts.
Aber es veränderte die anderen. Es machte etwas endliches
unendlich. Es machte aus einem Schacht einen Abgrund. Langsam fuhr
Varyn mit den Fingern die Zeichen nach. Er war ganz leicht.
Körperlos. Wie Nebel. Alles war bedeutungslos - wo er war, ob
er lebte, ob er ein Schwert führen konnte: Plötzlich
verstand Varyn die Sprache der Engel.
Dann fühlte er jemanden hinter sich, doch er drehte nicht
um.
»Dämmervogel«, sagte er. »Ich habe auf dich
gewartet.« er wollte ihren Namen sehen, noch einmal, bevor er
ihr Gesicht sah. Wenn er es überhaupt sehen wollte. Ein wenig
fürchtete er sich vor ihrem Gesicht - daß sie
häßlich war, oder fremd, oder schrecklich. Er hatte
schon so viele schreckliche Gesichte gesehen in seinen
Träumen…
Eine Hand berührte seine Schulter, nur kurz, und doch
durchlief es Varyn von oben bis unten. Langsam drehte er sich um
und stand dabei auf. Träumend, aber mit offenen Augen, sah er
zum ersten Mal die Frau, die der Dämmervogel war.
Sie war halb wirklich, und halb nicht, als könne er durch sie
hindurchsehen, doch hinter ihr war nichts. Ihr Haar erschien
schwarz, ihre Haut weiß, doch ebenso konnten es
unterschiedliche Schattierungen von grau sein, oder blau, von allen
Farben des Zwielichts, aus dem sie bestand. Ihr Körper war
makellos. Zierlicher als die Frauen aus dem Tal, und
größer. Aber Varyn konnte nicht einmal sagen, was
für ein Kleid sie trug, oder ob, oder ob sie nackt war. Ihr
Körper war da, aber er wurde neblig, sobald Varyn ihn zu
betrachten suchte; er scheuchte Varyns Augen fort, hoch zu ihrem
Gesicht. Doch auch das war von einem Nebel umgeben, nur die Augen
waren klar, zu klar, schwarz und schön. Wirklich wie die eines
Vogels, eines dämmerlichtigen Raubvogels - einer Dohle,
vielleicht, oder einer Elster.
Der Nebel um ihr Gesicht waren Worte - wie lange hatte sie schon zu
ihm gesprochen, hinter seinem Rücken, wo er es nicht
hören konnte? Nun waren ihre Worte da, wie seine, doch es war
keine Ordnung mehr in ihnen, sie konnten alles bedeuten. Varyn
schnappte ein paar von ihnen auf - Hier Welt Boden Traum
Zeit - und gab es auf. Was auch immer der Dämmervogel
gesagt hatte, sie mußte noch einmal von vorn anfangen, und er
auch. Was schwierig genug war. Denn so sehr Varyn auch von
schwebenden Wörtern umgeben war - plötzlich waren keine
mehr in ihm.
Varyn schluckte, und blinzelte. Dann sagte er, ohne weiter
nachzudenken: »Danke, daß du mich hergeholt
hast.« Er blickte in ihr Gesicht, während er sprach,
nicht auf seine Worte, auch wenn er das Zeichen für
Danke noch nicht kannte - er wollte keine Regung
verpassen.
Der Dämmervogel schüttelte den Kopf, und Zorn sprudelte
aus ihren Augen wie die Worte aus ihrem Mund. »Ich habe dich
nicht hergeholt! Ich bin hier, weil du mich gerufen hast! Was
denkst du nur?«
Varyn verstand sie. Er mußte nicht Zeichen für Zeichen
lesen, sehen genügte, und im Kopf hörte er ihre Stimme,
so wie er sich an sie erinnerte. Er dachte noch an ihren neckischen
Tonfall - nun mischte sich Zorn hinein.
Abwehrend hob Varyn die Hände. »Was soll ich denken?
Niemand sagt es mir, niemand hilft mir, mich zu verstehen. Ich bin
hier, es ist schön, ich genieße die Stille, und habe
keinen anderen Wunsch, als dein Gesicht zu sehen.« Er wollte
sie berühren, ihr Gesicht, er wollte den Nebelschleier
fortwischen, alle toten Wörter, und sehen, fühlen, was
dahinter lag. Aber er versuchte es nicht. Er ahnte, daß seine
Hand durch sie hindurchgleiten würde wie durch Nebel, und das
fürchtete er, nur ein wenig, denn hier war kein Platz für
Furcht.
Sie winkte ihn näher, fort von der lockend glänzenden
Oberfläche des Flusses, und glitt selbst rückwärts,
während sie sprach. »Was glaubst du denn, Varyniel, was
für ein Ort dies ist?«
Varyn antwortete tonlos, ließ die Worte aus seinem Mund
kullern, ohne ihnen unnötige Kraft zu verleihen. »Ein
Traumland«, sagte er. »Mein Traumland. Wo ich für
mich sein kann. Um mich zu finden.« Er wollte hierbleiben,
vielleicht für immer…
»Es ist nicht dein Land!« fuhr ihn der Dämmervogel
an, und für den Bruchteil eines Augenblicks blitzte ihr
Gesicht zwischen den Nebeln hindurch. »Es ist das
Königreich der Stille, ich kann hier nicht sein, du darfst
hier nicht sein - ich bin nur hier, um dich wieder
zurückzuholen.«
Fast machte sie Varyn Angst, wo es keine gab. »Aber was ist
hier…?«
»Das Königreich der Stille«, wiederholte sie.
»Wo du kein Geräusch findest, nicht einmal das Schlagen
deines eigenen Herzens - weil dein Herz nicht mehr schlägt. Du
bist hier, weil dein Körper dich ausgespieen hat.«
»Dann…«, begann Varyn, und plötzlich war
alles ganz leicht, mußte er lächeln, paßte alles
zusammen. »Dann bin ich tot«, sagte er.
»Nein«, sagte der Dämmervogel, und eine scheue
Hoffnung starb. »Dein Schicksal will nicht, daß du
stirbst. Aber dein Körper will es.«
Varyn lächelte weiter. Sein Körper war so fern in diesem
Moment, so fern, wie Varyn es sich schon so lange
wünschte.
»Schau mich an«, sagte der Dämmervogel, doch
wieder meinte sie nur ihre Augen. Sie berührte ihn am Kinn,
flüchtig, wie Eis. Ihre Hand war körperlos wie seine.
»Schau mich an, Varyniel. Willst du sterben?«
»Nein«, sagte Varyn ruhig. »Ich will leben. Aber
nicht… nicht so. Und wenn selbst mein Körper mich nicht
mehr leiden kann…« Er tänzelte von ihr fort,
zurück zum Fluß, doch er blieb nicht am Ufer stehen,
kniete nicht hin, sondern trat hinaus auf das schlafende schwarze
Wasser. Sollte sie ihn fangen… Der Fluß würde ihn
davontragen, dorthin, wo die Nacht war und das Leben nur noch eine
Erinnerung. Er wollte nicht sterben. Aber wenn das hier der Tod
war, wollte er gerne tot sein.
Der Dämmervogel folgte ihm. Erst war sie hinter ihm, dann war
sie neben ihm, dann war sie vor ihm, ein wehender Schatten, der ihm
den Weg verstellte. »Ich lasse dich nicht sterben, nicht
jetzt - und du wirst tun, was ich dir sage, sofort.«
Kurz und plötzlich fühlte sich Varyn an den Hauptmann
erinnert, und das war fremd, es war aus einer anderen Welt, und an
der Erinnerung hingen Fetzen weiterer, es zerrte ihn zurück,
dorthin, wo er hergekommen war, aber dort war er nicht mehr
erwünscht.
»Varyniel!« Er konnte die Schärfe in ihrer Stimme
fühlen, als sie nun begann, ihn rückwärts zu
treiben. »Ich kenne dich besser als du. Ich kenne die
Antworten, nach denen du suchst. Und wenn du mir jetzt nicht
gehorchst und in deinen Körper zurückkehrst, wirst du sie
niemals erfahren.« Sie erstarrte in der Bewegung. »Was
suchst du - den Tod, oder Antworten?«
»Beides«, fühlte Varyn sich sagen. »Das eine
ist das andere.«
Erst lockte sie ihn, nun trieb sie ihn - Varyn durchschaute sie,
erkannte ihr Ziel: Fort vom Fluß, ihn zum Lager…
»Ich kann nicht zurück«, sagte er sanft.
»Mein Körper läßt mich nicht.«
»In ein paar Augenblicken werden diese Worte Wahrheit«,
sagte der Dämmervogel. »Noch ist es nicht zu spät,
noch nicht, aber bald. Und wessen Schuld ist das? Nur deine eigene.
Aber das weißt du längst selbst - du zerstörst dich
absichtlich. Hast du Freude daran?«
Varyn schüttelte den Kopf, wie sie es wünschte. Freude?
Seltsames Wort. Was war Freude? Etwas für Kinder. Etwas, das
Varyn zurückgelassen hatte, wann, wußte er
nicht…
»Du kommst jetzt mit mir«, sagte der Dämmervogel.
»Sag nichts mehr. Denk nicht mehr. Komm mit mir. Verlaß
dieses Land.«
Sie streckte ihm die Hand hin. Diesmal nahm er sie. Nicht, weil er
fort wollte, oder weil sie Recht hatte - im Moment überwog nur
die Neugier. Er wollte ihre Hand berühren -
Ihre körperlosen Finger schlossen sich um seine. Es war wie
ein Blitzschlag. Dunkel. Hell. Dunkel. Varyn wirbelte - durch Luft?
Traum? Tod? Er wußte es nicht. Er hörte sein Herz
schlagen. Dann fühlte er es. Dann Schmerzen. Das war sein
Körper. Sein Körper schmerzte.
»Schlaf jetzt, Varyniel«, sagte der Dämmervogel.
»Träum von mir. Ich werde in deinen Träumen sein.
Bald schon. Versprochen.«
Und dann war nichts mehr.
Am anderen Tag grollte Varyns
Körper noch immer, aber vielleicht nicht mehr ganz so laut.
Vorsichtig aß Varyn etwas Grütze - er konnte sich nicht
erinnern, am Vortag überhaupt etwas gegessen zu haben, aber er
zerbrach sich nicht den Kopf darüber. Die Grütze war zu
dünn und zu salzig, aber es gab schlimmeres.
»Hey, schaut mal, wer wieder wach ist!«
Varyn zuckte zusammen, als er die wie immer muntere Stimme Pogges
hörte. Er hatte gehofft, den Tag ruhig angehen lassen zu
können, und jetzt ging es gleich wieder los mit Hohn und Spott
- aber was erwartete er? Solange er nicht desertierte und als
Einsiedler im Wald lebte, mußte er sich auch unter anderen
Menschen bewegen.
Aber so schlimm wurde es dann doch nicht. Pogge kam zu ihm
hinüber, setzte sich zu ihm, und knuffte ihn in die Seite.
»Das war ja eine Sache - als du gestern zusammengeklappt
bist, haben wir wirklich gedacht, das wär’s
gewesen.«
»Tut mir leid«, murmelte Varyn. »War keine
Absicht.« Er erinnerte sich nicht wirklich an den vergangenen
Tag. Nur, daß er völlig übermüdet gegen den
Schlaf gekämpft hatte, und offenbar verloren.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Pogge
lachte. »Wenn der Hauptmann nicht so einen Narren an dir
gefressen hätte - dann würden wir jetzt immer noch
marschieren.«
Varyn brachte ein müdes Lächeln zustande. Sagen
mußte er nichts - das war eine der guten Sachen an Pogge, man
mußte nicht viel reden, wenn man einmal mit ihm ins
Gespräch kam. Pogges Eltern hielten Schafe - da war der
Bursche wohl an geduldige Zuhörer gewöhnt.
»Und sowieso«, sagte Pogge. »Du hast genug
gesoffen, um einen Bären umzuhauen - irgendwann mußte
auch mal Schluß sein.« Varyn fühlte Bewunderung in
seiner Stimme. Es erinnerte ihn an früher. Aber es war noch zu
früh, um Pogge als Freund zu betrachten. Viel zu früh.
Und selbst wenn, war er doch nicht die Art von Freund, die Varyn
suchte oder brauchte. Keiner von den Burschen hier…
Varyn stand auf. »Entschuldige mich - ich muß gerade
noch mit dem Hauptmann reden.«
»Ist schon gut«, Pogge winkte ab. »Der wird auch
wissen wollen, daß du wieder auf den Beinen bist. Wenn er mit
dir fertig ist - du findest mich bei den anderen.«
Die anderen waren, das hatte Pogge nicht erwähnt, dort, wo
auch der Hauptmann war: Auf der Wiese hinter dem Zeltlager. Und
dort spielten sie Krieg. Anders konnte man es nicht nennen - er sah
aus wie das, was Varyn und seine Brüder früher mit den
Dorfjungen anstellen, wenn sie Zeit dafür hatten. In zwei
Gruppen aufgeteilt, standen sich die Männer mit Stöcken
in der Hand gegenüber. Als ob man mit Stöcken einen Krieg
führen konnte, geschweige denn gewinnen! Aber daran hielt
Varyn sich nicht lange auf, und auch nicht an den knappen
Kommentaren, die der Hauptmann brüllte. Was ihn wirklich
verblüffte, zumindest für einen Moment, war, wie
groß ihre Truppe schon geworden war. Und so viele fremde
Gesichter - aber das letzte Dorf war auch größer als
seines, die neuen Leute mußten von dort sein. Es war egal.
Varyn hatte nicht das Gefühl, zu ihnen zu gehören. Und er
wollte auch nicht mit einem Stock kämpfen, oder einem
Spieß - sicher sollten die Stöcke Spieße
darstellen…
»Du da!« brüllte Mendrion und zeigte so wild in
die Gruppe, daß jeder gemeint sein konnte. »Du bist
tot!«
Die Männer auf dem Feld verstanden den Hauptmann offenbar
besser, denn nur einer von ihnen warf sich zu Boden. Mendrion
nickte. Nur, um im nächsten Moment wieder loszubrüllen:
»Gruppe vier, ihr bewegt euch, wenn ich es euch sage! Ihr
könnt essen gehen, wenn ihr tot seid!« Aber er sah dabei
einigermaßen zufrieden aus.
»Ich bin schon tot«, verkündete Pogge an Varyns
Seite. »Das war mir zu dumm. Ich dachte, wir kriegen
Schwerter.«
Varyn nickte. »Da bist du nicht der einzige. Ich gehe ihn mal
fragen.«
»Aber du kannst da nicht hin! Das ist ein
Schlachtfeld.«
»Jau«, sagte Varyn. »Das sehe ich. Ich gehe
außen rum.«
»Nicht hintereinander!« rief der Hauptmann.
»Versetzt, sage ich! Ihr wollt doch nicht
Bockspringen!«
Varyn sah sich das Treiben noch einen Moment lang
kopfschüttelnd an, bevor er sich auf den Weg zum Hauptmann
machte. Es stimmte schon. Solchen Leuten würde er auch keine
Schwerter geben. Wie sie sich auf dem Feld verteilt hatten -
völlig sinnlos. Varyn würde sich durch das Wäldchen
anschleichen und von der Seite einfallen… Und auf diesem Weg
arbeitete er sich auch zum Hauptmann hin. Ganz leise - obwohl der
ihn sicher ohnehin nicht hören konnte, so wie er brüllte.
Wirklich beeindruckende Stimme. Guter Kämpfer, gute Stimme -
was störte es da noch, daß seine Truppe herumstand wie
Kraut und Rüben?
Varyn räusperte sich, als er hinter dem Hauptmann stand, und
hoffte, daß sich die Männer auf dem Feld nicht zu sehr
von ihm ablenken ließen. Aufeinander einschlagen konnten sie
doch auch ohne Anleitung… »Hauptmann, kann ich Euch
sprechen?«
Der drehte sich nicht einmal um. »Was gibt es - willst du
mich ablösen?«
»Nein - ich bin es, Varyn.«
Der Hauptmann lachte. »Das weiß ich wohl, und wo
ich’s nicht wüßte, kann ich es riechen - du
stinkst immer noch wie eine Destille. Aber hier hast du nichts
verloren. Das ist der Hauptmannsposten. Ein Spund wie du -
Spundloch, müßte ich wohl besser sagen - gehört
aufs Feld.« Nun drehte er sich doch um und grinste breit und
zufrieden. »Also, wieder nüchtern? Das war ein
einmaliger Gnadendienst von mir, das kannst du mir glauben,
nächstes Mal lasse ich dich verrecken.«
Varyn ließ ihn reden und versuchte nicht, ihn zu
unterbrechen. Zum Teil war er auch gekommen, um seine Strafe in
Empfang zu nehmen, und hier, vor allen Augen, war sicher der
richtige Ort dafür.
»Ich würde Euch gerne sprechen«, sagte er dann.
»Wenn Ihr Zeit für mich habt, heißt
das.«
»Zeit? Glaubst du, ich kann Zeit scheißen?« Der
Hauptmann deutete auf die tatenlos auf dem Feld herumstehenden und
schwätzenden Männer. Die ersten hatten sich sogar schon
hingesetzt. Zogen sie als nächstes Brotzeit und Würfel
aus der Tasche? Und wollten sie das in der Schlacht auch so machen?
Der Hauptmann seufzte. »Im Ernst, ich habe einen Moment
für dich. Bin schon bald heiser, und die Idioten hier
können nicht erwarten zu sterben und etwas zu Fressen zu
bekommen.« Er lachte kurz, dann rief er: »Ist in
Ordnung. Ihr seid alle tot! Geht Essen fassen, danach geht’s
weiter.«
»Nicht gut?« fragte Varyn vorsichtig.
»Erwartest du darauf eine Antwort? Mach es besser, wenn du
kannst.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich würde mich Euch
tauschen, wenn mir das die Möglichkeit gäbe, ein anderer
zu sein - aber ich glaube nicht, daß ich es besser
könnte.«
»Ganz sicher nicht«, sagte der Hauptmann. »Und
was gibt es jetzt? Ich sagte dir: Einen Moment, nicht ‘Ich
will für immer bei dir sein’.«
»Ich -«, sagte Varyn und biß sich auf die
Lippen.
»Und erzähl mir nichts von dir und deinen Problemen! Ich
will das alles nicht wissen.«
»Ich will einen Eid ablegen«, sagte Varyn. »Ich
habe so was noch nie gemacht; Ihr seid hochgeboren, Ihr wißt,
wie das geht. Ich will es richtig machen, daß es
bindet.«
Mendrion feixte. »Das klingt allemal so, als ob es dir ernst
ist. Und was willst du schwören? Rache? Doch hoffentlich nicht
an mir!«
»Keine Rache.« Selbst die Vorstellung war irgendwie
seltsam. Varyn haßte niemand gut genug, um Rache
schwören zu mögen. Außer sich selbst, zumindest
manchmal. Er lächelte. »Ich gebe das Saufen dran. Und
das will ich schwören.«
Der Hauptmann lachte laut und nahm Varyn bei der Schulter - eine
seltsam väterliche Geste, wenn man bedachte, wie jung der Mann
eigentlich noch war, und wie alt Varyn. »Dann komm mal mit -
ich habe den richtigen Mann für dich. Ich wundere mich nicht,
daß du das schwören willst - hätte mich eher
gewundert, wenn nicht - aber ich kenne viele, die das schon
geschworen haben, und bei denen hat das nie länger gehalten
als zwei Tage.«
»Darum will ich das richtig schwören«,
sagte Varyn noch mal.
»Und darum kommst du jetzt mit zu Caion.«
»Caion?« Varyn konnte nicht alle Namen kennen und hatte
auch nicht das Gefühl, daß sich der Hauptmann lange mit
so was aufhielt. Der Name sagte ihm nichts. »Wer ist
das?«
Mendrion schnaubte. »Einer, den man normalerweise so
nötig braucht wie einen Kropf - der Schreiber. Der soll mal
deinen Eid aufnehmen, dann hat er auch wieder etwas zu
tun.«
Varyn war sich nicht sicher, ob der Hauptmann ihn ernst nahm oder
ob er ihn nur lossein wollte, aber er ging mit. Der Schreiber war
ihm unheimlich, aber auch solche Menschen gehörten zu Varyns
neuem Leben.
Wie auch der Mendrion, besaß Caion ein Zelt für sich
allein, aber anders als der Hauptmann hielt sich der Schreiber auch
tagsüber darin auf. Er hatte sich einen kleinen Tisch
aufgebaut, auf dem nun seine Schriftrollen lagen. Das war wohl
reine Angeberei, doch Varyn dachte an seine eigenen Zeichen und
ärgerte sich.
»Ihr werdet es nicht glauben, Caion«, sagte der
Hauptmann. »Aber es gibt tatsächlich etwas für Euch
zu tun.« Er stupste Varyn in das Zelt. »Setzt dem
Burschen hier einen Eid auf. Und macht es so, daß er Blut
spuckt, wenn er eidbrüchig wird.«
Caion blickte von seinen Schriftstücken auf und grummelte
etwas. Er war ein hagerer Mann mit scharfer Nase und scharfen
Augen, sein Bart nicht voll und buschig wie die der richtigen
Soldaten, sondern kurz und schmal - etwas, worauf ein Jüngling
stolz wäre, aber bei einem Mann von Caions Alter mehr ein
Armutszeugnis darstellte.
»Ah«, sagte er. »Dich kennen wir bereits. Gut.
Knie dich hin.«
Varyn gehorchte. Auge in Auge mit der Tischplatte, konnte er
zusehen, wie der Schreiber ohne große Hast einen Bogen
Pergament nahm, entrollte, glatt strich, die Enden mit kleinen
Eisenklötzchen beschwerte, dann der Tintenfaß nahm,
entkorkte, eine Gänsefeder ergriff, und kurz hineintauchte. Es
faszinierte und ärgerte ihn zugleich. Als ob seine eigenen
Zeichen nichts wert waren… Seine Knie schmerzten etwas.
»Jetzt Hand aufs Herz!«
Varyn gehorchte.
»Die andere Hand!«
Varyn wechselte die Position. Wenigstens billigte Caion ihm zu,
daß er wußte, wo sein Herz war!
»Augen zu!«
Varyn war sicher, daß dies nicht zu einem Eid gehörte.
Caion wollte nur nicht, daß Varyn ihm beim Schreiben zusah.
Der Hauptmann mochte den Schreiber nicht; das war die erste
Gemeinsamkeit zwischen ihm und Varyn, die sie beide offen zuzugeben
bereit waren. Varyn konnte Mendrion schlecht sagen, daß, und
wie, er ihn bewunderte… Da zog er es vor, von ihm lieber nur
als Hauptmann zu
denken…
Das Knien war anstrengend. Mit geschlossenen Augen wurde Varyn
schwindelig. Und er hatte noch kein Wort schwören
können!
»So«, sagte Caion. »Jetzt kannst du
schwören. Aber langsam!«
»Ich schwöre -«, begann Varyn und wurde sofort
wieder unterbrochen.
»Es muß heißen ‘Ich, Name, schwöre’. Wie
heißt du?«
»Varyn«, sagte Varyn, bemüht ruhig. Caion sollte
das wissen. Er hatte es immerhin schon einmal aufgeschrieben.
»Dann heißt es ‘Ich, Varyn,
schwöre’.«
Varyn seufzte leise. Das hatte er nun davon! »Ich, Varyn,
schwöre -« Er brach ab, rechnete mit noch einer
rüden Belehrung, noch es kam keine. Varyn fuhr fort:
»Vom heutige Tage an mich nicht mehr zu betrinken -«
Und dann merkte er selbst, daß das nicht gut ausgedrückt
war. Er hatte sich an diesem Abend in der Wirtsstube - wie lange
war das nun her? Zwei Tage? - nicht betrunken, aber jeder andere
wäre an seiner Stelle tot gewesen. Er mußte das so
schwören, daß er den Eid selbst nicht mehr austricksen
konnte. »Kann ich noch einmal von vorn anfangen?«
fragte er leise.
»Nein!« bellte Caion. »Du hattest genug Zeit, dir
deinen Eid überlegen. Und du hast kein Geld, mir noch einen
Bogen Pergament zu bezahlen. Der hier geht auf den Hauptmann. Jetzt
schwör weiter!«
Während der Schreiber redete, hörte Varyn weiter die
Feder übers Pergament kratzen. Der Lump schrieb er jetzt das,
was Varyn gar nicht geschrieben haben wollte! Varyn biß sich
auf die Lippe. Sein Kopf dröhnte. Längst war ihm die Lust
am Schwören vergangen. Eigentlich ging ihm nicht um den Eid
selbst. Er wollte Mendrion eine Freude machen - er wollte nur,
daß der Hauptmann stolz auf ihn war. Wenn er es schaffte,
einen solchen Eid durchzuziehen… Er wollte auf Mendrions
Schwert schwören, nicht auf eine Feder!
»Was ist?« fragte Caion ungehalten. »Willst du
nun schwören, oder nicht?«
»Ich, Varyn, schwöre«, sagte Varyn schnell,
»mich vom heutigen Tage an nicht mehr zu betrinken, und mehr
noch, ich schwöre, daß fortan kein Tropfen Alkohols,
ganz gleich in welcher Form, mehr über meine Lippen kommen
soll.« Das gefiel ihm. Es war hart. Er freute sich jetzt
schon.
»Langsamer!« bellte der Schreiber. »Was denkst du
denn, was für eine Arbeit das hier ist!«
Hinter geschlossenen Lidern verdrehte Varyn die Augen und
wiederholte den Eid dann noch einmal, ganz langsam, Wort für
Wort. Caion konnte schreiben, aber das war auch schon alles. Der
Mann war nicht klug genug, um sich zwei Sätze zu merken. Wenn
es eines Tages mehr Leute gab, die Lesen konnten, blieb für
die Caions dieser Welt nur noch der Strick. Oder die
Flasche… Varyn verbannte den Gedanken sofort. Keinen Alkohol
mehr. Auch nicht im Kopf. Gerade dort nicht.
»Habt Ihr es jetzt?« fragte Varyn ungeduldig. Er konnte
nicht viel länger knien bleiben. Seine Beine stachen vom
Oberschenkel bis in die eingeschlafenen Füße.
»Oder wollt Ihr es nochmals hören?«
»Wird nicht frech, Bursche!« knurrte Caion. »Du
willst etwas von mir, also hältst du dich an meine Regeln. Und
rühr dich nicht!«
Fast mußte Varyn lächeln. Ob das Caions Träume
waren - einmal Hauptmann sein? Jemanden herumkommandieren
dürfen? Aber er lächelte nicht. Es war anstrengend genug,
die Zähne zusammenzubeißen. Varyn war ungeduldig. Das
war nicht gut. Auf Ungeduld folgte oft Wut, blinde,
unkontrollierbare Wut. Varyns Kopf hämmerte. »Bin ich
noch nicht fertig?« fragte er.
»Fertig? Nein.« Wer hätte gedacht, daß Caion
lachen konnte? »Das Wichtigste kommt erst noch. Zu welchem
Engel schwörst du?«
»Vigilander, natürlich!« antwortete Varyn, ohne zu
zögern - war das eine Falle, um ihn als Landesverräter zu
brandmarken? Sollte er bei einem Feind schwören, und das
schriftlich? - aber dann hörte er ein glucksendes Lachen
hinter sich, und begriff, daß er nicht allein war mit Caion.
Auch der Hauptmann war mit im Zelt - wie lange schon?
»Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte Mendrion,
»daß Vigilander mit einem solchen Eid viel anzufangen
weiß. Er hat mit dem Krieg im Moment genug zu tun, und wenn
ich mir unser Königshaus so ansehe…« Er hustete.
»Fahrt nur fort, Caion, fahrt nur fort.«
»Zu wem kann ich denn dann schwören?« fragte
Varyn. Es gab zu viele Engel, und er hatte noch nie jemanden
getroffen, der einen anderen verehrte als Vigilander.
»Nun«, sagte Caion, und Varyn betete, daß er sich
kurz fassen möge - zu
Vigilander, natürlich. »Das kommt ganz darauf an,
was du mit diesem Eid zu bezwecken suchst. Geht es dir darum, einen
klaren Kopf zu bewahren, bietet sich Korisander an, der Engel der
Weisheit. Unsere diplomatischen Beziehungen zu Koristan sind jedoch
im Moment ein wenig frostig geraten.«
»Weisheit klingt gut«, sagte Varyn schnell. Weisheit
konnte man immer brauchen, und wenn er dann endlich - aber Caion
redete weiter.
»Daher rate ich dir dringend davon ab, einen Eid auf
Korisander zu schwören. Elysander bietet sich an, der Engel
des Lichts.«
»Was hat Saufen mit Licht zu tun?« fragte Varyn. Wenn
schon nicht zu Vigilander, wollte er doch nicht zu irgend einem
Engel schwören, nur weil der gerade mit Doubladir in Frieden
lebte!
»Eylsander ist auch der Engel der Heilkunst«, sagte
Caion herablassend. »Wenn du aus Gründen der Gesundheit
dem Trinken abschwörst, ist er eine gute Wahl für dich.
Und dann -«
»Nein, in Ordnung, ich nehme Elysander!« Es gab acht
Engel. Und sicher konnte man jeden, Vigilander ausgenommen,
irgendwie mit diesem Eid in Verbindung bringen. Den Engel des
Meeres, weil Alkohol flüssig war - den Engel des Waldes, weil
man aus Holz die Fässer schlug… Bis Caion mit all denen
fertig war, hatte Varyn Wurzeln geschlagen. »Ich schwöre
zu Elysander«, sagte er laut, und als er dann die Feder
kratzen hörte, wußte er, daß er die richtigen
Worte zum richtigen Engel gefunden hatte. Er wartete, bis die Feder
schwieg. »War es das jetzt?« fragte er dann.
»Noch nicht«, antwortete der Schreiber. »Eines
fehlt noch - was soll mit dir geschehen, wenn du den Eid
brichst?«
Fast hätte Varyn erstaunt die Augen aufgerissen, aber er
ahnte, daß dann alles noch einmal von vorne begann.
»Das - das kann ich mir aussuchen?« fragte er
entgeistert. »Ich dachte, das entscheidet der Engel, wenn es
passiert?«
»Es ist dein Eid«, sagte der Schreiber. »Im Guten
wie im Schlechten - ob du nun dein Leben dranhängst oder dein
Vermögen, du mußt selbst wissen, wie wichtig dir dieser
Eid ist.«
Varyn fühlte, wie ein Lächeln seine Lippen
kräuselte, erkonnte nichts dagegen tun. »Mein
Leben«, sagte er leise. »Das hängt an diesem Eid,
so oder so. Wenn ich den breche, saufe ich mich zu Tode. Dafür
brauche ich keinen Engel.«
Der Schreiber seufzte. »Also - was willst du nun?«
Varyn überlegte. Schlimmer als der Tod - es mußte
schlimmer als der Tod sein, damit es eines Engels würdig war.
Aber was kam nach dem Tod, damit es schlimmer sein konnte…
»Ich will«, sagte Varyn dann, »in den Nilomar
fahren, wo es kein Licht gibt und kein Engel meiner Seele beistehen
kann.« Noch während er sprach, wußte er, daß
das kein guter Eid war, daß er den Nilomar zwar mehr
fürchten mußte als den Tod - doch er fürchtete ihn
eben nicht. Mehr noch - ein Teil von ihm war sogar neugierig auf
den Abgrund. Varyn erinnerte sich an seinen Traum, während er
sprach, und ihn schauderte. Welche Konsequenz auch immer - dieser
Eid war egal. Es war egal, was Varyn schwor. In ihm war etwas -
jemand - in ihm war ein Varyn, der den Abgrund suchte. Und der
keine Ruhe lassen würde, bis er ihn gefunden hatte. Wenn nicht
im Alkohol, dann auf einem anderen Weg. Und die Straße
führte direkt in den Krieg…
»Ah, du zitterst«, sagte der Schreiber. »Das ist
schön. Ein Eid, der einem jeden Trinker Angst machen sollte.
Und du bereust ihn schon jetzt, wie ich sehe.« Die Feder
folgte kratzend Varyns Worten. »Die Schlußformel kannst
du mir nachsprechen: ‘Wenn ich diesen Eid breche
-’«
»Wenn ich diesen Eid breche«, sagte Varyn.
»Und der Engel ist mein Zeuge -‚«
»Und der Engel ist mein Zeuge«, wiederholte Varyn.
»Und mein Wächter und mein Richter, so wahr und so lange
ich lebe.«
»Und mein Wächter«, sagte Varyn. »und mein
Richter, so wahr und so lange ich lebe.« Er fror. Er hatte
Angst, nicht vor seinem Eid, sondern vor sich selbst. Er wartete.
Wann der Schreiber mit ihm fertig war, konnte ihm fast egal sein.
Aber er wartete.
»Du kannst jetzt aufstehen«, sagte der Schreiber
irgendwann.
Varyn mußte sich vorsichtig aufrappeln, an der Tischkante
festhalten - seine Knie waren eingeschlafen und knickten unter ihm
weg, trugen ihn kaum, die Welt drehte sich ihm entgegen wie einem
Betrunkenen. Es sollte das letzte Mal sein. So konnte er sich
zumindest von dem Gefühl verabschieden. Er hatte es noch nie
gemocht. »Jetzt muß ich noch ein Kreuz machen, nicht
wahr?« fragte er leise. Von seinen eigenen Zeichen hatte er
in der letzten Nacht zuviel gesehen, um ausgerechnet jetzt noch
damit angeben zu müssen.
Aber Caion lachte nur kurz und schüttelte den Kopf. »Ein
Kreuz mag dem König genügen, Junge. Einen Eid
unterzeichnest du mit deinem Blut. Nimm deinen
Dolch -«
»Ich hab keinen«, entgegnete Varyn. Kein Dolch. Noch
nicht einmal ein eigenes Messer besaß er - zuviel Geld hatte
er ausgegeben für Zeug wie Kreide oder Schnaps, und vielleicht
war es ganz gut, daß er keines hatte, wenn ihm wieder die
Lust auf den Tod kam. War es wirklich klug, nun ein Schwert haben
zu wollen? »Leiht Ihr mir Eures?«
Wortlos reichte ihm der Schreiber ein kleines Messer. Nichts, was
den Namen Dolch verdiente
- der Mann benutzte es, um seine Feder zurechtzuschneiden, wenn die
Spitze ausfranste. Varyn schnitt sich in den Finger und sah zu, wie
das Blut herausquoll. Es tat nicht weh.
»Wieviel Blut brauche ich?« fragte er.
Caion lächelte kurz. »Genug für einen
Fingerabdruck, mehr nicht. Blut ist Blut, und dein Finger
zählt wie ein Siegel.« Er drehte Varyn das Pergament
hin. So viele Zeichen für so wenige Worte - viel mehr Zeichen,
als Varyn gebraucht hätte, darum dauerte es auch so
lange… Varyn betrachtete die Zeichen, als wolle er sie
lesen, aber was im Traum funktioniert hatte, hier ging es nicht.
Ihm blieb nur das Wort des Schreibers, daß dies wirklich
Varyns Schwur war und kein anderer - aber der Mann war ein
Schreiber des Königs und mußte ehrlich sein. Und der
Engel, zu dem Varyn geschworen hatte - auch er war ein Zeuge, vom
Elomar aus, und würde Caion strafen, wenn dort etwas anderes
stand… Wieder umfing diese seltsame Leichtigkeit Varyn, als
er seinen blutigen Finger auf die Stelle drückte, die Caion
ihm bedeutete. Was immer diese Zeichen auch bedeuteten - erst
Varyns Blut machte sie zu etwas Endgültigem.
»Gut«, sagte Caion, während Varyn seinem Blut
zusah, wie es trocknete und braun wurde. »Dann hätten
wir das also hinter uns gebracht.« Sein Tonfall sagte
‘Endlich’.
»Und was geschieht jetzt damit?« fragte Varyn. Er
wollte dieses Pergament haben, und sei es nur, um die
Schriftzeichen zu begreifen.
»Du mußt den Eid bei dir tragen«, sagte Caion.
»Und ich sage dir, geh vorsichtig damit um, du hast ja keine
Ahnung, was Pergament kostet, und wenn du damit Schindluder treiben
solltest, trifft dich die Rache des Hauptmanns noch vor den Engeln,
das sage ich dir.«
Unwillkürlich zuckte Varyns Blick zum Zelteingang, dorthin, wo
eben noch der Hauptmann stand, dort der war fort. Varyn wußte
nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sicher mußte Mendrion
wieder draußen die Rekruten durch Feld brüllen.
»Ich gebe gut darauf acht, versprochen«, sagte er.
»Wenn ich Geld habe, zahl ich es dem Hauptmann
zurück.« Wenn.
Wenn war gut. Woher sollte Varyn Geld nehmen, mitten im Krieg, wenn
er nicht mal Zeit zum Arbeiten hatte?
»Das solltest du wohl«, sagte Caion. »Dieses
Pergament wacht nun über deinen Eid. Und wenn es braun wird
und zu Staub zerfällt - dann heißt das, du hast deinen
Eid gebrochen. Und dann weiß es auch Elysander, und du
steckst in Schwierigkeiten. Dann gehst du in den Nilomar.«
Der Schreiber streute ein wenig Sand auf das Pergament, blies ihn
fort, rollte es zusammen und reichte es dann an Varyn. »Bei
lebendigem Leibe«, sagte er.
»Bei lebendigem Leibe«, wiederholte Varyn. Die
Schriftrolle war so leicht in seiner Hand… Varyn wollte sie
erst in sein Hemd einnähen, um sie immer bei sich zu haben.
Aber erst, wenn er gelernt hatte, sie zu lesen. »Ich danke
Euch«, sagte er dann. »Euch Beiden. Vom Hauptmann hatte
ich es ja gehofft, aber daß eines Tages ein Schreiber mir das
Leben rettet -«
»Still jetzt!« sagte der Schreiber unwirsch. »Und
verschwinde!«
Varyn nickte und verließ das Zelt. Vier Männer des
Königs, und schon stand er in der Schuld von zweien. Wenn das
so weiterging - nicht mehr lange, und er hatte auch noch eine
Blutschuld dem Koch gegenüber. Am besten schnell. Varyn hatte
Hunger, und er sehnte sich nach etwas richtigerem als
Grütze.
Aber als er seine Schritte in Richtung des Küchenzeltes
lenkte, kam die Müdigkeit zurück, bleiern und schwerer
als der Hunger. Seine Muskeln schmerzten, sein Körper schrie
nach Schlaf… Der Hauptmann hatte nicht davon gesprochen,
daß Varyn an diesem Tag irgend eine Übung mitmachen
sollte. Und wenn doch, konnte er ihn ja immer noch aufwecken.
Varyn kehrte zurück zu dem Lager, auf dem er aufgewacht war.
Er wollte sich nur noch einen Moment lang hinlegen - und bevor
Varyn auch nur nach seiner Decke greifen konnte, war er schon
eingeschlafen.
Und dann war er wieder in seinem
Tal. Was hieß wieder? Es war nicht wieder,
es war immer. Die Soldaten waren nur ein
Traum, einer von vielen, nicht besser, nicht schlechter, nicht
wirklicher. Wirklich war nur das Tal, und der Berg, und der
Kohlenstaub auf Varyns Haut. In Varyns Haar. In Varyns Mund - der
Geschmack hatte ihm gefehlt, damals, in seinen Träumen…
Und Varyn holte aus mit seiner Hacke und schmetterte sie gegen das
Gestein, es riß in den Armen, in den Schultern, es war ein
guter Schmerz, ein wirklicher Schmerz. Besser eine richtige Hacke
führen als ein falsches Schwert.
An Varyns Seite arbeitete Edrik, ein jeder in seinem eigenen Takt.
Edrik schlug langsam und gleichmäßig, ein Hieb, eine
Pause, ein Hieb - vielleicht zu langsam nach Varyns Geschmack, aber
beständig, wie ein ruhiges, gesundes Herz. Varyn dagegen
schlug schneller, kräftiger, drei, vier Mal, Hieb, Hieb, Hieb,
dann hielt er inner, atmete einmal durch, hieb weiter. Er sah sich
nicht um, nach hinten, wo Noran auf den Knien herumrutschte und das
Gestein auflas, ab und an schnaufte sie, doch sonst gab sie keine
Geräusche von sich. So arbeiteten sie, einer neben dem
anderen, einer mit dem anderen. Hier - Pause - Hieb - Pause. Und
Hieb - Hieb - Hieb - Pause. Pause. Und Poch…
Poch…
Varyn hielt inner. Er hörte ein Pochen. Hörten die
anderen es nicht? Varyn lauschte. Ein Pochen. Er hörte in sich
hinein - war das sein Herz? Aber es war nicht sein Herz. Es kam von
außen. Es kam von hinter der Wand!
»Hört mal auf!« sagte Varyn und packte den Stiel
von Edriks Hacke.
»Was ist los?« fragte Edrik unwirsch und drehte die
Hacke beiseite. »Geht das schon wieder los mit
dir?«
»Hört ihr das nicht?« fragte Varyn. Dann legte er
einen Finger an die Lippen. Seine Geschwister blickten ihn an,
verwirrt, verärgert - und dann hörten sie es auch. Norans
Gesicht wurde bleich unter dem Dreck. Edriks Hand spannte sich mit
weißen Knöcheln um den hölzernen Stiel. Hinter der
Wand klopfte jemand. Etwas.
Es war dumpf und dröhnend - wie weit hinter der Wand,
vermochte niemand zu sagen. Aber es ging nicht um das was. Es ging um das daß.
Varyn wollte Noran in den Arm nehmen, sie trösten, sich
vielleicht selbst ein wenig an ihr festhalten - er hatte
plötzlich Angst, seltsame, fremde Angst. Aber erst, als er die
Kreidezeichen an der Wand hinter seiner Schwester bemerkte,
überkam ihn nackte, blinde Furcht. »Wir… sind im
Toten Mann«, sagte er tonlos.
Vielleicht wollte Noran etwas entgegnen. Vielleicht wollte Edrik
etwas sagen. Sie kamen nicht dazu. Es war der Moment, als das
Pochen zu einem Krachen wurde und jemand durch die Wand brach.
Etwas.
Gesteinstrümmer reichten bis zur halben Höhe des Ganges.
Dahinter war es schwarz. Und still. Kein Mensch war zu sehen.
Varyn, Edrik und Noran starrten auf den Durchbruch, ohne sich zu
rühren.
Dann fragte Varyn vorsichtig: »Ist da jemand?« - und
wußte, wie dumm diese Frage war. Er wußte, da war
jemand. Nur nicht, wer.
Hinter dem Durchbruch raschelte etwas. Ein paar Brocken rutschten
hinunter und kullerten polternd zu Boden. Eine Antwort gab es
nicht.
Edrik griff langsam, sehr langsam, nach der Laterne, die hinter ihm
am Boden stand, als könne ihn etwas anfallen, wenn er sich zu
schnell bewegte. Warum rannten sie nicht fort. Der sichere Ausgang
war auf ihrer Seite des Ganges. Aber Varyn fühlte sich wie
festgewachsen. Seine Glieder waren schwer und lahm. Und ebenso
langsam fühlte er sich im Kopf.
Edrik hob die Laterne und leuchtete über den Schutt hinweg.
Doch auch im Lichtkegel war kein Mensch zu sehen. Wieder raschelte
es. Und dann hüpfte eine Elster auf die geborstenen Steine.
Nur eine Elster. Sonst nichts.
Etwas knisterte in Varyns Kopf. Als müsse ihm das etwas sagen
- als müsse er die Elster kennen. Aber er kannte sie
nicht.
»Das ist ja nur ein Vogel!« sagte Edrik, als
erkläre das den langen Gang, der hinter dem Durchbruch tief in
den Berg hineinführte.
Noran kicherte - ein Geräusch, das man nur selten von ihr
hörte, und nie bei der Arbeit. Der Vogel legte den Kopf schief
und schien sie anzublicken. Dann senkte er den Schnabel, als wolle
er nicken. Noran legte schnell eine Hand an ihre Lippen, und dann
trat sie zwischen ihre Brüder, streckte die Hand aus und griff
nach der Elster.
»Nicht!« wollte Varyn noch rufen. »Faß sie
nicht an! Das ist -«
Aber da kraulte Noran der Elster schon den Kopf. Sie mochte
Vögel schon immer. Früher hatte sie die Küken
aufgesammelt, die aus dem Netz fielen. Aber sie starben immer,
während die Kinder im Bergwerk waren…
Die Elster rührte sich nicht, als Noran sie berührte. Sie
zog nur ein wenig den Kopf ein. Vielleicht hatte sie Angst - aber
es durfte nicht sein, es konnte keine richtige Elster sein, nicht
so, nicht hier - Varyn konnte immer noch keinen Finger regen. Und
sein Schrei erstickte ihm im Hals.
Die Elster gab ein kleines Lachen von sich, oder zumindest klang es
so. Dann hüpfte sie hoch und vorwärts, flatterte in
Norans Gesicht und pickte nach ihren Haaren. Das Mädchen nahm
schützend die Arme hoch, aber da war die Elster auch schon
wieder fort, flatterte zurück auf die dunkle Seite des Ganges.
Und als sie davonsprang, sah Varyn gerade noch, daß sie etwas
Buntes, Glitzerndes in ihrem Schnabel trug. Und das war der Moment,
als der Bann von ihm abfiel.
Er stürzte zu Noran, die bleich war und zitterte.
»Noran! Was ist? Bis du verletzt?«
Noran starrte ihn aus großen dunklen Augen an wie einen
Fremden. »Mein… Haarband«, murmelte sie.
»Sie hat mir mein Haarband gestohlen.«
Varyn umarmte sie beruhigend. »Keine Angst, Große - ich
hol’s dir wieder.«
Noran zitterte. Sicher hatte sie sich nur erschrocken, aber hier im
Berg durfte man kein Risiko eingehen. Varyn schob sie sanft zu
seinem großen Bruder hinüber. »Edrik, bring sie
hier raus, ja?« Und setzte noch hinterher: »Und dich
auch.« Edrik war doch manchmal etwas begriffsstutzig.
»Und was machst du?« fragte Edrik. Seine Stimme klang
irgendwie… dumpf, fern. Varyns Ohren knisterten wieder.
»Ich?« sagte Varyn. »Ich folge der Elster.«
Und mit diesen Worten stieg er über den Geröllhaufen, der
den toten Mann vom Unbekannten Land trennte, und machte sich auf
den Weg in die Dunkelheit.
Varyn wußte nicht, warum er die Laterne bei Edrik stehen
ließ. So konnte er nichts sehen als Schwärze. Aber so
vieles, was in dieser Geschichte eigentlich keinen Sinn machte,
fiel ihm erst jetzt auf, als er sich mit einer Hand an der Wand
entlang tastete.
Was tat er hier? Warum gruben sie im Toten Mann, wo die Flöz
erschöpft war und Lebensgefahr drohte? Und wo war Gaven? Sie
arbeiteten doch sonst immer zu viert! Und wohin war das Licht
verschwunden? Er konnte noch nicht so weit vom Durchbruch entfern
sein, und doch war es hinter ihm so schwarz wie vor ihm - und das,
wo Varyn doch sonst im Dunkeln sehen konnte ohne Lampe!
Plötzlich war es kalt. Oder es war Angst… Varyn drehte
um und begann, zurückzutasten. Und erstarrte. Er spürte
es.
Dann grollte der Berg. Es war wie in Varyns Träumen. Der Berg
grollte, und dann brüllte er, und dann brach er zusammen.
Varyn hörte es, doch er sah nichts, und er fühlte nichts.
Der Berg brach nicht zusammen, nicht über ihm. Aber da, wo es
eben noch zum Toten Mann ging, war nun eine Wand, eine glatte,
kalte Felswand. So, wie sie eigentlich am Ende des Toten Mannes
sein sollte. Ein Toter Mann auf der Rückseite des Toten
Mannes…
»Edrik!« rief Varyn, doch es gab noch nicht einmal ein
Echo. »Noran!« Niemand antwortete. »Gaven!«
rief Varyn. Doch das konnte er nicht einmal selbst hören. Als
gäbe es diesen Namen gar nicht. »Wo seid ihr?«
Dann nickte Varyn langsam. Er verstand. Keine Fragen. Es gab ja
auch keine Antworten. Nur den Gang, in dem er stand. An seinem Ende
- unbekannt. Aber dort mußte Varyn hin. »Ich
komme«, sagte er laut. Dann tastete er sich wieder durch das
Dunkel. Jetzt gab es nur noch ihn, und die Elster.
Wie lange Varyn den finsteren Gang entlang wanderte, konnte er
nicht sagen - er war schon zu weit gegangen, um jetzt noch seine
Schritte zu zählen. Doch er merkte nach einer Weile, daß
er immer besser vorankam. Nicht seine Augen gewöhnten sich an
das Dunkel, aber seine Hände und Füße. Zwar wagte
er es nicht, die sichere Hand ganz von der Wand wegzunehmen, doch
es reichte, seine Fingerspitzen sanft über das Gestein gleiten
zu lassen. Und auch mit den Füßen mußte er nicht
mehr mühsam vorwärtstasten - der Hall eines Schrittes
verriet ihm den nächsten und Hindernisse in seinem Weg. Je
länger Varyn in diesem Berg unterwegs war, desto vertrauter
wurden sie sich. Varyn konnte den Berg atmen hören, und der
Berg hörte ihn. Nur wieviel Berg noch über ihm lag, und
wieviel vor ihm, wußte er nicht.
Lange führte der Weg geradeaus. Die Wand fühlte sich
nicht mehr an wie behauen - zu ebenmäßig, zu glatt, als
wäre der Stollen in den Stein geschmolzen. Dann aber
veränderte sich der Gang, wurde niedriger, daß Varyn den
Kopf einziehen mußte. Und er begann, aufwärts zu
führen, erst leicht, dann steiler. Es war ein gutes Zeichen.
Was bergauf ging, führte ins Freie.
Boden und Decke kamen sich näher und näher. Varyn
mußte sich erst bücken, dann auf Hände und Knie
gehen, und schließlich konnte er nur noch auf dem Bauch
vorwärts robben. Was kam als nächstes? Wenn es jetzt
noch schmaler wurde, dann paßte die Elster immer noch durch -
aber Varyn konnte ebensogut versuchen, durch ein Kaninchenloch zu
kriechen… Aber es konnte nicht mehr weit sein. Wirklich
nicht. Varyn fühlte einen Luftzug, der ihm entgegenkam. Es
roch nach Freiheit, nach Licht, nach Himmel.
Varyn kroch weiter, bergauf, bergauf, stieß sich Kopf und
Schultern, schrammte sich Arme und Beine auf, doch es ging nicht
mehr zurück - allein beim Versuch wäre Varyn
steckengeblieben. Er konnte nur noch hoffen, und kriechen, bis er,
endlich, ein Licht vor sich erblickte.
Es war klein und fern - als blicke man durch einen Kamin in den
Himmel - und es war auch nicht hell genug, um Varyn zu blenden. Ein
kleines Stück Zwielicht am Ende des Tunnels, und für
einen kurzen Moment vermeinte Varyn eine schwarze Silhouette zu
sehen - den Umriß einer Elster.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Varyn den Ausgang erreichte. Er
mußte sich vorwärts kämpfen wie ein Regenwurm, und
plötzlich fühlte er sich auch wie einer - und
draußen wartete eine riesige Elster, um ihn sich zu schnappen
und ihn zu fressen, sobald er seinen kleinen zuckenden Kopf ins
Freie streckte. Plötzlich hatte Varyn mehr Angst davor, wieder
herauszukommen, als davor, für immer in diesem Berg
festzustecken. Es war kalt. Es lähmte ihn. Varyn kämpfte
es nieder, wie er sich vorwärts kämpfte.
Und dann war er im Freien.
Varyn rutschte aus einem Loch, das im nächsten Moment fort
war. Er überschlug sich mehrmals, kullerte einen felsigen Hang
hinunter zusammen mit Geröll und Dreck, er rollte und
rutschte, und lag still.
Es tat nicht weh, aber einen Moment lang war oben unten und unten
oben und der Himmel aus Fels und der Boden auf Wolken. Varyn lag
still und atmete durch. Und dann hörte er eine Stimme, und sie
rief seinen Namen.
»Varyniel!«
Varyn rappelte sich auf. Er kannte diese Stimme - nur woher?
»Komm zu uns, Varyniel!«
Varyn blickte sich um. Wer rief ihn? War es die Elster? Er sah
niemanden… Er befand sich in einem Tal, einem fremden Tal -
ringsumgeben von fremden, hohen Bergen, die es ganz und gar
einzuschließen schienen, ein Tal oder Ein- oder Ausgang. Ein
Tal ohne Grün - hier schien es nichts zu geben als Steine und
Steine. Große Steine, kleine Steine… Riefen ihn die
Steine?
Vorsichtig tat Varyn ein paar Schritte. Die Steine unter seinen
Füßen hielten still. Die Stimme schien von drei
Felsenformationen zu kommen, die dicht beieinanderstanden und
aussahen wie steinerne Säulen, schlank und groß wie
Menschen.
»Varyniel!« Es war nicht eine Stimme. Es waren
drei.
»Komm zu uns, Varyniel! Komm in die Steine von
Sharaz!«
»Ich komme«, wollte Varyn rufen. »Und: Ich bin
schon da.«
»Du träumst, Varyniel«, sagten die drei Stimmen.
Drei Frauenstimmen, die klangen wie eine. »Komm in die Steine
von Sharaz, wenn du wach bist.«
»Ich will kommen.« Diesmal konnte Varyn sprechen.
»Weist mir den Weg!« Er träumte nur…
träumte, daß er träumte?
Und das war der Moment, als
»Varyn! He, Varyn!«
ihn eine nur allzu vertraute Stimme zurückriß in die
Welt der Lebenden, und der Wachen.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2000 - 2015 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.
Kommentare und Diskussionen zu diesem Kapitel
Kommentar verfassen