Sechstes Kapitel

Varyn erinnerte sich, dem Tod begegnet zu sein, in einer mondhellen Nacht. Sonst erinnerte er sich an nichts mehr, nichts von dem, was danach kam, bis es der andere Tag war und er aufwachte. Er erhob sich, federleicht und ausgeruht, blickte hinunter auf die schlafenden Körper, und glitt aus dem Zelt hinaus in das Zwielicht. Ob des dem Morgen gehörte oder dem Abend, wußte er nicht, und es war egal. Jetzt war keine Zeit. Sie stand still, für ihn, für die anderen, für die Welt. Für das Zwielicht war der Tag nur ein Traum, und die Nacht nur ein Trugbild. Die Wirklichkeit war das, was dazwischen lag. Stille und Grau und Flieder. Varyn liebte es, und er lächelte.
Vielleicht begriff er schon in dem Moment, daß es nur ein Traum war - doch vielleicht auch nicht, denn es stimmte nicht, für einen Traum gab es kein nur, nur war das Wachen dazwischen, das, umgekrempelt, dorthin verschwunden war, wohin bei Tag die Träume gingen. Dies war eine andere Welt, regiert von anderen Engeln, und aus Gnade ließen sie Varyn für ein paar Schritte daran teilhaben.
Varyn stellte keine Fragen - er wußte es besser, als an einen Traum Fragen zu stellen: Er wußte, warum er hier war.
»Dämmervogel«, sagte er. »Ich bin bereit. Ich erwarte dich.« Die Luft trug seine Worte nicht fort. Wo kein Atem war, konnte auch keine Stimme sein. Varyn hörte nicht, was er sagte. Aber er konnte es sehen.
Zeichen wie Nebel quollen aus seinem Mund, als er sprach, und hingen still in der Luft, wo sie langsam zu verblassen begannen, ohne jemals ganz zu verschwinden. Varyn sah sie, staunend. Das waren seine Zeichen, wie er sie erfunden hatte, doch sie sahen noch nie so echt aus. So wirklich. Er fuhr mit der Hand hindurch. Die Zeichen waren unfühlbar, und die Hand glitt durch sie wie durch Rauch, still und folgenlos. Varyn machte ein paar Schritte, beschrieb einen kleinen Kreis um seine Zeichen. Von der Seite waren sie flach, kaum zu sehen. Von hinten waren sie lustig und machten keinen Sinn mehr. Es gefiel ihm. Für den Moment war der Dämmervogel vergessen. Wenn das seine Zeichen waren - was war dann mit den Worten, für die er sich keine ausgedacht hatte? Varyn entfernte sich ein paar Schritte von dem ersten Satz, um freie Luft vor sich zu haben, und sagte langsam: »Ich bin Varyn.«
Atemlos sah er zu, wie die Worte seinen Mund verließen. Dann hingen sie vor ihm in der Luft. Still. Und schön. Varyn mußte lächeln. Das waren zweimal die gleichen Zeichen: Ich bin ich bin, stand dort. Oder Varyn Varyn.
Aber es machte ihm auch Angst. Er redete oft mit sich selbst, nur für sich, wo ihn niemand sonst hören konnte. Doch was er hier sagte, war für die Ewigkeit gemacht. Jeder konnte kommen und seine Worte lesen. Wie die Aufzeichnungen im Toten Mann. Wer außer ihm konnte hierherkommen. Der Dämmervogel, und wer noch?
»Ich fürchte euch nicht«, sagte Varyn und malte die Worte wie eine Warnung in die Luft. »Dies soll mein Reich sein.«
Ein neues Reich. Ein neuer Toter Mann. Ein Ort, der nur ihm gehörte, den er lieben und hassen konnte, ein Ort zum Einsamsein. Er hatte gehofft, nie wieder etwas wie das zu brauchen, aber nun war es gut, und tröstlich. Etwas Angst kam über Varyn, daß es vielleicht nur für einmal sein sollte, daß er nie wieder herkommen konnte, wenn die Soldaten weiterzogen.
Varyn ging weiter, fort vom Lager, hin zum Fluß, der schlief wie die Luft und das Gras und die Bäume. Es war Zeit, Abschied vom Fluß zu nehmen. Er wurde fremd - viel breiter war er hier als im Tal, zu viele Bäche flossen mit ihm, er trug immer noch das Wasser aus der Heimat, doch es war nur noch ein Teil von ihm.
War es mit Varyn ebenso? Wieviel vom Tal war noch in ihm, und wieviel Welt? So viele neue Orte, neue Namen, neue Gesichter - das Tal entschwand. Und bis der Fluß ins Meer mündete, war nur noch ein Tropfen von ihm Tal.
Varyn trat ans Ufer und kniete nieder. Der Fluß gab keinen Laut. Die Oberfläche war immer noch Wasser, doch es war erstarrt, nicht wie Eis, nicht wie Glas, immer noch Wasser, erstarrte Eile. Varyn berührte den Fluß, erst nur mit der Fingerspitze, dann mit der ganzen Handfläche. Eintauchen konnte er nicht - es war, als versuche man, die Hand durch einen Tisch zu stecken, aber was ihn hier zurückhielt, war die verharrende Zeit. Varyn hielt still, und wartete. Es war ein Moment der Ruhe und Stille, etwas, das ihm fehlte, seit Jahren schon. Er bedauerte, diesen Ort nicht früher entdeckt zu haben.
»Wem gehörst du, außer mir?« fragte Varyn stumm. Er sah sein Spiegelbild auf dem Fluß, nur die Erinnerung eines Bildes; das Wasser war dunkel und behielt, was es sah. »Wer hat dich erschaffen? Die Elomaran?«
Varyn blickte auf. Er erwartete keine Antwort, und eigentlich war es ihm egal, aber er wollte das Wort sehen. Elomaran. Wie schrieb man ein Wort, von dem man nicht einmal wußte, was es wirklich bedeutete? Die Tante hatte ihm und den Kindern früher gesagt, es hieße soviel wie ‘Großer Mann mit Flügeln’, doch die Zeichen, die nun über dem Wasser schwebten, waren vier andere: Oben, eines, das er nicht kannte, Schacht und Auge. Varyn starrte sie fasziniert an, vor allem das zweite Zeichen: Es paßte zu den anderen, und doch war es nicht von ihm… Vielleicht war es neu. Woher kamen die anderen Zeichen? Vielleicht auch aus Träumen? Das neue Zeichen war eine verdrehte Schlinge, die auf der Seite lag. Oben Schlinge Schacht Auge - daß das Elomaran heißen sollte, was seltsam. Doch dann kam etwas noch seltsameres. Varyn… verstand.
Plötzlich machte das Zeichen Sinn, nicht allein, sondern im Zusammenhang mit dem nächsten. Allein bedeutete es nichts. Aber es veränderte die anderen. Es machte etwas endliches unendlich. Es machte aus einem Schacht einen Abgrund. Langsam fuhr Varyn mit den Fingern die Zeichen nach. Er war ganz leicht. Körperlos. Wie Nebel. Alles war bedeutungslos - wo er war, ob er lebte, ob er ein Schwert führen konnte: Plötzlich verstand Varyn die Sprache der Engel.
Dann fühlte er jemanden hinter sich, doch er drehte nicht um.
»Dämmervogel«, sagte er. »Ich habe auf dich gewartet.« er wollte ihren Namen sehen, noch einmal, bevor er ihr Gesicht sah. Wenn er es überhaupt sehen wollte. Ein wenig fürchtete er sich vor ihrem Gesicht - daß sie häßlich war, oder fremd, oder schrecklich. Er hatte schon so viele schreckliche Gesichte gesehen in seinen Träumen…
Eine Hand berührte seine Schulter, nur kurz, und doch durchlief es Varyn von oben bis unten. Langsam drehte er sich um und stand dabei auf. Träumend, aber mit offenen Augen, sah er zum ersten Mal die Frau, die der Dämmervogel war.
Sie war halb wirklich, und halb nicht, als könne er durch sie hindurchsehen, doch hinter ihr war nichts. Ihr Haar erschien schwarz, ihre Haut weiß, doch ebenso konnten es unterschiedliche Schattierungen von grau sein, oder blau, von allen Farben des Zwielichts, aus dem sie bestand. Ihr Körper war makellos. Zierlicher als die Frauen aus dem Tal, und größer. Aber Varyn konnte nicht einmal sagen, was für ein Kleid sie trug, oder ob, oder ob sie nackt war. Ihr Körper war da, aber er wurde neblig, sobald Varyn ihn zu betrachten suchte; er scheuchte Varyns Augen fort, hoch zu ihrem Gesicht. Doch auch das war von einem Nebel umgeben, nur die Augen waren klar, zu klar, schwarz und schön. Wirklich wie die eines Vogels, eines dämmerlichtigen Raubvogels - einer Dohle, vielleicht, oder einer Elster.
Der Nebel um ihr Gesicht waren Worte - wie lange hatte sie schon zu ihm gesprochen, hinter seinem Rücken, wo er es nicht hören konnte? Nun waren ihre Worte da, wie seine, doch es war keine Ordnung mehr in ihnen, sie konnten alles bedeuten. Varyn schnappte ein paar von ihnen auf - Hier Welt Boden Traum Zeit - und gab es auf. Was auch immer der Dämmervogel gesagt hatte, sie mußte noch einmal von vorn anfangen, und er auch. Was schwierig genug war. Denn so sehr Varyn auch von schwebenden Wörtern umgeben war - plötzlich waren keine mehr in ihm.
Varyn schluckte, und blinzelte. Dann sagte er, ohne weiter nachzudenken: »Danke, daß du mich hergeholt hast.« Er blickte in ihr Gesicht, während er sprach, nicht auf seine Worte, auch wenn er das Zeichen für Danke noch nicht kannte - er wollte keine Regung verpassen.
Der Dämmervogel schüttelte den Kopf, und Zorn sprudelte aus ihren Augen wie die Worte aus ihrem Mund. »Ich habe dich nicht hergeholt! Ich bin hier, weil du mich gerufen hast! Was denkst du nur?«
Varyn verstand sie. Er mußte nicht Zeichen für Zeichen lesen, sehen genügte, und im Kopf hörte er ihre Stimme, so wie er sich an sie erinnerte. Er dachte noch an ihren neckischen Tonfall - nun mischte sich Zorn hinein.
Abwehrend hob Varyn die Hände. »Was soll ich denken? Niemand sagt es mir, niemand hilft mir, mich zu verstehen. Ich bin hier, es ist schön, ich genieße die Stille, und habe keinen anderen Wunsch, als dein Gesicht zu sehen.« Er wollte sie berühren, ihr Gesicht, er wollte den Nebelschleier fortwischen, alle toten Wörter, und sehen, fühlen, was dahinter lag. Aber er versuchte es nicht. Er ahnte, daß seine Hand durch sie hindurchgleiten würde wie durch Nebel, und das fürchtete er, nur ein wenig, denn hier war kein Platz für Furcht.
Sie winkte ihn näher, fort von der lockend glänzenden Oberfläche des Flusses, und glitt selbst rückwärts, während sie sprach. »Was glaubst du denn, Varyniel, was für ein Ort dies ist?«
Varyn antwortete tonlos, ließ die Worte aus seinem Mund kullern, ohne ihnen unnötige Kraft zu verleihen. »Ein Traumland«, sagte er. »Mein Traumland. Wo ich für mich sein kann. Um mich zu finden.« Er wollte hierbleiben, vielleicht für immer…
»Es ist nicht dein Land!« fuhr ihn der Dämmervogel an, und für den Bruchteil eines Augenblicks blitzte ihr Gesicht zwischen den Nebeln hindurch. »Es ist das Königreich der Stille, ich kann hier nicht sein, du darfst hier nicht sein - ich bin nur hier, um dich wieder zurückzuholen.«
Fast machte sie Varyn Angst, wo es keine gab. »Aber was ist hier…?«
»Das Königreich der Stille«, wiederholte sie. »Wo du kein Geräusch findest, nicht einmal das Schlagen deines eigenen Herzens - weil dein Herz nicht mehr schlägt. Du bist hier, weil dein Körper dich ausgespieen hat.«
»Dann…«, begann Varyn, und plötzlich war alles ganz leicht, mußte er lächeln, paßte alles zusammen. »Dann bin ich tot«, sagte er.
»Nein«, sagte der Dämmervogel, und eine scheue Hoffnung starb. »Dein Schicksal will nicht, daß du stirbst. Aber dein Körper will es.«
Varyn lächelte weiter. Sein Körper war so fern in diesem Moment, so fern, wie Varyn es sich schon so lange wünschte.
»Schau mich an«, sagte der Dämmervogel, doch wieder meinte sie nur ihre Augen. Sie berührte ihn am Kinn, flüchtig, wie Eis. Ihre Hand war körperlos wie seine. »Schau mich an, Varyniel. Willst du sterben?«
»Nein«, sagte Varyn ruhig. »Ich will leben. Aber nicht… nicht so. Und wenn selbst mein Körper mich nicht mehr leiden kann…« Er tänzelte von ihr fort, zurück zum Fluß, doch er blieb nicht am Ufer stehen, kniete nicht hin, sondern trat hinaus auf das schlafende schwarze Wasser. Sollte sie ihn fangen… Der Fluß würde ihn davontragen, dorthin, wo die Nacht war und das Leben nur noch eine Erinnerung. Er wollte nicht sterben. Aber wenn das hier der Tod war, wollte er gerne tot sein.
Der Dämmervogel folgte ihm. Erst war sie hinter ihm, dann war sie neben ihm, dann war sie vor ihm, ein wehender Schatten, der ihm den Weg verstellte. »Ich lasse dich nicht sterben, nicht jetzt - und du wirst tun, was ich dir sage, sofort.«
Kurz und plötzlich fühlte sich Varyn an den Hauptmann erinnert, und das war fremd, es war aus einer anderen Welt, und an der Erinnerung hingen Fetzen weiterer, es zerrte ihn zurück, dorthin, wo er hergekommen war, aber dort war er nicht mehr erwünscht.
»Varyniel!« Er konnte die Schärfe in ihrer Stimme fühlen, als sie nun begann, ihn rückwärts zu treiben. »Ich kenne dich besser als du. Ich kenne die Antworten, nach denen du suchst. Und wenn du mir jetzt nicht gehorchst und in deinen Körper zurückkehrst, wirst du sie niemals erfahren.« Sie erstarrte in der Bewegung. »Was suchst du - den Tod, oder Antworten?«
»Beides«, fühlte Varyn sich sagen. »Das eine ist das andere.«
Erst lockte sie ihn, nun trieb sie ihn - Varyn durchschaute sie, erkannte ihr Ziel: Fort vom Fluß, ihn zum Lager… »Ich kann nicht zurück«, sagte er sanft. »Mein Körper läßt mich nicht.«
»In ein paar Augenblicken werden diese Worte Wahrheit«, sagte der Dämmervogel. »Noch ist es nicht zu spät, noch nicht, aber bald. Und wessen Schuld ist das? Nur deine eigene. Aber das weißt du längst selbst - du zerstörst dich absichtlich. Hast du Freude daran?«
Varyn schüttelte den Kopf, wie sie es wünschte. Freude? Seltsames Wort. Was war Freude? Etwas für Kinder. Etwas, das Varyn zurückgelassen hatte, wann, wußte er nicht…
»Du kommst jetzt mit mir«, sagte der Dämmervogel. »Sag nichts mehr. Denk nicht mehr. Komm mit mir. Verlaß dieses Land.«
Sie streckte ihm die Hand hin. Diesmal nahm er sie. Nicht, weil er fort wollte, oder weil sie Recht hatte - im Moment überwog nur die Neugier. Er wollte ihre Hand berühren -
Ihre körperlosen Finger schlossen sich um seine. Es war wie ein Blitzschlag. Dunkel. Hell. Dunkel. Varyn wirbelte - durch Luft? Traum? Tod? Er wußte es nicht. Er hörte sein Herz schlagen. Dann fühlte er es. Dann Schmerzen. Das war sein Körper. Sein Körper schmerzte.
»Schlaf jetzt, Varyniel«, sagte der Dämmervogel. »Träum von mir. Ich werde in deinen Träumen sein. Bald schon. Versprochen.«
Und dann war nichts mehr.

Am anderen Tag grollte Varyns Körper noch immer, aber vielleicht nicht mehr ganz so laut. Vorsichtig aß Varyn etwas Grütze - er konnte sich nicht erinnern, am Vortag überhaupt etwas gegessen zu haben, aber er zerbrach sich nicht den Kopf darüber. Die Grütze war zu dünn und zu salzig, aber es gab schlimmeres.
»Hey, schaut mal, wer wieder wach ist!«
Varyn zuckte zusammen, als er die wie immer muntere Stimme Pogges hörte. Er hatte gehofft, den Tag ruhig angehen lassen zu können, und jetzt ging es gleich wieder los mit Hohn und Spott - aber was erwartete er? Solange er nicht desertierte und als Einsiedler im Wald lebte, mußte er sich auch unter anderen Menschen bewegen.
Aber so schlimm wurde es dann doch nicht. Pogge kam zu ihm hinüber, setzte sich zu ihm, und knuffte ihn in die Seite. »Das war ja eine Sache - als du gestern zusammengeklappt bist, haben wir wirklich gedacht, das wär’s gewesen.«
»Tut mir leid«, murmelte Varyn. »War keine Absicht.« Er erinnerte sich nicht wirklich an den vergangenen Tag. Nur, daß er völlig übermüdet gegen den Schlaf gekämpft hatte, und offenbar verloren.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Pogge lachte. »Wenn der Hauptmann nicht so einen Narren an dir gefressen hätte - dann würden wir jetzt immer noch marschieren.«
Varyn brachte ein müdes Lächeln zustande. Sagen mußte er nichts - das war eine der guten Sachen an Pogge, man mußte nicht viel reden, wenn man einmal mit ihm ins Gespräch kam. Pogges Eltern hielten Schafe - da war der Bursche wohl an geduldige Zuhörer gewöhnt.
»Und sowieso«, sagte Pogge. »Du hast genug gesoffen, um einen Bären umzuhauen - irgendwann mußte auch mal Schluß sein.« Varyn fühlte Bewunderung in seiner Stimme. Es erinnerte ihn an früher. Aber es war noch zu früh, um Pogge als Freund zu betrachten. Viel zu früh. Und selbst wenn, war er doch nicht die Art von Freund, die Varyn suchte oder brauchte. Keiner von den Burschen hier…
Varyn stand auf. »Entschuldige mich - ich muß gerade noch mit dem Hauptmann reden.«
»Ist schon gut«, Pogge winkte ab. »Der wird auch wissen wollen, daß du wieder auf den Beinen bist. Wenn er mit dir fertig ist - du findest mich bei den anderen.«
Die anderen waren, das hatte Pogge nicht erwähnt, dort, wo auch der Hauptmann war: Auf der Wiese hinter dem Zeltlager. Und dort spielten sie Krieg. Anders konnte man es nicht nennen - er sah aus wie das, was Varyn und seine Brüder früher mit den Dorfjungen anstellen, wenn sie Zeit dafür hatten. In zwei Gruppen aufgeteilt, standen sich die Männer mit Stöcken in der Hand gegenüber. Als ob man mit Stöcken einen Krieg führen konnte, geschweige denn gewinnen! Aber daran hielt Varyn sich nicht lange auf, und auch nicht an den knappen Kommentaren, die der Hauptmann brüllte. Was ihn wirklich verblüffte, zumindest für einen Moment, war, wie groß ihre Truppe schon geworden war. Und so viele fremde Gesichter - aber das letzte Dorf war auch größer als seines, die neuen Leute mußten von dort sein. Es war egal. Varyn hatte nicht das Gefühl, zu ihnen zu gehören. Und er wollte auch nicht mit einem Stock kämpfen, oder einem Spieß - sicher sollten die Stöcke Spieße darstellen…
»Du da!« brüllte Mendrion und zeigte so wild in die Gruppe, daß jeder gemeint sein konnte. »Du bist tot!«
Die Männer auf dem Feld verstanden den Hauptmann offenbar besser, denn nur einer von ihnen warf sich zu Boden. Mendrion nickte. Nur, um im nächsten Moment wieder loszubrüllen: »Gruppe vier, ihr bewegt euch, wenn ich es euch sage! Ihr könnt essen gehen, wenn ihr tot seid!« Aber er sah dabei einigermaßen zufrieden aus.
»Ich bin schon tot«, verkündete Pogge an Varyns Seite. »Das war mir zu dumm. Ich dachte, wir kriegen Schwerter.«
Varyn nickte. »Da bist du nicht der einzige. Ich gehe ihn mal fragen.«
»Aber du kannst da nicht hin! Das ist ein Schlachtfeld.«
»Jau«, sagte Varyn. »Das sehe ich. Ich gehe außen rum.«
»Nicht hintereinander!« rief der Hauptmann. »Versetzt, sage ich! Ihr wollt doch nicht Bockspringen!«
Varyn sah sich das Treiben noch einen Moment lang kopfschüttelnd an, bevor er sich auf den Weg zum Hauptmann machte. Es stimmte schon. Solchen Leuten würde er auch keine Schwerter geben. Wie sie sich auf dem Feld verteilt hatten - völlig sinnlos. Varyn würde sich durch das Wäldchen anschleichen und von der Seite einfallen… Und auf diesem Weg arbeitete er sich auch zum Hauptmann hin. Ganz leise - obwohl der ihn sicher ohnehin nicht hören konnte, so wie er brüllte. Wirklich beeindruckende Stimme. Guter Kämpfer, gute Stimme - was störte es da noch, daß seine Truppe herumstand wie Kraut und Rüben?
Varyn räusperte sich, als er hinter dem Hauptmann stand, und hoffte, daß sich die Männer auf dem Feld nicht zu sehr von ihm ablenken ließen. Aufeinander einschlagen konnten sie doch auch ohne Anleitung… »Hauptmann, kann ich Euch sprechen?«
Der drehte sich nicht einmal um. »Was gibt es - willst du mich ablösen?«
»Nein - ich bin es, Varyn.«
Der Hauptmann lachte. »Das weiß ich wohl, und wo ich’s nicht wüßte, kann ich es riechen - du stinkst immer noch wie eine Destille. Aber hier hast du nichts verloren. Das ist der Hauptmannsposten. Ein Spund wie du - Spundloch, müßte ich wohl besser sagen - gehört aufs Feld.« Nun drehte er sich doch um und grinste breit und zufrieden. »Also, wieder nüchtern? Das war ein einmaliger Gnadendienst von mir, das kannst du mir glauben, nächstes Mal lasse ich dich verrecken.«
Varyn ließ ihn reden und versuchte nicht, ihn zu unterbrechen. Zum Teil war er auch gekommen, um seine Strafe in Empfang zu nehmen, und hier, vor allen Augen, war sicher der richtige Ort dafür.
»Ich würde Euch gerne sprechen«, sagte er dann. »Wenn Ihr Zeit für mich habt, heißt das.«
»Zeit? Glaubst du, ich kann Zeit scheißen?« Der Hauptmann deutete auf die tatenlos auf dem Feld herumstehenden und schwätzenden Männer. Die ersten hatten sich sogar schon hingesetzt. Zogen sie als nächstes Brotzeit und Würfel aus der Tasche? Und wollten sie das in der Schlacht auch so machen? Der Hauptmann seufzte. »Im Ernst, ich habe einen Moment für dich. Bin schon bald heiser, und die Idioten hier können nicht erwarten zu sterben und etwas zu Fressen zu bekommen.« Er lachte kurz, dann rief er: »Ist in Ordnung. Ihr seid alle tot! Geht Essen fassen, danach geht’s weiter.«
»Nicht gut?« fragte Varyn vorsichtig.
»Erwartest du darauf eine Antwort? Mach es besser, wenn du kannst.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich würde mich Euch tauschen, wenn mir das die Möglichkeit gäbe, ein anderer zu sein - aber ich glaube nicht, daß ich es besser könnte.«
»Ganz sicher nicht«, sagte der Hauptmann. »Und was gibt es jetzt? Ich sagte dir: Einen Moment, nicht ‘Ich will für immer bei dir sein’.«
»Ich -«, sagte Varyn und biß sich auf die Lippen.
»Und erzähl mir nichts von dir und deinen Problemen! Ich will das alles nicht wissen.«
»Ich will einen Eid ablegen«, sagte Varyn. »Ich habe so was noch nie gemacht; Ihr seid hochgeboren, Ihr wißt, wie das geht. Ich will es richtig machen, daß es bindet.«
Mendrion feixte. »Das klingt allemal so, als ob es dir ernst ist. Und was willst du schwören? Rache? Doch hoffentlich nicht an mir!«
»Keine Rache.« Selbst die Vorstellung war irgendwie seltsam. Varyn haßte niemand gut genug, um Rache schwören zu mögen. Außer sich selbst, zumindest manchmal. Er lächelte. »Ich gebe das Saufen dran. Und das will ich schwören.«
Der Hauptmann lachte laut und nahm Varyn bei der Schulter - eine seltsam väterliche Geste, wenn man bedachte, wie jung der Mann eigentlich noch war, und wie alt Varyn. »Dann komm mal mit - ich habe den richtigen Mann für dich. Ich wundere mich nicht, daß du das schwören willst - hätte mich eher gewundert, wenn nicht - aber ich kenne viele, die das schon geschworen haben, und bei denen hat das nie länger gehalten als zwei Tage.«
»Darum will ich das richtig schwören«, sagte Varyn noch mal.
»Und darum kommst du jetzt mit zu Caion.«
»Caion?« Varyn konnte nicht alle Namen kennen und hatte auch nicht das Gefühl, daß sich der Hauptmann lange mit so was aufhielt. Der Name sagte ihm nichts. »Wer ist das?«
Mendrion schnaubte. »Einer, den man normalerweise so nötig braucht wie einen Kropf - der Schreiber. Der soll mal deinen Eid aufnehmen, dann hat er auch wieder etwas zu tun.«
Varyn war sich nicht sicher, ob der Hauptmann ihn ernst nahm oder ob er ihn nur lossein wollte, aber er ging mit. Der Schreiber war ihm unheimlich, aber auch solche Menschen gehörten zu Varyns neuem Leben.
Wie auch der Mendrion, besaß Caion ein Zelt für sich allein, aber anders als der Hauptmann hielt sich der Schreiber auch tagsüber darin auf. Er hatte sich einen kleinen Tisch aufgebaut, auf dem nun seine Schriftrollen lagen. Das war wohl reine Angeberei, doch Varyn dachte an seine eigenen Zeichen und ärgerte sich.
»Ihr werdet es nicht glauben, Caion«, sagte der Hauptmann. »Aber es gibt tatsächlich etwas für Euch zu tun.« Er stupste Varyn in das Zelt. »Setzt dem Burschen hier einen Eid auf. Und macht es so, daß er Blut spuckt, wenn er eidbrüchig wird.«
Caion blickte von seinen Schriftstücken auf und grummelte etwas. Er war ein hagerer Mann mit scharfer Nase und scharfen Augen, sein Bart nicht voll und buschig wie die der richtigen Soldaten, sondern kurz und schmal - etwas, worauf ein Jüngling stolz wäre, aber bei einem Mann von Caions Alter mehr ein Armutszeugnis darstellte.
»Ah«, sagte er. »Dich kennen wir bereits. Gut. Knie dich hin.«
Varyn gehorchte. Auge in Auge mit der Tischplatte, konnte er zusehen, wie der Schreiber ohne große Hast einen Bogen Pergament nahm, entrollte, glatt strich, die Enden mit kleinen Eisenklötzchen beschwerte, dann der Tintenfaß nahm, entkorkte, eine Gänsefeder ergriff, und kurz hineintauchte. Es faszinierte und ärgerte ihn zugleich. Als ob seine eigenen Zeichen nichts wert waren… Seine Knie schmerzten etwas.
»Jetzt Hand aufs Herz!«
Varyn gehorchte.
»Die andere Hand!«
Varyn wechselte die Position. Wenigstens billigte Caion ihm zu, daß er wußte, wo sein Herz war!
»Augen zu!«
Varyn war sicher, daß dies nicht zu einem Eid gehörte. Caion wollte nur nicht, daß Varyn ihm beim Schreiben zusah. Der Hauptmann mochte den Schreiber nicht; das war die erste Gemeinsamkeit zwischen ihm und Varyn, die sie beide offen zuzugeben bereit waren. Varyn konnte Mendrion schlecht sagen, daß, und wie, er ihn bewunderte… Da zog er es vor, von ihm lieber nur als Hauptmann zu denken…
Das Knien war anstrengend. Mit geschlossenen Augen wurde Varyn schwindelig. Und er hatte noch kein Wort schwören können!
»So«, sagte Caion. »Jetzt kannst du schwören. Aber langsam!«
»Ich schwöre -«, begann Varyn und wurde sofort wieder unterbrochen.
»Es muß heißen ‘Ich, Name, schwöre’. Wie heißt du?«
»Varyn«, sagte Varyn, bemüht ruhig. Caion sollte das wissen. Er hatte es immerhin schon einmal aufgeschrieben.
»Dann heißt es ‘Ich, Varyn, schwöre’.«
Varyn seufzte leise. Das hatte er nun davon! »Ich, Varyn, schwöre -« Er brach ab, rechnete mit noch einer rüden Belehrung, noch es kam keine. Varyn fuhr fort: »Vom heutige Tage an mich nicht mehr zu betrinken -« Und dann merkte er selbst, daß das nicht gut ausgedrückt war. Er hatte sich an diesem Abend in der Wirtsstube - wie lange war das nun her? Zwei Tage? - nicht betrunken, aber jeder andere wäre an seiner Stelle tot gewesen. Er mußte das so schwören, daß er den Eid selbst nicht mehr austricksen konnte. »Kann ich noch einmal von vorn anfangen?« fragte er leise.
»Nein!« bellte Caion. »Du hattest genug Zeit, dir deinen Eid überlegen. Und du hast kein Geld, mir noch einen Bogen Pergament zu bezahlen. Der hier geht auf den Hauptmann. Jetzt schwör weiter!«
Während der Schreiber redete, hörte Varyn weiter die Feder übers Pergament kratzen. Der Lump schrieb er jetzt das, was Varyn gar nicht geschrieben haben wollte! Varyn biß sich auf die Lippe. Sein Kopf dröhnte. Längst war ihm die Lust am Schwören vergangen. Eigentlich ging ihm nicht um den Eid selbst. Er wollte Mendrion eine Freude machen - er wollte nur, daß der Hauptmann stolz auf ihn war. Wenn er es schaffte, einen solchen Eid durchzuziehen… Er wollte auf Mendrions Schwert schwören, nicht auf eine Feder!
»Was ist?« fragte Caion ungehalten. »Willst du nun schwören, oder nicht?«
»Ich, Varyn, schwöre«, sagte Varyn schnell, »mich vom heutigen Tage an nicht mehr zu betrinken, und mehr noch, ich schwöre, daß fortan kein Tropfen Alkohols, ganz gleich in welcher Form, mehr über meine Lippen kommen soll.« Das gefiel ihm. Es war hart. Er freute sich jetzt schon.
»Langsamer!« bellte der Schreiber. »Was denkst du denn, was für eine Arbeit das hier ist!«
Hinter geschlossenen Lidern verdrehte Varyn die Augen und wiederholte den Eid dann noch einmal, ganz langsam, Wort für Wort. Caion konnte schreiben, aber das war auch schon alles. Der Mann war nicht klug genug, um sich zwei Sätze zu merken. Wenn es eines Tages mehr Leute gab, die Lesen konnten, blieb für die Caions dieser Welt nur noch der Strick. Oder die Flasche… Varyn verbannte den Gedanken sofort. Keinen Alkohol mehr. Auch nicht im Kopf. Gerade dort nicht.
»Habt Ihr es jetzt?« fragte Varyn ungeduldig. Er konnte nicht viel länger knien bleiben. Seine Beine stachen vom Oberschenkel bis in die eingeschlafenen Füße. »Oder wollt Ihr es nochmals hören?«
»Wird nicht frech, Bursche!« knurrte Caion. »Du willst etwas von mir, also hältst du dich an meine Regeln. Und rühr dich nicht!«
Fast mußte Varyn lächeln. Ob das Caions Träume waren - einmal Hauptmann sein? Jemanden herumkommandieren dürfen? Aber er lächelte nicht. Es war anstrengend genug, die Zähne zusammenzubeißen. Varyn war ungeduldig. Das war nicht gut. Auf Ungeduld folgte oft Wut, blinde, unkontrollierbare Wut. Varyns Kopf hämmerte. »Bin ich noch nicht fertig?« fragte er.
»Fertig? Nein.« Wer hätte gedacht, daß Caion lachen konnte? »Das Wichtigste kommt erst noch. Zu welchem Engel schwörst du?«
»Vigilander, natürlich!« antwortete Varyn, ohne zu zögern - war das eine Falle, um ihn als Landesverräter zu brandmarken? Sollte er bei einem Feind schwören, und das schriftlich? - aber dann hörte er ein glucksendes Lachen hinter sich, und begriff, daß er nicht allein war mit Caion. Auch der Hauptmann war mit im Zelt - wie lange schon?
»Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte Mendrion, »daß Vigilander mit einem solchen Eid viel anzufangen weiß. Er hat mit dem Krieg im Moment genug zu tun, und wenn ich mir unser Königshaus so ansehe…« Er hustete. »Fahrt nur fort, Caion, fahrt nur fort.«
»Zu wem kann ich denn dann schwören?« fragte Varyn. Es gab zu viele Engel, und er hatte noch nie jemanden getroffen, der einen anderen verehrte als Vigilander.
»Nun«, sagte Caion, und Varyn betete, daß er sich kurz fassen möge - zu Vigilander, natürlich. »Das kommt ganz darauf an, was du mit diesem Eid zu bezwecken suchst. Geht es dir darum, einen klaren Kopf zu bewahren, bietet sich Korisander an, der Engel der Weisheit. Unsere diplomatischen Beziehungen zu Koristan sind jedoch im Moment ein wenig frostig geraten.«
»Weisheit klingt gut«, sagte Varyn schnell. Weisheit konnte man immer brauchen, und wenn er dann endlich - aber Caion redete weiter.
»Daher rate ich dir dringend davon ab, einen Eid auf Korisander zu schwören. Elysander bietet sich an, der Engel des Lichts.«
»Was hat Saufen mit Licht zu tun?« fragte Varyn. Wenn schon nicht zu Vigilander, wollte er doch nicht zu irgend einem Engel schwören, nur weil der gerade mit Doubladir in Frieden lebte!
»Eylsander ist auch der Engel der Heilkunst«, sagte Caion herablassend. »Wenn du aus Gründen der Gesundheit dem Trinken abschwörst, ist er eine gute Wahl für dich. Und dann -«
»Nein, in Ordnung, ich nehme Elysander!« Es gab acht Engel. Und sicher konnte man jeden, Vigilander ausgenommen, irgendwie mit diesem Eid in Verbindung bringen. Den Engel des Meeres, weil Alkohol flüssig war - den Engel des Waldes, weil man aus Holz die Fässer schlug… Bis Caion mit all denen fertig war, hatte Varyn Wurzeln geschlagen. »Ich schwöre zu Elysander«, sagte er laut, und als er dann die Feder kratzen hörte, wußte er, daß er die richtigen Worte zum richtigen Engel gefunden hatte. Er wartete, bis die Feder schwieg. »War es das jetzt?« fragte er dann.
»Noch nicht«, antwortete der Schreiber. »Eines fehlt noch - was soll mit dir geschehen, wenn du den Eid brichst?«
Fast hätte Varyn erstaunt die Augen aufgerissen, aber er ahnte, daß dann alles noch einmal von vorne begann. »Das - das kann ich mir aussuchen?« fragte er entgeistert. »Ich dachte, das entscheidet der Engel, wenn es passiert?«
»Es ist dein Eid«, sagte der Schreiber. »Im Guten wie im Schlechten - ob du nun dein Leben dranhängst oder dein Vermögen, du mußt selbst wissen, wie wichtig dir dieser Eid ist.«
Varyn fühlte, wie ein Lächeln seine Lippen kräuselte, erkonnte nichts dagegen tun. »Mein Leben«, sagte er leise. »Das hängt an diesem Eid, so oder so. Wenn ich den breche, saufe ich mich zu Tode. Dafür brauche ich keinen Engel.«
Der Schreiber seufzte. »Also - was willst du nun?«
Varyn überlegte. Schlimmer als der Tod - es mußte schlimmer als der Tod sein, damit es eines Engels würdig war. Aber was kam nach dem Tod, damit es schlimmer sein konnte… »Ich will«, sagte Varyn dann, »in den Nilomar fahren, wo es kein Licht gibt und kein Engel meiner Seele beistehen kann.« Noch während er sprach, wußte er, daß das kein guter Eid war, daß er den Nilomar zwar mehr fürchten mußte als den Tod - doch er fürchtete ihn eben nicht. Mehr noch - ein Teil von ihm war sogar neugierig auf den Abgrund. Varyn erinnerte sich an seinen Traum, während er sprach, und ihn schauderte. Welche Konsequenz auch immer - dieser Eid war egal. Es war egal, was Varyn schwor. In ihm war etwas - jemand - in ihm war ein Varyn, der den Abgrund suchte. Und der keine Ruhe lassen würde, bis er ihn gefunden hatte. Wenn nicht im Alkohol, dann auf einem anderen Weg. Und die Straße führte direkt in den Krieg…
»Ah, du zitterst«, sagte der Schreiber. »Das ist schön. Ein Eid, der einem jeden Trinker Angst machen sollte. Und du bereust ihn schon jetzt, wie ich sehe.« Die Feder folgte kratzend Varyns Worten. »Die Schlußformel kannst du mir nachsprechen: ‘Wenn ich diesen Eid breche -’«
»Wenn ich diesen Eid breche«, sagte Varyn.
»Und der Engel ist mein Zeuge -‚«
»Und der Engel ist mein Zeuge«, wiederholte Varyn.
»Und mein Wächter und mein Richter, so wahr und so lange ich lebe.«
»Und mein Wächter«, sagte Varyn. »und mein Richter, so wahr und so lange ich lebe.« Er fror. Er hatte Angst, nicht vor seinem Eid, sondern vor sich selbst. Er wartete. Wann der Schreiber mit ihm fertig war, konnte ihm fast egal sein. Aber er wartete.
»Du kannst jetzt aufstehen«, sagte der Schreiber irgendwann.
Varyn mußte sich vorsichtig aufrappeln, an der Tischkante festhalten - seine Knie waren eingeschlafen und knickten unter ihm weg, trugen ihn kaum, die Welt drehte sich ihm entgegen wie einem Betrunkenen. Es sollte das letzte Mal sein. So konnte er sich zumindest von dem Gefühl verabschieden. Er hatte es noch nie gemocht. »Jetzt muß ich noch ein Kreuz machen, nicht wahr?« fragte er leise. Von seinen eigenen Zeichen hatte er in der letzten Nacht zuviel gesehen, um ausgerechnet jetzt noch damit angeben zu müssen.
Aber Caion lachte nur kurz und schüttelte den Kopf. »Ein Kreuz mag dem König genügen, Junge. Einen Eid unterzeichnest du mit deinem Blut. Nimm deinen Dolch -«
»Ich hab keinen«, entgegnete Varyn. Kein Dolch. Noch nicht einmal ein eigenes Messer besaß er - zuviel Geld hatte er ausgegeben für Zeug wie Kreide oder Schnaps, und vielleicht war es ganz gut, daß er keines hatte, wenn ihm wieder die Lust auf den Tod kam. War es wirklich klug, nun ein Schwert haben zu wollen? »Leiht Ihr mir Eures?«
Wortlos reichte ihm der Schreiber ein kleines Messer. Nichts, was den Namen Dolch verdiente - der Mann benutzte es, um seine Feder zurechtzuschneiden, wenn die Spitze ausfranste. Varyn schnitt sich in den Finger und sah zu, wie das Blut herausquoll. Es tat nicht weh.
»Wieviel Blut brauche ich?« fragte er.
Caion lächelte kurz. »Genug für einen Fingerabdruck, mehr nicht. Blut ist Blut, und dein Finger zählt wie ein Siegel.« Er drehte Varyn das Pergament hin. So viele Zeichen für so wenige Worte - viel mehr Zeichen, als Varyn gebraucht hätte, darum dauerte es auch so lange… Varyn betrachtete die Zeichen, als wolle er sie lesen, aber was im Traum funktioniert hatte, hier ging es nicht. Ihm blieb nur das Wort des Schreibers, daß dies wirklich Varyns Schwur war und kein anderer - aber der Mann war ein Schreiber des Königs und mußte ehrlich sein. Und der Engel, zu dem Varyn geschworen hatte - auch er war ein Zeuge, vom Elomar aus, und würde Caion strafen, wenn dort etwas anderes stand… Wieder umfing diese seltsame Leichtigkeit Varyn, als er seinen blutigen Finger auf die Stelle drückte, die Caion ihm bedeutete. Was immer diese Zeichen auch bedeuteten - erst Varyns Blut machte sie zu etwas Endgültigem.
»Gut«, sagte Caion, während Varyn seinem Blut zusah, wie es trocknete und braun wurde. »Dann hätten wir das also hinter uns gebracht.« Sein Tonfall sagte ‘Endlich’.
»Und was geschieht jetzt damit?« fragte Varyn. Er wollte dieses Pergament haben, und sei es nur, um die Schriftzeichen zu begreifen.
»Du mußt den Eid bei dir tragen«, sagte Caion. »Und ich sage dir, geh vorsichtig damit um, du hast ja keine Ahnung, was Pergament kostet, und wenn du damit Schindluder treiben solltest, trifft dich die Rache des Hauptmanns noch vor den Engeln, das sage ich dir.«
Unwillkürlich zuckte Varyns Blick zum Zelteingang, dorthin, wo eben noch der Hauptmann stand, dort der war fort. Varyn wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sicher mußte Mendrion wieder draußen die Rekruten durch Feld brüllen. »Ich gebe gut darauf acht, versprochen«, sagte er. »Wenn ich Geld habe, zahl ich es dem Hauptmann zurück.« Wenn. Wenn war gut. Woher sollte Varyn Geld nehmen, mitten im Krieg, wenn er nicht mal Zeit zum Arbeiten hatte?
»Das solltest du wohl«, sagte Caion. »Dieses Pergament wacht nun über deinen Eid. Und wenn es braun wird und zu Staub zerfällt - dann heißt das, du hast deinen Eid gebrochen. Und dann weiß es auch Elysander, und du steckst in Schwierigkeiten. Dann gehst du in den Nilomar.« Der Schreiber streute ein wenig Sand auf das Pergament, blies ihn fort, rollte es zusammen und reichte es dann an Varyn. »Bei lebendigem Leibe«, sagte er.
»Bei lebendigem Leibe«, wiederholte Varyn. Die Schriftrolle war so leicht in seiner Hand… Varyn wollte sie erst in sein Hemd einnähen, um sie immer bei sich zu haben. Aber erst, wenn er gelernt hatte, sie zu lesen. »Ich danke Euch«, sagte er dann. »Euch Beiden. Vom Hauptmann hatte ich es ja gehofft, aber daß eines Tages ein Schreiber mir das Leben rettet -«
»Still jetzt!« sagte der Schreiber unwirsch. »Und verschwinde!«
Varyn nickte und verließ das Zelt. Vier Männer des Königs, und schon stand er in der Schuld von zweien. Wenn das so weiterging - nicht mehr lange, und er hatte auch noch eine Blutschuld dem Koch gegenüber. Am besten schnell. Varyn hatte Hunger, und er sehnte sich nach etwas richtigerem als Grütze.
Aber als er seine Schritte in Richtung des Küchenzeltes lenkte, kam die Müdigkeit zurück, bleiern und schwerer als der Hunger. Seine Muskeln schmerzten, sein Körper schrie nach Schlaf… Der Hauptmann hatte nicht davon gesprochen, daß Varyn an diesem Tag irgend eine Übung mitmachen sollte. Und wenn doch, konnte er ihn ja immer noch aufwecken.
Varyn kehrte zurück zu dem Lager, auf dem er aufgewacht war. Er wollte sich nur noch einen Moment lang hinlegen - und bevor Varyn auch nur nach seiner Decke greifen konnte, war er schon eingeschlafen.

Und dann war er wieder in seinem Tal. Was hieß wieder? Es war nicht wieder, es war immer. Die Soldaten waren nur ein Traum, einer von vielen, nicht besser, nicht schlechter, nicht wirklicher. Wirklich war nur das Tal, und der Berg, und der Kohlenstaub auf Varyns Haut. In Varyns Haar. In Varyns Mund - der Geschmack hatte ihm gefehlt, damals, in seinen Träumen… Und Varyn holte aus mit seiner Hacke und schmetterte sie gegen das Gestein, es riß in den Armen, in den Schultern, es war ein guter Schmerz, ein wirklicher Schmerz. Besser eine richtige Hacke führen als ein falsches Schwert.
An Varyns Seite arbeitete Edrik, ein jeder in seinem eigenen Takt. Edrik schlug langsam und gleichmäßig, ein Hieb, eine Pause, ein Hieb - vielleicht zu langsam nach Varyns Geschmack, aber beständig, wie ein ruhiges, gesundes Herz. Varyn dagegen schlug schneller, kräftiger, drei, vier Mal, Hieb, Hieb, Hieb, dann hielt er inner, atmete einmal durch, hieb weiter. Er sah sich nicht um, nach hinten, wo Noran auf den Knien herumrutschte und das Gestein auflas, ab und an schnaufte sie, doch sonst gab sie keine Geräusche von sich. So arbeiteten sie, einer neben dem anderen, einer mit dem anderen. Hier - Pause - Hieb - Pause. Und Hieb - Hieb - Hieb - Pause. Pause. Und Poch… Poch…
Varyn hielt inner. Er hörte ein Pochen. Hörten die anderen es nicht? Varyn lauschte. Ein Pochen. Er hörte in sich hinein - war das sein Herz? Aber es war nicht sein Herz. Es kam von außen. Es kam von hinter der Wand!
»Hört mal auf!« sagte Varyn und packte den Stiel von Edriks Hacke.
»Was ist los?« fragte Edrik unwirsch und drehte die Hacke beiseite. »Geht das schon wieder los mit dir?«
»Hört ihr das nicht?« fragte Varyn. Dann legte er einen Finger an die Lippen. Seine Geschwister blickten ihn an, verwirrt, verärgert - und dann hörten sie es auch. Norans Gesicht wurde bleich unter dem Dreck. Edriks Hand spannte sich mit weißen Knöcheln um den hölzernen Stiel. Hinter der Wand klopfte jemand. Etwas.
Es war dumpf und dröhnend - wie weit hinter der Wand, vermochte niemand zu sagen. Aber es ging nicht um das was. Es ging um das daß.
Varyn wollte Noran in den Arm nehmen, sie trösten, sich vielleicht selbst ein wenig an ihr festhalten - er hatte plötzlich Angst, seltsame, fremde Angst. Aber erst, als er die Kreidezeichen an der Wand hinter seiner Schwester bemerkte, überkam ihn nackte, blinde Furcht. »Wir… sind im Toten Mann«, sagte er tonlos.
Vielleicht wollte Noran etwas entgegnen. Vielleicht wollte Edrik etwas sagen. Sie kamen nicht dazu. Es war der Moment, als das Pochen zu einem Krachen wurde und jemand durch die Wand brach. Etwas.
Gesteinstrümmer reichten bis zur halben Höhe des Ganges. Dahinter war es schwarz. Und still. Kein Mensch war zu sehen. Varyn, Edrik und Noran starrten auf den Durchbruch, ohne sich zu rühren.
Dann fragte Varyn vorsichtig: »Ist da jemand?« - und wußte, wie dumm diese Frage war. Er wußte, da war jemand. Nur nicht, wer.
Hinter dem Durchbruch raschelte etwas. Ein paar Brocken rutschten hinunter und kullerten polternd zu Boden. Eine Antwort gab es nicht.
Edrik griff langsam, sehr langsam, nach der Laterne, die hinter ihm am Boden stand, als könne ihn etwas anfallen, wenn er sich zu schnell bewegte. Warum rannten sie nicht fort. Der sichere Ausgang war auf ihrer Seite des Ganges. Aber Varyn fühlte sich wie festgewachsen. Seine Glieder waren schwer und lahm. Und ebenso langsam fühlte er sich im Kopf.
Edrik hob die Laterne und leuchtete über den Schutt hinweg. Doch auch im Lichtkegel war kein Mensch zu sehen. Wieder raschelte es. Und dann hüpfte eine Elster auf die geborstenen Steine. Nur eine Elster. Sonst nichts.
Etwas knisterte in Varyns Kopf. Als müsse ihm das etwas sagen - als müsse er die Elster kennen. Aber er kannte sie nicht.
»Das ist ja nur ein Vogel!« sagte Edrik, als erkläre das den langen Gang, der hinter dem Durchbruch tief in den Berg hineinführte.
Noran kicherte - ein Geräusch, das man nur selten von ihr hörte, und nie bei der Arbeit. Der Vogel legte den Kopf schief und schien sie anzublicken. Dann senkte er den Schnabel, als wolle er nicken. Noran legte schnell eine Hand an ihre Lippen, und dann trat sie zwischen ihre Brüder, streckte die Hand aus und griff nach der Elster.
»Nicht!« wollte Varyn noch rufen. »Faß sie nicht an! Das ist -«
Aber da kraulte Noran der Elster schon den Kopf. Sie mochte Vögel schon immer. Früher hatte sie die Küken aufgesammelt, die aus dem Netz fielen. Aber sie starben immer, während die Kinder im Bergwerk waren…
Die Elster rührte sich nicht, als Noran sie berührte. Sie zog nur ein wenig den Kopf ein. Vielleicht hatte sie Angst - aber es durfte nicht sein, es konnte keine richtige Elster sein, nicht so, nicht hier - Varyn konnte immer noch keinen Finger regen. Und sein Schrei erstickte ihm im Hals.
Die Elster gab ein kleines Lachen von sich, oder zumindest klang es so. Dann hüpfte sie hoch und vorwärts, flatterte in Norans Gesicht und pickte nach ihren Haaren. Das Mädchen nahm schützend die Arme hoch, aber da war die Elster auch schon wieder fort, flatterte zurück auf die dunkle Seite des Ganges. Und als sie davonsprang, sah Varyn gerade noch, daß sie etwas Buntes, Glitzerndes in ihrem Schnabel trug. Und das war der Moment, als der Bann von ihm abfiel.
Er stürzte zu Noran, die bleich war und zitterte. »Noran! Was ist? Bis du verletzt?«
Noran starrte ihn aus großen dunklen Augen an wie einen Fremden. »Mein… Haarband«, murmelte sie. »Sie hat mir mein Haarband gestohlen.«
Varyn umarmte sie beruhigend. »Keine Angst, Große - ich hol’s dir wieder.«
Noran zitterte. Sicher hatte sie sich nur erschrocken, aber hier im Berg durfte man kein Risiko eingehen. Varyn schob sie sanft zu seinem großen Bruder hinüber. »Edrik, bring sie hier raus, ja?« Und setzte noch hinterher: »Und dich auch.« Edrik war doch manchmal etwas begriffsstutzig.
»Und was machst du?« fragte Edrik. Seine Stimme klang irgendwie… dumpf, fern. Varyns Ohren knisterten wieder.
»Ich?« sagte Varyn. »Ich folge der Elster.«
Und mit diesen Worten stieg er über den Geröllhaufen, der den toten Mann vom Unbekannten Land trennte, und machte sich auf den Weg in die Dunkelheit.
Varyn wußte nicht, warum er die Laterne bei Edrik stehen ließ. So konnte er nichts sehen als Schwärze. Aber so vieles, was in dieser Geschichte eigentlich keinen Sinn machte, fiel ihm erst jetzt auf, als er sich mit einer Hand an der Wand entlang tastete.
Was tat er hier? Warum gruben sie im Toten Mann, wo die Flöz erschöpft war und Lebensgefahr drohte? Und wo war Gaven? Sie arbeiteten doch sonst immer zu viert! Und wohin war das Licht verschwunden? Er konnte noch nicht so weit vom Durchbruch entfern sein, und doch war es hinter ihm so schwarz wie vor ihm - und das, wo Varyn doch sonst im Dunkeln sehen konnte ohne Lampe!
Plötzlich war es kalt. Oder es war Angst… Varyn drehte um und begann, zurückzutasten. Und erstarrte. Er spürte es.
Dann grollte der Berg. Es war wie in Varyns Träumen. Der Berg grollte, und dann brüllte er, und dann brach er zusammen.
Varyn hörte es, doch er sah nichts, und er fühlte nichts. Der Berg brach nicht zusammen, nicht über ihm. Aber da, wo es eben noch zum Toten Mann ging, war nun eine Wand, eine glatte, kalte Felswand. So, wie sie eigentlich am Ende des Toten Mannes sein sollte. Ein Toter Mann auf der Rückseite des Toten Mannes…
»Edrik!« rief Varyn, doch es gab noch nicht einmal ein Echo. »Noran!« Niemand antwortete. »Gaven!« rief Varyn. Doch das konnte er nicht einmal selbst hören. Als gäbe es diesen Namen gar nicht. »Wo seid ihr?«
Dann nickte Varyn langsam. Er verstand. Keine Fragen. Es gab ja auch keine Antworten. Nur den Gang, in dem er stand. An seinem Ende - unbekannt. Aber dort mußte Varyn hin. »Ich komme«, sagte er laut. Dann tastete er sich wieder durch das Dunkel. Jetzt gab es nur noch ihn, und die Elster.
Wie lange Varyn den finsteren Gang entlang wanderte, konnte er nicht sagen - er war schon zu weit gegangen, um jetzt noch seine Schritte zu zählen. Doch er merkte nach einer Weile, daß er immer besser vorankam. Nicht seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel, aber seine Hände und Füße. Zwar wagte er es nicht, die sichere Hand ganz von der Wand wegzunehmen, doch es reichte, seine Fingerspitzen sanft über das Gestein gleiten zu lassen. Und auch mit den Füßen mußte er nicht mehr mühsam vorwärtstasten - der Hall eines Schrittes verriet ihm den nächsten und Hindernisse in seinem Weg. Je länger Varyn in diesem Berg unterwegs war, desto vertrauter wurden sie sich. Varyn konnte den Berg atmen hören, und der Berg hörte ihn. Nur wieviel Berg noch über ihm lag, und wieviel vor ihm, wußte er nicht.
Lange führte der Weg geradeaus. Die Wand fühlte sich nicht mehr an wie behauen - zu ebenmäßig, zu glatt, als wäre der Stollen in den Stein geschmolzen. Dann aber veränderte sich der Gang, wurde niedriger, daß Varyn den Kopf einziehen mußte. Und er begann, aufwärts zu führen, erst leicht, dann steiler. Es war ein gutes Zeichen. Was bergauf ging, führte ins Freie.
Boden und Decke kamen sich näher und näher. Varyn mußte sich erst bücken, dann auf Hände und Knie gehen, und schließlich konnte er nur noch auf dem Bauch vorwärts robben. Was kam als nächstes? Wenn es jetzt noch schmaler wurde, dann paßte die Elster immer noch durch - aber Varyn konnte ebensogut versuchen, durch ein Kaninchenloch zu kriechen… Aber es konnte nicht mehr weit sein. Wirklich nicht. Varyn fühlte einen Luftzug, der ihm entgegenkam. Es roch nach Freiheit, nach Licht, nach Himmel.
Varyn kroch weiter, bergauf, bergauf, stieß sich Kopf und Schultern, schrammte sich Arme und Beine auf, doch es ging nicht mehr zurück - allein beim Versuch wäre Varyn steckengeblieben. Er konnte nur noch hoffen, und kriechen, bis er, endlich, ein Licht vor sich erblickte.
Es war klein und fern - als blicke man durch einen Kamin in den Himmel - und es war auch nicht hell genug, um Varyn zu blenden. Ein kleines Stück Zwielicht am Ende des Tunnels, und für einen kurzen Moment vermeinte Varyn eine schwarze Silhouette zu sehen - den Umriß einer Elster.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Varyn den Ausgang erreichte. Er mußte sich vorwärts kämpfen wie ein Regenwurm, und plötzlich fühlte er sich auch wie einer - und draußen wartete eine riesige Elster, um ihn sich zu schnappen und ihn zu fressen, sobald er seinen kleinen zuckenden Kopf ins Freie streckte. Plötzlich hatte Varyn mehr Angst davor, wieder herauszukommen, als davor, für immer in diesem Berg festzustecken. Es war kalt. Es lähmte ihn. Varyn kämpfte es nieder, wie er sich vorwärts kämpfte.
Und dann war er im Freien.
Varyn rutschte aus einem Loch, das im nächsten Moment fort war. Er überschlug sich mehrmals, kullerte einen felsigen Hang hinunter zusammen mit Geröll und Dreck, er rollte und rutschte, und lag still.
Es tat nicht weh, aber einen Moment lang war oben unten und unten oben und der Himmel aus Fels und der Boden auf Wolken. Varyn lag still und atmete durch. Und dann hörte er eine Stimme, und sie rief seinen Namen.
»Varyniel!«
Varyn rappelte sich auf. Er kannte diese Stimme - nur woher?
»Komm zu uns, Varyniel!«
Varyn blickte sich um. Wer rief ihn? War es die Elster? Er sah niemanden… Er befand sich in einem Tal, einem fremden Tal - ringsumgeben von fremden, hohen Bergen, die es ganz und gar einzuschließen schienen, ein Tal oder Ein- oder Ausgang. Ein Tal ohne Grün - hier schien es nichts zu geben als Steine und Steine. Große Steine, kleine Steine… Riefen ihn die Steine?
Vorsichtig tat Varyn ein paar Schritte. Die Steine unter seinen Füßen hielten still. Die Stimme schien von drei Felsenformationen zu kommen, die dicht beieinanderstanden und aussahen wie steinerne Säulen, schlank und groß wie Menschen.
»Varyniel!« Es war nicht eine Stimme. Es waren drei.
»Komm zu uns, Varyniel! Komm in die Steine von Sharaz!«
»Ich komme«, wollte Varyn rufen. »Und: Ich bin schon da.«
»Du träumst, Varyniel«, sagten die drei Stimmen. Drei Frauenstimmen, die klangen wie eine. »Komm in die Steine von Sharaz, wenn du wach bist.«
»Ich will kommen.« Diesmal konnte Varyn sprechen. »Weist mir den Weg!« Er träumte nur… träumte, daß er träumte?
Und das war der Moment, als
»Varyn! He, Varyn!«
ihn eine nur allzu vertraute Stimme zurückriß in die Welt der Lebenden, und der Wachen.

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