Gaven machte nicht allzu viele Fehler, als er von Zuhause fort
lief, aber sein größter war, daß er sich zu lange
damit Zeit ließ. Zu lange hieß in diesem Fall: Bis
Varyn weg war. Gaven hätte es ahnen müssen, aber nun war
es zu spät, um sich noch in den Hintern zu beißen.
Gaven verfluchte seinen festen Schlaf. Er wachte nur fast auf, als
Varyn das Haus verließ - warum nur fast? Warum stand er nicht
mit ihm auf, schnürte sein Bündel und schloß sich
den Soldaten an? Aber nein, nicht Gaven. Warum ausreißen,
wenn man auch ausschlafen konnte? Und so erinnerte sich Gaven nur
halb daran, etwas gebrummt zu haben und sich auf die andere Seite
gedreht. Und an Varyn, der ihm auf die Schulter klopfte und dabei
etwas sagte wie »Mach’s gut, Mittlerer«, oder
»Schlaf gut, Mittlerer«… Das zumindest
hätte Gaven sich merken sollen. Was für eine Idee, die
letzten Abschiedsworte seines Bruders zu vergessen! Aber nein,
nichts von alldem, Gaven schlief.
Und dann war es Morgen, und Gaven schlief, und Gaven schlief, bis
das Donnerwetter über ihn hereinbrach. Dabei fing es
eigentlich an wie jeder andere Morgen auch: Die Kohlenkinder wurden
wach, und Varyn war fort. Edrik war verkatert, und Harkon war
erkältet, und beides geschah nicht zum ersten Mal, und doch
wußten sie alle, daß es an diesem Tag anders war. Varyn
war forter als sonst. Gaven wußte es, noch bevor sie sahen,
was er alles mitgenommen hatte. Und doch sprang er aus dem Bett und
sagte schnell: »Ich laufe eben zum Toten Mann und hole den
Blödmann. Ihr braucht nicht auf mich warten mit dem
Frühstück.«
Er war so sauer, nicht auf Varyn dieses Mal, sondern auf sich
selbst.
Gaven hatte seine Hand schon am Türgriff, als ihn sein Vater
zurückriß und ihm eine Ohrfeige verpaßte.
»Du bleibst hier!« schrie er. Und dann begann das
Donnerwetter. Und nichts war mehr wie früher.
Varyn war weg. Weg für immer. Weg mit den Soldaten. Aber das
war nicht das Schlimme. Das Schlimme war, daß Gaven noch da
war, im Tal, im Bergwerk, am letzten Ort der Welt, wo er nicht
hinwollte. Gaven wußte, daß er auch davonlaufen
mußte, wollte, und würde, noch bevor er begriff,
daß sein Vater nun den ganzen Ärger an ihm auslassen
würde.
Gavens Vater rastete selten aus. Eigentlich nie. Er regte sich
schon mal auf, natürlich, er verprügelte Gaven ab und an.
Aber an diesem Tag brüllte er herum wie ein wilder Mann und
wollte sich nicht mehr beruhigen, und das allein war schon Grund
genug für Gaven, um bis ans Ende der Welt rennen zu
wollen.
»Du bleibst im Haus!« schrie der Vater. »Jeder
von euch! Wenn ihr den Krieg haben wollt, den könnt ihr haben,
von mir aus sofort! Aber ihr
bleibt hier!«
Gaven schob sich vorsichtig an Noran heran. »Na
prachtvoll«, flüsterte er ihr zu. »Kaum ist der
eine Verrückte aus dem Haus, dreht der nächste
durch.«
Aber Noran antwortete nicht. Statt dessen fing sich Gaven noch ein
paar Maulschellen von seinem Vater ein. Gaven biß sich auf
die Zunge und zog die Nase hoch. Und dann schrie er zurück.
»Du kannst mich hier nicht anketten! Und Noran und die
Kleinen auch nicht.« Edrik ließ er raus. Der war alt
und Manns genug, sich selbst durchzusetzen. »Spätestens
wenn die Arbeit losgeht, mußt du uns aus dem Haus lassen.
Weil dir doch nichts wichtiger ist als die Grube! Und du regst dich
auch nur auf, weil dir Varyns Arbeit fehlt, nicht wegen Varyn
selbst. Weil er es gewagt hat, sich gegen dich durchzusetzen, und
ich mach das auch, jawohl!«
Die Strafe folgte auf dem Fuße - aber wie man es nahm, konnte
man es auch als Belohnung ansehen: Gaven mußte an diesem Tag
nicht arbeiten. Das war gut - aber nicht, daß Gaven statt
dessen im Hühnerstall eingesperrt wurde. Dort sollte er sitzen
bis zum Abend.
Das war keine nette Sache - nicht für Gaven, aber vor allem
nicht für die armen Hühner, die wurden nämlich
solange ausgesperrt. Gaven konnte hören, wie sie draußen
gackerten und flatterten und scharrten - sicher nur im Gras, aber
Gaven stellte sich vor, wiesie an der Tür kratzten und
versuchten hereinzukommen. Aber das ging nicht, denn der Vater
hatte ja den Riegel vorgelegt, und wo kein Fuchs hereinkam,
schaffte das auch kein Huhn. Als Rache würden sie ihre Eier
sonstwo hinlegen, ins Moos oder in die Büsche, aber damit
hatte Gaven nichts mehr zu schaffen. Eiersammeln war
Mädchenarbeit.
Im Hühnerstall war es warm und dämmrig. Das Stroh war
weich, und Gaven kam die Idee, daß er noch ein wenig schlafen
konnte, ungestört, so lange er wollte, und niemand schnarchte,
und niemand trat ihn… Aber Gaven konnte nicht mehr schlafen.
Vielleicht lag es am Gestank. Der Hühnermist stach in Gavens
Nase. Hier also lagen die Eier, bevor sie gegessen wurden? Gaven
schüttelte sich bei dem Gedanken. So schnell würde er
wohl keine Eier mehr essen!
Es juckte ihn. Gaven hatte das Gefühl, selbst schon über
und über mit Hühnerdreck bedeckt zu sein. Damit war an
Schlaf endgültig nicht mehr zu denken. Und dabei war es noch
nicht einmal Mittag! Durch einen Ritz zwischen den Brettern
beobachtete Gaven, wie die Sonne wanderte. Dann stellte er sich
vor, wie weit Varyn und die Soldaten wohl schon gekommen sein
mochten. Dann ärgerte er sich. Dann bekam er Hunger und wollte
schon im Stroh nach versteckten Eiern suchen - noch wußte ja
niemand, daß Gaven beschlossen hatte, keine Eier mehr zu
essen… Aber schon bei der Vorstellung wurde ihm übel.
Wenn die Eier hinten aus dem Huhn herauskamen - Gaven wollte nicht
über so etwas nachdenken. Dann doch lieber Fluchtpläne
schmieden. Er hatte keine Lust, im Stall zu hocken, bis es
draußen dunkel wurde.
Er hörte seine Mutter draußen im Hof. »Komm komm
komm komm komm.« Sie fütterte die Hühner. Es klang
dumm. Man sollte meinen, daß Hühner zumindest ihr Futter
fanden, ohne daß man selbst gleich anfangen mußte zu
gackern. »Komm komm komm!«
Gaven schüttelte den Kopf. Wenn seine Mutter den Bergleuten
das Essen brachte - sie aßen direkt im Stollen, dann
mußten sie die Arbeit nicht lange unterbrechen und machten
auch nicht alles schmutzig - verlor sie nie viele Worte. Auch beim
Abendessen redete sie nicht viel, sondern ließ ihren Mann und
die Kinder erzählen. Vielleicht war es dann kein Wunder,
daß sie mit den Hühnern so viel redete? Gaven hätte
sich für so etwas geschämt, selbst wenn ihn niemand
hören konnte!
Aber jetzt war das anders - es war heiß, viel zu heiß,
und stickig. Gaven hatte Hunger, Gaven hatte Durst, und seine
Mutter dachte nicht an ihn, sondern nur an die Hühner: Das
schrie nach einer Lösung, über die Gaven sonst nur
gelacht hätte. Wenn seine Mutter dachte, daß ein Huhn im
Stall zurückgeblieben war? Ein armes, verlorenes, hungriges
Huhn? Gaven begann zu gackern. Zumindest versuchte er es.
»Bork bork bork!« rief er, so jämmerlich er
konnte. »Bork bork bork!”
Wenn seine Mutter dann die Tür öffnete, um nach dem Huhn
zu sehen, konnte Gaven die Gelegenheit nutzen und entwischen. Und
bis die Eltern dann merkten, daß Gaven nicht mehr im Stall
saß, war er schon lange nicht mehr im Tal…
Aber Gaven mochte Gackern, soviel er wollte, seine Mutter fiel
nicht darauf herein. Irgendwann wurde es ihm zu dumm, und er gab
auf. Döste noch ein wenig, versuchte zu überlegen, wie
man wohl von innen an den Riegel kommen konnte, und gab auch das
wieder auf - die Luft machte ihn ganz dusselig. Wenn er nur eine
Hacke gehabt hätte, dann wäre das jetzt ein Leichtes,
herauszukommen… Vielleicht sollte er ja eine Hacke
mitnehmen, wenn er abhaute? Und dann döste er wieder.
Später hörte er wieder seine Mutter im Hof. Sie stand an
der Pumpe. Gaven hörte das atemlose Quietschen, wie ein
geschundener Esel, und dann hörte er das Wasser fließen.
Und sein Durst hörte es auch. In dem Moment hielt Gaven es
nicht mehr aus. Er sprang hoch - davon wurde ihm schwindelig - und
begann mit den Fäusten gegen die Brettertür zu
hämmern.
»Mutter!« schrie er, als wäre er einer von den
Kleinen, noch jünger als Alsa. »Bitte! Ich will Wasser!
Ich verdurste! Mutter! Hilfe!«
Die Pumpe schwieg. Und kurz darauf wurde der Riegel zu Gavens
Gefängnis aufgeschoben.
Gaven konnte nicht sagen, wann er sich zuletzt so über den
Anblick seiner Muttergefreut hatte - wenn sie ihnen mittags das
Essen auf die Arbeit brachte, hatte er normalerweise nur Augen
für den Korb mit dem Futter. Jetzt hatte sie ihm nichts zu
Trinken mitgebracht, aber sie sagte: »Dann komm solange
heraus.«
Gaven grinste. »Du kannst mich ja wieder einschließen,
ehe Vater von der Arbeit kommt.« Er wollte nicht wirklich in
den Stall zurück, aber sie sollte auch nicht gleich Ärger
seinetwegen bekommen.
Sie antwortete nicht, aber sie half ihm aus dem Stroh. Jetzt erst
merkte Gaven, daß ihm die Knie zitterten. Draußen war
es viel frischer, aber auch viel kälter. Gaven war noch nicht
einmal richtig angezogen. Aber vor allem hatte er Durst. Als seine
Mutter ihm einen Krug mit Wasser reichte, schnappte er zu und trank
so hastig, daß ihm das Wasser über das Gesicht lief und
sein Magen grummelte. Wenigstens ging es ihm danach besser.
Zumindest gut genug, um zu merken, daß mit seiner Mutter
etwas nicht stimmte.
»Danke«, sagte er. »Ich hätte das nicht mehr
lange ausgehalten bei dem Gestank da drin.« Und obwohl es
vieles gab, das er lieber getan hätte, bot er an: »Wenn
du magst, nehme ich mir den Besen und mache da drinnen mal richtig
sauber.« Mädchenarbeit hin oder her, bevor Gaven
ausriß, wollte er noch irgend etwas besonderes machen. Etwas,
wofür man sich an ihn erinnern sollte.
»Laß gut sein«, erwiderte seine Mutter. »Du
kannst mir bei der Wäsche helfen, wenn du magst.«
Gaven zuckte die Schultern. »Warum nicht?« Sie konnte
in dem Moment alles von ihm verlangen. Solange er nicht gleich
wieder ins Hühnerhaus mußte, und sich erst einmal
waschen durfte - »Wenn ich dir helfen kann, gerne.«
Sie sah blaß aus. War sie sonst auch so blaß?
Vielleicht hatte sie geweint. Ihre Augen waren gerötet, dabei
war sie doch sonst die einzige in der Familie ohne rote Augen! Man
bekam sie vom Kohlenstaub, oder eben vom Weinen. Wegen Varyn? Gaven
wollte nicht nachfragen. Er wollte nicht, daß sie etwas sagte
wie ‚Das verstehst du nicht’ oder ‚Dafür
bist du zu klein’. Das Leben mit Varyn hatte ihm
abgewöhnt, Fragen zu stellen.
Doch als Gaven ihr dann half, die kohlenschwarzen Hemden in der
Lauge einzuweichen - und ihm der Schweiß über Gesicht
lief, daß er sich wünschte, doch lieber wieder Abraum zu
schleppen - faßte er sich doch ein Herz und fragte
vorsichtig: »Geht’s dir auch gut?« Er
wußte, daß das eine bescheuerte Frage war -
natürlich ging es ihm nicht gut, nachdem Varyn davongelaufen
war, und er wollte es gar nicht genau wissen, wo er doch auch
davonlaufen würde und nicht wollte, daß sie sich
deswegen grämte.
Sie seufzte, doch dann sprach sie nicht von Varyn, oder davon,
daß ihr Mann sich so aufregte und Gaven gleich in den Stall
sperrte, sondern sagte: »Ach, ich mußte gerade die
ganze Zeit an eine gute Freundin denken.«
»Freundin?« fragte Gaven irritiert. Man sollte meinen,
daß sie heute genug andere Sorgen hatte. Mädchen waren
seltsam, Frauen auch, und Mütter bildeten da keine
Ausnahme.
Seine Mutter nickte. »Meine Freundin. Varna. Als ich so alt
war wie du, war sie meine Busenfreundin.« Der Name kam Gaven
bekannt vor - er hatte schon einmal von dieser Varna gehört,
aber er konnte sie nicht richtig unterbringen. Deswegen konnte sie
ruhig erzählen.
»Was ist mir ihr? War sie aus dem Tal?«
»Ja, sie ist hier aufgewachsen, wie ich. Wir waren gleich
alt, wir hatten beide nur Brüder - und sie war selbst ein
rechter Wildfang, mutig und forsch, hat sich von niemandem etwas
sagen lassen - ich habe oft Ärger ihretwegen bekommen, aber
das war sie wert. Sie hat einmal das Schwert ihres Vaters gestohlen
und wollte in den Krieg ziehen - aber sie ist nicht weit gekommen,
das Heimweh hat sie zurückgetrieben, und der Hunger - wie war
ja damals auch gerade erst elf Jahre alt, und der Krieg hätte
sie nicht haben wollen.«
Jetzt mußte Gaven doch lachen. Dann war es ja kein Wunder,
daß seine Mutter heute an damals denken mußte! Er
versuchte sich Noran mit einem Schwert vorzustellen - nicht,
daß sie jetzt auch noch ausreißen wollte! »Hat
ihr Vater sie bestraft?« fragte er.
Auch seine Mutter lachte, auf eine traurige Art fröhlich.
»Varna? Ach, ihr konnte niemand lange böse sein. Es
haben sich nur alle gefreut, daß sie wieder da war - und
darüber völlig vergessen, sie zu bestrafen. Aber ihr
großer Bruder hat das Schwert genommen und vergraben, damit
sie nicht noch mal auf so dumme Gedanken kommt. Dafür hat sein
Vater ihn tüchtig verprügelt, aber wo er das Schwert
vergraben hat, wollte er trotzdem nicht verraten, und wir haben es
niemals wiedergefunden.«
Gaven pfiff durch die Zähne und biß sich sofort wieder
auf die Zunge. Hieß das, irgendwo hier im Tal war ein Schwert
vergraben und wartete nur darauf, daß er es fand? Aber jetzt
war es zu spät, Gaven hatte keine Zeit mehr zum Buddeln; er
würde bei nächster Gelegenheit das Weite suchen.
Vielleicht ahnte seine Mutter das? Vielleicht erzählte sie ihm
darum von ihrer Kindheit? »Und was ist dann aus Varna
geworden?« fragte er.
»Wir blieben Freundinnen, auch nachdem wir groß waren
und ich heiratete. Varna wollte nicht heiraten, zumindest keinen
Mann aus dem Dorf - sie sagte, sie könne sich nicht
vorstellen, Frau eines Mannes zu werden, den sie schon als Kind
verprügelt hatte. Und dazu kam natürlich auch, daß
sie nicht die beste Partie war und nur eine kleine Mitgift erwarten
konnte. Sie half mir mit meinem Haushalt, als ich mit Edrik
schwanger war, aber man merkte, daß solche Arbeit sie nicht
glücklich machte. Sie sprach auch immer öfter davon, das
Tal zu verlassen und in die Welt hinauszuziehen, Abenteuer zu
erleben und sich vielleicht noch einen aufregenden Mann zu suchen -
ich wollte sie nicht gerne gehen lassen, aber ich hätte ihr
Glück dabei gewünscht, denn das hatte sie verdient. Aber
dann…«
An dieser Stelle brach Gavens Mutter ab, und Gaven dachte schon,
daß die Geschichte damit zuende war, aber alles, was vorbei
war, war dieser Teil der Arbeit, die Wäsche konnte jetzt
allein vor sich hin quellen, als nächstes war das Haus dran,
das Brotbacken und die Vorbereitung des Abendessens. Und Gaven
stapfte brav mit, immer bereit mitanzufassen, solange er nicht
gleich in der Hühnerhaus zurückmußte, und hoffte,
daß die Geschichte doch noch irgendein sinnvolles Ende nahm -
am besten nicht damit, daß Varna heiratete und Kinder bekam,
sondern das Schwert wieder ausgrub, das Tal verließ und eine
große Kriegerin wurde. Das war zwar eigentlich nicht das
richtige für eine Frau, aber bei einer, die sowieso niemand
heiraten wollte, konnte er das doch irgendwie verstehen. Und
daß Varna nicht mehr im Tal lebte, wußte er. Sonst
hätte Gaven sie ja gekannt.
»Und was war dann?« fragte er. Solange seine Mutter
Brotlaibe formte, konnte er ohnehin nicht viel tun als
zuhören. Er betrachtete zufrieden seine blitzsauberen Finger.
Ganz glänzende weiße Fingernägel - vielleicht
sollte er öfter bei der Wäsche helfen? Aber wenn der
ganze Dreck jetzt in der Wäsche saß… Nein.
Schließlich hatte sich Gaven vorher ja auch schon
gewaschen.
»Varna hatte Glück, auf ihre Weise«, erzählte
seine Mutter weiter. »Sie mußte das Tal nicht
verlassen, um einen Mann zu finden, der ihr gefiel. Er kam in das
Tal - plötzlich war er da, von einem Tag auf den anderen,
packte im Bergwerk mit an und verdrehte Varna den Kopf. Und nicht
nur Varna, was das anging - alle Mädchen, selbst die, die
gerade erst laufen gelernt hatten, waren irgendwie in ihn verliebt.
Er hieß Dyrk - wahrscheinlich war er eigentlich nur ein
Landstreicher, aber er konnte arbeiten, und er war unkompliziert,
jeder hatte ihn gern. Aber von allen Frauen und Mädchen hier
im Dorf hatte er nur Augen für Varna. Sie war auch die
einzige, die ihm das Wasser reichen konnte. Und jeder von uns
wußte, daß die beiden füreinander geschaffen
waren. Dyrk würde mit dem Herbst weiterziehen, Wanderarbeiter
blieben nie mehr als ein paar Monate. Varna wollte mit ihm gehen,
selbst wenn ihr Bruder das nicht erlaubte - ihr Vater war ja
inzwischen gestorben. Es tat mir weh, sie gehen zu lassen, aber das
war das Leben, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte, wild
und voller Abenteuer.«
Jetzt war genau die richtige Gelegenheit, ihr zu erklären,
daß auch Gaven immer von einem Leben voller Abenteuer
geträumt hatte - aber er ließ es sein und nickte nur.
»Und dann hat Varna das Tal mit ihm verlassen?«
Seine Mutter schnaubte und klatschte das Brot mit solcher Gewalt
auf den Tisch, wie Gaven es noch nie bei ihr gesehen hatte.
»Nein«, sagte sie. »Der Lump hat sie sitzenlassen
und sich aus dem Staub gemacht, von einem Tag auf den anderen, so
wie er gekommen war. So ist das mit diesen Wanderarbeitern - sie
können fest anpacken, aber sie sind nicht
verläßlich. Darum hat dein Vater niemals wieder welche
eingestellt, und wenn es bedeutete, daß er selbst Tag und
Nacht arbeiten mußte.«
Oder seine Kinder, aber das sagte Gaven nicht. Und auch nicht,
daß es bald wieder an der Zeit war, Wanderarbeiter zu
beschäftigen, nämlich, wenn alle Kinder fort waren.
Plötzlich begriff er, daß ihm Varyn fehlte, schon jetzt.
Varyn hätte sich lieber selbst in den Stall sperren lassen,
als zulassen, daß das mit Gaven passierte… »Und
was wurde dann aus Varna? Ist sie ihm gefolgt?«
Jetzt schüttelte sie wieder den Kopf. »Das wollte sie
vielleicht, aber erst einmal merkte sie, daß sie ein Kind von
ihm erwartete. Und sie war klug genug, um nicht in so einem Zustand
in die Welt hinauszuziehen. So beschloß sie, ihr Kind hier im
Tal zur Welt zu bringen. Wir redeten ihr gut zu, nun doch zu
heiraten - der Schmied hätte sie genommen, seine erste Frau
war gestorben - doch sie wollte nicht. Sie wollte lieber ihr Kind
in Schande großziehen, als einen Mann heiraten, der sie nicht
liebte. Es war dieser halsstarrige Mut, für den ich sie
bewunderte. Sie war traurig, weil Dyrk sie sitzengelassen hatte,
aber sie freute sich auf das Kind, auf ihre Weise - sie war
zuversichtlich, daß alles für sie gut enden würde.
Sie war gesund und kräftig, niemand von uns sorgte sich um sie
- vielleicht darum, ob sie eine gute Mutter sein würde, aber
nicht, daß -« Gavens Mutter brach ab.
Gaven biß sich auf die Lippe. Vor Wut - nicht auf diesen
Schuft Dyrk, sondern auf sich selbst. Daß er die Geschichte
nicht schon längst erkannt hatte. »Sie ist gestorben,
nicht wahr?«
Seine Mutter nickte. »Am Tag der Geburt. Es ging so
plötzlich - eben noch hielt sie den Kleinen im Arm, und im
nächsten Moment schloß sie die Augen und war tot. Sie
ist einfach gestorben. An der Geburt verblutet. Wir haben den
Kleinen behalten - ich hatte noch Milch von Edrik, ich habe ihn
gestillt, als wäre es mein eigenes Kind…«
Gaven schnaubte. »Und darum habt ihr ihn Varyn genannt? Weil
seine Mutter Varna hieß?« Er war wütend - wirklich
wütend, weil seine Eltern ihm diese Geschichte nicht
längst früher erzählt hatten. Oder weil sie Varyn
die Geschichte nicht längst früher erzählt
hatten… Wenn sie fragten, warum Varyn anders aussah als die
anderen, dann kamen Antworten wie ‚Euer Vater hatte eine
Schwester, die ihm Kindbett gestorben ist, und der Vater war nicht
aus dem Tal, sondern ein Fremder…’ Nichts davon,
daß Varyns Mutter ein Schwert geklaut hatte, daß Gavens
Vater dieses Schwert verbuddelt hatte, daß ihre Mütter
die besten Freundinnen waren - nichts davon. Nur, daß sie
Varyn als ihr Kind aufgenommen hatten… Aber was für ein
mieser Tausch war das? Eine Schwester, eine Freundin verlieren, und
dafür etwas bekommen wie Varyn? Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid.«
Seine Mutter lächelte, und weinte gleichzeitig. Mit dem
Ärmel rieb sie sich die Tränen aus den Augen. »Es
geht schon. Aber jetzt ist es so, als hätte ich sie noch
einmal verloren… Ich - ich wußte, daß er eines
Tages geht, aber ich wußte nicht, wie es sein
würde.« Sie sah sehr traurig aus, wie sie da stand, die
Hände voll Mehl. Gaven wußte nicht, was er jetzt tun
oder sagen sollte. Seine Schwestern hätte er jetzt vielleicht
umarmt - aber er konnte nicht einfach seine Mutter umarmen!
»Es ist bestimmt das beste so«, hörte er sich
sagen. »Seine Mutter wollte immer raus aus dem Tal - ist doch
schön, daß er es jetzt gewagt hat.«
Es schmeckte schal. Er wußte, warum. Er hätte sich auch
gerne verabschiedet. Und seine Mutter hatte jetzt schon zum zweiten
Mal keinen Abschied nehmen können. Und gleichzeitig schmeckte
es bitter - als weine sie auch jetzt nicht um Varyn, sondern nur um
dessen Mutter. Und dann würde sie auch um Varyn nicht
weinen.
»Ich hoffe, es ist das Beste«, sagte sie. »Ich
hoffe es so sehr.«
Gaven nickte. Er wollte fast schon sagen ‘Ich gehe und hole
ihn zurück’ - aber er hatte keine Lust zu lügen. Er
wollte auch nicht sagen ‘Vielleicht holt ihn ja das Heimweh
zurück, so wie bei Varna damals’ - das wäre eine
noch größere Lüge. So sagte er nur: »Es wird
gleich Abend. Ich setze mich lieber wieder in den Hühnerstall,
ehe Vater wiederkommt.«
Da half es auch nichts, daß seine Mutter ihm versicherte,
daß alles wieder gut war und sein Vater nicht so nachtragend
- Gaven konnte genau so stur sein wie Varyn, wenn es drauf ankam.
Sie mußte die Tür ja nicht mehr verriegeln, wenn sie es
nicht wollte…
Aber es ging Gaven nicht ums Prinzip, und nicht um eine Strafe, die
er wirklich nicht verdient hatte. Es ging ihm darum, schon mal ein
wenig zu schlafen, oder zumindest zu dösen, im Stall, der mit
der sinkenden Sonne wieder abgekühlt war. Gaven lächelte,
als er die Tür hinter sich zuzog. »Gute Nacht, Mutter.
Mach es gut!«
Sie lächelte nur zurück. Vielleicht verstand sie ihn
nicht. Vielleicht war das ihre Art, Abschied zu nehmen. In der
Nacht lief Gaven davon.
Gavens größter Fehler
war also sein Zögern. An und für sich war das schon
schlimm genug - aber leider war das nicht sein einziger Fehler. Und
ob es wirklich der
Gröfßte war, auch darüber ließ sich streiten.
Da war zum Beispiel auch die Tatsache , daß Gaven nichts
mitgenommen hatte. Nichts. Kein Geld. Nichts zu essen. Nicht mal
sein Nachthemd - man mußte schon sehr dumm sein, um sein
eigenes Nachthemd zu vergessen! Varyn würde ihn noch
auslachen…
Varyn. Schon kam der nächste Fehler. Gaven war einfach zu
langsam. Wie sollte er da die Soldaten einholen? Den ganzen Tag
rennen? Da kannte Gaven sich besser. Es mußte irgendwie
anders gehen. Mit einem Trick. Es mußte immer einen Trick
geben. Und iwe fand man einen Trick? Ganz einfach: Man dachte
nach.
In der Nacht, in der Gaven davonlief, tat er keinen Schritt aus dem
Dorf hinaus, und erst recht keinen aus dem Tal. Statt dessen
versteckte er sich in Bordaks Heuschober. Wo auch immer seine
Eltern ihn suchen mochten - hier nicht. Und sie würden ihn
suchen. Wußte Gaven. Hoffte Gaven. Er sah schon seinen Vater
ein Pferd borgen und in die Richtung galoppieren, in der die
Soldaten verschwunden waren. Gaven konnte sich vielleicht ein paar
Stunden lang schneller bewegen als ein Wanderer, aber niemals
schneller als ein Pferd. Erst am nächsten Abend konnte Gaven
es wagen, sein Versteck zu verlassen.
Es war kein schöner Tag. Das einzig Gute, was man darüber
sagen konnte, war, daß Gaven schon im Hühnerhaus hatte
üben können. Jetzt lag er bäuchlings im Heu,
rücklings auf dem Heu, wo immer er am wenigsten auffiel, wenn
sich jemand dem Heuschober näherte. Der alte Bordak hatte
besseres zu tun, als sein eigenes Futterheu zu durchsuchen. Und
solange Gaven nicht niesen mußte, hatte er nichts zu
befürchten. Heu roch doch deutlich besser als
Hühner…
Aber was diesen Tag schlimm machte, war die Langweile, und die
Schuldgefühle, und das Heimweh. Es war gut, daß er
nichts mitgenommen hatte, vor allem kein Geld - er wäre glatt
heimgelaufen, um es wieder zurückzubringen. Innerhalb dieses
Tages verwandelte sich Gaven von einem abenteuerlustigen jungen
Krieger in einen kleinen Jungen, der eigentlich ganz gern im Tal
lebte. All diese vertrauten Geräusche - das Lärmen der
Schmiede, das Dröhnen der Eisengießerei, die
allgegenwärtige Hitze des großen Feuers, die das Dorf
zum wärmsten von ganz Doubladir machte, und weit entfernt,
wenn er genau hinhörte, das Hämmern und Hauen im Berg -
all das gehörte dazu, und Gaven gehörte dazu. Varyn, der
war der Fremde, es war gut, daß er fort war - aber Gaven
brauchte seine Familie… Während er im Heu lag und
versuchte, den Ruf der großen Welt einzufangen, hörte er
nichts als das Rufen seines Tals.
Ein wenig traurig war es auch - daß es dem Tal egal war, ob
Gaven da war oder verschwunden. Aber zumindest nahm es Gaven
langsam die Schuldgefühle. Die kamen hier auch ohne ihn aus -
jetzt musste nur noch Gaven zeigen, daß er auch ohne seine
Familie konnte. Sein Magen knurrte. Es war schwer, solche Gedanken
zu tragen, wenn man nichts im Bauch hatte. Es war an der Zeit, sich
etwas zu essen zu besorgen.
Gaven paßte einen unbeobachteten Moment ab, wo wirklich
niemand in der Nähe war, kein Mensch, kein Hund, kein Schwein,
und flitzte hinüber zum Bauernhaus. Es war gefährlich,
aber nicht so, daß Gaven keine Erfahrung damit hatte. Wenn es
eine Sache gab, die Gaven besser konnte als Varyn, war das Klauen.
Nicht weiter schwer - Varyn klaute natürlich nie; aber er
aß ja auch viel zu wenig und kam mit dem aus, was die Mutter
kochte. Gaven dagegen klaute ab und an ein paar Äpfel, Eier,
oder Würste, was gerade zu bekommen war. Bislang hatte ihn
noch niemand damit erwischt - und das, was Gaven klaute,
vermißte auch niemand, und wer sollte sich aufregen wegen
eines Würstchens? Gaven mußte nur bei der Arbeit sagen,
daß er mal mußte, und dann losrennen bis zum
nächstbesten Haus, sich etwas Eßbares schnappen und im
Zurückrennen runterschlingen - der Preis dafür war,
daß Gaven dann bis zum Abend einhalten mußte, denn er
konnte schlecht zweimal am Tag gehen.
Jetzt hatte Gaven ein wenig Pech. Die Äpfel waren noch nicht
reif, nach Eiern war ihm immer noch nicht, und Würstchen
suchte man bei Bordak vergeblich. Am Ende lag Gaven wieder auf dem
Heuboden und nagte übellaunig an einer Futterrübe. Sie
war so groß und zu unhandlich - wer auch immer behauptete,
Gaven habe ein zu großes Mundwerk, diese Rübe strafte
ihn Lügen. Aber es war eine gute Übung: Wenn er erst mal
auf der Landstraße unterwegs war, mußte er auch nehmen,
was er kriegen konnte.
Auf der Landstraße… Da waren sie wieder, Gavens
Bauchschmerzen. Eigentlich wollte er ja gar nicht weglaufen.
Eigentlich war es doch immer schön, so wie es war.
Früher. Mit Varyn. Ohne Varyn war es anders, fehlte etwas -
und was fehlte, war klar. Varyn fehlte. Varyn, der eigentlich in
das Tal gehörte so wie Gaven, und wie das Tal zu ihm.
Als es Abend wurde, schlief Gaven auf Bordaks Heuboden. Und als der
Morgen dämmerte, verließ Gaven die Scheune,
verließ Gaven das Tal. Aber er ging nicht, um niemals
wiederzukommen.
Er ging, um Varyn zurückzuholen.
Der erste Tag auf der
Landstraße war ereignislos und doch der sannendste, den Gaven
je erlebt hatte. Das Gefühl von Sand und Geröll unter den
Füßen - die frische, wilde Luft - der Schatten der Berge und der
Büsche - alles war neu. Alles war großartig.
Selbst der Hunger war großartig, und die wehen
Füße - die Sonne machte all das wett. Die Sonne schien
und schien - soviel Sonne hatte Gaven in seinem ganzen Leben noch
nie gesehen. Gaven zog sich die Joppe aus und band sie sich um die
Hüften und schnürte sein Hemd auf. Im Sommer, wenn es
heiß war im Berg, arbeitete er oft ohne Hemd und war am Abend
ganz verschwitzt und verjuckt. Jetzt war es eher kalt, aber es war
toll, die Sonne und den Wind auf seiner Brust zu fühlen und in
seinem Haar - Gaven war glücklich. Das war eine Freiheit, die
jeder Mensch einmal im Leben kosten mußte. Nur die
Vögel, die über die Gipfel der Berge flogen, und die
Fische, die durch den Fluß ins Meer schwammen, konnten freier
sein.
Wie weit er an diesem Tag kam, konnte Gaven nicht sagen - er
wußte nicht, wie weit die Soldaten kamen, oder ein Reiter,
oder ein Gaven. Es war der erste Tag, und es fühlte sich weit
an ab dem Moment, da Gaven den Rauch aus dem Tal nicht mehr riechen
konnte und das Hämmern nicht mehr hören. Und es
mußte weit sein - fanden zumindest Gavens Füße,
die immer müder wurden, je weiter sie und der Tag
voranschritten.
Irgendwann - es mußte Nachmittag sein - rastete Gaven unter
einem Baum, kaute auf einer der mitgebrachten Rüben herum und
zog die Schuhe aus, um die Füße zu erholen. Danach
schmerzten sie aber erst recht und wollten gar nicht mehr in die
Schuhe zurück. Gaven band sie zusammen, hing sie sich
über die Schultern und ging weiter, im Gras zwischen Weg und
Fluß. Jetzt kam er langsamer voran, trat in Schnecken und
Steine und Disteln - er machte noch eine Pause, ließ die
Füße ins Wasser hängen, kaltes Wasser, und diese
Gefühl war die ganzen Schmerzen wert. Am liebsten wäre
Gaven da sitzen geblieben bis zum Abend, die Füße im
Wasser und die Sonne im Haar, aber er zwang sich, wieder
aufzustehen, und er zwang seine Füße in die Schuhe
zurück und wanderte weiter.
Für die Nacht baute sich Gaven ein gemütliches Lager am
Ufer. Zwar hatte er keine Decke, aber er riß und brach sich
Zweige von einem Busch ab - die taten es auch. Und die
zusammengerollte Decke tat ihren Dienst als Kopfkissen. So legte
sich Gaven nieder zu seiner ersten Nacht in Freiheit.
Es wurde zugleich seine längste Nacht. Es war kalt. Und dann
wurde es noch kälter. Und dann wurde es feutcht - nicht
naß, aber feucht, und dafür überall. Gaven stand
mehrmals auf und bettete sich um, aber es war überall gleich.
Auch auf der anderen Seite des Weges. Nur der Weg selbst war
trocken, aber Gaven wußte es besser, als sich mitten auf den
Weg zu legen - wenn da ein Fuhrwerk durchkam, gab es Gaven
hinterher zweimal… Mit der Nässe mußte er also
leben. Seine Sachen waren ohnehin schon durch und durch klamm. Aber
dann kamen die Ameisen.
Als der Morgen graute, wußte Gaven, warum man das Grauen
nannte. Am liebsten hätte er kehrtgemacht und wäre wieder
heimgelaufen, aber dann war er wieder nur der faule Sohn, der
nichts fertigbrachte, und Varyn war immer noch unterwegs - es ging
nicht. Gaven hatte den Moment zum Umkehren schon verstreichen
lassen. Jetzt mußte er weitergehen, und hoffen, daß er
irgendwo etwas zu essen auftreiben konnte, und eine Decke, und Geld
- alles, was er in seiner Dummheit daheimgelassen hatte. Oder ein
Pferd - warum hatte Gaven nicht dem Wirt das Pferd gestohlen, oder
dem Schmied - oder auch nur seinem Vater das Pony? Damit ihn
niemand Dieb nannte und schlecht über seine Eltern redete? So
nannten sie ihn zumindest nur Dummkopf. Was für eine
Auswahl!
Gaven wanderte weiter, mit knurrendem Magen, auf wehen
Füßen, die Beine schwerer als die Körbe, die er
früher immer schleppen mußte. Aber er versuchte sich zu
überlisten. Er sang alle Lieder, die er kannte. Es waren nicht
viele, aber das war egal - Gaven konnte schließlich auch
nicht singen.
Gegen Mittag - das hieß, Gaven hoffte, daß es Mittag
war, aber tatsächlich dauerte es dann noch viel, viel
länger bis zum Abend - kaute er seine letzte Rübe, und
das Knurren seines Magens war lauter als das Knurpsen in seinem
Mund. Und danach war er genauso hungrig wie vorher. Diese
Rüben waren Schweinefraß, aber wie Schweine davon fett
werden sollten, wußte Gaven nicht zu sagen.
Später beschloß er, einen Fisch zu fangen - das konnte
ja so schwer sein. Es gab Fische im Fluß, Fische konnte man
essen, so einfach ging das. Und wenn ein Fisch seinen Kopf aus dem
Wasser streckte, um nach Luft zu schnappen, konnte Gaven sich ihn
schnappen. Und so hockte Gaven sich an einer trockenen Stelle am
Ufer nieder und wartete. Und wartete. Tatsächlich: Irgendwann
kam ein Fisch, streckte den Kopf ein Stückweit raus und packte
sich ein Insekt, das auf dem Wasser herumlief. Aber Gaven
hätte ebenfalls über das Wasser laufen müssen, um
diesen Fisch zu erwischen - das war einfach zu weit weg. Oder
Gavens Arme zu kurz. Oder beides. Gaven fluchte. Und wartete
weiter.
Dem nächsten Fisch versuchte er einen Stein an den Kopf zu
schmeißen. Einen toten Fisch konnte man auch mit einem Stock
aus dem Wasser fischen. Und wenn Gaven eines gut konnte, dann war
das Steine schmeißen. Wer nur eine Abraumhalde zum Spielen
hatte und sonst nichts, der lernte, wirklich gut Steine zu
schmeißen. Gaven warf natürlich nicht so gut wie Varyn.
Aber gut genug für einen Fisch. Nachdem er erst einmal einen
passenden Stein gefunden hatte, war es ein leichtes Spiel, den
Fischkopf im Moment des Auftauchens zu erwischen. Patsch! Und dann
verschwanden Stein und Fisch im Fluß und waren fort. Gaven
heulte vor Wut und Hunger.
»He, Junge!«
Gaven rieb sich eilig mit der Hand übers Gesicht, während
er sich aufrappelte. Auf der Straße kam ein Fuhrwerk. Der
Führer winkte.
»Alles in Ordnung da unten?«
Er kam aus dem Dorf! Gaven lief ihm entgegen. »He Ho!«
rief er zurück. »Kann ich ein Stück
mitfahren?«
Der Fuhrmann lachte. »Sicher, Junge. Spring rauf. Auf dich
halbe Portion kommt es auch nicht mehr an.« Er selbst ging zu
Fuß, und daß, obwohl sein Gespann mit zwei
kräftigen stämmigen Pferden unterwegs war: Dort lagen die
Eisenbarren, die aus der Gießerei kamen. Früher hatte
Gaven gedacht, daß alle Kohle für die Gießerei war
und alles Eisen für die Schmiede, bis am Ende aus einem Haufen
Kohle ein Schwert geworden war. Aber in Wirklichkeit verkauften
Askir und Vernon ihr Eisen auch an andere Leute. Im ganzen Land
schmiedete man Schwerter und Hufeisen aus Stahl, der mit Gavens
Kohle hergestellt worden war. Und das gab Gaven natürlich das
Recht, auf diesem Fuhrwerk mitzufahren. Zwar ging das so langsam,
daß man zu Fuß fast schneller war - der Fuhrmann
mußte ja auch noch mithalten können - aber oben auf dem
Wagen konnte Gaven sich ausruhen, und das war viel wert.
»Danke«, sagte Gaven und kletterte auf den Kutschbock.
»Mir sind die Füße schon ganz lahm
geworden.« In dem Moment knurrte sein Magen laut und
vernehmlich. Gaven sagte nichts dazu, aber er hoffte, daß der
Fuhrmann es hörte.
»Wo willst du denn hin?« fragte der Mann.
»Den Fluß runter«,sagte Gaven vergnügt.
»Ich suche die Soldaten.«
»Soldaten?« Der Fuhrmann lachte. »Du hast es aber
eilig, Junge! Glaubst du, die wollen dich haben?«
»Weiß nicht«, antwortete Gaven. »Wenn
nicht, gehe ich eben wieder heim. Einfach mal aus dem Tal
raus.« Er mußte den Fuhrmann nicht belügen, das
war gut. Denn was konnte ihm der Mann schon tun? Umkehren und ihn
heimbringen? Sicher nicht. Hier war der Weg zu schmal für zwei
Fuhrwerke, geschweige denn um das Fuhrwerk zu wenden. Darum
mußte es kein Geheimnis sein, daß Gaven ein
Ausreißer war.
Und es schien den Mann auch nicht zu stören. »Ich kann
dich bis zur Barke in Fordal mitnehmen, das sind wir in zwei Tagen.
Aber bis dahin geht’s in Ordnung.«
Gaven nickte und streckte sich. Es war schön auf dem
Kutschbock, direkt vor sich die gleichmäßig hin- und
herschwankenden Pferdehintern - vielleicht durfte er ja auch
zwischendurch mal reiten, der Mann schien ja sehr gutmütig.
Und ruhig - das war sowieso eine tolle Arbeit, den ganzen Tag mit
Pferden arbeiten und dabei durch die Welt kommen! Man mußte
kaum etwas machen als geradeausgehen, die Pferde kannten den Weg
ja, und es gab auch nur den einen… Ab und an mal He oder Ho rufen, damit die Gäule
nicht stehenblieben, und sich ansonsten die Sonne aufs Haupt
scheinen lassen - wer wollte da überhaupt noch Soldat
werden?
Nur die Schuhe zwackten noch - aber mit kurzem Seitenblick auf den
Fuhrmann löste Gaven die Schnürsenkel, und als der Mann
nichts sagte, zog Gaven die Schuhe ganz aus und knotete sie an der
Reling fest, damit sie nicht verlorengingen. Gaven seufzte
zufrieden, schloß die Augen und lehnte sich zurück.
Jetzt noch ein wenig dösen - und dabei den Hunger
vergessen… Sein Magen knurrte.
»Hunger?« fragte der Fuhrmann. »Kannst eine
Brezel haben.«
Gaven nickte ungläubig. Wie nett war dieser Mann denn noch?
»Oh - ah - gern!« stammelte er. »Danke.«
Die Brezel war ein paar Tage alt, steinhart, und doch das
kostbarste Stück Essen seit langem.
»Kannst mir später zur Hand gehen«, sagte der
Fuhrmann und schmunzelte in seinen buschigen Bart hinein.
»Dann haben wir beide was davon, daß ich dich mitnehme.
Aber wenn die Pferde mir zu sehr schnaufen, gehst du hier unten bei
mir.«
Wieder nickte Gaven. Wenn er dafür mal die Führleine
halten durfte, war das ja keine Arbeit, sondern auch ein
großes Abenteuer. »Mache ich gern!« sagte er -
was für ein Gedanke, freiwillig arbeiten!
»Kannst mich Hennes nennen«, sagte der Fuhrmann.
»Und ich bin Gaven«, sagte Gaven. Fast war er
ärgerlich, daß er mit dem Abhauen nicht noch gewartet
hatte, bis Hennes dort losfuhr - dann hätte er sich soviel
Fußmarsch ersparen können… Aber besser jetzt als
nie. Er mußte das Glück packen, wo es war. Es konnten
unmöglich alle Leute so nett sein wie der Fuhrmann. Und selbst
wenn die Fahrt jetzt nur zwei Tage ging: Gaven beschloß,
daß es die beiden schönsten Tage seines Lebens werden
sollten.
Nach zwei Tagen war Gaven nicht
mehr ganz so sicher, ob ein Fuhrmann wirklich das schönste
Leben von allen hatte. Es konnte sehr kalt sein auf dem Kutschbock
und anstrengend, nebenher zu gehen; und man war eigentlich immer
naß, denn wenn es regnete, hatte man keinen Unterschlupf, und
noch bevor man trocken werden konnte, gab es schon den
nächsten Regen. Den Eisenbarren machte das nicht viel, und
Hennes schien sich unter seinem großen Schlapphut auch nicht
daran zu stören. Aber Gaven war naß von oben bis unten,
und jeder Baum, jeder Strauch am Wegrand, unter dem er sich sonst
hätte zusammenkauern können, schien ihn auszulachen.
Und es war langweilig. Nicht für Gaven, nicht für zwei
Tage, aber für ein Leben. Die Pferde waren keine gute
Unterhaltung, die Eisenbarren erst recht nicht. Kein Wunder,
daß Hennes froh war, auch mal einen Jungen dabeizuhaben! Er
brauchte keine großen Worte, aber er sprach mit soviel
Wärme von seinen Kindern, seiner Frau, seinen alten Eltern,
daß Gaven beinahe Heimweh bekam, nicht nach seiner Familie,
aber nach der von Hennes. Doch wenn Hennes’ Kinder ihren
Vater nur im Winter zu Gesicht bekamen, dann sollte auch Gaven das
für ein paar Wochen oder ein Jahr überstehen
können.
Es gab auch viel Schönes unterwegs - die Leine halten
dürfen oder die schweren Kaltblüter zum Fluß
führen, damit sie saufen konnten - alles war schön, wenn
dabei Pferde vorkamen. Daß ihn vor wenigen Tagen noch ein
Pferd fast totgetreten hatte, daran dachte Gaven nicht mehr, oder
zumindest nicht mehr mit Angst. Pferde waren eben großartige
Tiere.
Es war auch spannend, abends unter dem Fuhrwerk zu schlafen wie in
einer Höhle, mit einer Lederplane, die den Wind abhielt, und
einem Schlafsack, der zwar roch wie das hintere Ende einer Sau,
aber doch warm und trocken war.
Und doch - als sie nach zwei Tagen den Fährhafen von Fordal
erreichten, war Gaven doch froh, daß dieser Teil der Reise
vorüber war. Denn was danach kam, sollte noch viel besser und
abenteuerlicher werden: Gaven hatte beschlossen, per Schiff
weiterzufahren. Schiffe waren fast noch großartiger als
Pferde - schon allein, weil Gaven noch nie eines gesehen hatte.
Außer ein paar kleinen Ruderbooten gab es bei ihm im Tal
nichts Schiffähnliches. Eigentlich war es schon seltsam: Der
Fluß war ja auch schon daheim mehr als nur ein
kümmerlicher Bach, breit genug für ein Schiff allemal,
und ganz schön schnell - aber das, sagte Hennes, war auch der
Grund dafür, daß es keine Schiffe gab. Der Fluß
war einfach zu schnell, und zu flach. Gaven verstand nicht, wieso
der Fluß zu flach sein sollte, wenn man doch darin ertrinken
konnte - aber es sollte ihm Recht sein. Dann mußten sie eben
Erz und Eisen auf dem letzten Wegstück mit Fuhrwerken
transportieren. Das Wichtigste war eben die Kohle.
»Und was machst du dann?« fragte Gaven. »Wenn das
Eisen auf dem Schiff ist, meine ich. Fährst du dann nach
Hause?«
Hennes lachte. »Schön wär’s. Aber die Pferde
und ich können ein paar Tage verschnaufen. Dann kommt die
nächste Ladung Erz. Und dann geht es wieder nach
Courblaka.«
»Courblaka?« Gaven brauchte einen Moment, um zu
begreifen, daß damit das Dorf gemeint war. Keiner dort
benutzte diesen Namen, aber natürlich gab es ihn. »Dann
kannst du…« Er mußte schlucken. »Dann
kannst du meinen Eltern sagen, daß es mir gutgeht«,
sagte er. Fast hätte er gesagt ‘Mich wieder
mitnehmen’.
»Kann ich machen«, antwortete Hennes gleichmütig.
»Wenn du mir nachher beim Abladen hilfst, heißt
das.« Er grinste.
»In Ordnung«, sagte Gaven. Eisenbarren konnten auch
nicht schlimmer zu schleppen sein als Geröll. »Aber das
ist ganz schön harte Arbeit. Da müßte ich
eigentlich noch ein bißchen mehr dafür
bekommen.«
»Du willst Geld?« Was hatte Hennes erwartet? Ganz dumm
war Gaven schließlich auch nicht!
»Am liebsten ja«, sagte Gaven. Er wollte auch nicht
gleich gierig sein! »Ich muß mir meine Brezeln doch ab
jetzt selbst kaufen. Und ich bin stärker, als ich
aussehe.«
»Hast ja Recht.« Hennes klopfte ihm auf die Schulter.
»Hast dir sicher ein paar Groschen verdient. Will ja auch
deinen Eltern nicht sagen, daß ich dich habe verhungern
lassen. Aber erwarte nicht zuviel - Fuhrleute gehören nicht
zum reichen Volk.«
»Ich will ja auch nicht reich werden«, sagte Gaven
vergnügt. »Ich werde nur meinen großen Bruder
zurückholen. Und das kannst du denen auch ruhig
sagen.«
Die Arbeit, die dann folgte, war hart genug, daß Gaven ohne
weiteres eine ganze Mark hätte verlangen können: Sie
luden die Eisenbarren ab und schleppten sie auf das Schiff. Gaven
versuchte, zwei Blöcke auf einmal zu tragen, aber das ging
nicht. Eher fielen ihm beide Arme aus. Dafür lief er dann eben
ein paarmal öfter. Hier gab es keinen Varyn, mit dem man ihn
vergleichen konnte. Hier nannte ihn niemand Faulpelz, und Gaven
wollte, daß das auch so blieb.
Denn eine Sache wußte Gaven: Er würde von hier ab mit
dem Schiff weiterfahren. Der einzige, der das noch nicht
wußte, war der Fährmann. Und den zu überzeugen,
daß er jetzt einen Passagier hatte, war noch schwerer, als
die Eisenbarren auf den langen Kahn zu schleppen. Gaven konnte
nicht damit rechnen, daß die ganze Welt so nett war wie
Hennes.
»Ich kann fest anpacken«, sagte er.
»Ehrlich.« Er versuchte zu grinsen, während ihm
der Schweiß übers Gesicht lief. Wenn der Fährmann
das nicht schon während Gavens Eisenschlepperei gemerkt hatte,
konnte ihn auch nichts mehr überzeugen.
»Hm«, sagte der Fährmann. »Du bist ne halbe
Portion, der Rest kann mir egal sein. Den Fluß stört es
nicht, ob du mit an Bord bist oder nicht.« Er nickte Hennes
zu. »Ich geb auf ihn acht. Und wenn er mir zuviel redet,
schmeiß ich ihn ins Wasser.«
»Ich weiß«, sagte Hennes. »Kenn dich
doch.«
Gaven gluckste. Daß das so schnell gehen konnte! Und nun
stand einer wilden Bootsfahrt nichts mehr im Wege. Der Fluß
war schnell - Gaven wußte, wie schnell ein Rindenboot
davongetragen wurde: So schnell konnte er nicht rennen, zumindest
nicht lange. Das würde ein Ersatz sein für das nette,
aber langsame Wegstück mit Hennes! Jetzt gab es den
Fluß, wildes Wasser, reißende Strömung… und
ein dickes Pferd? Gaven rieb sich die Augen, aber es stimmte: Der
Kahn hatte nicht nur keine Segel und sah ganz anders aus als alle
Schiffe, die sich Gaven immer ausgemalt hatte - er wurde auch noch
von einem Pferd gezogen, das am Ufer langlief. Oder sollte man
sagen: Langtrottete? Gaven seufzte. Da ging sie hin, seine wilde
Bootsfahrt! Die nächsten Tage sollten also genauso langsam
sein wie die letzten.
Und die Soldaten, und mit ihnen Varyn, waren sicher schon
längst beim König angekommen…
Die nächsten Tage gingen dann
tatsächlich langweiliger dahin als die letzten. Wo Hennes
schon kein großer Redner war, erschien er neben dem
Fährmann regelrecht geschwätzig. Kaum mehr als zwei Worte
verlor der Fährmann am Tag. Und er ließ Gaven auch
nichts machen - nicht ans Ruder, nicht an die Stake, nicht den Kahn
vom Ufer wegstoßen, wenn er zu nahe drankam, nicht mit der
Peitsche knallen, noch nicht mal das Pferd durfte Gaven versorgen.
Der Fährmann tat einfach so, als wäre er allein an Bord.
Und was zu Essen bekam Gaven auch nur, wenn er es hinter dem
Rücken des Mannes aus dessen Tasche klaute. Der Fährmann
war ein Trinker, so einer zählte kaum seinen Zwieback nach.
Aber das war auch schon das einzig Gute, was Gaven über ihn
sagen konnte. Er langweilte sich und vermißte Hennes.
Nun gut, es ging schon schneller als zu Fuß. Der Fluß
schleppte mehr als das Pferd, und sitzen war angenehmer als
Wandern. Aber trotzdem dacht Gaven doch immer daran, einfach den
langen Satz an Land zu machen. Der Fährmann würde wohl
nichts davon merken… Ob er es wohl mitbekam, wenn Gaven ihm
das Pferd klaute? Gaven lachte leise bei der Vorstellung. Aber auch
solche Ideen machten die Reise mit dem Kahn nicht wirklich
interessanter.
Mit halbgeschlossenen Augen beobachtete Gaven das Ufer. Vielleicht
gab es dort mal etwas zu sehen - graue Berge, grüne Berge,
damit mußte auch einmal Schluß sein. Die Eisenbarren
hatten noch einen weiten Weg vor sich, sie reisten in eine Stadt,
die Car Irgendwas hieß, aber Gaven hatte immer weniger Lust,
sie dorthin zu begleiten.
Als er die Zelte sah, sprang er auf. Ein Dutzend grauer Zelte auf
einer Wiese - das konnten, sollten, mußten die Soldaten
sein!
»Hüpf nicht rum!« brummte der Fährmann.
»Sonst gehst du hier gleich achtkantig über
Bord!«
Er hatte keinen Grund, sich aufzuregen. Der Kahn schwankte kaum, er
war dafür viel zu schwer beladen. Eine Handvoll Wasser
schwappte rein - mehr nicht. Und das trocknete schnell wieder. Und
überhaupt -
»Ich bin sowieso weg«, antwortete Gaven munter.
»Hier wollte ich hin.«
»Hum«, sagte der Fährmann und zuckte die
Schultern. »Dann gut.« Aber er kam natürlich nicht
auf die Idee, das Boot näher ans Ufer zu bringen. Gaven
mußte springen. Er holte tief Luft, rief ein paar Engel an -
ohne Namen: Je mehr sich angesprochen fühlten, desto besser -
ging in die Knie, und sprang. Anlauf nehmen ging ja leider nicht.
Ob beten genauso half? Gaven schloß zur Sicherheit die Augen
- wenn er gleich in den Fluß viel, war es allemal besser,
nicht auch noch gleich das Wasser reinzubekommen… Aber Gaven
fiel nicht in den Fluß. Wahrscheinlich, weil er keinen
Fuß vom Boot bekam.
Der Fährmann hielt ihn an der Schulter fest. »Warte,
Junge.« Vielleicht war das ein Schmunzeln, aber dafür
fehlten dem Mann schon zu viele Zähne. »Sei kein
Blödmann. Gleich kommt ein Steg.«
Gaven biß sich auf die Lippe. Fast hätte er so was
gesagt wie ‘Was meinst du wohl, wie weit ich springen
kann?’, aber er verkniff es sich. Besser, der Fährmann
sparte sich seine Nettigkeit bis zum Schluß auf, als gar
nichts davon zu zeigen. Darum sagte Gaven dann doch nur:
»Oh… Danke.«
Und als hinter einer leichten Flußbiegen tatsächlich ein
hölzerner Anlegesteg auftauchte, mußte Gaven nur noch
einen kleinen Satz machen und stand trockenen Fußes an Land.
Er winkte dem Pferd und dem weiterziehenden Kahn hinterher - mehr
den Eisenbarren als dem Mann, aber was sollte es, beide winkten
nicht zurück - und dann, endlich, konnte er sich umsehen, wo
er da überhaupt gelandet war.
Ein Dorf an einem Fluß in einem Tal - man konnte fast meinen,
Gaven sei wieder daheim angekommen. Nur, daß dieses Dorf noch
kleiner war, nicht die große weite Welt, von der Gaven
vielleicht einmal geträumt hatte. Aber darum ging es auch
nicht mehr. Die Zelte wiederfinden, bei den Zelten Varyn
wiederfinden, und ihn dazu bringen, wieder mit nach Hause zu kommen
- das war alles. Das war auch genug. Und vielleicht, wo Gaven
gerade hier war, noch ein paar Würste klauen.
Schließlich hatten sie noch einen weiten Rückweg vor
sich…
Gaven fing an zu rennen, nicht, weil er es eilig hatte, nicht, weil
er den Vorbesitzer der Würste fürchtete, sondern einfach
so. Es war schön, sich wieder zu bewegen. Die Tage auf dem
Kahn hatten ihn steif in den Knien werden lassen - kein Wunder,
daß der Fährmann so dick war. Gaven rannte quer
über eine Schafweide, sprang über Steine, und er war
fröhlich und ein wenig atemlos, als er die Zelte vor sich
liegen sah. Die Soldaten. Es mußten die Soldaten sein. Und
sie waren es natürlich.
Die ersten Männer, denen Gaven begegnete, würdigten ihn
keines Blickes. Sie schnauften an ihm vorbei, ein Rudel von zwanzig
Burschen oder mehr, offenbar damit beschäftigt, im Kreis rund
um das Lager zu rennen. Gaven sollte es recht sein. Wenn es aufs
Rennen ankam - das konnte er auch. Aber jetzt hatte er besseres zu
tun, als hinterher zu laufen. Aber jetzt hatte er Besseres zu tun.
Erst mal Varyn finden. Und daß der nicht in dieser Gruppe
sein konnte, war klar. Varyn würde immer vorneweg laufen. Und
wenn der mal hinterher lief, sah das nur so aus - dann hatte er
eben schon fast eine Runde Vorsprung.
Gaven schlich in das Lager. Es war besser, sich erst mal
unauffällig umzuschauen. Das Lager sah schon ziemlich
groß aus - das hieß, in den anderen Dörfern gab es
keinen so klugen Mann wie seinen Vater. Das machte Gaven stolz, und
auch ein wenig traurig vor Heimweh.
»Was lungerst du hier rum? Mach dich zurück zu deiner
Gruppe!«
Gaven zuckte zusammen. »Äh, ja, ich…«,
stammelte er und sah sich suchend um - von wo kam diese Stimme? Er
sah niemanden. Vielleicht aus einem der Zelte?
»Ja, du! Tu nicht so unschuldig!«
Richtig, das war ein Zelt, das mit ihm sprach. Gaven ging
nachsehen. Wenn das jemand wichtiges war, konnte der ihm sagen, wo
Varyn steckte. Und wenn er nichts wichtiges war, brauchte er sich
auch nicht so aufspielen.
»Was gibt’s denn?« fragte er und steckte den Kopf
durch den Zelteingang. Halb rechnete er schon mit seinem Freund,
dem Hauptmann - aber das war nur einer von seinen Männern.
Älterer Kerl mit schwarzem Bart. Konnte nicht so wichtig
sein.
Der Mann kniff die Augen zusammen. »Warte mal, Junge - komm
mal her!«
Gaven gehorchte mit etwas mulmigem Gefühl.
»Ja…«
»Du gehörst nicht zur Truppe.«
»Stimmt«, sagte Gaven und nickte erleichtert.
»Ich bin nur hier, um meinen Bruder abzuholen.«
Vielleicht war es nicht das Klügste, was er sagen konnte, aber
Gaven hatte in diesem Moment sehr wenig Lust, ein Soldat zu
werden.
»Und wie bist du hier reingekommen?«
Jetzt schüttelte Gaven verwirrt den Kopf und deutete auf den
Zelteingang. »Aber Ihr habt mich doch gerade selbst
reingewunken!«
Der Mann packte ihn beim Arm. »Ins Lager, Junge - ins
Lager.«
Gaven schnaubte. »Bin einfach reinspaziert«, sagte er
leichthin. »Niemand da, der mich aufgehalten
hätte.«Um Gaven Angst zu machen, mußte man ihn
schon härter anpacken.
»Das wird dem Hauptmann nicht gefallen«, sagte der Mann
kopfschüttelnd. »Und du auch nicht. Man kann nicht
einfach ins königliche Lager schleichen.«
»Ich bin nicht geschlichen!« versuchte Gaven sich noch
zu rechtfertigen, aber da wurde er schon aus dem Zelt gezogen.
»Ich sehe doch nicht aus wie ein Schnüffler.«
»Wie du aussiehst oder nicht, hat der Hauptmann zu
entscheiden. Kannst froh sein, wenn du nicht gleich vors
Kriegsgericht gestellt wirst.«
Das meinte er nicht ernst, nie und nimmer. Er wollte Gaven nur
Angst einjagen - und ein klein wenig gelang ihm das auch. Aebr der
Hauptmann kannte Gaven ja. Der würde ihn nicht gleich vor
Gericht stellen…
Der Hauptmann stand am Rande eines Feldes und sah einer Gruppe von
Burschen zu, die mit Stangen gegeneinander kämpften.Ab und an
schüttelte er den Kopf, aber er sagte nicht viel. Er sah
gelangweilt aus. Varyn war nirgends zu sehen. Mit in die
Hüften gestemmten Händen drehte sich der Hauptmann zu
ihnen um.
»Was gibt’s, Bakonyn?«
Der Schwarzbärtige schon Gaven nach vorn. »Hier, der hat
im Lager rumgelungert. Keiner von unseren. Wolltest du keine Wachen
aufstellen?«
Der Hauptmann schnaubte. »Was soll ich machen?
Fünfhundert Mann nehmen und Seite an Seite ums Lager rum
aufstellen, Ringelpietz mit Anfassen? Die haben doch keine Ahnung,
worauf sich achten müssen.« So leichthin er das auch
sagte, vergnügt sah er dabei nicht aus. »Und was ist das
jetzt für ein Junge?«
»Einer, der hier nichts zu suchen hat.«
»Und was soll ich dann mit ihm?« fragte der Hauptmann
unwirsch. »Verpaß ihm eine Tracht Prügel und
schmeiß ihn raus.«
In diesem Moment witterte Gaven seine Chance. »Dann komme ich
wieder!« rief er schnell. »Ich bin schon so oft
verhauen worden, das macht mir doch nichts aus.«
Der Hauptmann stutzte, und dann beugte er sich zu Gaven hinunter.
»Warte mal…«, sagte er langsam. »Warte
mal!« Er packte Gaven bei der Schulter. »Dich kenne ich
doch!«
Gaven strahlte. »Das stimmt! Das war -«
»Maulhalten! Hier rede ich!« schnauzte der Hauptmann
ihn an.
Gaven biß sich auf die Lippe. Immerhin konnte sich der
Hauptmann an ihn noch erinnern. Und er sah auch nicht so
ärgerlich aus, wie er wohl klingen wollte, als er seinen
Schwarzbärtigen angrunzte: »Tu mir einen Gefallen,
Bakonyn, ja? Nimm mir die Idioten hier für einen Moment ab,
während ich diesem Rotzbengel die Ohren abreiße.«
Um direkt vor Ort damit anfangen zu können, packte er Gaven
beim Ohr und zog ihn daran weg.
»Aua!« rief Gaven. »Aua, das brauche ich
noch!«Es tat wirklich weh.
Der Hauptmann lachte vergnügt. »Ach, so ein großes
Ohr wie deines muß das aushalten können.«
Und dann nahm er ihn mit in sein Zelt. Das allein war schon alles
Ohrenziehen wert - welcher andere Junge konnte schon von sich
sagen, mal im Zelt eines echten königlichen Hauptmanns gewesen
zu sein? Zugegeben, es war nur ein kleines Zelt, mit nicht viel
mehr darin als einer Kiste und einem Feldbett, aber immerhin!
»Gut. Setz dich.« Der Hauptmann deutete auf die Kiste,
und Gaven gehorchte. »Du bist doch der Junge, der mein Pferd
stehlen wollte, nicht wahr?«
Gaven nickte. Sein Ohr brannte, und er rieb es zwischen zwei
Fingern. Der nächste, der das versuchte, sollte Gavens anderes
Ohr nehmen, dann waren sie wenigstens wieder gleich groß.
»So«, sagte der Hauptmann. »Paß mal auf.
Wenn du gerade fandest, das hat wehgetan - was willst du dann im
Krieg? Wo Männer andere Männer totschlagen,
aufspießen, erschießen? Sag mir das!«
Gaven schüttelte den Kopf. »Will ich doch gar
nicht.«
»Ach nein? Und was machst du dann hier? Bist du nicht von
Zuhause fortgelaufen, um ein großartiges Leben als Soldat zu
führen?«
»Nö«, sagte Gaven. Es machte Spaß, die
Verwirrung im Gesicht des Hauptmanns zu sehen. »Nö, bin
ich nicht.«
Der Hauptmann seufzte und sah fast ein wenig erleichtert aus.
»Gut. Eine Sorge weniger. Aber was willst du dann?«
»Ich will meinen Bruder sehen«, sagte Gaven. Er war zu
schlau, um zu sagen ‘Ich will meinen Bruder heimholen’
- kein Hauptmann würde sich seine Soldaten so ohne weiteres
wegnehmen lassen. Aber Sehen - Grüße von der Familie
Ausrichten - das konnte ihm wohl keiner verbieten!
»Deinen Bruder?« Der Hauptmann zwinkerte. »Du
bist doch nicht etwa -«
»Er heißt Varyn«, sagte Gaven. Und wunderte sich
nicht wirklich, als der Hauptmann zu grinsen anfing.
»Bruder ist gut! Mir sagte er noch, er ist ein Waisenknabe
und ganz allein!«
»Ist er auch«, sagte Gaven. »Lange Geschichte. Er
ist trotzdem mein Bruder. Kann ich ihn sehen?«
Der Hauptmann lächelte. »Nur sehen? Du haust ab und
treibst dich tagelang auf der Landstraße herum, nur um deinen
Bruder kurz zu sehen? Soll ich das glauben? Oder soll ich glauben,
daß du ihn wieder mit mitnehmen willst? Hm?«
»Hm«, sagte Gaven. Konnte er den Hauptmann
anlügen? Wenn der das merkte, gab es Ärger, und nicht zu
knapp - und so ein Hauptmann mußte sich auskennen und merken,
wenn jemand log. »Hm«, sagte Gaven noch einmal.
»Denn wenn das so ist«, fuhr der Hauptmann fort,
»und du haust mit ihm ab, und dann werdet ihr erwischt, dann
wird Varyn als Deserteur ausgepeitscht und in den Krieg
zurückgebracht, weil der König seine Soldaten braucht.
Aber du bist kein Deserteur und kein Soldat, sondern ein
Verräter, und als solcher wirst du aufgeknüpft, und
keiner fragt danach, wie alt du bist.«
Dazu sagte Gaven lieber nichts. Das war etwas, das er nicht
wußte und auch eigentlich lieber nicht wissen wollte.
»Das einfachste«, sagte der Hauptmann, und jetzt
grinste er breit über das ganze Gesicht, »ist, wenn du
dich erst meiner Einheit als Rekrut anschließt und ihr euch
irgendwann unbemerkt im Morgengrauen davonschleicht. Wir sind auf
dem Weg zum Aleruan, wo sich die Truppen sammeln - da haben wir
keine Zeit, hinter zwei heimgelaufenen Jungen
herzurennen.«
Gaven blinzelte und runzelte die Stirn. Der Hauptmann sprach leise,
fast verschwörerisch, und sagte nicht wirklich das, was ein
Hauptmann sagen sollte… Gaven zögerte einen Moment,
dann fragte er: »Ihr wollt Varyn los sein,
stimmt’s?«
Der Hauptmann zischte und legte einen Finger an die Lippen.
»Pssst, Junge! Muß doch keiner wissen… Ich
gäb eine Menge drauf, deinen Bruder wieder daheim in eurem
Bergwerk zu wissen. Er ist -«
»Verrückt«, sagte Gaven. »Weiß ich
längst.«
Doch der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Ich kenne genug
Verrückte. Mit Verrückten habe ich keine Probleme. Aber
dein Bruder ist gruselig. Und wenn das nicht ausreicht, ist er doch
lästig wie ein eingewachsener Zehennagel. Daß du ihn
wiederhaben willst, ehrt dich.«
Gaven zuckte die Schultern. »Er ist halt mein Bruder«,
sagte er. »Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Aber wenn er da
ist, wird er verhauen, und ohne ihn verhauen sie mich.« Er
versuchte zu lachen, aber es gefiel ihm nicht, wie der Hauptmann
Varyn beleidigte. Auch wenn er es verstehen konnte. »Wo ist
er denn?« fragte er schnell, bevor noch weiter auf Varyn
herumgehackt wurde.
Der Hauptmann lachte. »Liegt im Zelt und
schläft.«
»Schläft?« fragte Gaven entgeistert. Es war
hellichter Tag - sein Vater wäre vor Scham gestorben, wenn
einer den Tag im Bett verbrachte, statt zu arbeiten! Und Varyn
schlief sonst nie richtig. Gaven rümpfte die Nase, als er das
Grinsen verstand. »Hat wieder gesoffen, was?«
Der Hauptmann bleckte die Zähne. »Habe ich mir doch
gedacht, daß er das öfter macht!«
»Ach was«, sagte Gaven. »Bei uns saufen sie
alle.« Stimmte zwar nicht ganz, aber er hatte doch irgendwie
das Bedürfnis, Varyns Ehre zu verteidigen. »Aber ich
wette, er hat jetzt lange genug geschlafen. Ich hab Erfahrung, ihn
zu wecken.«
»Ich bring dich hin«, sagte der Hauptmann. »Wenn
du dich vorher in die Soldliste einschreiben läßt,
heißt das.«
»Also gut.« Gaven grinste. »Ist ja nicht für
lange, nicht?« Ganz kurz fragte er sich, ob das keine Falle
war, ob es dem Mann nicht nur darum ging, noch einen Soldaten zu
bekommen, und sei es mit einem Trick. Aber wenn es um Tricks ging,
war Gaven auch nie lange um einen verlegen. Und so folgte er dem
Hauptmann zum Schreiber, nannte ihm seinen Namen schwindelte ein
bißchen bei seinem Alter - weil ihn der Schreiber ansah wie
einen kleinen Jungen, sollte er doch denken, daß Gaven
zumindest fünfzehn war. Aber obwohl sich Gaven immer die
große Ehre ausgemalt hatte, ein Soldat des Königs zu
sein, war es ihm jetzt ziemlich egal. Er wollte Varyn wiedersehen,
jetzt gleich, und sich dann mit ihm auf den Heimweg machen. Es ging
nicht an, daß Varyn am Tag schlief!
»Da drin liegt er«, sagte der Hauptmann und zeigte auf
ein großes gammeliges braunes Zelt.
»Danke«, sagte Gaven, und dann trat er in das muffige
Dunkel. Er mußte nicht lange suchen - da schlief gerade nur
einer. Gaven lachte, kniete sich hinter ihn, und schüttelte
ihn. »Aufwachen! Varyn! He, Varyn!«
Und Varyn gehorchte.
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