Siebtes Kapitel

Gaven machte nicht allzu viele Fehler, als er von Zuhause fort lief, aber sein größter war, daß er sich zu lange damit Zeit ließ. Zu lange hieß in diesem Fall: Bis Varyn weg war. Gaven hätte es ahnen müssen, aber nun war es zu spät, um sich noch in den Hintern zu beißen.
Gaven verfluchte seinen festen Schlaf. Er wachte nur fast auf, als Varyn das Haus verließ - warum nur fast? Warum stand er nicht mit ihm auf, schnürte sein Bündel und schloß sich den Soldaten an? Aber nein, nicht Gaven. Warum ausreißen, wenn man auch ausschlafen konnte? Und so erinnerte sich Gaven nur halb daran, etwas gebrummt zu haben und sich auf die andere Seite gedreht. Und an Varyn, der ihm auf die Schulter klopfte und dabei etwas sagte wie »Mach’s gut, Mittlerer«, oder »Schlaf gut, Mittlerer«… Das zumindest hätte Gaven sich merken sollen. Was für eine Idee, die letzten Abschiedsworte seines Bruders zu vergessen! Aber nein, nichts von alldem, Gaven schlief.
Und dann war es Morgen, und Gaven schlief, und Gaven schlief, bis das Donnerwetter über ihn hereinbrach. Dabei fing es eigentlich an wie jeder andere Morgen auch: Die Kohlenkinder wurden wach, und Varyn war fort. Edrik war verkatert, und Harkon war erkältet, und beides geschah nicht zum ersten Mal, und doch wußten sie alle, daß es an diesem Tag anders war. Varyn war forter als sonst. Gaven wußte es, noch bevor sie sahen, was er alles mitgenommen hatte. Und doch sprang er aus dem Bett und sagte schnell: »Ich laufe eben zum Toten Mann und hole den Blödmann. Ihr braucht nicht auf mich warten mit dem Frühstück.«
Er war so sauer, nicht auf Varyn dieses Mal, sondern auf sich selbst.
Gaven hatte seine Hand schon am Türgriff, als ihn sein Vater zurückriß und ihm eine Ohrfeige verpaßte. »Du bleibst hier!« schrie er. Und dann begann das Donnerwetter. Und nichts war mehr wie früher.
Varyn war weg. Weg für immer. Weg mit den Soldaten. Aber das war nicht das Schlimme. Das Schlimme war, daß Gaven noch da war, im Tal, im Bergwerk, am letzten Ort der Welt, wo er nicht hinwollte. Gaven wußte, daß er auch davonlaufen mußte, wollte, und würde, noch bevor er begriff, daß sein Vater nun den ganzen Ärger an ihm auslassen würde.
Gavens Vater rastete selten aus. Eigentlich nie. Er regte sich schon mal auf, natürlich, er verprügelte Gaven ab und an. Aber an diesem Tag brüllte er herum wie ein wilder Mann und wollte sich nicht mehr beruhigen, und das allein war schon Grund genug für Gaven, um bis ans Ende der Welt rennen zu wollen.
»Du bleibst im Haus!« schrie der Vater. »Jeder von euch! Wenn ihr den Krieg haben wollt, den könnt ihr haben, von mir aus sofort! Aber ihr bleibt hier!«
Gaven schob sich vorsichtig an Noran heran. »Na prachtvoll«, flüsterte er ihr zu. »Kaum ist der eine Verrückte aus dem Haus, dreht der nächste durch.«
Aber Noran antwortete nicht. Statt dessen fing sich Gaven noch ein paar Maulschellen von seinem Vater ein. Gaven biß sich auf die Zunge und zog die Nase hoch. Und dann schrie er zurück. »Du kannst mich hier nicht anketten! Und Noran und die Kleinen auch nicht.« Edrik ließ er raus. Der war alt und Manns genug, sich selbst durchzusetzen. »Spätestens wenn die Arbeit losgeht, mußt du uns aus dem Haus lassen. Weil dir doch nichts wichtiger ist als die Grube! Und du regst dich auch nur auf, weil dir Varyns Arbeit fehlt, nicht wegen Varyn selbst. Weil er es gewagt hat, sich gegen dich durchzusetzen, und ich mach das auch, jawohl!«
Die Strafe folgte auf dem Fuße  - aber wie man es nahm, konnte man es auch als Belohnung ansehen: Gaven mußte an diesem Tag nicht arbeiten. Das war gut - aber nicht, daß Gaven statt dessen im Hühnerstall eingesperrt wurde. Dort sollte er sitzen bis zum Abend.
Das war keine nette Sache - nicht für Gaven, aber vor allem nicht für die armen Hühner, die wurden nämlich solange ausgesperrt. Gaven konnte hören, wie sie draußen gackerten und flatterten und scharrten - sicher nur im Gras, aber Gaven stellte sich vor, wiesie an der Tür kratzten und versuchten hereinzukommen. Aber das ging nicht, denn der Vater hatte ja den Riegel vorgelegt, und wo kein Fuchs hereinkam, schaffte das auch kein Huhn. Als Rache würden sie ihre Eier sonstwo hinlegen, ins Moos oder in die Büsche, aber damit hatte Gaven nichts mehr zu schaffen. Eiersammeln war Mädchenarbeit.
Im Hühnerstall war es warm und dämmrig. Das Stroh war weich, und Gaven kam die Idee, daß er noch ein wenig schlafen konnte, ungestört, so lange er wollte, und niemand schnarchte, und niemand trat ihn… Aber Gaven konnte nicht mehr schlafen. Vielleicht lag es am Gestank. Der Hühnermist stach in Gavens Nase. Hier also lagen die Eier, bevor sie gegessen wurden? Gaven schüttelte sich bei dem Gedanken. So schnell würde er wohl keine Eier mehr essen!
Es juckte ihn. Gaven hatte das Gefühl, selbst schon über und über mit Hühnerdreck bedeckt zu sein. Damit war an Schlaf endgültig nicht mehr zu denken. Und dabei war es noch nicht einmal Mittag! Durch einen Ritz zwischen den Brettern beobachtete Gaven, wie die Sonne wanderte. Dann stellte er sich vor, wie weit Varyn und die Soldaten wohl schon gekommen sein mochten. Dann ärgerte er sich. Dann bekam er Hunger und wollte schon im Stroh nach versteckten Eiern suchen - noch wußte ja niemand, daß Gaven beschlossen hatte, keine Eier mehr zu essen… Aber schon bei der Vorstellung wurde ihm übel. Wenn die Eier hinten aus dem Huhn herauskamen - Gaven wollte nicht über so etwas nachdenken. Dann doch lieber Fluchtpläne schmieden. Er hatte keine Lust, im Stall zu hocken, bis es draußen dunkel wurde.
Er hörte seine Mutter draußen im Hof. »Komm komm komm komm komm.« Sie fütterte die Hühner. Es klang dumm. Man sollte meinen, daß Hühner zumindest ihr Futter fanden, ohne daß man selbst gleich anfangen mußte zu gackern. »Komm komm komm!«
Gaven schüttelte den Kopf. Wenn seine Mutter den Bergleuten das Essen brachte - sie aßen direkt im Stollen, dann mußten sie die Arbeit nicht lange unterbrechen und machten auch nicht alles schmutzig - verlor sie nie viele Worte. Auch beim Abendessen redete sie nicht viel, sondern ließ ihren Mann und die Kinder erzählen. Vielleicht war es dann kein Wunder, daß sie mit den Hühnern so viel redete? Gaven hätte sich für so etwas geschämt, selbst wenn ihn niemand hören konnte!
Aber jetzt war das anders - es war heiß, viel zu heiß, und stickig. Gaven hatte Hunger, Gaven hatte Durst, und seine Mutter dachte nicht an ihn, sondern nur an die Hühner: Das schrie nach einer Lösung, über die Gaven sonst nur gelacht hätte. Wenn seine Mutter dachte, daß ein Huhn im Stall zurückgeblieben war? Ein armes, verlorenes, hungriges Huhn? Gaven begann zu gackern. Zumindest versuchte er es. »Bork bork bork!« rief er, so jämmerlich er konnte. »Bork bork bork!”
Wenn seine Mutter dann die Tür öffnete, um nach dem Huhn zu sehen, konnte Gaven die Gelegenheit nutzen und entwischen. Und bis die Eltern dann merkten, daß Gaven nicht mehr im Stall saß, war er schon lange nicht mehr im Tal…
Aber Gaven mochte Gackern, soviel er wollte, seine Mutter fiel nicht darauf herein. Irgendwann wurde es ihm zu dumm, und er gab auf. Döste noch ein wenig, versuchte zu überlegen, wie man wohl von innen an den Riegel kommen konnte, und gab auch das wieder auf - die Luft machte ihn ganz dusselig. Wenn er nur eine Hacke gehabt hätte, dann wäre das jetzt ein Leichtes, herauszukommen… Vielleicht sollte er ja eine Hacke mitnehmen, wenn er abhaute? Und dann döste er wieder.
Später hörte er wieder seine Mutter im Hof. Sie stand an der Pumpe. Gaven hörte das atemlose Quietschen, wie ein geschundener Esel, und dann hörte er das Wasser fließen. Und sein Durst hörte es auch. In dem Moment hielt Gaven es nicht mehr aus. Er sprang hoch - davon wurde ihm schwindelig - und begann mit den Fäusten gegen die Brettertür zu hämmern.
»Mutter!« schrie er, als wäre er einer von den Kleinen, noch jünger als Alsa. »Bitte! Ich will Wasser! Ich verdurste! Mutter! Hilfe!«
Die Pumpe schwieg. Und kurz darauf wurde der Riegel zu Gavens Gefängnis aufgeschoben.
Gaven konnte nicht sagen, wann er sich zuletzt so über den Anblick seiner Muttergefreut hatte - wenn sie ihnen mittags das Essen auf die Arbeit brachte, hatte er normalerweise nur Augen für den Korb mit dem Futter. Jetzt hatte sie ihm nichts zu Trinken mitgebracht, aber sie sagte: »Dann komm solange heraus.«
Gaven grinste. »Du kannst mich ja wieder einschließen, ehe Vater von der Arbeit kommt.« Er wollte nicht wirklich in den Stall zurück, aber sie sollte auch nicht gleich Ärger seinetwegen bekommen.
Sie antwortete nicht, aber sie half ihm aus dem Stroh. Jetzt erst merkte Gaven, daß ihm die Knie zitterten. Draußen war es viel frischer, aber auch viel kälter. Gaven war noch nicht einmal richtig angezogen. Aber vor allem hatte er Durst. Als seine Mutter ihm einen Krug mit Wasser reichte, schnappte er zu und trank so hastig, daß ihm das Wasser über das Gesicht lief und sein Magen grummelte. Wenigstens ging es ihm danach besser. Zumindest gut genug, um zu merken, daß mit seiner Mutter etwas nicht stimmte.
»Danke«, sagte er. »Ich hätte das nicht mehr lange ausgehalten bei dem Gestank da drin.« Und obwohl es vieles gab, das er lieber getan hätte, bot er an: »Wenn du magst, nehme ich mir den Besen und mache da drinnen mal richtig sauber.« Mädchenarbeit hin oder her, bevor Gaven ausriß, wollte er noch irgend etwas besonderes machen. Etwas, wofür man sich an ihn erinnern sollte.
»Laß gut sein«, erwiderte seine Mutter. »Du kannst mir bei der Wäsche helfen, wenn du magst.«
Gaven zuckte die Schultern. »Warum nicht?« Sie konnte in dem Moment alles von ihm verlangen. Solange er nicht gleich wieder ins Hühnerhaus mußte, und sich erst einmal waschen durfte - »Wenn ich dir helfen kann, gerne.«
Sie sah blaß aus. War sie sonst auch so blaß? Vielleicht hatte sie geweint. Ihre Augen waren gerötet, dabei war sie doch sonst die einzige in der Familie ohne rote Augen! Man bekam sie vom Kohlenstaub, oder eben vom Weinen. Wegen Varyn? Gaven wollte nicht nachfragen. Er wollte nicht, daß sie etwas sagte wie ‚Das verstehst du nicht’ oder ‚Dafür bist du zu klein’. Das Leben mit Varyn hatte ihm abgewöhnt, Fragen zu stellen.
Doch als Gaven ihr dann half, die kohlenschwarzen Hemden in der Lauge einzuweichen - und ihm der Schweiß über Gesicht lief, daß er sich wünschte, doch lieber wieder Abraum zu schleppen - faßte er sich doch ein Herz und fragte vorsichtig: »Geht’s dir auch gut?« Er wußte, daß das eine bescheuerte Frage war - natürlich ging es ihm nicht gut, nachdem Varyn davongelaufen war, und er wollte es gar nicht genau wissen, wo er doch auch davonlaufen würde und nicht wollte, daß sie sich deswegen grämte.
Sie seufzte, doch dann sprach sie nicht von Varyn, oder davon, daß ihr Mann sich so aufregte und Gaven gleich in den Stall sperrte, sondern sagte: »Ach, ich mußte gerade die ganze Zeit an eine gute Freundin denken.«
»Freundin?« fragte Gaven irritiert. Man sollte meinen, daß sie heute genug andere Sorgen hatte. Mädchen waren seltsam, Frauen auch, und Mütter bildeten da keine Ausnahme.
Seine Mutter nickte. »Meine Freundin. Varna. Als ich so alt war wie du, war sie meine Busenfreundin.« Der Name kam Gaven bekannt vor - er hatte schon einmal von dieser Varna gehört, aber er konnte sie nicht richtig unterbringen. Deswegen konnte sie ruhig erzählen.
»Was ist mir ihr? War sie aus dem Tal?«
»Ja, sie ist hier aufgewachsen, wie ich. Wir waren gleich alt, wir hatten beide nur Brüder - und sie war selbst ein rechter Wildfang, mutig und forsch, hat sich von niemandem etwas sagen lassen - ich habe oft Ärger ihretwegen bekommen, aber das war sie wert. Sie hat einmal das Schwert ihres Vaters gestohlen und wollte in den Krieg ziehen - aber sie ist nicht weit gekommen, das Heimweh hat sie zurückgetrieben, und der Hunger - wie war ja damals auch gerade erst elf Jahre alt, und der Krieg hätte sie nicht haben wollen.«
Jetzt mußte Gaven doch lachen. Dann war es ja kein Wunder, daß seine Mutter heute an damals denken mußte! Er versuchte sich Noran mit einem Schwert vorzustellen - nicht, daß sie jetzt auch noch ausreißen wollte! »Hat ihr Vater sie bestraft?« fragte er.
Auch seine Mutter lachte, auf eine traurige Art fröhlich. »Varna? Ach, ihr konnte niemand lange böse sein. Es haben sich nur alle gefreut, daß sie wieder da war - und darüber völlig vergessen, sie zu bestrafen. Aber ihr großer Bruder hat das Schwert genommen und vergraben, damit sie nicht noch mal auf so dumme Gedanken kommt. Dafür hat sein Vater ihn tüchtig verprügelt, aber wo er das Schwert vergraben hat, wollte er trotzdem nicht verraten, und wir haben es niemals wiedergefunden.«
Gaven pfiff durch die Zähne und biß sich sofort wieder auf die Zunge. Hieß das, irgendwo hier im Tal war ein Schwert vergraben und wartete nur darauf, daß er es fand? Aber jetzt war es zu spät, Gaven hatte keine Zeit mehr zum Buddeln; er würde bei nächster Gelegenheit das Weite suchen. Vielleicht ahnte seine Mutter das? Vielleicht erzählte sie ihm darum von ihrer Kindheit? »Und was ist dann aus Varna geworden?« fragte er.
»Wir blieben Freundinnen, auch nachdem wir groß waren und ich heiratete. Varna wollte nicht heiraten, zumindest keinen Mann aus dem Dorf - sie sagte, sie könne sich nicht vorstellen, Frau eines Mannes zu werden, den sie schon als Kind verprügelt hatte. Und dazu kam natürlich auch, daß sie nicht die beste Partie war und nur eine kleine Mitgift erwarten konnte. Sie half mir mit meinem Haushalt, als ich mit Edrik schwanger war, aber man merkte, daß solche Arbeit sie nicht glücklich machte. Sie sprach auch immer öfter davon, das Tal zu verlassen und in die Welt hinauszuziehen, Abenteuer zu erleben und sich vielleicht noch einen aufregenden Mann zu suchen - ich wollte sie nicht gerne gehen lassen, aber ich hätte ihr Glück dabei gewünscht, denn das hatte sie verdient. Aber dann…«
An dieser Stelle brach Gavens Mutter ab, und Gaven dachte schon, daß die Geschichte damit zuende war, aber alles, was vorbei war, war dieser Teil der Arbeit, die Wäsche konnte jetzt allein vor sich hin quellen, als nächstes war das Haus dran, das Brotbacken und die Vorbereitung des Abendessens. Und Gaven stapfte brav mit, immer bereit mitanzufassen, solange er nicht gleich in der Hühnerhaus zurückmußte, und hoffte, daß die Geschichte doch noch irgendein sinnvolles Ende nahm - am besten nicht damit, daß Varna heiratete und Kinder bekam, sondern das Schwert wieder ausgrub, das Tal verließ und eine große Kriegerin wurde. Das war zwar eigentlich nicht das richtige für eine Frau, aber bei einer, die sowieso niemand heiraten wollte, konnte er das doch irgendwie verstehen. Und daß Varna nicht mehr im Tal lebte, wußte er. Sonst hätte Gaven sie ja gekannt.
»Und was war dann?« fragte er. Solange seine Mutter Brotlaibe formte, konnte er ohnehin nicht viel tun als zuhören. Er betrachtete zufrieden seine blitzsauberen Finger. Ganz glänzende weiße Fingernägel - vielleicht sollte er öfter bei der Wäsche helfen? Aber wenn der ganze Dreck jetzt in der Wäsche saß… Nein. Schließlich hatte sich Gaven vorher ja auch schon gewaschen.
»Varna hatte Glück, auf ihre Weise«, erzählte seine Mutter weiter. »Sie mußte das Tal nicht verlassen, um einen Mann zu finden, der ihr gefiel. Er kam in das Tal - plötzlich war er da, von einem Tag auf den anderen, packte im Bergwerk mit an und verdrehte Varna den Kopf. Und nicht nur Varna, was das anging - alle Mädchen, selbst die, die gerade erst laufen gelernt hatten, waren irgendwie in ihn verliebt. Er hieß Dyrk - wahrscheinlich war er eigentlich nur ein Landstreicher, aber er konnte arbeiten, und er war unkompliziert, jeder hatte ihn gern. Aber von allen Frauen und Mädchen hier im Dorf hatte er nur Augen für Varna. Sie war auch die einzige, die ihm das Wasser reichen konnte. Und jeder von uns wußte, daß die beiden füreinander geschaffen waren. Dyrk würde mit dem Herbst weiterziehen, Wanderarbeiter blieben nie mehr als ein paar Monate. Varna wollte mit ihm gehen, selbst wenn ihr Bruder das nicht erlaubte - ihr Vater war ja inzwischen gestorben. Es tat mir weh, sie gehen zu lassen, aber das war das Leben, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte, wild und voller Abenteuer.«
Jetzt war genau die richtige Gelegenheit, ihr zu erklären, daß auch Gaven immer von einem Leben voller Abenteuer geträumt hatte - aber er ließ es sein und nickte nur. »Und dann hat Varna das Tal mit ihm verlassen?«
Seine Mutter schnaubte und klatschte das Brot mit solcher Gewalt auf den Tisch, wie Gaven es noch nie bei ihr gesehen hatte. »Nein«, sagte sie. »Der Lump hat sie sitzenlassen und sich aus dem Staub gemacht, von einem Tag auf den anderen, so wie er gekommen war. So ist das mit diesen Wanderarbeitern - sie können fest anpacken, aber sie sind nicht verläßlich. Darum hat dein Vater niemals wieder welche eingestellt, und wenn es bedeutete, daß er selbst Tag und Nacht arbeiten mußte.«
Oder seine Kinder, aber das sagte Gaven nicht. Und auch nicht, daß es bald wieder an der Zeit war, Wanderarbeiter zu beschäftigen, nämlich, wenn alle Kinder fort waren. Plötzlich begriff er, daß ihm Varyn fehlte, schon jetzt. Varyn hätte sich lieber selbst in den Stall sperren lassen, als zulassen, daß das mit Gaven passierte… »Und was wurde dann aus Varna? Ist sie ihm gefolgt?«
Jetzt schüttelte sie wieder den Kopf. »Das wollte sie vielleicht, aber erst einmal merkte sie, daß sie ein Kind von ihm erwartete. Und sie war klug genug, um nicht in so einem Zustand in die Welt hinauszuziehen. So beschloß sie, ihr Kind hier im Tal zur Welt zu bringen. Wir redeten ihr gut zu, nun doch zu heiraten - der Schmied hätte sie genommen, seine erste Frau war gestorben - doch sie wollte nicht. Sie wollte lieber ihr Kind in Schande großziehen, als einen Mann heiraten, der sie nicht liebte. Es war dieser halsstarrige Mut, für den ich sie bewunderte. Sie war traurig, weil Dyrk sie sitzengelassen hatte, aber sie freute sich auf das Kind, auf ihre Weise - sie war zuversichtlich, daß alles für sie gut enden würde. Sie war gesund und kräftig, niemand von uns sorgte sich um sie - vielleicht darum, ob sie eine gute Mutter sein würde, aber nicht, daß -« Gavens Mutter brach ab.
Gaven biß sich auf die Lippe. Vor Wut - nicht auf diesen Schuft Dyrk, sondern auf sich selbst. Daß er die Geschichte nicht schon längst erkannt hatte. »Sie ist gestorben, nicht wahr?«
Seine Mutter nickte. »Am Tag der Geburt. Es ging so plötzlich - eben noch hielt sie den Kleinen im Arm, und im nächsten Moment schloß sie die Augen und war tot. Sie ist einfach gestorben. An der Geburt verblutet. Wir haben den Kleinen behalten - ich hatte noch Milch von Edrik, ich habe ihn gestillt, als wäre es mein eigenes Kind…«
Gaven schnaubte. »Und darum habt ihr ihn Varyn genannt? Weil seine Mutter Varna hieß?« Er war wütend - wirklich wütend, weil seine Eltern ihm diese Geschichte nicht längst früher erzählt hatten. Oder weil sie Varyn die Geschichte nicht längst früher erzählt hatten… Wenn sie fragten, warum Varyn anders aussah als die anderen, dann kamen Antworten wie ‚Euer Vater hatte eine Schwester, die ihm Kindbett gestorben ist, und der Vater war nicht aus dem Tal, sondern ein Fremder…’ Nichts davon, daß Varyns Mutter ein Schwert geklaut hatte, daß Gavens Vater dieses Schwert verbuddelt hatte, daß ihre Mütter die besten Freundinnen waren - nichts davon. Nur, daß sie Varyn als ihr Kind aufgenommen hatten… Aber was für ein mieser Tausch war das? Eine Schwester, eine Freundin verlieren, und dafür etwas bekommen wie Varyn? Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«
Seine Mutter lächelte, und weinte gleichzeitig. Mit dem Ärmel rieb sie sich die Tränen aus den Augen. »Es geht schon. Aber jetzt ist es so, als hätte ich sie noch einmal verloren… Ich - ich wußte, daß er eines Tages geht, aber ich wußte nicht, wie es sein würde.« Sie sah sehr traurig aus, wie sie da stand, die Hände voll Mehl. Gaven wußte nicht, was er jetzt tun oder sagen sollte. Seine Schwestern hätte er jetzt vielleicht umarmt - aber er konnte nicht einfach seine Mutter umarmen!
»Es ist bestimmt das beste so«, hörte er sich sagen. »Seine Mutter wollte immer raus aus dem Tal - ist doch schön, daß er es jetzt gewagt hat.«
Es schmeckte schal. Er wußte, warum. Er hätte sich auch gerne verabschiedet. Und seine Mutter hatte jetzt schon zum zweiten Mal keinen Abschied nehmen können. Und gleichzeitig schmeckte es bitter - als weine sie auch jetzt nicht um Varyn, sondern nur um dessen Mutter. Und dann würde sie auch um Varyn nicht weinen.
»Ich hoffe, es ist das Beste«, sagte sie. »Ich hoffe es so sehr.«
Gaven nickte. Er wollte fast schon sagen ‘Ich gehe und hole ihn zurück’ - aber er hatte keine Lust zu lügen. Er wollte auch nicht sagen ‘Vielleicht holt ihn ja das Heimweh zurück, so wie bei Varna damals’ - das wäre eine noch größere Lüge. So sagte er nur: »Es wird gleich Abend. Ich setze mich lieber wieder in den Hühnerstall, ehe Vater wiederkommt.«
Da half es auch nichts, daß seine Mutter ihm versicherte, daß alles wieder gut war und sein Vater nicht so nachtragend - Gaven konnte genau so stur sein wie Varyn, wenn es drauf ankam. Sie mußte die Tür ja nicht mehr verriegeln, wenn sie es nicht wollte…
Aber es ging Gaven nicht ums Prinzip, und nicht um eine Strafe, die er wirklich nicht verdient hatte. Es ging ihm darum, schon mal ein wenig zu schlafen, oder zumindest zu dösen, im Stall, der mit der sinkenden Sonne wieder abgekühlt war. Gaven lächelte, als er die Tür hinter sich zuzog. »Gute Nacht, Mutter. Mach es gut!«
Sie lächelte nur zurück. Vielleicht verstand sie ihn nicht. Vielleicht war das ihre Art, Abschied zu nehmen. In der Nacht lief Gaven davon.

Gavens größter Fehler war also sein Zögern. An und für sich war das schon schlimm genug - aber leider war das nicht sein einziger Fehler. Und ob es wirklich der Gröfßte war, auch darüber ließ sich streiten. Da war zum Beispiel auch die Tatsache , daß Gaven nichts mitgenommen hatte. Nichts. Kein Geld. Nichts zu essen. Nicht mal sein Nachthemd - man mußte schon sehr dumm sein, um sein eigenes Nachthemd zu vergessen! Varyn würde ihn noch auslachen…
Varyn. Schon kam der nächste Fehler. Gaven war einfach zu langsam. Wie sollte er da die Soldaten einholen? Den ganzen Tag rennen? Da kannte Gaven sich besser. Es mußte irgendwie anders gehen. Mit einem Trick. Es mußte immer einen Trick geben. Und iwe fand man einen Trick? Ganz einfach: Man dachte nach.
In der Nacht, in der Gaven davonlief, tat er keinen Schritt aus dem Dorf hinaus, und erst recht keinen aus dem Tal. Statt dessen versteckte er sich in Bordaks Heuschober. Wo auch immer seine Eltern ihn suchen mochten - hier nicht. Und sie würden ihn suchen. Wußte Gaven. Hoffte Gaven. Er sah schon seinen Vater ein Pferd borgen und in die Richtung galoppieren, in der die Soldaten verschwunden waren. Gaven konnte sich vielleicht ein paar Stunden lang schneller bewegen als ein Wanderer, aber niemals schneller als ein Pferd. Erst am nächsten Abend konnte Gaven es wagen, sein Versteck zu verlassen.
Es war kein schöner Tag. Das einzig Gute, was man darüber sagen konnte, war, daß Gaven schon im Hühnerhaus hatte üben können. Jetzt lag er bäuchlings im Heu, rücklings auf dem Heu, wo immer er am wenigsten auffiel, wenn sich jemand dem Heuschober näherte. Der alte Bordak hatte besseres zu tun, als sein eigenes Futterheu zu durchsuchen. Und solange Gaven nicht niesen mußte, hatte er nichts zu befürchten. Heu roch doch deutlich besser als Hühner…
Aber was diesen Tag schlimm machte, war die Langweile, und die Schuldgefühle, und das Heimweh. Es war gut, daß er nichts mitgenommen hatte, vor allem kein Geld - er wäre glatt heimgelaufen, um es wieder zurückzubringen. Innerhalb dieses Tages verwandelte sich Gaven von einem abenteuerlustigen jungen Krieger in einen kleinen Jungen, der eigentlich ganz gern im Tal lebte. All diese vertrauten Geräusche - das Lärmen der Schmiede, das Dröhnen der Eisengießerei, die allgegenwärtige Hitze des großen Feuers, die das Dorf zum wärmsten von ganz Doubladir machte, und weit entfernt, wenn er genau hinhörte, das Hämmern und Hauen im Berg - all das gehörte dazu, und Gaven gehörte dazu. Varyn, der war der Fremde, es war gut, daß er fort war - aber Gaven brauchte seine Familie… Während er im Heu lag und versuchte, den Ruf der großen Welt einzufangen, hörte er nichts als das Rufen seines Tals.
Ein wenig traurig war es auch - daß es dem Tal egal war, ob Gaven da war oder verschwunden. Aber zumindest nahm es Gaven langsam die Schuldgefühle. Die kamen hier auch ohne ihn aus - jetzt musste nur noch Gaven zeigen, daß er auch ohne seine Familie konnte. Sein Magen knurrte. Es war schwer, solche Gedanken zu tragen, wenn man nichts im Bauch hatte. Es war an der Zeit, sich etwas zu essen zu besorgen.
Gaven paßte einen unbeobachteten Moment ab, wo wirklich niemand in der Nähe war, kein Mensch, kein Hund, kein Schwein, und flitzte hinüber zum Bauernhaus. Es war gefährlich, aber nicht so, daß Gaven keine Erfahrung damit hatte. Wenn es eine Sache gab, die Gaven besser konnte als Varyn, war das Klauen. Nicht weiter schwer - Varyn klaute natürlich nie; aber er aß ja auch viel zu wenig und kam mit dem aus, was die Mutter kochte. Gaven dagegen klaute ab und an ein paar Äpfel, Eier, oder Würste, was gerade zu bekommen war. Bislang hatte ihn noch niemand damit erwischt - und das, was Gaven klaute, vermißte auch niemand, und wer sollte sich aufregen wegen eines Würstchens? Gaven mußte nur bei der Arbeit sagen, daß er mal mußte, und dann losrennen bis zum nächstbesten Haus, sich etwas Eßbares schnappen und im Zurückrennen runterschlingen - der Preis dafür war, daß Gaven dann bis zum Abend einhalten mußte, denn er konnte schlecht zweimal am Tag gehen.
Jetzt hatte Gaven ein wenig Pech. Die Äpfel waren noch nicht reif, nach Eiern war ihm immer noch nicht, und Würstchen suchte man bei Bordak vergeblich. Am Ende lag Gaven wieder auf dem Heuboden und nagte übellaunig an einer Futterrübe. Sie war so groß und zu unhandlich - wer auch immer behauptete, Gaven habe ein zu großes Mundwerk, diese Rübe strafte ihn Lügen. Aber es war eine gute Übung: Wenn er erst mal auf der Landstraße unterwegs war, mußte er auch nehmen, was er kriegen konnte.
Auf der Landstraße… Da waren sie wieder, Gavens Bauchschmerzen. Eigentlich wollte er ja gar nicht weglaufen. Eigentlich war es doch immer schön, so wie es war. Früher. Mit Varyn. Ohne Varyn war es anders, fehlte etwas - und was fehlte, war klar. Varyn fehlte. Varyn, der eigentlich in das Tal gehörte so wie Gaven, und wie das Tal zu ihm.
Als es Abend wurde, schlief Gaven auf Bordaks Heuboden. Und als der Morgen dämmerte, verließ Gaven die Scheune, verließ Gaven das Tal. Aber er ging nicht, um niemals wiederzukommen.
Er ging, um Varyn zurückzuholen.

Der erste Tag auf der Landstraße war ereignislos und doch der sannendste, den Gaven je erlebt hatte. Das Gefühl von Sand und Geröll unter den Füßen - die frische, wilde Luft  - der Schatten der Berge und der Büsche - alles war neu. Alles war großartig.
Selbst der Hunger war großartig, und die wehen Füße - die Sonne machte all das wett. Die Sonne schien und schien - soviel Sonne hatte Gaven in seinem ganzen Leben noch nie gesehen. Gaven zog sich die Joppe aus und band sie sich um die Hüften und schnürte sein Hemd auf. Im Sommer, wenn es heiß war im Berg, arbeitete er oft ohne Hemd und war am Abend ganz verschwitzt und verjuckt. Jetzt war es eher kalt, aber es war toll, die Sonne und den Wind auf seiner Brust zu fühlen und in seinem Haar - Gaven war glücklich. Das war eine Freiheit, die jeder Mensch einmal im Leben kosten mußte. Nur die Vögel, die über die Gipfel der Berge flogen, und die Fische, die durch den Fluß ins Meer schwammen, konnten freier sein.
Wie weit er an diesem Tag kam, konnte Gaven nicht sagen - er wußte nicht, wie weit die Soldaten kamen, oder ein Reiter, oder ein Gaven. Es war der erste Tag, und es fühlte sich weit an ab dem Moment, da Gaven den Rauch aus dem Tal nicht mehr riechen konnte und das Hämmern nicht mehr hören. Und es mußte weit sein - fanden zumindest Gavens Füße, die immer müder wurden, je weiter sie und der Tag voranschritten.
Irgendwann - es mußte Nachmittag sein - rastete Gaven unter einem Baum, kaute auf einer der mitgebrachten Rüben herum und zog die Schuhe aus, um die Füße zu erholen. Danach schmerzten sie aber erst recht und wollten gar nicht mehr in die Schuhe zurück. Gaven band sie zusammen, hing sie sich über die Schultern und ging weiter, im Gras zwischen Weg und Fluß. Jetzt kam er langsamer voran, trat in Schnecken und Steine und Disteln - er machte noch eine Pause, ließ die Füße ins Wasser hängen, kaltes Wasser, und diese Gefühl war die ganzen Schmerzen wert. Am liebsten wäre Gaven da sitzen geblieben bis zum Abend, die Füße im Wasser und die Sonne im Haar, aber er zwang sich, wieder aufzustehen, und er zwang seine Füße in die Schuhe zurück und wanderte weiter.
Für die Nacht baute sich Gaven ein gemütliches Lager am Ufer. Zwar hatte er keine Decke, aber er riß und brach sich Zweige von einem Busch ab - die taten es auch. Und die zusammengerollte Decke tat ihren Dienst als Kopfkissen. So legte sich Gaven nieder zu seiner ersten Nacht in Freiheit.
Es wurde zugleich seine längste Nacht. Es war kalt. Und dann wurde es noch kälter. Und dann wurde es feutcht - nicht naß, aber feucht, und dafür überall. Gaven stand mehrmals auf und bettete sich um, aber es war überall gleich. Auch auf der anderen Seite des Weges. Nur der Weg selbst war trocken, aber Gaven wußte es besser, als sich mitten auf den Weg zu legen - wenn da ein Fuhrwerk durchkam, gab es Gaven hinterher zweimal… Mit der Nässe mußte er also leben. Seine Sachen waren ohnehin schon durch und durch klamm. Aber dann kamen die Ameisen.
Als der Morgen graute, wußte Gaven, warum man das Grauen nannte. Am liebsten hätte er kehrtgemacht und wäre wieder heimgelaufen, aber dann war er wieder nur der faule Sohn, der nichts fertigbrachte, und Varyn war immer noch unterwegs - es ging nicht. Gaven hatte den Moment zum Umkehren schon verstreichen lassen. Jetzt mußte er weitergehen, und hoffen, daß er irgendwo etwas zu essen auftreiben konnte, und eine Decke, und Geld - alles, was er in seiner Dummheit daheimgelassen hatte. Oder ein Pferd - warum hatte Gaven nicht dem Wirt das Pferd gestohlen, oder dem Schmied - oder auch nur seinem Vater das Pony? Damit ihn niemand Dieb nannte und schlecht über seine Eltern redete? So nannten sie ihn zumindest nur Dummkopf. Was für eine Auswahl!
Gaven wanderte weiter, mit knurrendem Magen, auf wehen Füßen, die Beine schwerer als die Körbe, die er früher immer schleppen mußte. Aber er versuchte sich zu überlisten. Er sang alle Lieder, die er kannte. Es waren nicht viele, aber das war egal - Gaven konnte schließlich auch nicht singen.
Gegen Mittag - das hieß, Gaven hoffte, daß es Mittag war, aber tatsächlich dauerte es dann noch viel, viel länger bis zum Abend - kaute er seine letzte Rübe, und das Knurren seines Magens war lauter als das Knurpsen in seinem Mund. Und danach war er genauso hungrig wie vorher. Diese Rüben waren Schweinefraß, aber wie Schweine davon fett werden sollten, wußte Gaven nicht zu sagen.
Später beschloß er, einen Fisch zu fangen - das konnte ja so schwer sein. Es gab Fische im Fluß, Fische konnte man essen, so einfach ging das. Und wenn ein Fisch seinen Kopf aus dem Wasser streckte, um nach Luft zu schnappen, konnte Gaven sich ihn schnappen. Und so hockte Gaven sich an einer trockenen Stelle am Ufer nieder und wartete. Und wartete. Tatsächlich: Irgendwann kam ein Fisch, streckte den Kopf ein Stückweit raus und packte sich ein Insekt, das auf dem Wasser herumlief. Aber Gaven hätte ebenfalls über das Wasser laufen müssen, um diesen Fisch zu erwischen - das war einfach zu weit weg. Oder Gavens Arme zu kurz. Oder beides. Gaven fluchte. Und wartete weiter.
Dem nächsten Fisch versuchte er einen Stein an den Kopf zu schmeißen. Einen toten Fisch konnte man auch mit einem Stock aus dem Wasser fischen. Und wenn Gaven eines gut konnte, dann war das Steine schmeißen. Wer nur eine Abraumhalde zum Spielen hatte und sonst nichts, der lernte, wirklich gut Steine zu schmeißen. Gaven warf natürlich nicht so gut wie Varyn. Aber gut genug für einen Fisch. Nachdem er erst einmal einen passenden Stein gefunden hatte, war es ein leichtes Spiel, den Fischkopf im Moment des Auftauchens zu erwischen. Patsch! Und dann verschwanden Stein und Fisch im Fluß und waren fort. Gaven heulte vor Wut und Hunger.
»He, Junge!«
Gaven rieb sich eilig mit der Hand übers Gesicht, während er sich aufrappelte. Auf der Straße kam ein Fuhrwerk. Der Führer winkte.
»Alles in Ordnung da unten?«
Er kam aus dem Dorf! Gaven lief ihm entgegen. »He Ho!« rief er zurück. »Kann ich ein Stück mitfahren?«
Der Fuhrmann lachte. »Sicher, Junge. Spring rauf. Auf dich halbe Portion kommt es auch nicht mehr an.« Er selbst ging zu Fuß, und daß, obwohl sein Gespann mit zwei kräftigen stämmigen Pferden unterwegs war: Dort lagen die Eisenbarren, die aus der Gießerei kamen. Früher hatte Gaven gedacht, daß alle Kohle für die Gießerei war und alles Eisen für die Schmiede, bis am Ende aus einem Haufen Kohle ein Schwert geworden war. Aber in Wirklichkeit verkauften Askir und Vernon ihr Eisen auch an andere Leute. Im ganzen Land schmiedete man Schwerter und Hufeisen aus Stahl, der mit Gavens Kohle hergestellt worden war. Und das gab Gaven natürlich das Recht, auf diesem Fuhrwerk mitzufahren. Zwar ging das so langsam, daß man zu Fuß fast schneller war - der Fuhrmann mußte ja auch noch mithalten können - aber oben auf dem Wagen konnte Gaven sich ausruhen, und das war viel wert.
»Danke«, sagte Gaven und kletterte auf den Kutschbock. »Mir sind die Füße schon ganz lahm geworden.« In dem Moment knurrte sein Magen laut und vernehmlich. Gaven sagte nichts dazu, aber er hoffte, daß der Fuhrmann es hörte.
»Wo willst du denn hin?« fragte der Mann.
»Den Fluß runter«,sagte Gaven vergnügt. »Ich suche die Soldaten.«
»Soldaten?« Der Fuhrmann lachte. »Du hast es aber eilig, Junge! Glaubst du, die wollen dich haben?«
»Weiß nicht«, antwortete Gaven. »Wenn nicht, gehe ich eben wieder heim. Einfach mal aus dem Tal raus.« Er mußte den Fuhrmann nicht belügen, das war gut. Denn was konnte ihm der Mann schon tun? Umkehren und ihn heimbringen? Sicher nicht. Hier war der Weg zu schmal für zwei Fuhrwerke, geschweige denn um das Fuhrwerk zu wenden. Darum mußte es kein Geheimnis sein, daß Gaven ein Ausreißer war.
Und es schien den Mann auch nicht zu stören. »Ich kann dich bis zur Barke in Fordal mitnehmen, das sind wir in zwei Tagen. Aber bis dahin geht’s in Ordnung.«
Gaven nickte und streckte sich. Es war schön auf dem Kutschbock, direkt vor sich die gleichmäßig hin- und herschwankenden Pferdehintern - vielleicht durfte er ja auch zwischendurch mal reiten, der Mann schien ja sehr gutmütig. Und ruhig - das war sowieso eine tolle Arbeit, den ganzen Tag mit Pferden arbeiten und dabei durch die Welt kommen! Man mußte kaum etwas machen als geradeausgehen, die Pferde kannten den Weg ja, und es gab auch nur den einen… Ab und an mal He oder Ho rufen, damit die Gäule nicht stehenblieben, und sich ansonsten die Sonne aufs Haupt scheinen lassen - wer wollte da überhaupt noch Soldat werden?
Nur die Schuhe zwackten noch - aber mit kurzem Seitenblick auf den Fuhrmann löste Gaven die Schnürsenkel, und als der Mann nichts sagte, zog Gaven die Schuhe ganz aus und knotete sie an der Reling fest, damit sie nicht verlorengingen. Gaven seufzte zufrieden, schloß die Augen und lehnte sich zurück. Jetzt noch ein wenig dösen - und dabei den Hunger vergessen… Sein Magen knurrte.
»Hunger?« fragte der Fuhrmann. »Kannst eine Brezel haben.«
Gaven nickte ungläubig. Wie nett war dieser Mann denn noch? »Oh - ah - gern!« stammelte er. »Danke.« Die Brezel war ein paar Tage alt, steinhart, und doch das kostbarste Stück Essen seit langem.
»Kannst mir später zur Hand gehen«, sagte der Fuhrmann und schmunzelte in seinen buschigen Bart hinein. »Dann haben wir beide was davon, daß ich dich mitnehme. Aber wenn die Pferde mir zu sehr schnaufen, gehst du hier unten bei mir.«
Wieder nickte Gaven. Wenn er dafür mal die Führleine halten durfte, war das ja keine Arbeit, sondern auch ein großes Abenteuer. »Mache ich gern!« sagte er - was für ein Gedanke, freiwillig arbeiten!
»Kannst mich Hennes nennen«, sagte der Fuhrmann.
»Und ich bin Gaven«, sagte Gaven. Fast war er ärgerlich, daß er mit dem Abhauen nicht noch gewartet hatte, bis Hennes dort losfuhr - dann hätte er sich soviel Fußmarsch ersparen können… Aber besser jetzt als nie. Er mußte das Glück packen, wo es war. Es konnten unmöglich alle Leute so nett sein wie der Fuhrmann. Und selbst wenn die Fahrt jetzt nur zwei Tage ging: Gaven beschloß, daß es die beiden schönsten Tage seines Lebens werden sollten.

Nach zwei Tagen war Gaven nicht mehr ganz so sicher, ob ein Fuhrmann wirklich das schönste Leben von allen hatte. Es konnte sehr kalt sein auf dem Kutschbock und anstrengend, nebenher zu gehen; und man war eigentlich immer naß, denn wenn es regnete, hatte man keinen Unterschlupf, und noch bevor man trocken werden konnte, gab es schon den nächsten Regen. Den Eisenbarren machte das nicht viel, und Hennes schien sich unter seinem großen Schlapphut auch nicht daran zu stören. Aber Gaven war naß von oben bis unten, und jeder Baum, jeder Strauch am Wegrand, unter dem er sich sonst hätte zusammenkauern können, schien ihn auszulachen.
Und es war langweilig. Nicht für Gaven, nicht für zwei Tage, aber für ein Leben. Die Pferde waren keine gute Unterhaltung, die Eisenbarren erst recht nicht. Kein Wunder, daß Hennes froh war, auch mal einen Jungen dabeizuhaben! Er brauchte keine großen Worte, aber er sprach mit soviel Wärme von seinen Kindern, seiner Frau, seinen alten Eltern, daß Gaven beinahe Heimweh bekam, nicht nach seiner Familie, aber nach der von Hennes. Doch wenn Hennes’ Kinder ihren Vater nur im Winter zu Gesicht bekamen, dann sollte auch Gaven das für ein paar Wochen oder ein Jahr überstehen können.
Es gab auch viel Schönes unterwegs - die Leine halten dürfen oder die schweren Kaltblüter zum Fluß führen, damit sie saufen konnten - alles war schön, wenn dabei Pferde vorkamen. Daß ihn vor wenigen Tagen noch ein Pferd fast totgetreten hatte, daran dachte Gaven nicht mehr, oder zumindest nicht mehr mit Angst. Pferde waren eben großartige Tiere.
Es war auch spannend, abends unter dem Fuhrwerk zu schlafen wie in einer Höhle, mit einer Lederplane, die den Wind abhielt, und einem Schlafsack, der zwar roch wie das hintere Ende einer Sau, aber doch warm und trocken war.
Und doch - als sie nach zwei Tagen den Fährhafen von Fordal erreichten, war Gaven doch froh, daß dieser Teil der Reise vorüber war. Denn was danach kam, sollte noch viel besser und abenteuerlicher werden: Gaven hatte beschlossen, per Schiff weiterzufahren. Schiffe waren fast noch großartiger als Pferde - schon allein, weil Gaven noch nie eines gesehen hatte. Außer ein paar kleinen Ruderbooten gab es bei ihm im Tal nichts Schiffähnliches. Eigentlich war es schon seltsam: Der Fluß war ja auch schon daheim mehr als nur ein kümmerlicher Bach, breit genug für ein Schiff allemal, und ganz schön schnell - aber das, sagte Hennes, war auch der Grund dafür, daß es keine Schiffe gab. Der Fluß war einfach zu schnell, und zu flach. Gaven verstand nicht, wieso der Fluß zu flach sein sollte, wenn man doch darin ertrinken konnte - aber es sollte ihm Recht sein. Dann mußten sie eben Erz und Eisen auf dem letzten Wegstück mit Fuhrwerken transportieren. Das Wichtigste war eben die Kohle.
»Und was machst du dann?« fragte Gaven. »Wenn das Eisen auf dem Schiff ist, meine ich. Fährst du dann nach Hause?«
Hennes lachte. »Schön wär’s. Aber die Pferde und ich können ein paar Tage verschnaufen. Dann kommt die nächste Ladung Erz. Und dann geht es wieder nach Courblaka.«
»Courblaka?« Gaven brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß damit das Dorf gemeint war. Keiner dort benutzte diesen Namen, aber natürlich gab es ihn. »Dann kannst du…« Er mußte schlucken. »Dann kannst du meinen Eltern sagen, daß es mir gutgeht«, sagte er. Fast hätte er gesagt ‘Mich wieder mitnehmen’.
»Kann ich machen«, antwortete Hennes gleichmütig. »Wenn du mir nachher beim Abladen hilfst, heißt das.« Er grinste.
»In Ordnung«, sagte Gaven. Eisenbarren konnten auch nicht schlimmer zu schleppen sein als Geröll. »Aber das ist ganz schön harte Arbeit. Da müßte ich eigentlich noch ein bißchen mehr dafür bekommen.«
»Du willst Geld?« Was hatte Hennes erwartet? Ganz dumm war Gaven schließlich auch nicht!
»Am liebsten ja«, sagte Gaven. Er wollte auch nicht gleich gierig sein! »Ich muß mir meine Brezeln doch ab jetzt selbst kaufen. Und ich bin stärker, als ich aussehe.«
»Hast ja Recht.« Hennes klopfte ihm auf die Schulter. »Hast dir sicher ein paar Groschen verdient. Will ja auch deinen Eltern nicht sagen, daß ich dich habe verhungern lassen. Aber erwarte nicht zuviel - Fuhrleute gehören nicht zum reichen Volk.«
»Ich will ja auch nicht reich werden«, sagte Gaven vergnügt. »Ich werde nur meinen großen Bruder zurückholen. Und das kannst du denen auch ruhig sagen.«
Die Arbeit, die dann folgte, war hart genug, daß Gaven ohne weiteres eine ganze Mark hätte verlangen können: Sie luden die Eisenbarren ab und schleppten sie auf das Schiff. Gaven versuchte, zwei Blöcke auf einmal zu tragen, aber das ging nicht. Eher fielen ihm beide Arme aus. Dafür lief er dann eben ein paarmal öfter. Hier gab es keinen Varyn, mit dem man ihn vergleichen konnte. Hier nannte ihn niemand Faulpelz, und Gaven wollte, daß das auch so blieb.
Denn eine Sache wußte Gaven: Er würde von hier ab mit dem Schiff weiterfahren. Der einzige, der das noch nicht wußte, war der Fährmann. Und den zu überzeugen, daß er jetzt einen Passagier hatte, war noch schwerer, als die Eisenbarren auf den langen Kahn zu schleppen. Gaven konnte nicht damit rechnen, daß die ganze Welt so nett war wie Hennes.
»Ich kann fest anpacken«, sagte er. »Ehrlich.« Er versuchte zu grinsen, während ihm der Schweiß übers Gesicht lief. Wenn der Fährmann das nicht schon während Gavens Eisenschlepperei gemerkt hatte, konnte ihn auch nichts mehr überzeugen.
»Hm«, sagte der Fährmann. »Du bist ne halbe Portion, der Rest kann mir egal sein. Den Fluß stört es nicht, ob du mit an Bord bist oder nicht.« Er nickte Hennes zu. »Ich geb auf ihn acht. Und wenn er mir zuviel redet, schmeiß ich ihn ins Wasser.«
»Ich weiß«, sagte Hennes. »Kenn dich doch.«
Gaven gluckste. Daß das so schnell gehen konnte! Und nun stand einer wilden Bootsfahrt nichts mehr im Wege. Der Fluß war schnell - Gaven wußte, wie schnell ein Rindenboot davongetragen wurde: So schnell konnte er nicht rennen, zumindest nicht lange. Das würde ein Ersatz sein für das nette, aber langsame Wegstück mit Hennes! Jetzt gab es den Fluß, wildes Wasser, reißende Strömung… und ein dickes Pferd? Gaven rieb sich die Augen, aber es stimmte: Der Kahn hatte nicht nur keine Segel und sah ganz anders aus als alle Schiffe, die sich Gaven immer ausgemalt hatte - er wurde auch noch von einem Pferd gezogen, das am Ufer langlief. Oder sollte man sagen: Langtrottete? Gaven seufzte. Da ging sie hin, seine wilde Bootsfahrt! Die nächsten Tage sollten also genauso langsam sein wie die letzten.
Und die Soldaten, und mit ihnen Varyn, waren sicher schon längst beim König angekommen…

Die nächsten Tage gingen dann tatsächlich langweiliger dahin als die letzten. Wo Hennes schon kein großer Redner war, erschien er neben dem Fährmann regelrecht geschwätzig. Kaum mehr als zwei Worte verlor der Fährmann am Tag. Und er ließ Gaven auch nichts machen - nicht ans Ruder, nicht an die Stake, nicht den Kahn vom Ufer wegstoßen, wenn er zu nahe drankam, nicht mit der Peitsche knallen, noch nicht mal das Pferd durfte Gaven versorgen. Der Fährmann tat einfach so, als wäre er allein an Bord. Und was zu Essen bekam Gaven auch nur, wenn er es hinter dem Rücken des Mannes aus dessen Tasche klaute. Der Fährmann war ein Trinker, so einer zählte kaum seinen Zwieback nach. Aber das war auch schon das einzig Gute, was Gaven über ihn sagen konnte. Er langweilte sich und vermißte Hennes.
Nun gut, es ging schon schneller als zu Fuß. Der Fluß schleppte mehr als das Pferd, und sitzen war angenehmer als Wandern. Aber trotzdem dacht Gaven doch immer daran, einfach den langen Satz an Land zu machen. Der Fährmann würde wohl nichts davon merken… Ob er es wohl mitbekam, wenn Gaven ihm das Pferd klaute? Gaven lachte leise bei der Vorstellung. Aber auch solche Ideen machten die Reise mit dem Kahn nicht wirklich interessanter.
Mit halbgeschlossenen Augen beobachtete Gaven das Ufer. Vielleicht gab es dort mal etwas zu sehen - graue Berge, grüne Berge, damit mußte auch einmal Schluß sein. Die Eisenbarren hatten noch einen weiten Weg vor sich, sie reisten in eine Stadt, die Car Irgendwas hieß, aber Gaven hatte immer weniger Lust, sie dorthin zu begleiten.
Als er die Zelte sah, sprang er auf. Ein Dutzend grauer Zelte auf einer Wiese - das konnten, sollten, mußten die Soldaten sein!
»Hüpf nicht rum!« brummte der Fährmann. »Sonst gehst du hier gleich achtkantig über Bord!«
Er hatte keinen Grund, sich aufzuregen. Der Kahn schwankte kaum, er war dafür viel zu schwer beladen. Eine Handvoll Wasser schwappte rein - mehr nicht. Und das trocknete schnell wieder. Und überhaupt -
»Ich bin sowieso weg«, antwortete Gaven munter. »Hier wollte ich hin.«
»Hum«, sagte der Fährmann und zuckte die Schultern. »Dann gut.« Aber er kam natürlich nicht auf die Idee, das Boot näher ans Ufer zu bringen. Gaven mußte springen. Er holte tief Luft, rief ein paar Engel an - ohne Namen: Je mehr sich angesprochen fühlten, desto besser - ging in die Knie, und sprang. Anlauf nehmen ging ja leider nicht. Ob beten genauso half? Gaven schloß zur Sicherheit die Augen - wenn er gleich in den Fluß viel, war es allemal besser, nicht auch noch gleich das Wasser reinzubekommen… Aber Gaven fiel nicht in den Fluß. Wahrscheinlich, weil er keinen Fuß vom Boot bekam.
Der Fährmann hielt ihn an der Schulter fest. »Warte, Junge.« Vielleicht war das ein Schmunzeln, aber dafür fehlten dem Mann schon zu viele Zähne. »Sei kein Blödmann. Gleich kommt ein Steg.«
Gaven biß sich auf die Lippe. Fast hätte er so was gesagt wie ‘Was meinst du wohl, wie weit ich springen kann?’, aber er verkniff es sich. Besser, der Fährmann sparte sich seine Nettigkeit bis zum Schluß auf, als gar nichts davon zu zeigen. Darum sagte Gaven dann doch nur: »Oh… Danke.«
Und als hinter einer leichten Flußbiegen tatsächlich ein hölzerner Anlegesteg auftauchte, mußte Gaven nur noch einen kleinen Satz machen und stand trockenen Fußes an Land. Er winkte dem Pferd und dem weiterziehenden Kahn hinterher - mehr den Eisenbarren als dem Mann, aber was sollte es, beide winkten nicht zurück - und dann, endlich, konnte er sich umsehen, wo er da überhaupt gelandet war.
Ein Dorf an einem Fluß in einem Tal - man konnte fast meinen, Gaven sei wieder daheim angekommen. Nur, daß dieses Dorf noch kleiner war, nicht die große weite Welt, von der Gaven vielleicht einmal geträumt hatte. Aber darum ging es auch nicht mehr. Die Zelte wiederfinden, bei den Zelten Varyn wiederfinden, und ihn dazu bringen, wieder mit nach Hause zu kommen - das war alles. Das war auch genug. Und vielleicht, wo Gaven gerade hier war, noch ein paar Würste klauen. Schließlich hatten sie noch einen weiten Rückweg vor sich…
Gaven fing an zu rennen, nicht, weil er es eilig hatte, nicht, weil er den Vorbesitzer der Würste fürchtete, sondern einfach so. Es war schön, sich wieder zu bewegen. Die Tage auf dem Kahn hatten ihn steif in den Knien werden lassen - kein Wunder, daß der Fährmann so dick war. Gaven rannte quer über eine Schafweide, sprang über Steine, und er war fröhlich und ein wenig atemlos, als er die Zelte vor sich liegen sah. Die Soldaten. Es mußten die Soldaten sein. Und sie waren es natürlich.
Die ersten Männer, denen Gaven begegnete, würdigten ihn keines Blickes. Sie schnauften an ihm vorbei, ein Rudel von zwanzig Burschen oder mehr, offenbar damit beschäftigt, im Kreis rund um das Lager zu rennen. Gaven sollte es recht sein. Wenn es aufs Rennen ankam - das konnte er auch. Aber jetzt hatte er besseres zu tun, als hinterher zu laufen. Aber jetzt hatte er Besseres zu tun. Erst mal Varyn finden. Und daß der nicht in dieser Gruppe sein konnte, war klar. Varyn würde immer vorneweg laufen. Und wenn der mal hinterher lief, sah das nur so aus - dann hatte er eben schon fast eine Runde Vorsprung.
Gaven schlich in das Lager. Es war besser, sich erst mal unauffällig umzuschauen. Das Lager sah schon ziemlich groß aus - das hieß, in den anderen Dörfern gab es keinen so klugen Mann wie seinen Vater. Das machte Gaven stolz, und auch ein wenig traurig vor Heimweh.
»Was lungerst du hier rum? Mach dich zurück zu deiner Gruppe!«
Gaven zuckte zusammen. »Äh, ja, ich…«, stammelte er und sah sich suchend um - von wo kam diese Stimme? Er sah niemanden. Vielleicht aus einem der Zelte?
»Ja, du! Tu nicht so unschuldig!«
Richtig, das war ein Zelt, das mit ihm sprach. Gaven ging nachsehen. Wenn das jemand wichtiges war, konnte der ihm sagen, wo Varyn steckte. Und wenn er nichts wichtiges war, brauchte er sich auch nicht so aufspielen.
»Was gibt’s denn?« fragte er und steckte den Kopf durch den Zelteingang. Halb rechnete er schon mit seinem Freund, dem Hauptmann - aber das war nur einer von seinen Männern. Älterer Kerl mit schwarzem Bart. Konnte nicht so wichtig sein.
Der Mann kniff die Augen zusammen. »Warte mal, Junge - komm mal her!«
Gaven gehorchte mit etwas mulmigem Gefühl. »Ja…«
»Du gehörst nicht zur Truppe.«
»Stimmt«, sagte Gaven und nickte erleichtert. »Ich bin nur hier, um meinen Bruder abzuholen.« Vielleicht war es nicht das Klügste, was er sagen konnte, aber Gaven hatte in diesem Moment sehr wenig Lust, ein Soldat zu werden.
»Und wie bist du hier reingekommen?«
Jetzt schüttelte Gaven verwirrt den Kopf und deutete auf den Zelteingang. »Aber Ihr habt mich doch gerade selbst reingewunken!«
Der Mann packte ihn beim Arm. »Ins Lager, Junge - ins Lager.«
Gaven schnaubte. »Bin einfach reinspaziert«, sagte er leichthin. »Niemand da, der mich aufgehalten hätte.«Um Gaven Angst zu machen, mußte man ihn schon härter anpacken.
»Das wird dem Hauptmann nicht gefallen«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Und du auch nicht. Man kann nicht einfach ins königliche Lager schleichen.«
»Ich bin nicht geschlichen!« versuchte Gaven sich noch zu rechtfertigen, aber da wurde er schon aus dem Zelt gezogen. »Ich sehe doch nicht aus wie ein Schnüffler.«
»Wie du aussiehst oder nicht, hat der Hauptmann zu entscheiden. Kannst froh sein, wenn du nicht gleich vors Kriegsgericht gestellt wirst.«
Das meinte er nicht ernst, nie und nimmer. Er wollte Gaven nur Angst einjagen - und ein klein wenig gelang ihm das auch. Aebr der Hauptmann kannte Gaven ja. Der würde ihn nicht gleich vor Gericht stellen…
Der Hauptmann stand am Rande eines Feldes und sah einer Gruppe von Burschen zu, die mit Stangen gegeneinander kämpften.Ab und an schüttelte er den Kopf, aber er sagte nicht viel. Er sah gelangweilt aus. Varyn war nirgends zu sehen. Mit in die Hüften gestemmten Händen drehte sich der Hauptmann zu ihnen um.
»Was gibt’s, Bakonyn?«
Der Schwarzbärtige schon Gaven nach vorn. »Hier, der hat im Lager rumgelungert. Keiner von unseren. Wolltest du keine Wachen aufstellen?«
Der Hauptmann schnaubte. »Was soll ich machen? Fünfhundert Mann nehmen und Seite an Seite ums Lager rum aufstellen, Ringelpietz mit Anfassen? Die haben doch keine Ahnung, worauf sich achten müssen.« So leichthin er das auch sagte, vergnügt sah er dabei nicht aus. »Und was ist das jetzt für ein Junge?«
»Einer, der hier nichts zu suchen hat.«
»Und was soll ich dann mit ihm?« fragte der Hauptmann unwirsch. »Verpaß ihm eine Tracht Prügel und schmeiß ihn raus.«
In diesem Moment witterte Gaven seine Chance. »Dann komme ich wieder!« rief er schnell. »Ich bin schon so oft verhauen worden, das macht mir doch nichts aus.«
Der Hauptmann stutzte, und dann beugte er sich zu Gaven hinunter. »Warte mal…«, sagte er langsam. »Warte mal!« Er packte Gaven bei der Schulter. »Dich kenne ich doch!«
Gaven strahlte. »Das stimmt! Das war -«
»Maulhalten! Hier rede ich!« schnauzte der Hauptmann ihn an.
Gaven biß sich auf die Lippe. Immerhin konnte sich der Hauptmann an ihn noch erinnern. Und er sah auch nicht so ärgerlich aus, wie er wohl klingen wollte, als er seinen Schwarzbärtigen angrunzte: »Tu mir einen Gefallen, Bakonyn, ja? Nimm mir die Idioten hier für einen Moment ab, während ich diesem Rotzbengel die Ohren abreiße.« Um direkt vor Ort damit anfangen zu können, packte er Gaven beim Ohr und zog ihn daran weg.
»Aua!« rief Gaven. »Aua, das brauche ich noch!«Es tat wirklich weh.
Der Hauptmann lachte vergnügt. »Ach, so ein großes Ohr wie deines muß das aushalten können.«
Und dann nahm er ihn mit in sein Zelt. Das allein war schon alles Ohrenziehen wert - welcher andere Junge konnte schon von sich sagen, mal im Zelt eines echten königlichen Hauptmanns gewesen zu sein? Zugegeben, es war nur ein kleines Zelt, mit nicht viel mehr darin als einer Kiste und einem Feldbett, aber immerhin!
»Gut. Setz dich.« Der Hauptmann deutete auf die Kiste, und Gaven gehorchte. »Du bist doch der Junge, der mein Pferd stehlen wollte, nicht wahr?«
Gaven nickte. Sein Ohr brannte, und er rieb es zwischen zwei Fingern. Der nächste, der das versuchte, sollte Gavens anderes Ohr nehmen, dann waren sie wenigstens wieder gleich groß.
»So«, sagte der Hauptmann. »Paß mal auf. Wenn du gerade fandest, das hat wehgetan - was willst du dann im Krieg? Wo Männer andere Männer totschlagen, aufspießen, erschießen? Sag mir das!«
Gaven schüttelte den Kopf. »Will ich doch gar nicht.«
»Ach nein? Und was machst du dann hier? Bist du nicht von Zuhause fortgelaufen, um ein großartiges Leben als Soldat zu führen?«
»Nö«, sagte Gaven. Es machte Spaß, die Verwirrung im Gesicht des Hauptmanns zu sehen. »Nö, bin ich nicht.«
Der Hauptmann seufzte und sah fast ein wenig erleichtert aus. »Gut. Eine Sorge weniger. Aber was willst du dann?«
»Ich will meinen Bruder sehen«, sagte Gaven. Er war zu schlau, um zu sagen ‘Ich will meinen Bruder heimholen’ - kein Hauptmann würde sich seine Soldaten so ohne weiteres wegnehmen lassen. Aber Sehen - Grüße von der Familie Ausrichten - das konnte ihm wohl keiner verbieten!
»Deinen Bruder?« Der Hauptmann zwinkerte. »Du bist doch nicht etwa -«
»Er heißt Varyn«, sagte Gaven. Und wunderte sich nicht wirklich, als der Hauptmann zu grinsen anfing.
»Bruder ist gut! Mir sagte er noch, er ist ein Waisenknabe und ganz allein!«
»Ist er auch«, sagte Gaven. »Lange Geschichte. Er ist trotzdem mein Bruder. Kann ich ihn sehen?«
Der Hauptmann lächelte. »Nur sehen? Du haust ab und treibst dich tagelang auf der Landstraße herum, nur um deinen Bruder kurz zu sehen? Soll ich das glauben? Oder soll ich glauben, daß du ihn wieder mit mitnehmen willst? Hm?«
»Hm«, sagte Gaven. Konnte er den Hauptmann anlügen? Wenn der das merkte, gab es Ärger, und nicht zu knapp - und so ein Hauptmann mußte sich auskennen und merken, wenn jemand log. »Hm«, sagte Gaven noch einmal.
»Denn wenn das so ist«, fuhr der Hauptmann fort, »und du haust mit ihm ab, und dann werdet ihr erwischt, dann wird Varyn als Deserteur ausgepeitscht und in den Krieg zurückgebracht, weil der König seine Soldaten braucht. Aber du bist kein Deserteur und kein Soldat, sondern ein Verräter, und als solcher wirst du aufgeknüpft, und keiner fragt danach, wie alt du bist.«
Dazu sagte Gaven lieber nichts. Das war etwas, das er nicht wußte und auch eigentlich lieber nicht wissen wollte.
»Das einfachste«, sagte der Hauptmann, und jetzt grinste er breit über das ganze Gesicht, »ist, wenn du dich erst meiner Einheit als Rekrut anschließt und ihr euch irgendwann unbemerkt im Morgengrauen davonschleicht. Wir sind auf dem Weg zum Aleruan, wo sich die Truppen sammeln - da haben wir keine Zeit, hinter zwei heimgelaufenen Jungen herzurennen.«
Gaven blinzelte und runzelte die Stirn. Der Hauptmann sprach leise, fast verschwörerisch, und sagte nicht wirklich das, was ein Hauptmann sagen sollte… Gaven zögerte einen Moment, dann fragte er: »Ihr wollt Varyn los sein, stimmt’s?«
Der Hauptmann zischte und legte einen Finger an die Lippen. »Pssst, Junge! Muß doch keiner wissen… Ich gäb eine Menge drauf, deinen Bruder wieder daheim in eurem Bergwerk zu wissen. Er ist -«
»Verrückt«, sagte Gaven. »Weiß ich längst.«
Doch der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Ich kenne genug Verrückte. Mit Verrückten habe ich keine Probleme. Aber dein Bruder ist gruselig. Und wenn das nicht ausreicht, ist er doch lästig wie ein eingewachsener Zehennagel. Daß du ihn wiederhaben willst, ehrt dich.«
Gaven zuckte die Schultern. »Er ist halt mein Bruder«, sagte er. »Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Aber wenn er da ist, wird er verhauen, und ohne ihn verhauen sie mich.« Er versuchte zu lachen, aber es gefiel ihm nicht, wie der Hauptmann Varyn beleidigte. Auch wenn er es verstehen konnte. »Wo ist er denn?« fragte er schnell, bevor noch weiter auf Varyn herumgehackt wurde.
Der Hauptmann lachte. »Liegt im Zelt und schläft.«
»Schläft?« fragte Gaven entgeistert. Es war hellichter Tag - sein Vater wäre vor Scham gestorben, wenn einer den Tag im Bett verbrachte, statt zu arbeiten! Und Varyn schlief sonst nie richtig. Gaven rümpfte die Nase, als er das Grinsen verstand. »Hat wieder gesoffen, was?«
Der Hauptmann bleckte die Zähne. »Habe ich mir doch gedacht, daß er das öfter macht!«
»Ach was«, sagte Gaven. »Bei uns saufen sie alle.« Stimmte zwar nicht ganz, aber er hatte doch irgendwie das Bedürfnis, Varyns Ehre zu verteidigen. »Aber ich wette, er hat jetzt lange genug geschlafen. Ich hab Erfahrung, ihn zu wecken.«
»Ich bring dich hin«, sagte der Hauptmann. »Wenn du dich vorher in die Soldliste einschreiben läßt, heißt das.«
»Also gut.« Gaven grinste. »Ist ja nicht für lange, nicht?« Ganz kurz fragte er sich, ob das keine Falle war, ob es dem Mann nicht nur darum ging, noch einen Soldaten zu bekommen, und sei es mit einem Trick. Aber wenn es um Tricks ging, war Gaven auch nie lange um einen verlegen. Und so folgte er dem Hauptmann zum Schreiber, nannte ihm seinen Namen schwindelte ein bißchen bei seinem Alter - weil ihn der Schreiber ansah wie einen kleinen Jungen, sollte er doch denken, daß Gaven zumindest fünfzehn war. Aber obwohl sich Gaven immer die große Ehre ausgemalt hatte, ein Soldat des Königs zu sein, war es ihm jetzt ziemlich egal. Er wollte Varyn wiedersehen, jetzt gleich, und sich dann mit ihm auf den Heimweg machen. Es ging nicht an, daß Varyn am Tag schlief!
»Da drin liegt er«, sagte der Hauptmann und zeigte auf ein großes gammeliges braunes Zelt.
»Danke«, sagte Gaven, und dann trat er in das muffige Dunkel. Er mußte nicht lange suchen - da schlief gerade nur einer. Gaven lachte, kniete sich hinter ihn, und schüttelte ihn. »Aufwachen! Varyn! He, Varyn!«
Und Varyn gehorchte.

Nächstes Kapitel