Und schon folgte der nächste Traum. Varyn zwinkerte,
gähnte, seufzte, und grinste. Gaven im Soldatenlager. Wenn es
weiter nichts war - darauf würde er jetzt nicht mehr
reinfallen. Er lachte. »Laß gut sein, Mittlerer. Falls
ich dich gestört habe, schlaf weiter.« Es konnte ja
sein, daß Gaven gleichzeitig von ihm träumte - Varyn
wollte lieber nicht wissen, was. Es konnte kaum etwas freundliches
sein.
Als Gaven nicht verschwand und Varyn nicht aufwachte, als Gaven ihn
nur anblickte und die Nase rümpfte, schüttelte Varyn den
Kopf. »Komm schon, ich weiß doch, daß du in
Wirklichkeit im Tal bist…« Und dann begriff Varyn.
»Du bist nicht wirklich Gaven, oder? Du bist mein
Führer, der mir den Weg in die Steine -«
Weiter kam er nicht. Gaven zwickte ihn kommentarlos und fest ins
Gesicht. Es tat weh, auf eine kurze, echte Weise. »So«,
sagte der Junge dann. »Jetzt mach die Augen zu, und dann werd
noch mal wach, aber richtig, sonst pitsche ich dich
wieder.«
Varyn atmete durch. Er war wach. Er war nicht wach. Er
träumte. Er träumte nicht. Ob der Tunnel über ihm
zusammenbrach oder Gaven ihn zwickte, es war alles gleich echt oder
falsch. Also war es egal, ob Varyn schlief oder wach war: Er
mußte da jetzt durch. Obwohl er nichts davon wirklich wollte
- er wollte nur zurück in den letzten Traum, in die Steine von
Sharaz, und erfahren, was der Dämmervogel zu sagen hatte. Und
wer sie überhaupt war. Diese Stimmen - diese drei
Säulengestalten - die Steine - er sah alles noch vor sich,
doch es begann langsam zu verblassen. Varyn zwinkerte, damit sich
das Bild in sein Gedächtnis einprägte. Es war besser,
wenn dieser Gaven in Wirklichkeit ein Bote des Dämmervogels
war. Aber er wollte eindeutig wie Gaven behandelt werden. Und das
sollte er haben. Ab jetzt konnte Varyn nur noch das Richtige tun -
und das war doch mal was!
Varyn setzte sich auf - wenigstens fühlte er sich jetzt
endlich so, als ob er genug geschlafen hatte, und das war kostbar
genug. »In Ordnung, Gaven«, sagte er so normal und
vergnügt wie möglich. »Nehmen wir mal an, ich
träume nicht und du bist wirklich der Mittlere - wie, bei
allen Engeln, kommst du plötzlich hierher?«
Gaven schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn, doch er
behielt seine Fingernägel diesmal bei sich und setzte sich zu
ihm. »Sag mal, du liegst hier und schläfst - bist du
noch besoffen, oder kann man mit dir reden?«
»Man kann mit mir reden«, sagte Varyn ernster als
geplant. Wann hatte er sich das letzte Mal mit Gaven unterhalten?
Es schien Jahre her zu sein, verborgen hinter einem Nebel aus
Träumen und Angst. Varyn wußte, daß seine
Geschwister längst den Glauben an ihn verloren hatten - aber
wenn das hier wirklich Gaven war, dann würde der ihm
vielleicht noch eine Chance geben? Es war den Versuch wert.
»Ich hör auch mit dem Saufen auf, ich hab es
geschworen.«
»Es ist mir egal, ob du säufst«, sagte Gaven, mit
Gavens üblichem Trotz in der Stimme, daß er wirklich nur
der Echte sein konnte. »Es ist mir sogar egal, ob du
verrückt bist oder Gesichter hast - ich will
nur…« Er brach ab.
»Was?« fragte Varyn vorsichtig. Sie hatten beide zuviel
Zeit damit verbracht, nicht zurückzufragen. »Was willst
du?«
»Sag ich dir später«, murmelte Gaven. Und im
nächsten Moment warf er sich Varyn um den Hals. »Ich hab
dich vermißt!« schniefte er, und alles prasselte auf
Varyn ein, Wut und Kummer und Enttäuschung, daß er fast
selbst losheulen mußte.
»Ich hab dich doch auch vermißt«, sagte er heiser
und drückte seinen kleinen Bruder an sich. »Ich hab euch
alle so vermißt.« Und es stimmte, er konnte gar nicht
sagen wie sehr. »Und es tut mir so leid - so leid, daß
ich mich gar nicht mal verabschiedet habe.« Aber das konnte
er nicht. Nicht damals, und nicht jetzt, wo er den tapferen kleinen
Jungen gleich wieder nach Hause schicken mußte.
Aber bevor Varyn noch fragen konnte, bevor Gaven irgend etwas
erzählen konnte, bevor sie einander auch nur wieder loslassen
konnten, wurden sie grob gestört. Es war ja nur ein
Mannschaftszelt, in dem Varyn schlief, mit Platz für zwanzig
weitere Burschen, und zwei von denen kamen jetzt gerade
hereinspaziert oder besser gestolpert, sichtlich außer Atem
von der harten Ausbildung draußen Auf dem Acker. Im
Zelteingang blieben sie stehen wie angewurzelt, und Varyn sah
über Gavens Schulter, wie ihre erschöpften Gesichter sich
in entgeisterte verwandelten.
»Ne, ich glaub das nicht - der ist andersrum!« rief der
eine. »Was ist, kriegst du keine Frau ab und suchst dir
lieber gleichen einen Jungen?« Aber erst, als er einen
kleinen Kußmund und schmatzende Geräusche machte,
begriffen Varyn und Gaven, waser da überhaupt
meinte.
Gaven riß sich los, so heftig, daß er Varyn dabei aufs
Lager zurückstieß - das kannte Varyn schon, immer wenn
es Ärger gab, kannte Gaven ihn nicht mehr, selbst wenn in
Wirklichkeit alles nur ein Mißverständnis war - aber
Varyn irrte. Gaven brauchte nur beide Hände, um auf den Kerl
loszugehen.
»Sowas sagst du nicht noch mal über meinen
Bruder!« rief er, und Varyn mußte fast lachen, als er
daran zurückdachte, wie er selbst seine Geschwister immer mit
Fäusten verteidigt hatte, selbst seinen größeren
Bruder. Dabei hatte Gaven sicher keine Vorstellung von dem, was man
ihnen da unterstellt - hoffte Varyn zumindest - aber er erkannte
eine Beleidigung, wenn sie so gemeint war.
»Bruder?« grölte der Rekrut unbeeindruckt.
»Ja, sicher! Ein Warmer vielleicht!« Und dabei war er
noch einer von den neuen Leuten, der noch gar keine Chance hatte,
Varyn in seiner ganzen bescheuerten Pracht kennenzulernen! Er
stieß Gaven vor die Brust. »Leg dich mal besser nicht
mit richtigen Männern an, Kleiner!«
Varyn hatte keine Lust abzuwarten, ob Gaven damit allein klarkam.
Das war gegen sie beide gerichtet. Varyn war der ältere. Und
warum oder wie Gaven auch immer hierher gekommen sein mochte, Varyn
war für ihn verantwortlich. Er stand auf, aber ohne
unnötige Hast - wenn ihm jetzt schwindelig wurde und er sich
langlegte, half das keinem. »He!« rief er dabei.
»Laß ihn in Ruhe, oder ich dreh dich gleich
andersrum!«
Seine Hände kribbelten in Vorfreude auf eine richtig gute
Schlägerei. Das war der letzte Beweis, daß er wach war.
Varyn hatte im Traum schon alles erlebt, aber sich noch nie dort
geprügelt. Und in diesem Moment hoffte er, der Bursche
würde Gaven vielleicht noch mal etwas heftiger schubsen, dann
hatte Varyn einen Grund, den Kerl so richtig -
Varyn hielt inne, noch bevor er den ersten Schlag landen konnte. So
nicht. Keine Prügelei. Keinen Ärger. Nicht nur, weil es
nicht fair war - der Bursche und sein feixender Freund waren schon
erschöpft, Varyn gerade frisch ausgeschlafen: Es brachte vor
allem nichts. Varyn war nicht daran interessiert, sich zu schlagen,
und man bekam auch nichts davon als Nasenbluten - und vor allem
half es Varyn nicht in die Steine von Sharaz. Er legte Gaven eine
Hand auf die Schulter. »Laß gut sein. Der ist das nicht
wert.« Plötzlich fühlte er sich wieder seltsam,
aber es war ein anderes seltsam als sonst - Varyn fühlte sich
erwachsen.
»Was ist hier los?«
Der Hauptmann. Gut, daß er in diesem Moment kam, wo sich
seine Rekruten gerade nicht prügelten! Sonst war jeder Versuch
Varyns, hier ein neues Leben anzufangen, schon zum Scheitern
verdammt.
»Ich wollte den anderen gerade nur meinen Bruder
vorstellen«, sagte Varyn schnell und drückte Gavens
Schulter etwas fester, damit der sich ruhig verhielt und nicht noch
auf die Idee kam, dem Kerl vors Schienbein zu treten oder zu
spucken oder irgendwas anderes, das zu seinem wütenden
Gesichtsausdruck paßte, zu tun.
»Und das geht nicht ohne Brüllen ab, wie ich
sehe«, sagte der Hauptmann kopfschüttelnd. »Aber
ihr habt besseres zu tun, Kohlenjungen. Kommt mit!«
Langsam nahm das Bild Gestalt an. Der Hauptmann kannte Gaven nicht
nur, er war auch offenbar über seine Anwesenheit nicht
verwundert. Das hieß, der Junge hatte -
»Gaven!« zischte Varyn, während sie hinter dem
Hauptmann ins Freie traten und die feixenden Männer im Zelt
zurückließen. »Sag mir nicht, du hast dich
rekrutieren lassen!«
Gaven zuckte die Schultern. »Mußte ich ja - ich
wäre sonst nicht -«
»Maulhalten!« fuhr der Hauptmann dazwischen. »Was
glaubt ihr, wofür ihr hier seid? Schlafen und schwafeln? Soll
ich euch noch Bier und Brezeln dazu bringen? Ihr seid hier, damit
ihr zu anständigen Fußsoldaten werdet. Also - nehmt die
Beine in die Hand und dreht drei Runden um das Lager,
verstanden?«
»Nur ich und Varyn?« fragte Gaven kühn, und Varyn
glaubte zu sehen, daß der Hauptmann ihm dabei
zuzwinkerte.
»Was glaubst du denn?« knurrte der dann und gab sich
wieder ganz grimmig. »Natürlich nur ihr zwei. Oder
erwartet ihr, daß ich mitkomme und Händchen
halte?«
»Danke!« rief Gaven und tat einen kleinen Hüpfer
an Varyns Seite. Und dann packte er ihn bei der Hand und lief
los.
Schon nach wenigen Schritten
ließ er Varyn dann auch wieder los, und das war auch sicher
gut so, denn die anderen Burschen mußten ja nicht noch auf
weitere dumme Gedanken kommen. Eine Weile lang liefen die
Brüder schweigend nebeneinander her, und Varyn, der schon
bereit war, sich aus Rücksicht auf den Jungen mit seinen
Kräften zurückzuhalten, mußte feststellen,
daß Gaven doch ein erstaunlich guter Läufer war. Viele
von denen Rekruten, mit denen Varyn jetzt unterwegs war, und wenn
sie auch einige Jahre älter waren als er und erst recht als
Gaven, hatten nicht die Kraft oderdie Ausdauer dieses zähen
kleinen Burschen. Bis dahin hatte Varyn Gaven immer irgendwie
für einen Schwächling gehalten, und das war er sicher
auch, verglichen mit Varyn selbst. Aber es gab eben nicht nur Gaven
zum Vergleichen.
Nachdem sie einen anständigen Abstand zum Lager aufgebaut
hatten, ließ sich Gaven in einen eher gemütlichen Trab
fallen, und Varyn tat es ihm nach - hier hing es wirklich nicht um
einen Wettlauf. Die beiden hatten einander nichts mehr zu beweisen,
aber dafür um so mehr zu erzählen und zu reden.
»Er ist großartig, nicht wahr?« fragte Gaven
atemlos.
»Wen meinst du?« Varyn war noch lange nicht atemlos,
aber aus Mitleid hing auch er ein Schnaufen an den Satz.
»Den Hauptmann, natürlich!« Gaven wischte sich mit
dem Ärmel über das Gesicht und tippte sich dabei kurz
gegen die Stirn, daß Varyn da nicht selbst drauf gekommen
war. »Der weiß ja, daß ich mit dir reden will,
und jetzt können wir das zumindest in Ruhe und ungestört
tun.«
Varyn blieb stehen, stemmte die Hände auf die Knie und atmete
durch. Es war albern - aber er konnte nicht laufen und denken
gleichzeitig. Zumindest nicht so nachdenken wie er wollte.
»Was spielt ihr hier überhaupt?« fragte er
schroffer, als Gaven es vielleicht verdiente. »Du und der
Hauptmann - was habt ihr vor mit mir?« Etwas Verhaßtes
regte sich in ihm; irgendwo in der Tiefe lauerte immer noch eine
Angst, wartete nur darauf, auszubrechen und Besitz von ihm zu
ergreifen. Es war eben noch nicht durchgestanden, allen
Träumen zum Trotz. Er war immer noch bereit, an die
Todesgefahr zu glauben und daran, daß jeder etwas gegen ihm
im Schilde führte, und auch auch, daß es Gaven und der
Hauptmann taten… Varyn schüttelte sich. »Ich
meine es nicht böse - sag mir einfach, was ist los, in
Ordnung?«
Gaven grinste. »Na, wenigstens hast du dich nicht
geändert.« Er schien seltsam zufrieden damit. »Ich
bin hier, um dich hier rauszuholen. Du kommst mit mir nach
Hause.«
Varyn mußte lachen. Das war nicht zu glauben und nicht zu
verstehen, und doch hatte er diese Worte fast so erwartet - seit
Gaven aufgetaucht war, würde sich Varyn so schnell über
nichts mehr wundern. »Das ist - das ist nett«, murmelte
er. »Aber - das geht nicht.«
Gaven verstand ihn, aber er verstand ihn falsch. »Ja, ich
weiß, was sie mit Deserteuren machen - aber nur mit denen,
die sie erwischen! Und der Hauptmann kommt nicht hinter uns her,
hat er mir beinahe gesagt.«
Bei der Vorstellung mußte Varyn schmunzeln - er kannte den
Hauptmann inzwischen gut genug, um zu wissen, daß der viel
darum geben würde, ihn schnell und bequem wieder loszuwerden,
und konnte sich daher gut vorstellen, wie es sich anhörte,
wenn der Mann etwas beinahesagte… »Das
meine ich nicht«, sagte er. »Ich kann und werde nicht
hierbleiben, und ich lasse auch ganz sicher nicht zu, daß du
hierbleibt, denn du hast bei den Soldaten nichts, wirklich nichts
zu suchen -«
»Doch!« fiel ihm Gaven ins Wort. »Ich suche
dich!«
Varyn nickte, aber er wollte nicht sentimental werden.
»Ja«, sagte er. »Vielleicht. Aber erwarte nicht,
daß ich mich jetzt darüber großartig freue - du
meinst es bestimmt nur gut, aber du hilfst mir damit nicht, ich
habe genug mit mir selbst zu tun, als mich auch noch um einen
kleinen Jungen kümmern zu müssen.«
Er erinnerte sich, schon einmal etwas ganz ähnliches gesagt zu
haben, am Tag bevor er fortging. Aber wo ihn Gaven damals nur
trotzig ausgelacht hatte, starrte er ihn nun so schmerzerfüllt
an, als hätte Varyn ihn ins Gesicht geschlagen. »Der
dumme Junge bist du!« schrie er. »Nur du, du selbst!
Ich bin vielleicht kleiner als du und jünger und alles, aber
du bist verrückt, du bist krank und hilflos und - Nein, du
unterbrichst mich jetzt nicht! Ich hab eine Menge auf mich
genommen, um dich hier zu finden, und verdammt, ich habe es
geschafft, ganz allein, und das ist mehr als du jemals - Nein,
Varyn, jetzt rede immer noch ich, verdammt! Glaub nicht, daß
du weit kommst, wenn du es von hier aus allein versuchst, du
brauchst mich mehr als ich dich, ich bin hier um dich hier
rauszuholen, ich bin hier, um dir zu helfen, und ich lasse mich
nicht mehr behandeln als wäre ich ein Schwachkopf oder ein
kleines Kind oder ein Klotz an deinem Bein.«
Zitternd und keuchend stand Gaven vor Varyn, das Gesicht rot und
weiß gefleckt vor Wut; Tränen ließen seine kleinen
schwarzen Augen blitzen.
Auch Varyn zitterte, auch vor Wut, auch auf sich selbst. Egal ob
Gaven jetzt Recht hatte oder nicht, Varyn machte doch immer und
immer und immer noch die gleichen Fehler. Aber man mußte
nicht mit den alten Fehlern weitermachen! »Es tut mir
Leid«, sagte er und legte Gaven eine Hand auf die bebende
Schulter und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinunter.
»Paß auf, siehst du das Wäldchen dahinten?
Laß uns in die Richtung gehen. Ich will dir was
erzählen, aber wir sind immer noch zu nah am Lager… Die
Sache ist die, ich muß die Soldaten so schnell wie
möglich verlassen, aber ich kann auch nicht zurück ins
Tal, zumindest noch nicht. Ich muß an einen Ort, der
‘Steine von Sharaz’ heißt. Ich weiß nicht,
was das ist, oder wo das ist, aber ich muß dorthin - lach
nicht. Ich erzähl dir alles.«
Gaven blickte ihn wortlos an. Er lachte nicht - tatsächlich
sah er sehr weit entfernt davon aus. »Hm«, sagte er
nur. »Hm.« Und dann: Ich warte da schon seit Jahren
drauf, und ich kann es mir jetzt irgendwie nicht mehr vorstellen,
daß du es wirklich tust.«
»Ich tu es«, sagte Varyn. »Versprochen.« Er
wußte nicht einmal mehr, ob er schon einmal ein Versprechen
gegenüber Gaven gebrochen hatte - bestimmt hatte er
das… »Und bis wir da am Wald sind - mich interessiert
brennend, wie du es geschafft hast, einfach so
hierherzukommen.« Er verzichtete darauf, Gaven noch mal
zu umarmen und gab ihm nur einen Klaps wie einem Gleichaltrigen,
oder einem Ebenbürtigen. »Mittlerer.«
Es dauerte lange, bis sie ins Lager zurückkehrten, die Sonne
ging schon unter, aber der Hauptmann hatte ihnen ja nicht gesagt,
wie groß der Kreis war, den sie laufen sollten, oder wie
schnell rennen. Falls irgend jemand sich über ihr Fehlen oder
über ihre späte Rückkehr wunderte, so sprach es doch
niemand aus; es gab keinen Ärger und auch keine weiteren
dummen Witze.
Varyn hatte sich heiser geredet; seine Zunge klebte ihm vor Durst
nutzlos am Gaumen, aber um eines kam er nicht umhin zuzugeben:
Daß er da einen kleinen Bruder hatte, auf den er wahrhaftig
stolz sein konnte. Und jetzt, wo Varyn alles erzählt hatte,
auch auf sich selbst.
Später lag Varyn lang wach, ehe
er einschlief, aber es war ein anderes Wachliegen als früher,
es war eines, das er fast genießen konnte - sanft
dahindämmern und sich auf seinen Traum freuen, wann konnte er
das sonst schon einmal? Er wollte, mußte wissen, wie es
weiterging, er wollte den Dämmervogel wiedersehen und die
Elster, er wollte wissen, wo die Steine waren… Soviel
Spannung, soviel Vorfreude, soviel Aufregung, daß er
darüber fast nicht einschlafen konnte - aber dann schlief er
ein, und träumte nichts. Gar nichts. Vielleicht war es das
Beste. Er hatte in den letzten Tagen genug geträumt, daß
es für eine ganze Woche reichen mochte. Und am anderen Morgen
zusammen mit den anderen einfach ausgeschlafen aufzustehen, das war
auch einmal etwas Feines.
Varyn gähnte und streckte sich und hatte nichts im Sinn als
sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen und dann
eine Schale Grütze zu verdrücken. Und dann konnte er
immer noch in aller Ruhe anfangen, Pläne zu schmieden, was das
Desertieren anging, und nach Wegen und Zeichen zu suchen. Wo Gaven
jetzt schon mal da war, hatte der vielleicht auch noch brauchbare
Einfälle dazu beizusteuern…
Aber ausgerechnet Gaven begegnete ihm vielleicht ausgeschlafen,
aber ziemlich übellaunig. »Und? Was machen die
Träume?« raunzte er ihm zu, als sie gemeinsam vor dem
Kochzelt für ihre Grütze anstanden. »Wo schicken
sie dich heute hin?«
Varyn biß die Zähne zusammen. Wenn es das jetzt sein
sollte, bereute er schon zutiefst, jemals Gaven von seinen
Träumen erzählt zu haben. War sein Bruder deshalb danach
so schweigsam gewesen, weil ihm auf die Schnelle keine Gemeinheit
einfiel? »Nicht jetzt?« zischte er.
Gaven schnaubte. »Ja, mach nur. Hauptsache, du bist
glücklich dabei.«
Varyn zuckte die Schultern. Es mußte nicht persönlich
gemeint sein - vielleicht hatte der Junge schlecht geschlafen, oder
gefroren, oder es war ihm Getier in die Hosen gekrochen. »Wir
sprechen nachher darüber, in Ordnung?« sagte er schnell.
»Bis dahin reiß dich am Riemen, und iß soviel von
dem Zeug, wie du irgendwie runterbringst. Bis heute Abend bekommst
du nichts mehr.«
Jetzt lachte Gaven zumindest. »Was glaubst du denn? Ich bin
doch nicht wie du! Ich esse immer soviel, wie ich bekommen
kann - und ich hab mir fast eine ganze Woche Hunger für diesen
Moment aufgespart.«
Hunger. Das war wohl die wahrscheinlichste Antwort. Gaven dachte
immer mehr mit dem Magen als mit dem Kopf. Auch Varyn versuchte
sich den Bauch vollzuschlagen - er wußte, daß er seit
Monaten, wenn nicht Jahren, zu wenig gegessen hatte, und auch jetzt
brachte er nicht viel runter - um die ganze Schale zu leeren,
mußte er sich schon zwingen. Was ihm dabei half, waren Gavens
gierige Blicke - der Junge war bereit, alles zu verschlingen, was
Varyn übrig ließ, und zuzuschlagen, sobald Varyn auch
nur den Löffel sinken ließ. Und diesen Gefallen wollte
ihm Varyn nicht tun.
Und auch wenn er sich dann atemlos und aufgeblüht fühlte,
war es doch gut, daß er soviel gegessen hatte, denn als
hätte Varyn es geahnt, gab der Hauptmann nach den fast schon
entspannenden Tagen im Lager nun wieder Marschbefehl.
»Genug gefaulenzt!« bellte er, nachdem er alle
Männer vor den Zelten versammelt hatte. »Los, alles
abbauen, alles einpacken, Pferde striegeln, den Wagen beladen . und
dann geht es ab in Richtung Feind!«
Die Burschen, obwohl Arbeit auf sie zukam, klatschten und johlten.
Kaum zu glauben, daß sie immer noch soviel Begeisterung
übrig hatten - Varyn war die Lust auf den Krieg längst
vergangen, wenn er sie überhaupt jemals gespürt hatte,
aber er hatte jetzt ja auch ein anderes Ziel. Und vielleicht waren
die Männer auch nur froh, das Lager mit seinen unsinnigen
Feldübungen und Drill hinter sich lassen zu dürfen.
»Ja!« brüllte jemand. »Wir kriegen
Schwerter! Wir lernen kämpfen!«
Mit breitem Grinsen schüttelte der Hauptmann der Kopf.
»Ihr habt lange genug gelernt, Soldaten. Was ihr jetzt nicht
könnt, das lernt ihr auch nicht mehr, nicht in diesem Krieg
zumindest. Die Überlebenden können bestimmt irgendwo ein
Schwert für nächstes Jahr auftreiben, aber von mir aus
soll’s das gewesen sein. Ihr seid ein lauter, fauler und
dummer Haufen, und ich freue mich schon darauf, euch alle Dreck
fressen zu sehen.« Aber er hatte wieder dieses Blitzen in den
Augen, daß ihn zu vergnügt für diese Worte
erscheinen ließ, und so dachten die meisten seiner
Männer sicher, daß er nur scherzte. Aber so wie Varyn
den Hauptmann kannte, und die Truppe kannte, waren dem Mann diese
Worte so ernst wie nur was - er wollte bloß nicht, daß
alle das wußten. Denn sonst waren Varyn und Gaven nicht die
einzigen, die ans Abhauen dachten.
Aber auch wenn er nicht gekommen war, um lange zu bleiben, so
konnte man doch Gaven nicht vorwerfen, daß er beim Abbau des
Lagers nicht tüchtig mit anpackte - eher das Gegenteil war der
Fall. Gaven wollte nie der Kleine sein, oder das Kind, und
ungeachtete der Tatsache, daß alle anderen nicht nur
älter waren als er, sondern auch mindestens einen Kopf
größer, war er mit grimmigem Eifer bei der Sache und
leider auch immer da, wo man ihn gerade am wenigsten brauchen
konnte. Aber er ließ sich auch nichts sagen, nicht von Varyn,
zumindest. Varyn versuchte es freundlich, Varyn versuchte es
bestimmt, Varyn versuchte es bestimmt, Varyn schlug Gaven eine
Pause vor, warum setzte er sich nicht zu Josten dem Trommeljungen,
der sah auch nur zu - aber das Ergebnis war immer das gleiche:
Gaven blaffte nur irgendwas zurück und war wieder im Weg, und
Varyn hatte weder Zeit noch Luft, ihn zu fragen, welche Laus ihm
denn jetzteigentlich über die Leber gelaufen war.
Doch als Varyn dann mit einem Haufen aus Zeltplane auf dem Arm
rückwärts stolperte und dabei Gaven anrempelte und auf
den Fuß trat, ließ Gaven es nicht bei bösem
Knurren. Noch bevor Varyn auch nur dazu kam, sich zu entschuldigen,
holte der Junge aus und verpaßte Varyn eine Ohrfeige, mit so
fordernder Miene, als wolle er gleich eine ganze Schlägerei
vom Zaun brechen. Das genügte.
Varyn schlug nicht zurück. Wenn er damit einmal anging, konnte
er nicht mehr an sich halten und schlug blindlings um sich. Diesmal
behielt er die Ruhe. Er lud den feuchten, strengriechenden
Lederballen dem nächsten Mann in die Hände, drehte sich
zu Gaven um und packte ihn beim Arm. »So nicht, Gaven! Wir
haben gestern geredet, jetzt sag was dein Problem ist, und
verdammt, versuch nicht, mich wütend zu machen!«
Gaven sagte erst nichts, bleckte nur die Zähne, und meinte
schließlich knapp: »Ich dachte, das war Absicht - und
es tat weh - da hab ich zurückgehauen. Ist ja mein gutes
Recht.« Und dann zog er seinen Arm aus Varyns Griff, spuckte
einmal aus und marschierte davon, um einer anderen Gruppe im Weg zu
sein.
Varyn glaubte ihm nicht. Er ahnte, daß mehr dahinterstecken
mußte, aber er kümmerte sich nicht weiter drum. Hatte er
Gaven nicht gewarnt, daß er keine Zeit zum
Rücksichtnehmen hatte? Und so gut er es auch meinte, da
mußte der Junge jetzt durch, und wenn es sein mußte,
auf die harte Weise. Varyn ahnte, daß es im Lauf des Tages
noch richtig krachen würde, aber das sollte nicht von ihm
ausgehen. Und wenn Gaven sich jetzt erstmal von ihm fernhielt, war
das sich das Beste.
Für den Rest der Packarbeiten, und auch für den
Großteil des Marsches, suchte Varyn die Gesellschaft der
ehemaligen Reservisten in der Truppe. Sie waren erwachsenen
Männer, ruhiger und gelassener als die Burschen in seinem
Alter, vielleicht, weil sie den ganzen Drill schon einmal erlebt
hatten. Zwischen ihnen fiel Varyn, blond und bartlos,
natürlich noch mehr auf als unter der Jugend, aber er
fühlte sich auch wohler und mehr wie unter seinesgleichen. Sie
erwarteten nichts von ihm, nicht, daß er sie unterhielt oder
beeindruckte - nur den Mund mußte er gefälligst halten.
Und solange Gaven an der Seite dieses Schwätzers Pogge
marschierte, konnten sie alle zufrieden sein und sich aus dem Weg
gehen.
Manchmal spähte Varyn noch zu seinem Bruder hinüber, um
zu sehen, ob der Junge noch mit den anderen Schritt halten konnte,
doch der schlug sich wacker und hatte auf offenbar kein Problem
mehr damit, sich zwischen diesen kriegsversessenen Halbstarken zu
behaupten. Varyn sorgte sich nicht weiter um ihn, seine
Füße folgten wieder wie von selbst den Schritten der
anderen und dem Takt der Trommel, so daß er nicht weiter auf
den Weg achten mußte und sich in Gedanken wieder auf die
Suche nach den Steinen von Sharaz zu machen.
Aber ob er nun tief grübelte oder die Gedanken wie im
Halbschlaf treiben ließ, der Name sagte ihm nichts. Nicht mal
ganz entfernt. Er hatte das Wort noch nie gehört - ebenso
mochte er es sich ausgedacht haben. Mit jedem Schritt wuchsen
Varyns Zweifel - woher wollte er wissen, daß er auf den Traum
etwas geben durfte? Oder mehr als auf irgend ein anderes seiner
allzu zahlreichen Hirngespinste? Er bekam Kopfschmerzen davon, aber
er kam nicht weiter. Ohne den Dämmervogel ging es nicht. Und
es machte keinen Sinn, hier mit Gaven durchzubrennen, bevor er
wußte, was danach kam…
Als sie am späten Nachmittag einen kleinen Weiler erreichten,
der nicht nur genug Platz bot, um die Zelte aufzuschlagen, sondenr
auch noch ein Wirtshaus, freute sich Varyn mindestens so sehr wie
alle anderen. Zeit für eine Pause, Zeit, die eigenen
Füße wieder zu spüren, Zeit, um sich auszuruhen und
von den Gedanken abzulenken, um bei einem Bier oder zweien zu
entspannen…
Bier. Das Grinsen erstarb in Varyns Gesicht. Kein Bier für
Varyn. Nicht heute, und nie wieder. Allein für den Wunsch
hätte sich schon der Boden unter seinen Füßen
auftun sollen! Es war dieser Moment, der Anblick des fröhlich
quietschenden Wirtshausschildes - eine Muttersau, die sieben Ferkel
säugte - wo Varyn aufging, was für einen
unerträglich harten, unhaltbaren Eid er da geleistet
hatte.
Aber selbst wenn er ihn eines Tages brechen sollte, es durfte nicht
hier sein, nicht zwei Tage nach dem Eid, nicht vor all den Leuten,
die davon wußten - nicht vor dem Hauptmann, von allen
Männern der Welt nicht vor dem Hauptmann. Und während
sich alles um die Wirtshaustür drängte und um das Pferd
des Hauptmanns und alle bettelten und flehten, betete Varyn stumm
am Rand um ein Machtwort. Laß sie da nicht rein, laß
uns weiterziehen, das ist sonst nicht gut für die Moral der
Truppe…
Der Hauptmann sah zu ihm hinüber. Varyn wußte es und
spürte es; er sah den Hauptmann lächeln, nicht ohne Hohn
und nur für ihn. »Die Zelte baut ihr jetzt sofort
auf!« rief er. »Sofort, und ohne Maulen, und wehe, auch
nur einer von euch drückt sich - und dann, von mir aus,
dürft ihr euch für ein Stündchen da reinsetzen, mehr
nicht. Und für jedes Bier will ich vorher zwanzig
Liegestützen sehen, von jedem von euch. Verstanden?«
»Jawohl, Hauptmann!« brüllten die Männer. Und
wenn die Leute in diesem Dorf noch nicht schon vorher gemerkt
hatten, daß die Soldaten da waren, wußten sie es jetzt.
Aber sie durften aufatmen - hier wurde niemand mehr rekrutiert.
Varyns Truppe war vollständig, perfekt geschult im Kampf
Spieß und Speer, und nichts konnte ihnen Blutdurst auf dem
Weg in den Kampf mehr aufhalten… Nein, jedem von ihnen
mußte doch längst klar sein, daß keiner von ihnen
ein Held werden würde. Sie waren nur dazu da, rumzustehen und
sich umbringen zu lassen. Oder hatte irgend jemals mal von
heldenhaften Fußtruppen gehört? Und da war es jetzt
eigentlich egal, ob sich heute abend wieder ein paar Männer
ins Traumland tranken. Nur Varyn nicht.
Kurz überlegte er, ob er beim Lageraufbauen faulenzen sollte,
damit den Männern das Wirtshaus verboten wurde - aber das war
feige, und nicht seine Art, und der Hauptmann würde auch nicht
darauf reinfallen. Es war Varyns Entscheidung, Varyn mußte da
jetzt durch - er brauchte ja nicht mit reingehen. Vielleicht lieh
ihm der Hauptmann ja noch mal sein Schwert, daß er damit
üben konnte? Oder er ging doch mit und trank irgendwas
anderes… Varyn wußte nicht, was man in einem Wirtshaus
noch trinken sollte aus Bier und Schnaps. Wein vielleicht? Varyn
lachte grimmig und stürzte sich auf die Arbeit. Wenn es
scheiterte, sollte es nicht an ihm gescheitert sein.
Er fühlte wieder, wie der Hauptmann ihn beobachtete. Aber
bevor er mit ihm ein paar Worte wechseln konnte, stand
plötzlich wieder Gaven vor ihm, sagte nichts, grinste ihn nur
an.
Varyn versuchte zu lächeln. »Du hast dich gut
gehalten, Gaven. Wir können ja in Ruhe reden, wenn wir da drin
sind. Oder, wenn die anderen da drin sind.«
»Und worüber sollen wir reden, hä?« fragte
Gaven grimmig. »Über deine Träume?«
Vielleicht verstand Gaven ihn in diesem Moment. Er versucht es
zumindest. »Wenn es das ist, Gaven - wenn ich erwartet
hätte, daß du meine Träume leichter verarbeiten
könntest als ich, wenn ich gedacht hätte, du steckst die
einfach so weg, hätte ich dir das Ganze doch schon längst
erzählt, meinst du nicht?«
Aber Gaven schnaubte nur. »Du verstehst nichts.«
Varyn schüttelte nur den Kopf und schwieg. Er ahnte, daß
für Gaven das Gleiche galt. Der Junge brauchte Zeit. Sollte er
haben. Und später konnten sie immer noch in Ruhe drüber
reden.
Als die anderen endlich frohen Mutes
in der Säugenden Sau einkehrten, blieb Varyn unter
einem Baum sitzen und döste vor sich hin, zumindest so lange,
bis der Hauptmann kam und ihn aufscheuchte.
»Na, Kohlenjunge, wieder auf Alleingang?«
Varyn blickte hoch, und gerade rechtzeitig fiel ihm noch ein,
aufzuspringen und strammzustehen. »Ich habe einen Eid
geleistet, Hauptmann.«
»Und ich habe einen Befehl gegeben!« Die Stimme des
Hauptmanns war kalt und scharf, und seine Augen blitzten wie seine
Zähne. »Und der galt auch für dich. Pack dich zum
Rest deiner Truppe!«
»Entschuldigung«, beeilte sich Varyn zu sagen.
»Ich hatte es nicht für einen Befehl gehalten.«
Aber er ließ sich auf keine weitere Diskussion ein. Er hatte
dem Hauptmann Gehorsam versprochen. Und den zeigte er jetzt, indem
er sich in die überfüllte Wirtstube quetschte.
Er hoffte, daß es keinen Platz für ihn gab - dann hatte
er einen Grund, gleich wieder rauszugehen; der Hauptmann hatte nur
von reingehen gesprochen, nicht von drin bleiben - aber es war noch
viel schlimmer: Gaven, oder ein paar von Gavens neugewonnenen
Freunden, hatten es geschafft, ihm einen Sitzplatz freizuhalten.
Sie winkten ihn zu sich hinüber. Und Varyn sah zu seinem
Entsetzen, daß auch Gaven schon ein Bier vor sich stehen
hatte. Er drückte sich in die Bank neben seinen Bruder. Der
Geruch von Bier stach bitter in seiner Nase.
»Hey, da ist er ja endlich!« Jetzt waren alle
blöden Sprüche vom Vortag vergessen. »Hier, wir
waren schon mal so frei.« Einer der jungen Kerle schob Varyn
ein Bier hin. »Du hast einen Ruf zu verteidigen.«
Und auch Gaven war plötzlich wieder ganz vergnügt und
Varyns lieber kleiner Bruder. »Du behauptest, du
erzählst mir alles - und dann sagst du nicht, daß du den
Hauptmann unter den Tisch getrunken hast?«
»Weil ich’s nicht hab«, knurrte Varyn und schob
das Bier ein Stück von sich weg. »Und ich werd’s
auch ganz sicher nicht noch mal versuchen.« Er nahm auch
Gaven das Bier weg und schob es von sich. »Und ich verbiete
dir, dir hier zu besaufen.« Es war vielleicht ungerecht; ein
Bier konnte und durfte Gaven sonst auch schon mal trinken, aber
jetzt war Varyn allein für ihn verantwortlich.
»Du hast nichts zu bestimmen. Der Hauptmann hat’s
erlaubt.«
»Ich bin dein Bruder. Und ich verbiete es dir.«
Die anderen Jungen feixten und grimmassierten. »Och, komm
schon, laß den Kleinen doch…«
»Er ist nicht klein!« sagte Varyn. »Und ich sage
nein.« Er hörte trotz des lauten Stimmengewirrs
Gaven neben sich mit den Zähnen knirschen. Aber es war ihm
egal, ob Gaven jetzt den Rest des Abends wirklich stinkig mit ihm
war, wenn er sich dafür nicht morgen den ganzen Tag lang die
Seele aus dem Leib kotzte. »Und jetzt laßt mich in
Ruhe, ja? Ich muß nachdenken.«
Jetzt murrte es um ihn herum. Da hatten sich alle gefreut, bei
Varyn sitzen zu dürfen und ihm zuzuschauen, vielleicht sogar
versuchen, sich selbst mit ihm zu messen, und jetzt das: Varyn
spielte nicht mit.
Es war ihm egal. Seine Gedanken kreisten wieder um die Steine von
Sharaz. Wenn er wußte, was der Name bedeutete… Varyn
versuchte, den Namen mit dem Finger auf die Tischplatte zu malen,
aber es ging nicht - um zu wissen, welche Zeichen es waren,
hätte er doch schon wissen müssen, was der Name bedeutete
- und so fing der Kreis wieder von vorne an. Im Reich der Stille,
da hätte er es erfahren - und Varyn wußte, wie er
dorthin kommen konnte, und daß er es nicht durfte, und direkt
vor seiner Nase stand ein Bier…
Varyn schwitzte. Er schüttelte den Kopf und stand auf.
»Laßt mich gerade eben durch, ich muß mal
raus.«
»Hä, wie das denn?« Stellvertretend für den
Rest wunderte sich Pogge besonders laut. »Du hast noch keinen
Schluck getrunken und gehst schon strullen?«
»Ich brauche Luft, in Ordnung?« fragte Varyn und
wurstete sich durch die Menge. Wie viele Männer waren das
jetzt? Mehr als hundert, und die Wirtsstube war voll. Und dann gab
es auch noch die Einheimischen, die sich nicht einfach so von ihrem
Bier vertreiben ließen. »Und Gaven - ich krieg das auch
von draußen aus mit! Das Verbot gilt auch, wenn du mich
gerade nicht siehst, ist das klar?« Varyn wartete keine
Antwort ab. Einfach nur raus, raus da, an die Luft…
Draußen stapfte er rastlos hin und her. Was sollte er auch
tun? Sich in sein Zelt schleichen, unter dem Sackleinen verstecken
und versuchen zu schlafen? Dafür war er zu wach. Hinsetzen,
sich bewegen, Dauerlauf machen, zur Ruhe kommen - alles nichts.
Gaven rausschleifen, mit ihm reden - Varyn konnte nicht denken.
Sein Kopf kreiste und kreiste, es kam nichts raus, und drinnen
wartete sein Bier…
»Bis jetzt geht es doch ganz gut, nicht wahr?«
Erschrocken starrte Varyn ins Gesicht des Hauptmanns. Er hatte ihm
gar nicht kommen hören. »Es tut mir leid! Ich geh sofort
wieder rein, ich mußte nur mal eben -«
»Ich will keine Entschuldigung hören«, sagte der
Hauptmann. »Ich will nur sehen, ob du es schaffst. Du hast
mich da in eine Verantwortung gezwungen, ich verabscheue dich
dafür von ganzem Herzen - aber du mußt das schaffen, und
ich denke mal, du schaffst das. Ich werde wohl nie erfahren, was am
Ende aus dir wird, aber das soll dann meine Sorge nicht
sein.«
Varyn nickte wortlos. Ihm lag soviel auf der Zunge - er wollte
wissen, was genau der Mann mit Gaven besprochen hatte, wieviel von
Varyns Plänen der Mann wissen durfte - der Hauptmann war
bestimmt viel in der Welt herumgekommen und nicht ganz dumm,
vielleicht wußte er, wo die Steine waren? Oder der Schreiber
da drinnen, der konnte lesen und bildete sich viel ein, vielleicht
wußte der es? Oder der alte Hauptmann Bakonyn, der
wußte so vieles von der Welt… Aber es ging nicht.
Selbst wenn der Hauptmann wußte und wollte, daß Varyn
desertierte - er durfte nicht wissen, wo Varyn dann hinging. Schon
um später selbst keine Probleme zu bekommen.
»Danke«, murmelte Varyn. »Ich schaffe das
schon.« Und sagte nichts davon, daß jede Faser seines
Körpers flüsterte ‘Komm, es ist nur ein Bier, mehr
nicht, das reicht doch schon - nur ein Bier und du darfst in das
Königreich der Stille reisen…’ Er schüttelte
noch mal den Kopf. »Ich geh das jetzt wieder rein. Alles in
Ordnung.«
Nichts war in Ordnung. Aber er wollte den Hauptmann da raushalten.
Varyn ging zurück ins Wirtshaus, aber nicht zu seinem alten
Platz. Statt dessen arbeitete er sich durch bis zum Schanktisch. Er
wartete, bis der Witz zu ihm hinüberblickte, und nickte
dann.
Der Wirt kam rüber. »Ja? Was darf’s sein?«
Schweißperlen glänzten auf seiner fleischigen Stirn.
Varyn lächelte. »Zwei Fragen«, sagte er.
»Zum einen, habt ihr hier auch irgendwas ohne
Alkohol?«
Der Wirt blickte ihn abschätzend an und grinste. »Wir
haben Dünnbier.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, ganz ohne -
irgendein Tee, Ziegenmilch?« Das waren Schüsse ins Blaue
- das, was seine Mutter den Kleinen beim Abendbrot auftischte. Und
er hoffte sehr, daß der Wirt ihn jetzt nicht auslachen
würde.
Aber der überlegte nur kurz, wischte sich über die Stirn
und sagte dann: »Es ist noch was kalter Tee da.«
»Prachtvoll.« Varyn blies die Backen auf und atmete
tief durch. »Den nehme ich.« Er wußte jetzt
schon, daß der Tee nicht schmecken würde. »Und
dann die andere Frage. Die dauert aber etwas
länger.«
Der Wirt verdrehte die Augen und deutete dann auf die Heerscharen,
die seinen Schankraum füllten und alle gleichzeitig ihr Bier
haben wollten.
Varyn biß sich auf die Lippe. »Also, die Frage geht
schnell - dann kannst du in Ruhe überlegen, ich brauche die
Antwort nicht sofort. Ich warte einfach solange hier.«
Der Wirt stellte ihm mit etwas zuviel Nachdruck einen
angeschlagenen Tonkrug und einen Becher hin. »Was gibt es
denn?«
»Die Steine von Sharaz.« Varyn versuchte es so leise
wie möglich, damit niemand von der Truppe mithören
konnte. »Sharaz. Steine. Das muß ein Ort sein. Schon
mal gehört? Sharaz?«
Der Wirt antwortete nicht und machte sich wieder ans Zapfen.
Varyn kam noch eine Idee. »Warte mal, hier ist soviel los -
wie wär’s, wenn ich mit anfasse? Ich bin Bergmann, ich
kann eine Menge schleppen - wenn ein neues Faß anzuschlagen
ist oder so, ich helfe gern.« Zwei Fliegen mit einer Klappe
schlagen: Er brauchte Antworten - und Bewegung, die vom Saufen
abhielt und vom Grübeln.
Der Wirt lachte. »Gib es zu, du willst nur eine Gelegenheit,
an meine Tochter ranzukommen!«
»Tochter?« Varyn runzelte die Stirn. »Ich habe
nicht mal gemerkt, daß hier noch jemand außer dir ist.
Ich will nur rausfinden, wo diese Steine sind - das ist mir einfach
wichtig.«
»Na, ich frag jetzt nicht, warum du wohin willst, wo du
nichts drüber weißt als den Namen. Ich bin ja nur ein
Wirt. Aber ich höre eine Menge, und es kann schon sein,
daß ich den Namen mal gehört habe.«
Varyn verstand den Wink. Er half, ein leeres Faß in den
Keller und ein volles hinaufzuschaffen - und tat dabei ganz
unauffällig so, als ob er nur einen Teil der Last schleppte
und selbst das noch sehr schwer fand. Er wollte Antworten, nicht
angeben. Er trug Bierkrüge aus und verstand, warum Venna, die
Wirtstochter im Dorf daheim, fast jeden Kerl im Armdrücken
besiegte. Er trennte zwei Prügeleien und hielt sogar für
einen Moment die Stellung am Schanktisch, als der Wirt mit seiner
Frau in der Küche redete - natürlich durfte er nicht
hinter die Theke, aber so konnte er zumindest die
übermütigen Burschen davon abhalten, sich selbst zu
bedienen. Varyn wußte nicht, wer hinterher die Zeche zahlen
würde, oder wie der Wirt zählen wollte, wer wieviel trank
- der Wirt im Dorf nahm immer Kohle und machte Striche für
jedes Bier, aber da kehrten tagtäglich die selben Männer
ein, und so besaß ein jeder seine eigene Holzscheibe beim
Wirt… Plötzlich merkte Varyn, daß er schon sehr
weit von daheim entfernt war. Der Wirt hier sprach anders - nicht
so komisch wie der Hauptmann, aber auch schon irgendwie fremd.
Nebenbei schaffte Varyn es sogar noch, seinen kalten Tee zu
trinken. Pfefferminze. Es schmeckte sogar ganz erträglich.
Und dann kam der Wirt wieder zurück, verpaßte ihm einen
kräftigen Klaps auf die Schulter, und lachte. »Hast
Glück, Junge. Ich hab es gerade noch mal von meiner Frau
bestätigt bekommen. Bei dem Namen klingelt bei uns etwas.
Sharaz hast du gesagt?«
Varyn nickte atemlos und mußte sich zusammenreißen, um
nicht unkontrolliert zu zittern. Seine Hand krampfte sich um den
Teebecher, daß er ihn zerdrückt hätte, wäre
das kein dicker Ton gewesen.
»Genau. Sharaz.« Der Wirt nickte zufrieden.
»Irgendwer hat hier mal im Suff davon geredet, bestimmt einer
von unseren Fuhrleuten. Irgendwer, der einem die Zukunft
voraussagt, soll das sein - ein Ort, hast du gesagt? Meine Frau
meinte, das wäre ein Name. Weissagung mit Steinchen. Ist ja
nicht sowas Ungewöhnliches.«
Varyn hatte überhaupt noch nie von jemandem gehört, der
die Zukunft voraussagen konnte, außer ihm selbst, der sie
träumte - allein so einer hätte ihm jetzt schon furchtbar
weitergeholfen. Doch Sharaz war ein Ort, kein Name. Der
Dämmervogel hieß nicht so. Der Dämmervogel lebte
dort - wenn Varyn sonst nichts wußte, soviel wußte er
bestimmt. Aber er brachte keinen vernünftigen Satz heraus,
konnte nur noch nicken und stammeln: »Wo? Wo ist
das?«
Aber da zuckte der Wirt die Schultern. »Irgendwo im Norden,
in den Bergen, möchte ich wetten. Mehr weiß ich
nicht.«
Varyn schluckte. Er war enttäuscht. Aber dafür, daß
der Wirt der erste war, den er fragte - nach Gaven, natürlich
- war das doch schon einmal ein großartiger Hinweis. Norden.
Das war besser als gar nichts.
»Wie komme ich nach Norden?« fragte er heiser und
fühlte sich sehr dumm.
Der Wirt schüttelte den Kopf und verteilte noch ein paar Bier,
ehe er antwortete. »Nach Norden?« Er lachte so laut und
schallend, daß Varyn schon fürchtete, jetzt würde
jeder zu ihm hinstarren - aber dann wieder war ein lachender Wirt
nichts wirklich Ungewöhnliches. »Junge, nach Norden
kommst du, indem du einfach nach Norden gehst. Wir haben sogar eine
Straße in die Richtung. Aber ich nehme mal an, das nützt
dir alles nicht viel, oder? Loringaril liegt im Westen, soweit ich
weiß. Falsche Gegend.«
»Och…«
Varyn wollte ihm nicht direkt sagen, daß er desertieren
würde. »Es wird ja nicht ewig Krieg sein, nicht wahr?
Wir gehen hin, schlagen diese Feiglinge, und der Norden läuft
mir bis dahin nicht weg.« Es sollte ganz vergnügt und
locker klingen, aber sein Herz klopfte dabei so wild, daß es
ihn beinahe von oben bis unten durchschüttelte.
»Danke«, brachte er noch hervor. »Das kann mir
noch sehr weiterhelfen.«
»Ach, gern geschehen.« Der Wirt grinste. »Einem
fleißigen Burschen helfe ich doch immer gern. Und wenn du im
Krieg bist, paß mal auf, ob du meinen Sohn triffst Der ist
schon vor ein paar Wochen abgeholt worden - ihr kommt richtig aus
den Bergen, nicht wahr?«
Varyn nickte nur. Er wollte sich nicht unterhalten. Nicht mit dem
Wirt. Nicht über irgendwelche Belanglosigkeiten - was
interessierte ihn der Junge des Wirtes? Er murmelte noch irgendwas
Entschuldigendes. Sein Blut raste. Wenn Vigilanders Kinder eine
heilige Rache zu vollstrecken hatten, konnte ihr unbändiger
Tatendrang nicht größer sein als Varyns in diesem
Moment. Am liebsten wäre er rausgestürmt, hätte
seine Sachen geschnappt und die Straße nach Norden
eingeschlagen. Aber statt dessen kehrte er nur zu seinem Platz auf
der Eckbank zurück.
Man hatte ihn nicht vermißt. Mehr noch: Zumindest einer am
Tisch schien ganz und gar nicht froh über Varyns
Rückkehr. Das war Gaven. Aber er versuchte nicht einmal,
seinen Bierkrug schnell wegzustellen oder hinter dem Rücken zu
verstecken. Statt dessen - und es mochte am Bier liegen oder an
seinem Alter oder an der Tatsache, daß er Gaven war - hob er
den Krug und prostete Varyn zu. Es war der Tropfen, der das
Faß zum Überlaufen brachte. Es war zuviel für
Varyn. In diesem Moment brach das aus ihm heraus, was nicht sein
durfte. Und in diesem Moment war es egal.
Es waren zwei Schläge, beinahe gleichzeitig, linke Faust -
rechte Faust. Die linke Frau schlug Gaven den Bierkrug aus der
Hand. Die rechte Faust traf Gaven mitten ins Gesicht.
Varyn hatte noch nie eines seiner Geschwister ins Gesicht
geschlagen - nicht mit der Faust. Aber jetzt nahm er es kaum wahr.
Er fühlte es in der Hand, nicht im Herzen - innen war er ganz
taub. Nicht mal wütend. Keine Schuld, keine Genugtuung. Er
schlug einfach zu.
Gaven starrte ihn nur sehr kurz, aber sehr entsetzt an. Ein klein
wenig Blut quoll aus seiner Nase. Er sagte nichts. Er schlug
zurück. Aber seine Schläge, seine kleinen harten
Fäuste, trafen ins Leere, obwohl sie Varyn nicht verfehlten.
Und Varyn schlug weiter. Packte Gaven beim Schlafittchen und zerrte
ihn von der Bank, nur damit er mehr Platz hatte, auf ihn
einzuprügeln. Gaven spuckte und trat und zappelte, aber er
konnte Varyn nichts entgegensetzen. Und Varyn wußte nicht
einmal, warum er auf ihn einschlug, warum er nicht damit
aufhören konnte - als wäre der echte Varyn schon schlafen
gegangen oder desertiert und hätte dem falschen Varyn das Feld
überlassen. Und der machte ein Schlachtfeld draus.
Normalerweise, wenn zwei Burschen anfingen, in einem Wirtshaus
aufeinander einzuschlagen, war es nur eine Frage von wenigen
Augenblicken, bis sich mindestens fünf Männer in einem
Pulk aus Körpern, Köpfen und Fäusten befanden -
jeder wartete doch nur auf die Gelegenheit für eine richtig
gute Prügelei. Aber hier ließ man Varyn und Gaven
allein. Niemand mischte sich ein, noch nicht einmal Varyn selbst,
der alles miterlebte wie der unbeteiligste aller Zuschauer. Ob er
mit seiner Hacke auf Kohle und Gestein einschlug oder mit
bloßen Fäusten auf seinen Bruder, es fühlte sich
gleich an. Es fühlte sich gleichgültig an. Aber die
Schläge brachten dieses Hämmern in ihm zur Ruhe, und das
war gut.
Varyn wehrte sich nicht, als er von hinten gepackt wurde, als man
ihm die Arme verdrehte und auf den Rücken zwang und ihn aus
der Schankstube schleifte. Er sah, hörte und fühlte
nichts als ein zufriedenes ruhiges Rauschen, auch, als er
bäuchlings zu Boden gepreßt wurde, das Gesicht auf
kalten Stein gedrückt.
»Und jetzt gibst du Ruhe!«
Varyn rührte sich nicht, wartete nur, bis man ihn wieder
hochzog und umdrehte. Der Hauptmann war puterrot im Gesicht, und
das schien nicht vom Bier zu kommen. Hauptmann Bakonyn stand ein
paar Schritte entfernt, einen sich heftig wehrenden Gaven im
Haltegriff. Gavens Gesicht war rot, geschwollen, und blutig. Varyn
wußte, daß er das getan hatte, daß es seine
Schuld war - aber in Gavens Augen stand kein Schmerz, nur Wut, und
eine ganz seltsame Form von Freude, die Varyn nicht verstand.
»Gibst du jetzt Ruhe?« brüllte der Hauptmann noch
mal.
Varyn nickte, indem er zu Boden blickte. »Es tut mir
leid«, sagte er mechanisch. Es tat ihm nicht leid - doch,
irgendwie schon - aber der Hauptmann wollte es hören.
Bestimmt.
»Ich dulde das nicht«, schrie der Hauptmann,
»daß einer aus meiner Einheit einen Jungen
verprügelt, selbst wenn das sein Bruder ist! Erst recht, wenn
das sein Bruder ist!«
»Es tut mir leid«, wiederholte Varyn.
»Ich schließe dich unehrenhaft aus der Armee aus! Leute
wie du sind eine Schande für Vigilanders Heer! Ich werde dich
-«
»Halt!« schrie Gaven, so laut und schrill, wie Varyn
ihn noch nie gehört hatte. Aber der Hauptmann reagierte auf
das Kreischen des Jungen. Er brach den Satz ab. »Was?«
fragte er knapp - was Gaven wahrscheinlich zum einzigen Jungen von
ganz Doubladir machte, der einem Hauptmann der königlichen
Armee erfolgreich einen Befehl gegeben hatte.
»Er hat mich nicht verprügelt«, sagte Gaven so
würdevoll, als sei er sich dieser Ehre durchaus bewußt -
sehr würdevoll für einen Jungen mit Nasenbluten und
aufgeplatzter Lippe, der sich fühlen mußte, als ob all
seine Vorderzähne lose wären.
Der Hauptmann Bakonyn lachte. »Daß du ihn noch in
Schutz nehmen willst, Kleiner, ehrt dich - aber wir haben es doch
gesehen.«
»Er hat mich nicht verprügelt«, sagte Gaven noch
mal, aber dieses Mal betonte er es anders und fuhr fort: »Wir
haben uns geprügelt.« Gaven zog die Nase hoch und
spuckte. »Ich bin ein Soldat wie er. Wir haben uns
geprügelt. Das macht man so in Wirtshäusern. Das ist
unser gutes Recht.«
Die beiden Männer blickten den Jungen abschätzig an, doch
keiner lachte. Dann blickten sie einander an, und nickten.
»Wie du willst«, sagte Hauptmann Mendrion dann.
»Wenn du keine Rücksicht willst, nehmen wir auch
keine.«
Er packte Varyn, und Hauptmann Bakonyn griff sich Gaven beim
Nacken, und dann schleiften sie die Brüder zur Pumpe und
drückten sie für einen Moment mit dem Kopf ins Wasser.
Abgesehen von der etwas groben Hand im Genick tat es richtig gut,
und Varyn hätte es so oder so auch Gaven vorgeschlagen - es
war das erste, was man nach jeder Prügelei tun sollte. Das
kalte Wasser kühlte sowohl den hitzigen Kopf als auch die
glühenden Prellungen, und wenn man rechtzeitig wieder zum
Luftholen auftauchte, gab es nicht viel Besseres.
Danach fühlte sich Varyn wieder wie er selbst. Im Auftauchen
versuchte er einen Blick auf sein Spiegelbild in der
Wasseroberfläche zu erhaschen - fast hoffte er auf ein
blaues Auge oder zumindest ein paar Schrammen, damit Gaven sich
nicht ganz so sehr wie ein Verlierer fühlen mußte. Aber
es war zu dunkel und das Wasser zu schlammig und zu sehr in
Bewegung, und auf der anderen Seite sah Gaven auch wirklich nicht
wie ein Verlierer aus. Er fauchte und prustete, als Bakonyn ihn aus
der Tränke zog.
»So«, sagte Hauptmann Mendrion. »Jetzt gebt euch
die Hände, und dann vertragt euch - Zeit dafür habt ihr
genug, denn für heute ist das Wirthaus für euch
verbotener Boden. Und wenn sowas noch einmal vorkommen sollte, geht
ihr beide in Schande nach Hause.«
Er versetzte Varyn noch einen Schlag in den Nacken und verschwand
zusammen mit Bakonyn wieder im Inneren. »Wehe«, sagte
er noch mal im Gehen. »Wehe, das sage ich euch!«
Und dann saßen Varyn und Gaven neben der Pferdetränke
vor der Säugenden Sauund waren allein. Sie schwiegen
und schnauften. Varyn lehnte sich zurück mit halbgeschlossenen
Augen. Er hatte sich zweimal entschuldigt, jetzt brauchte es eine
Pause, bis Gaven es im Zweifelsfall wieder ernstnehmen konnte -
falls der überhaupt eine Entschuldigung haben wollte.
Gaven atmete schwer und durch zusammengebissene Zähne. Endlich
nuschelte er: »Weißt du, ich hätte dich besiegt,
wenn die Blödmänner nicht dazwischengegangen wären.
Ich hatte dich schon fast!«
Varyn lachte leise. »Davon träumst du wohl! Ich
hätte den Fußboden mit dir gewischt.«
»Ja, aber auch nur in einem von deinen Gesichtern.«
Dann schwiegen beide wieder, aber es war ein gutes, ein
ebenbürtiges Schweigen. Gaven war ein seltsamer
Junge mußte man ihn erst verdreschen, damit er sich
ernstgenommen fühlte? Varyn fragte nicht danach. Es reichte
ihm, wenn er sich selbst nicht verstand.
»Wollen wir reden?« fragte er nach einer Weile.
Gaven hustete höhnisch. »So wie gestern?«
Varyn blickte ihn an. »Sag mir, was dein Problem ist. Ich
habe dir gestern alles erzählt, also was willst du? Soll
ich’s noch mal erzählen?«
»Du begreifst wirklich nichts«, murmelte Gaven.
»Ich höre immer nur deine Träume, deine
Träume, deine Träume - und du kommst nie auf die Idee,
auch nur einmal zu fragen, was ichfür Träume
habe!«
»Weil es darum nicht ging«, entgegnete Varyn und
hörte wieder Ärger in seiner Stimme aufsteigen. »Du
träumst nicht, daß der Berg einstürzt und alle
sterben. Du siehst nicht, wie sich die Erde auftut und alle
verschlingt, du -«
»Nicht alle!« schrie Gaven. Und diesmal war es nicht
nur Wut. Diesmal hörte Varyn eine Verzweiflung, die ihn
aufhorchen ließ. »Und du merkst das nicht
einmal!«
Varyn rutschte zu ihm rüber. »Was ist denn?«
fragte er leise. »Du bist doch nicht ich! Du kannst sagen,
was los ist.«
»Deine Träume«, flüsterte Gaven heiser.
»Du hast mir gestern bestimmt vierhundert Träume
erzählt - und in keinem davon, in keinem einem davon, komme
ich vor. Nie. Ich reiße mir die Beine aus, um dich wieder
heile nach Hause zu bringen - und für dich existiere ich
überhaupt nicht.« Er schwieg wieder.
Varyn wußte nichts zu sagen. Er wollte Gaven so gern
widersprechen, wollte ihm von Momenten erzählen, wo er auch
von ihm geträumt hatte - aber so schnell er nun noch einmal im
Kopf alle seine Träume durchrattern mochte: Es gab keinen
Gaven. Nicht in Varyns Träumen, nicht in seinen
Wahnvorstellungen - sein Onkel war da, seine Tante, Edrik, Noran,
Harkon, Alsa - kein Gaven. In dieser Welt schien es keinen Gaven zu
geben. Und Varyn, und das war das Schlimmste, hatte es nicht
gemerkt. Nie. Er verstand es nicht. Er konnte es nicht
erklären. Er dachte sich seine Träume nicht aus - aber
wer tat es dann?
»Na?« fragte Gaven mit trotzigem traurigem Triumph.
»Verstehst du es jetzt?«
Langsam, sehr langsam, nickte Varyn. »Ja«, sagte er
dann. »Ja, ich verstehe es. Aber freu dich doch - das sind
keine schönen Dinge, von denen ich da geträumt
habe.«
Gaven schniefte, und daß er danach ausspuckte, klang wie eine
schlechte Ausrede. »Das ist mir egal! Ich will einen Platz in
deinen Träumen, irgendeinen. Du bist doch auch ein Teil meines
Traumes.«
Varyn stand auf, streckte sich kurz, und reichte dann Gaven eine
Hand, um ihm hochzuhelfen. »Denk doch mal nach«, sagte
er. »Du bist ein Teil meiner Wirklichkeit.«
Gaven versuchte sich an einem Lächeln, doch sein geschwollenes
Gesicht ließ ihm nicht viel Spielraum.
»Wirklich?« fragte er.
»Wirklich«, sagte Varyn. Auch wenn das immer noch
nichts erklärte. »Und jetzt - kommst du mit nach
Norden?«
Gaven blickte zur Wirtshaustür, zu den Zelten, zum
Nachthimmel. »Wie, jetzt? Meinst du jetzt
jetzt?«
Varyn nickte. »Früher oder später wären wir
doch so oder so abgehauen. Und gerade sind wir unbeobachtet, und
der Wirt sagt, es geht hier eine Straße nach Norden, und
daß die Steine im Norden sind, also - warum gehen wir nicht
jetzt schon los?« Nach kurzer Pause setzte er hinzu:
»Wenn du noch kannst, heißt das.«
»Ich kann, solange du kannst«, sagte Gaven tapfer.
»Aber ich wette, wenn ich mich schlafen lege und aufwache,
kann ich keinen Knochen mehr rühren.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Varyn, auch wenn das
gelogen war. »Also?«
Gaven nickte. Und so desertierten sie in dieser Nacht, und sie
gingen nach Norden.
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