Neuntes Kapitel

Und schon folgte der nächste Traum. Varyn zwinkerte, gähnte, seufzte, und grinste. Gaven im Soldatenlager. Wenn es weiter nichts war - darauf würde er jetzt nicht mehr reinfallen. Er lachte. »Laß gut sein, Mittlerer. Falls ich dich gestört habe, schlaf weiter.« Es konnte ja sein, daß Gaven gleichzeitig von ihm träumte - Varyn wollte lieber nicht wissen, was. Es konnte kaum etwas freundliches sein.
Als Gaven nicht verschwand und Varyn nicht aufwachte, als Gaven ihn nur anblickte und die Nase rümpfte, schüttelte Varyn den Kopf. »Komm schon, ich weiß doch, daß du in Wirklichkeit im Tal bist…« Und dann begriff Varyn. »Du bist nicht wirklich Gaven, oder? Du bist mein Führer, der mir den Weg in die Steine -«
Weiter kam er nicht. Gaven zwickte ihn kommentarlos und fest ins Gesicht. Es tat weh, auf eine kurze, echte Weise. »So«, sagte der Junge dann. »Jetzt mach die Augen zu, und dann werd noch mal wach, aber richtig, sonst pitsche ich dich wieder.«
Varyn atmete durch. Er war wach. Er war nicht wach. Er träumte. Er träumte nicht. Ob der Tunnel über ihm zusammenbrach oder Gaven ihn zwickte, es war alles gleich echt oder falsch. Also war es egal, ob Varyn schlief oder wach war: Er mußte da jetzt durch. Obwohl er nichts davon wirklich wollte - er wollte nur zurück in den letzten Traum, in die Steine von Sharaz, und erfahren, was der Dämmervogel zu sagen hatte. Und wer sie überhaupt war. Diese Stimmen - diese drei Säulengestalten - die Steine - er sah alles noch vor sich, doch es begann langsam zu verblassen. Varyn zwinkerte, damit sich das Bild in sein Gedächtnis einprägte. Es war besser, wenn dieser Gaven in Wirklichkeit ein Bote des Dämmervogels war. Aber er wollte eindeutig wie Gaven behandelt werden. Und das sollte er haben. Ab jetzt konnte Varyn nur noch das Richtige tun - und das war doch mal was!
Varyn setzte sich auf - wenigstens fühlte er sich jetzt endlich so, als ob er genug geschlafen hatte, und das war kostbar genug. »In Ordnung, Gaven«, sagte er so normal und vergnügt wie möglich. »Nehmen wir mal an, ich träume nicht und du bist wirklich der Mittlere - wie, bei allen Engeln, kommst du plötzlich hierher?«
Gaven schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn, doch er behielt seine Fingernägel diesmal bei sich und setzte sich zu ihm. »Sag mal, du liegst hier und schläfst - bist du noch besoffen, oder kann man mit dir reden?«
»Man kann mit mir reden«, sagte Varyn ernster als geplant. Wann hatte er sich das letzte Mal mit Gaven unterhalten? Es schien Jahre her zu sein, verborgen hinter einem Nebel aus Träumen und Angst. Varyn wußte, daß seine Geschwister längst den Glauben an ihn verloren hatten - aber wenn das hier wirklich Gaven war, dann würde der ihm vielleicht noch eine Chance geben? Es war den Versuch wert. »Ich hör auch mit dem Saufen auf, ich hab es geschworen.«
»Es ist mir egal, ob du säufst«, sagte Gaven, mit Gavens üblichem Trotz in der Stimme, daß er wirklich nur der Echte sein konnte. »Es ist mir sogar egal, ob du verrückt bist oder Gesichter hast - ich will nur…« Er brach ab.
»Was?« fragte Varyn vorsichtig. Sie hatten beide zuviel Zeit damit verbracht, nicht zurückzufragen. »Was willst du?«
»Sag ich dir später«, murmelte Gaven. Und im nächsten Moment warf er sich Varyn um den Hals. »Ich hab dich vermißt!« schniefte er, und alles prasselte auf Varyn ein, Wut und Kummer und Enttäuschung, daß er fast selbst losheulen mußte.
»Ich hab dich doch auch vermißt«, sagte er heiser und drückte seinen kleinen Bruder an sich. »Ich hab euch alle so vermißt.« Und es stimmte, er konnte gar nicht sagen wie sehr. »Und es tut mir so leid - so leid, daß ich mich gar nicht mal verabschiedet habe.« Aber das konnte er nicht. Nicht damals, und nicht jetzt, wo er den tapferen kleinen Jungen gleich wieder nach Hause schicken mußte.
Aber bevor Varyn noch fragen konnte, bevor Gaven irgend etwas erzählen konnte, bevor sie einander auch nur wieder loslassen konnten, wurden sie grob gestört. Es war ja nur ein Mannschaftszelt, in dem Varyn schlief, mit Platz für zwanzig weitere Burschen, und zwei von denen kamen jetzt gerade hereinspaziert oder besser gestolpert, sichtlich außer Atem von der harten Ausbildung draußen Auf dem Acker. Im Zelteingang blieben sie stehen wie angewurzelt, und Varyn sah über Gavens Schulter, wie ihre erschöpften Gesichter sich in entgeisterte verwandelten.
»Ne, ich glaub das nicht - der ist andersrum!« rief der eine. »Was ist, kriegst du keine Frau ab und suchst dir lieber gleichen einen Jungen?« Aber erst, als er einen kleinen Kußmund und schmatzende Geräusche machte, begriffen Varyn und Gaven, waser da überhaupt meinte.
Gaven riß sich los, so heftig, daß er Varyn dabei aufs Lager zurückstieß - das kannte Varyn schon, immer wenn es Ärger gab, kannte Gaven ihn nicht mehr, selbst wenn in Wirklichkeit alles nur ein Mißverständnis war - aber Varyn irrte. Gaven brauchte nur beide Hände, um auf den Kerl loszugehen.
»Sowas sagst du nicht noch mal über meinen Bruder!« rief er, und Varyn mußte fast lachen, als er daran zurückdachte, wie er selbst seine Geschwister immer mit Fäusten verteidigt hatte, selbst seinen größeren Bruder. Dabei hatte Gaven sicher keine Vorstellung von dem, was man ihnen da unterstellt - hoffte Varyn zumindest - aber er erkannte eine Beleidigung, wenn sie so gemeint war.
»Bruder?« grölte der Rekrut unbeeindruckt. »Ja, sicher! Ein Warmer vielleicht!« Und dabei war er noch einer von den neuen Leuten, der noch gar keine Chance hatte, Varyn in seiner ganzen bescheuerten Pracht kennenzulernen! Er stieß Gaven vor die Brust. »Leg dich mal besser nicht mit richtigen Männern an, Kleiner!«
Varyn hatte keine Lust abzuwarten, ob Gaven damit allein klarkam. Das war gegen sie beide gerichtet. Varyn war der ältere. Und warum oder wie Gaven auch immer hierher gekommen sein mochte, Varyn war für ihn verantwortlich. Er stand auf, aber ohne unnötige Hast - wenn ihm jetzt schwindelig wurde und er sich langlegte, half das keinem. »He!« rief er dabei. »Laß ihn in Ruhe, oder ich dreh dich gleich andersrum!«
Seine Hände kribbelten in Vorfreude auf eine richtig gute Schlägerei. Das war der letzte Beweis, daß er wach war. Varyn hatte im Traum schon alles erlebt, aber sich noch nie dort geprügelt. Und in diesem Moment hoffte er, der Bursche würde Gaven vielleicht noch mal etwas heftiger schubsen, dann hatte Varyn einen Grund, den Kerl so richtig -
Varyn hielt inne, noch bevor er den ersten Schlag landen konnte. So nicht. Keine Prügelei. Keinen Ärger. Nicht nur, weil es nicht fair war - der Bursche und sein feixender Freund waren schon erschöpft, Varyn gerade frisch ausgeschlafen: Es brachte vor allem nichts. Varyn war nicht daran interessiert, sich zu schlagen, und man bekam auch nichts davon als Nasenbluten - und vor allem half es Varyn nicht in die Steine von Sharaz. Er legte Gaven eine Hand auf die Schulter. »Laß gut sein. Der ist das nicht wert.« Plötzlich fühlte er sich wieder seltsam, aber es war ein anderes seltsam als sonst - Varyn fühlte sich erwachsen.
»Was ist hier los?«
Der Hauptmann. Gut, daß er in diesem Moment kam, wo sich seine Rekruten gerade nicht prügelten! Sonst war jeder Versuch Varyns, hier ein neues Leben anzufangen, schon zum Scheitern verdammt.
»Ich wollte den anderen gerade nur meinen Bruder vorstellen«, sagte Varyn schnell und drückte Gavens Schulter etwas fester, damit der sich ruhig verhielt und nicht noch auf die Idee kam, dem Kerl vors Schienbein zu treten oder zu spucken oder irgendwas anderes, das zu seinem wütenden Gesichtsausdruck paßte, zu tun.
»Und das geht nicht ohne Brüllen ab, wie ich sehe«, sagte der Hauptmann kopfschüttelnd. »Aber ihr habt besseres zu tun, Kohlenjungen. Kommt mit!«
Langsam nahm das Bild Gestalt an. Der Hauptmann kannte Gaven nicht nur, er war auch offenbar über seine Anwesenheit nicht verwundert. Das hieß, der Junge hatte -
»Gaven!« zischte Varyn, während sie hinter dem Hauptmann ins Freie traten und die feixenden Männer im Zelt zurückließen. »Sag mir nicht, du hast dich rekrutieren lassen!«
Gaven zuckte die Schultern. »Mußte ich ja - ich wäre sonst nicht -«
»Maulhalten!« fuhr der Hauptmann dazwischen. »Was glaubt ihr, wofür ihr hier seid? Schlafen und schwafeln? Soll ich euch noch Bier und Brezeln dazu bringen? Ihr seid hier, damit ihr zu anständigen Fußsoldaten werdet. Also - nehmt die Beine in die Hand und dreht drei Runden um das Lager, verstanden?«
»Nur ich und Varyn?« fragte Gaven kühn, und Varyn glaubte zu sehen, daß der Hauptmann ihm dabei zuzwinkerte.
»Was glaubst du denn?« knurrte der dann und gab sich wieder ganz grimmig. »Natürlich nur ihr zwei. Oder erwartet ihr, daß ich mitkomme und Händchen halte?«
»Danke!« rief Gaven und tat einen kleinen Hüpfer an Varyns Seite. Und dann packte er ihn bei der Hand und lief los.

Schon nach wenigen Schritten ließ er Varyn dann auch wieder los, und das war auch sicher gut so, denn die anderen Burschen mußten ja nicht noch auf weitere dumme Gedanken kommen. Eine Weile lang liefen die Brüder schweigend nebeneinander her, und Varyn, der schon bereit war, sich aus Rücksicht auf den Jungen mit seinen Kräften zurückzuhalten, mußte feststellen, daß Gaven doch ein erstaunlich guter Läufer war. Viele von denen Rekruten, mit denen Varyn jetzt unterwegs war, und wenn sie auch einige Jahre älter waren als er und erst recht als Gaven, hatten nicht die Kraft oderdie Ausdauer dieses zähen kleinen Burschen. Bis dahin hatte Varyn Gaven immer irgendwie für einen Schwächling gehalten, und das war er sicher auch, verglichen mit Varyn selbst. Aber es gab eben nicht nur Gaven zum Vergleichen.
Nachdem sie einen anständigen Abstand zum Lager aufgebaut hatten, ließ sich Gaven in einen eher gemütlichen Trab fallen, und Varyn tat es ihm nach - hier hing es wirklich nicht um einen Wettlauf. Die beiden hatten einander nichts mehr zu beweisen, aber dafür um so mehr zu erzählen und zu reden.
»Er ist großartig, nicht wahr?« fragte Gaven atemlos.
»Wen meinst du?« Varyn war noch lange nicht atemlos, aber aus Mitleid hing auch er ein Schnaufen an den Satz.
»Den Hauptmann, natürlich!« Gaven wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und tippte sich dabei kurz gegen die Stirn, daß Varyn da nicht selbst drauf gekommen war. »Der weiß ja, daß ich mit dir reden will, und jetzt können wir das zumindest in Ruhe und ungestört tun.«
Varyn blieb stehen, stemmte die Hände auf die Knie und atmete durch. Es war albern - aber er konnte nicht laufen und denken gleichzeitig. Zumindest nicht so nachdenken wie er wollte. »Was spielt ihr hier überhaupt?« fragte er schroffer, als Gaven es vielleicht verdiente. »Du und der Hauptmann - was habt ihr vor mit mir?« Etwas Verhaßtes regte sich in ihm; irgendwo in der Tiefe lauerte immer noch eine Angst, wartete nur darauf, auszubrechen und Besitz von ihm zu ergreifen. Es war eben noch nicht durchgestanden, allen Träumen zum Trotz. Er war immer noch bereit, an die Todesgefahr zu glauben und daran, daß jeder etwas gegen ihm im Schilde führte, und auch auch, daß es Gaven und der Hauptmann taten… Varyn schüttelte sich. »Ich meine es nicht böse - sag mir einfach, was ist los, in Ordnung?«
Gaven grinste. »Na, wenigstens hast du dich nicht geändert.« Er schien seltsam zufrieden damit. »Ich bin hier, um dich hier rauszuholen. Du kommst mit mir nach Hause.«
Varyn mußte lachen. Das war nicht zu glauben und nicht zu verstehen, und doch hatte er diese Worte fast so erwartet - seit Gaven aufgetaucht war, würde sich Varyn so schnell über nichts mehr wundern. »Das ist - das ist nett«, murmelte er. »Aber - das geht nicht.«
Gaven verstand ihn, aber er verstand ihn falsch. »Ja, ich weiß, was sie mit Deserteuren machen - aber nur mit denen, die sie erwischen! Und der Hauptmann kommt nicht hinter uns her, hat er mir beinahe gesagt.«
Bei der Vorstellung mußte Varyn schmunzeln - er kannte den Hauptmann inzwischen gut genug, um zu wissen, daß der viel darum geben würde, ihn schnell und bequem wieder loszuwerden, und konnte sich daher gut vorstellen, wie es sich anhörte, wenn der Mann etwas beinahesagte… »Das meine ich nicht«, sagte er. »Ich kann und werde nicht hierbleiben, und ich lasse auch ganz sicher nicht zu, daß du hierbleibt, denn du hast bei den Soldaten nichts, wirklich nichts zu suchen -«
»Doch!« fiel ihm Gaven ins Wort. »Ich suche dich!«
Varyn nickte, aber er wollte nicht sentimental werden. »Ja«, sagte er. »Vielleicht. Aber erwarte nicht, daß ich mich jetzt darüber großartig freue - du meinst es bestimmt nur gut, aber du hilfst mir damit nicht, ich habe genug mit mir selbst zu tun, als mich auch noch um einen kleinen Jungen kümmern zu müssen.«
Er erinnerte sich, schon einmal etwas ganz ähnliches gesagt zu haben, am Tag bevor er fortging. Aber wo ihn Gaven damals nur trotzig ausgelacht hatte, starrte er ihn nun so schmerzerfüllt an, als hätte Varyn ihn ins Gesicht geschlagen. »Der dumme Junge bist du!« schrie er. »Nur du, du selbst! Ich bin vielleicht kleiner als du und jünger und alles, aber du bist verrückt, du bist krank und hilflos und - Nein, du unterbrichst mich jetzt nicht! Ich hab eine Menge auf mich genommen, um dich hier zu finden, und verdammt, ich habe es geschafft, ganz allein, und das ist mehr als du jemals - Nein, Varyn, jetzt rede immer noch ich, verdammt! Glaub nicht, daß du weit kommst, wenn du es von hier aus allein versuchst, du brauchst mich mehr als ich dich, ich bin hier um dich hier rauszuholen, ich bin hier, um dir zu helfen, und ich lasse mich nicht mehr behandeln als wäre ich ein Schwachkopf oder ein kleines Kind oder ein Klotz an deinem Bein.«
Zitternd und keuchend stand Gaven vor Varyn, das Gesicht rot und weiß gefleckt vor Wut; Tränen ließen seine kleinen schwarzen Augen blitzen.
Auch Varyn zitterte, auch vor Wut, auch auf sich selbst. Egal ob Gaven jetzt Recht hatte oder nicht, Varyn machte doch immer und immer und immer noch die gleichen Fehler. Aber man mußte nicht mit den alten Fehlern weitermachen! »Es tut mir Leid«, sagte er und legte Gaven eine Hand auf die bebende Schulter und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinunter. »Paß auf, siehst du das Wäldchen dahinten? Laß uns in die Richtung gehen. Ich will dir was erzählen, aber wir sind immer noch zu nah am Lager… Die Sache ist die, ich muß die Soldaten so schnell wie möglich verlassen, aber ich kann auch nicht zurück ins Tal, zumindest noch nicht. Ich muß an einen Ort, der ‘Steine von Sharaz’ heißt. Ich weiß nicht, was das ist, oder wo das ist, aber ich muß dorthin - lach nicht. Ich erzähl dir alles.«
Gaven blickte ihn wortlos an. Er lachte nicht - tatsächlich sah er sehr weit entfernt davon aus. »Hm«, sagte er nur. »Hm.« Und dann: Ich warte da schon seit Jahren drauf, und ich kann es mir jetzt irgendwie nicht mehr vorstellen, daß du es wirklich tust.«
»Ich tu es«, sagte Varyn. »Versprochen.« Er wußte nicht einmal mehr, ob er schon einmal ein Versprechen gegenüber Gaven gebrochen hatte - bestimmt hatte er das… »Und bis wir da am Wald sind - mich interessiert brennend, wie du es geschafft hast, einfach so hierherzukommen.« Er verzichtete darauf, Gaven noch mal zu umarmen und gab ihm nur einen Klaps wie einem Gleichaltrigen, oder einem Ebenbürtigen. »Mittlerer.«
Es dauerte lange, bis sie ins Lager zurückkehrten, die Sonne ging schon unter, aber der Hauptmann hatte ihnen ja nicht gesagt, wie groß der Kreis war, den sie laufen sollten, oder wie schnell rennen. Falls irgend jemand sich über ihr Fehlen oder über ihre späte Rückkehr wunderte, so sprach es doch niemand aus; es gab keinen Ärger und auch keine weiteren dummen Witze.
Varyn hatte sich heiser geredet; seine Zunge klebte ihm vor Durst nutzlos am Gaumen, aber um eines kam er nicht umhin zuzugeben: Daß er da einen kleinen Bruder hatte, auf den er wahrhaftig stolz sein konnte. Und jetzt, wo Varyn alles erzählt hatte, auch auf sich selbst.

Später lag Varyn lang wach, ehe er einschlief, aber es war ein anderes Wachliegen als früher, es war eines, das er fast genießen konnte - sanft dahindämmern und sich auf seinen Traum freuen, wann konnte er das sonst schon einmal? Er wollte, mußte wissen, wie es weiterging, er wollte den Dämmervogel wiedersehen und die Elster, er wollte wissen, wo die Steine waren… Soviel Spannung, soviel Vorfreude, soviel Aufregung, daß er darüber fast nicht einschlafen konnte - aber dann schlief er ein, und träumte nichts. Gar nichts. Vielleicht war es das Beste. Er hatte in den letzten Tagen genug geträumt, daß es für eine ganze Woche reichen mochte. Und am anderen Morgen zusammen mit den anderen einfach ausgeschlafen aufzustehen, das war auch einmal etwas Feines.
Varyn gähnte und streckte sich und hatte nichts im Sinn als sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen und dann eine Schale Grütze zu verdrücken. Und dann konnte er immer noch in aller Ruhe anfangen, Pläne zu schmieden, was das Desertieren anging, und nach Wegen und Zeichen zu suchen. Wo Gaven jetzt schon mal da war, hatte der vielleicht auch noch brauchbare Einfälle dazu beizusteuern…
Aber ausgerechnet Gaven begegnete ihm vielleicht ausgeschlafen, aber ziemlich übellaunig. »Und? Was machen die Träume?« raunzte er ihm zu, als sie gemeinsam vor dem Kochzelt für ihre Grütze anstanden. »Wo schicken sie dich heute hin?«
Varyn biß die Zähne zusammen. Wenn es das jetzt sein sollte, bereute er schon zutiefst, jemals Gaven von seinen Träumen erzählt zu haben. War sein Bruder deshalb danach so schweigsam gewesen, weil ihm auf die Schnelle keine Gemeinheit einfiel? »Nicht jetzt?« zischte er.
Gaven schnaubte. »Ja, mach nur. Hauptsache, du bist glücklich dabei.«
Varyn zuckte die Schultern. Es mußte nicht persönlich gemeint sein - vielleicht hatte der Junge schlecht geschlafen, oder gefroren, oder es war ihm Getier in die Hosen gekrochen. »Wir sprechen nachher darüber, in Ordnung?« sagte er schnell. »Bis dahin reiß dich am Riemen, und iß soviel von dem Zeug, wie du irgendwie runterbringst. Bis heute Abend bekommst du nichts mehr.«
Jetzt lachte Gaven zumindest. »Was glaubst du denn? Ich bin doch nicht wie du! Ich esse immer soviel, wie ich bekommen kann - und ich hab mir fast eine ganze Woche Hunger für diesen Moment aufgespart.«
Hunger. Das war wohl die wahrscheinlichste Antwort. Gaven dachte immer mehr mit dem Magen als mit dem Kopf. Auch Varyn versuchte sich den Bauch vollzuschlagen - er wußte, daß er seit Monaten, wenn nicht Jahren, zu wenig gegessen hatte, und auch jetzt brachte er nicht viel runter - um die ganze Schale zu leeren, mußte er sich schon zwingen. Was ihm dabei half, waren Gavens gierige Blicke - der Junge war bereit, alles zu verschlingen, was Varyn übrig ließ, und zuzuschlagen, sobald Varyn auch nur den Löffel sinken ließ. Und diesen Gefallen wollte ihm Varyn nicht tun.
Und auch wenn er sich dann atemlos und aufgeblüht fühlte, war es doch gut, daß er soviel gegessen hatte, denn als hätte Varyn es geahnt, gab der Hauptmann nach den fast schon entspannenden Tagen im Lager nun wieder Marschbefehl.
»Genug gefaulenzt!« bellte er, nachdem er alle Männer vor den Zelten versammelt hatte. »Los, alles abbauen, alles einpacken, Pferde striegeln, den Wagen beladen . und dann geht es ab in Richtung Feind!«
Die Burschen, obwohl Arbeit auf sie zukam, klatschten und johlten. Kaum zu glauben, daß sie immer noch soviel Begeisterung übrig hatten - Varyn war die Lust auf den Krieg längst vergangen, wenn er sie überhaupt jemals gespürt hatte, aber er hatte jetzt ja auch ein anderes Ziel. Und vielleicht waren die Männer auch nur froh, das Lager mit seinen unsinnigen Feldübungen und Drill hinter sich lassen zu dürfen.
»Ja!« brüllte jemand. »Wir kriegen Schwerter! Wir lernen kämpfen!«
Mit breitem Grinsen schüttelte der Hauptmann der Kopf. »Ihr habt lange genug gelernt, Soldaten. Was ihr jetzt nicht könnt, das lernt ihr auch nicht mehr, nicht in diesem Krieg zumindest. Die Überlebenden können bestimmt irgendwo ein Schwert für nächstes Jahr auftreiben, aber von mir aus soll’s das gewesen sein. Ihr seid ein lauter, fauler und dummer Haufen, und ich freue mich schon darauf, euch alle Dreck fressen zu sehen.« Aber er hatte wieder dieses Blitzen in den Augen, daß ihn zu vergnügt für diese Worte erscheinen ließ, und so dachten die meisten seiner Männer sicher, daß er nur scherzte. Aber so wie Varyn den Hauptmann kannte, und die Truppe kannte, waren dem Mann diese Worte so ernst wie nur was - er wollte bloß nicht, daß alle das wußten. Denn sonst waren Varyn und Gaven nicht die einzigen, die ans Abhauen dachten.
Aber auch wenn er nicht gekommen war, um lange zu bleiben, so konnte man doch Gaven nicht vorwerfen, daß er beim Abbau des Lagers nicht tüchtig mit anpackte - eher das Gegenteil war der Fall. Gaven wollte nie der Kleine sein, oder das Kind, und ungeachtete der Tatsache, daß alle anderen nicht nur älter waren als er, sondern auch mindestens einen Kopf größer, war er mit grimmigem Eifer bei der Sache und leider auch immer da, wo man ihn gerade am wenigsten brauchen konnte. Aber er ließ sich auch nichts sagen, nicht von Varyn, zumindest. Varyn versuchte es freundlich, Varyn versuchte es bestimmt, Varyn versuchte es bestimmt, Varyn schlug Gaven eine Pause vor, warum setzte er sich nicht zu Josten dem Trommeljungen, der sah auch nur zu - aber das Ergebnis war immer das gleiche: Gaven blaffte nur irgendwas zurück und war wieder im Weg, und Varyn hatte weder Zeit noch Luft, ihn zu fragen, welche Laus ihm denn jetzteigentlich über die Leber gelaufen war.
Doch als Varyn dann mit einem Haufen aus Zeltplane auf dem Arm rückwärts stolperte und dabei Gaven anrempelte und auf den Fuß trat, ließ Gaven es nicht bei bösem Knurren. Noch bevor Varyn auch nur dazu kam, sich zu entschuldigen, holte der Junge aus und verpaßte Varyn eine Ohrfeige, mit so fordernder Miene, als wolle er gleich eine ganze Schlägerei vom Zaun brechen. Das genügte.
Varyn schlug nicht zurück. Wenn er damit einmal anging, konnte er nicht mehr an sich halten und schlug blindlings um sich. Diesmal behielt er die Ruhe. Er lud den feuchten, strengriechenden Lederballen dem nächsten Mann in die Hände, drehte sich zu Gaven um und packte ihn beim Arm. »So nicht, Gaven! Wir haben gestern geredet, jetzt sag was dein Problem ist, und verdammt, versuch nicht, mich wütend zu machen!«
Gaven sagte erst nichts, bleckte nur die Zähne, und meinte schließlich knapp: »Ich dachte, das war Absicht - und es tat weh - da hab ich zurückgehauen. Ist ja mein gutes Recht.« Und dann zog er seinen Arm aus Varyns Griff, spuckte einmal aus und marschierte davon, um einer anderen Gruppe im Weg zu sein.
Varyn glaubte ihm nicht. Er ahnte, daß mehr dahinterstecken mußte, aber er kümmerte sich nicht weiter drum. Hatte er Gaven nicht gewarnt, daß er keine Zeit zum Rücksichtnehmen hatte? Und so gut er es auch meinte, da mußte der Junge jetzt durch, und wenn es sein mußte, auf die harte Weise. Varyn ahnte, daß es im Lauf des Tages noch richtig krachen würde, aber das sollte nicht von ihm ausgehen. Und wenn Gaven sich jetzt erstmal von ihm fernhielt, war das sich das Beste.
Für den Rest der Packarbeiten, und auch für den Großteil des Marsches, suchte Varyn die Gesellschaft der ehemaligen Reservisten in der Truppe. Sie waren erwachsenen Männer, ruhiger und gelassener als die Burschen in seinem Alter, vielleicht, weil sie den ganzen Drill schon einmal erlebt hatten. Zwischen ihnen fiel Varyn, blond und bartlos, natürlich noch mehr auf als unter der Jugend, aber er fühlte sich auch wohler und mehr wie unter seinesgleichen. Sie erwarteten nichts von ihm, nicht, daß er sie unterhielt oder beeindruckte - nur den Mund mußte er gefälligst halten. Und solange Gaven an der Seite dieses Schwätzers Pogge marschierte, konnten sie alle zufrieden sein und sich aus dem Weg gehen.
Manchmal spähte Varyn noch zu seinem Bruder hinüber, um zu sehen, ob der Junge noch mit den anderen Schritt halten konnte, doch der schlug sich wacker und hatte auf offenbar kein Problem mehr damit, sich zwischen diesen kriegsversessenen Halbstarken zu behaupten. Varyn sorgte sich nicht weiter um ihn, seine Füße folgten wieder wie von selbst den Schritten der anderen und dem Takt der Trommel, so daß er nicht weiter auf den Weg achten mußte und sich in Gedanken wieder auf die Suche nach den Steinen von Sharaz zu machen.
Aber ob er nun tief grübelte oder die Gedanken wie im Halbschlaf treiben ließ, der Name sagte ihm nichts. Nicht mal ganz entfernt. Er hatte das Wort noch nie gehört - ebenso mochte er es sich ausgedacht haben. Mit jedem Schritt wuchsen Varyns Zweifel - woher wollte er wissen, daß er auf den Traum etwas geben durfte? Oder mehr als auf irgend ein anderes seiner allzu zahlreichen Hirngespinste? Er bekam Kopfschmerzen davon, aber er kam nicht weiter. Ohne den Dämmervogel ging es nicht. Und es machte keinen Sinn, hier mit Gaven durchzubrennen, bevor er wußte, was danach kam…
Als sie am späten Nachmittag einen kleinen Weiler erreichten, der nicht nur genug Platz bot, um die Zelte aufzuschlagen, sondenr auch noch ein Wirtshaus, freute sich Varyn mindestens so sehr wie alle anderen. Zeit für eine Pause, Zeit, die eigenen Füße wieder zu spüren, Zeit, um sich auszuruhen und von den Gedanken abzulenken, um bei einem Bier oder zweien zu entspannen…
Bier. Das Grinsen erstarb in Varyns Gesicht. Kein Bier für Varyn. Nicht heute, und nie wieder. Allein für den Wunsch hätte sich schon der Boden unter seinen Füßen auftun sollen! Es war dieser Moment, der Anblick des fröhlich quietschenden Wirtshausschildes - eine Muttersau, die sieben Ferkel säugte - wo Varyn aufging, was für einen unerträglich harten, unhaltbaren Eid er da geleistet hatte.
Aber selbst wenn er ihn eines Tages brechen sollte, es durfte nicht hier sein, nicht zwei Tage nach dem Eid, nicht vor all den Leuten, die davon wußten - nicht vor dem Hauptmann, von allen Männern der Welt nicht vor dem Hauptmann. Und während sich alles um die Wirtshaustür drängte und um das Pferd des Hauptmanns und alle bettelten und flehten, betete Varyn stumm am Rand um ein Machtwort. Laß sie da nicht rein, laß uns weiterziehen, das ist sonst nicht gut für die Moral der Truppe…
Der Hauptmann sah zu ihm hinüber. Varyn wußte es und spürte es; er sah den Hauptmann lächeln, nicht ohne Hohn und nur für ihn. »Die Zelte baut ihr jetzt sofort auf!« rief er. »Sofort, und ohne Maulen, und wehe, auch nur einer von euch drückt sich - und dann, von mir aus, dürft ihr euch für ein Stündchen da reinsetzen, mehr nicht. Und für jedes Bier will ich vorher zwanzig Liegestützen sehen, von jedem von euch. Verstanden?«
»Jawohl, Hauptmann!« brüllten die Männer. Und wenn die Leute in diesem Dorf noch nicht schon vorher gemerkt hatten, daß die Soldaten da waren, wußten sie es jetzt. Aber sie durften aufatmen - hier wurde niemand mehr rekrutiert. Varyns Truppe war vollständig, perfekt geschult im Kampf Spieß und Speer, und nichts konnte ihnen Blutdurst auf dem Weg in den Kampf mehr aufhalten… Nein, jedem von ihnen mußte doch längst klar sein, daß keiner von ihnen ein Held werden würde. Sie waren nur dazu da, rumzustehen und sich umbringen zu lassen. Oder hatte irgend jemals mal von heldenhaften Fußtruppen gehört? Und da war es jetzt eigentlich egal, ob sich heute abend wieder ein paar Männer ins Traumland tranken. Nur Varyn nicht.
Kurz überlegte er, ob er beim Lageraufbauen faulenzen sollte, damit den Männern das Wirtshaus verboten wurde - aber das war feige, und nicht seine Art, und der Hauptmann würde auch nicht darauf reinfallen. Es war Varyns Entscheidung, Varyn mußte da jetzt durch - er brauchte ja nicht mit reingehen. Vielleicht lieh ihm der Hauptmann ja noch mal sein Schwert, daß er damit üben konnte? Oder er ging doch mit und trank irgendwas anderes… Varyn wußte nicht, was man in einem Wirtshaus noch trinken sollte aus Bier und Schnaps. Wein vielleicht? Varyn lachte grimmig und stürzte sich auf die Arbeit. Wenn es scheiterte, sollte es nicht an ihm gescheitert sein.
Er fühlte wieder, wie der Hauptmann ihn beobachtete. Aber bevor er mit ihm ein paar Worte wechseln konnte, stand plötzlich wieder Gaven vor ihm, sagte nichts, grinste ihn nur an.
Varyn versuchte zu lächeln. »Du hast dich gut gehalten, Gaven. Wir können ja in Ruhe reden, wenn wir da drin sind. Oder, wenn die anderen da drin sind.«
»Und worüber sollen wir reden, hä?« fragte Gaven grimmig. »Über deine Träume?«
Vielleicht verstand Gaven ihn in diesem Moment. Er versucht es zumindest. »Wenn es das ist, Gaven - wenn ich erwartet hätte, daß du meine Träume leichter verarbeiten könntest als ich, wenn ich gedacht hätte, du steckst die einfach so weg, hätte ich dir das Ganze doch schon längst erzählt, meinst du nicht?«
Aber Gaven schnaubte nur. »Du verstehst nichts.«
Varyn schüttelte nur den Kopf und schwieg. Er ahnte, daß für Gaven das Gleiche galt. Der Junge brauchte Zeit. Sollte er haben. Und später konnten sie immer noch in Ruhe drüber reden.

Als die anderen endlich frohen Mutes in der Säugenden Sau einkehrten, blieb Varyn unter einem Baum sitzen und döste vor sich hin, zumindest so lange, bis der Hauptmann kam und ihn aufscheuchte.
»Na, Kohlenjunge, wieder auf Alleingang?«
Varyn blickte hoch, und gerade rechtzeitig fiel ihm noch ein, aufzuspringen und strammzustehen. »Ich habe einen Eid geleistet, Hauptmann.«
»Und ich habe einen Befehl gegeben!« Die Stimme des Hauptmanns war kalt und scharf, und seine Augen blitzten wie seine Zähne. »Und der galt auch für dich. Pack dich zum Rest deiner Truppe!«
»Entschuldigung«, beeilte sich Varyn zu sagen. »Ich hatte es nicht für einen Befehl gehalten.« Aber er ließ sich auf keine weitere Diskussion ein. Er hatte dem Hauptmann Gehorsam versprochen. Und den zeigte er jetzt, indem er sich in die überfüllte Wirtstube quetschte.
Er hoffte, daß es keinen Platz für ihn gab - dann hatte er einen Grund, gleich wieder rauszugehen; der Hauptmann hatte nur von reingehen gesprochen, nicht von drin bleiben - aber es war noch viel schlimmer: Gaven, oder ein paar von Gavens neugewonnenen Freunden, hatten es geschafft, ihm einen Sitzplatz freizuhalten. Sie winkten ihn zu sich hinüber. Und Varyn sah zu seinem Entsetzen, daß auch Gaven schon ein Bier vor sich stehen hatte. Er drückte sich in die Bank neben seinen Bruder. Der Geruch von Bier stach bitter in seiner Nase.
»Hey, da ist er ja endlich!« Jetzt waren alle blöden Sprüche vom Vortag vergessen. »Hier, wir waren schon mal so frei.« Einer der jungen Kerle schob Varyn ein Bier hin. »Du hast einen Ruf zu verteidigen.«
Und auch Gaven war plötzlich wieder ganz vergnügt und Varyns lieber kleiner Bruder. »Du behauptest, du erzählst mir alles - und dann sagst du nicht, daß du den Hauptmann unter den Tisch getrunken hast?«
»Weil ich’s nicht hab«, knurrte Varyn und schob das Bier ein Stück von sich weg. »Und ich werd’s auch ganz sicher nicht noch mal versuchen.« Er nahm auch Gaven das Bier weg und schob es von sich. »Und ich verbiete dir, dir hier zu besaufen.« Es war vielleicht ungerecht; ein Bier konnte und durfte Gaven sonst auch schon mal trinken, aber jetzt war Varyn allein für ihn verantwortlich.
»Du hast nichts zu bestimmen. Der Hauptmann hat’s erlaubt.«
»Ich bin dein Bruder. Und ich verbiete es dir.«
Die anderen Jungen feixten und grimmassierten. »Och, komm schon, laß den Kleinen doch…«
»Er ist nicht klein!« sagte Varyn. »Und ich sage nein.« Er hörte trotz des lauten Stimmengewirrs Gaven neben sich mit den Zähnen knirschen. Aber es war ihm egal, ob Gaven jetzt den Rest des Abends wirklich stinkig mit ihm war, wenn er sich dafür nicht morgen den ganzen Tag lang die Seele aus dem Leib kotzte. »Und jetzt laßt mich in Ruhe, ja? Ich muß nachdenken.«
Jetzt murrte es um ihn herum. Da hatten sich alle gefreut, bei Varyn sitzen zu dürfen und ihm zuzuschauen, vielleicht sogar versuchen, sich selbst mit ihm zu messen, und jetzt das: Varyn spielte nicht mit.
Es war ihm egal. Seine Gedanken kreisten wieder um die Steine von Sharaz. Wenn er wußte, was der Name bedeutete… Varyn versuchte, den Namen mit dem Finger auf die Tischplatte zu malen, aber es ging nicht - um zu wissen, welche Zeichen es waren, hätte er doch schon wissen müssen, was der Name bedeutete - und so fing der Kreis wieder von vorne an. Im Reich der Stille, da hätte er es erfahren - und Varyn wußte, wie er dorthin kommen konnte, und daß er es nicht durfte, und direkt vor seiner Nase stand ein Bier…
Varyn schwitzte. Er schüttelte den Kopf und stand auf. »Laßt mich gerade eben durch, ich muß mal raus.«
»Hä, wie das denn?« Stellvertretend für den Rest wunderte sich Pogge besonders laut. »Du hast noch keinen Schluck getrunken und gehst schon strullen?«
»Ich brauche Luft, in Ordnung?« fragte Varyn und wurstete sich durch die Menge. Wie viele Männer waren das jetzt? Mehr als hundert, und die Wirtsstube war voll. Und dann gab es auch noch die Einheimischen, die sich nicht einfach so von ihrem Bier vertreiben ließen. »Und Gaven - ich krieg das auch von draußen aus mit! Das Verbot gilt auch, wenn du mich gerade nicht siehst, ist das klar?« Varyn wartete keine Antwort ab. Einfach nur raus, raus da, an die Luft…
Draußen stapfte er rastlos hin und her. Was sollte er auch tun? Sich in sein Zelt schleichen, unter dem Sackleinen verstecken und versuchen zu schlafen? Dafür war er zu wach. Hinsetzen, sich bewegen, Dauerlauf machen, zur Ruhe kommen - alles nichts. Gaven rausschleifen, mit ihm reden - Varyn konnte nicht denken. Sein Kopf kreiste und kreiste, es kam nichts raus, und drinnen wartete sein Bier…
»Bis jetzt geht es doch ganz gut, nicht wahr?«
Erschrocken starrte Varyn ins Gesicht des Hauptmanns. Er hatte ihm gar nicht kommen hören. »Es tut mir leid! Ich geh sofort wieder rein, ich mußte nur mal eben -«
»Ich will keine Entschuldigung hören«, sagte der Hauptmann. »Ich will nur sehen, ob du es schaffst. Du hast mich da in eine Verantwortung gezwungen, ich verabscheue dich dafür von ganzem Herzen - aber du mußt das schaffen, und ich denke mal, du schaffst das. Ich werde wohl nie erfahren, was am Ende aus dir wird, aber das soll dann meine Sorge nicht sein.«
Varyn nickte wortlos. Ihm lag soviel auf der Zunge - er wollte wissen, was genau der Mann mit Gaven besprochen hatte, wieviel von Varyns Plänen der Mann wissen durfte - der Hauptmann war bestimmt viel in der Welt herumgekommen und nicht ganz dumm, vielleicht wußte er, wo die Steine waren? Oder der Schreiber da drinnen, der konnte lesen und bildete sich viel ein, vielleicht wußte der es? Oder der alte Hauptmann Bakonyn, der wußte so vieles von der Welt… Aber es ging nicht. Selbst wenn der Hauptmann wußte und wollte, daß Varyn desertierte - er durfte nicht wissen, wo Varyn dann hinging. Schon um später selbst keine Probleme zu bekommen.
»Danke«, murmelte Varyn. »Ich schaffe das schon.« Und sagte nichts davon, daß jede Faser seines Körpers flüsterte ‘Komm, es ist nur ein Bier, mehr nicht, das reicht doch schon - nur ein Bier und du darfst in das Königreich der Stille reisen…’ Er schüttelte noch mal den Kopf. »Ich geh das jetzt wieder rein. Alles in Ordnung.«
Nichts war in Ordnung. Aber er wollte den Hauptmann da raushalten. Varyn ging zurück ins Wirtshaus, aber nicht zu seinem alten Platz. Statt dessen arbeitete er sich durch bis zum Schanktisch. Er wartete, bis der Witz zu ihm hinüberblickte, und nickte dann.
Der Wirt kam rüber. »Ja? Was darf’s sein?« Schweißperlen glänzten auf seiner fleischigen Stirn.
Varyn lächelte. »Zwei Fragen«, sagte er. »Zum einen, habt ihr hier auch irgendwas ohne Alkohol?«
Der Wirt blickte ihn abschätzend an und grinste. »Wir haben Dünnbier.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, ganz ohne - irgendein Tee, Ziegenmilch?« Das waren Schüsse ins Blaue - das, was seine Mutter den Kleinen beim Abendbrot auftischte. Und er hoffte sehr, daß der Wirt ihn jetzt nicht auslachen würde.
Aber der überlegte nur kurz, wischte sich über die Stirn und sagte dann: »Es ist noch was kalter Tee da.«
»Prachtvoll.« Varyn blies die Backen auf und atmete tief durch. »Den nehme ich.« Er wußte jetzt schon, daß der Tee nicht schmecken würde. »Und dann die andere Frage. Die dauert aber etwas länger.«
Der Wirt verdrehte die Augen und deutete dann auf die Heerscharen, die seinen Schankraum füllten und alle gleichzeitig ihr Bier haben wollten.
Varyn biß sich auf die Lippe. »Also, die Frage geht schnell - dann kannst du in Ruhe überlegen, ich brauche die Antwort nicht sofort. Ich warte einfach solange hier.«
Der Wirt stellte ihm mit etwas zuviel Nachdruck einen angeschlagenen Tonkrug und einen Becher hin. »Was gibt es denn?«
»Die Steine von Sharaz.« Varyn versuchte es so leise wie möglich, damit niemand von der Truppe mithören konnte. »Sharaz. Steine. Das muß ein Ort sein. Schon mal gehört? Sharaz?«
Der Wirt antwortete nicht und machte sich wieder ans Zapfen.
Varyn kam noch eine Idee. »Warte mal, hier ist soviel los - wie wär’s, wenn ich mit anfasse? Ich bin Bergmann, ich kann eine Menge schleppen - wenn ein neues Faß anzuschlagen ist oder so, ich helfe gern.« Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er brauchte Antworten - und Bewegung, die vom Saufen abhielt und vom Grübeln.
Der Wirt lachte. »Gib es zu, du willst nur eine Gelegenheit, an meine Tochter ranzukommen!«
»Tochter?« Varyn runzelte die Stirn. »Ich habe nicht mal gemerkt, daß hier noch jemand außer dir ist. Ich will nur rausfinden, wo diese Steine sind - das ist mir einfach wichtig.«
»Na, ich frag jetzt nicht, warum du wohin willst, wo du nichts drüber weißt als den Namen. Ich bin ja nur ein Wirt. Aber ich höre eine Menge, und es kann schon sein, daß ich den Namen mal gehört habe.«
Varyn verstand den Wink. Er half, ein leeres Faß in den Keller und ein volles hinaufzuschaffen - und tat dabei ganz unauffällig so, als ob er nur einen Teil der Last schleppte und selbst das noch sehr schwer fand. Er wollte Antworten, nicht angeben. Er trug Bierkrüge aus und verstand, warum Venna, die Wirtstochter im Dorf daheim, fast jeden Kerl im Armdrücken besiegte. Er trennte zwei Prügeleien und hielt sogar für einen Moment die Stellung am Schanktisch, als der Wirt mit seiner Frau in der Küche redete - natürlich durfte er nicht hinter die Theke, aber so konnte er zumindest die übermütigen Burschen davon abhalten, sich selbst zu bedienen. Varyn wußte nicht, wer hinterher die Zeche zahlen würde, oder wie der Wirt zählen wollte, wer wieviel trank - der Wirt im Dorf nahm immer Kohle und machte Striche für jedes Bier, aber da kehrten tagtäglich die selben Männer ein, und so besaß ein jeder seine eigene Holzscheibe beim Wirt… Plötzlich merkte Varyn, daß er schon sehr weit von daheim entfernt war. Der Wirt hier sprach anders - nicht so komisch wie der Hauptmann, aber auch schon irgendwie fremd.
Nebenbei schaffte Varyn es sogar noch, seinen kalten Tee zu trinken. Pfefferminze. Es schmeckte sogar ganz erträglich.
Und dann kam der Wirt wieder zurück, verpaßte ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter, und lachte. »Hast Glück, Junge. Ich hab es gerade noch mal von meiner Frau bestätigt bekommen. Bei dem Namen klingelt bei uns etwas. Sharaz hast du gesagt?«
Varyn nickte atemlos und mußte sich zusammenreißen, um nicht unkontrolliert zu zittern. Seine Hand krampfte sich um den Teebecher, daß er ihn zerdrückt hätte, wäre das kein dicker Ton gewesen.
»Genau. Sharaz.« Der Wirt nickte zufrieden. »Irgendwer hat hier mal im Suff davon geredet, bestimmt einer von unseren Fuhrleuten. Irgendwer, der einem die Zukunft voraussagt, soll das sein - ein Ort, hast du gesagt? Meine Frau meinte, das wäre ein Name. Weissagung mit Steinchen. Ist ja nicht sowas Ungewöhnliches.«
Varyn hatte überhaupt noch nie von jemandem gehört, der die Zukunft voraussagen konnte, außer ihm selbst, der sie träumte - allein so einer hätte ihm jetzt schon furchtbar weitergeholfen. Doch Sharaz war ein Ort, kein Name. Der Dämmervogel hieß nicht so. Der Dämmervogel lebte dort - wenn Varyn sonst nichts wußte, soviel wußte er bestimmt. Aber er brachte keinen vernünftigen Satz heraus, konnte nur noch nicken und stammeln: »Wo? Wo ist das?«
Aber da zuckte der Wirt die Schultern. »Irgendwo im Norden, in den Bergen, möchte ich wetten. Mehr weiß ich nicht.«
Varyn schluckte. Er war enttäuscht. Aber dafür, daß der Wirt der erste war, den er fragte - nach Gaven, natürlich - war das doch schon einmal ein großartiger Hinweis. Norden. Das war besser als gar nichts.
»Wie komme ich nach Norden?« fragte er heiser und fühlte sich sehr dumm.
Der Wirt schüttelte den Kopf und verteilte noch ein paar Bier, ehe er antwortete. »Nach Norden?« Er lachte so laut und schallend, daß Varyn schon fürchtete, jetzt würde jeder zu ihm hinstarren - aber dann wieder war ein lachender Wirt nichts wirklich Ungewöhnliches. »Junge, nach Norden kommst du, indem du einfach nach Norden gehst. Wir haben sogar eine Straße in die Richtung. Aber ich nehme mal an, das nützt dir alles nicht viel, oder? Loringaril liegt im Westen, soweit ich weiß. Falsche Gegend.«
»Och…«
Varyn wollte ihm nicht direkt sagen, daß er desertieren würde. »Es wird ja nicht ewig Krieg sein, nicht wahr? Wir gehen hin, schlagen diese Feiglinge, und der Norden läuft mir bis dahin nicht weg.« Es sollte ganz vergnügt und locker klingen, aber sein Herz klopfte dabei so wild, daß es ihn beinahe von oben bis unten durchschüttelte.
»Danke«, brachte er noch hervor. »Das kann mir noch sehr weiterhelfen.«
»Ach, gern geschehen.« Der Wirt grinste. »Einem fleißigen Burschen helfe ich doch immer gern. Und wenn du im Krieg bist, paß mal auf, ob du meinen Sohn triffst Der ist schon vor ein paar Wochen abgeholt worden - ihr kommt richtig aus den Bergen, nicht wahr?«
Varyn nickte nur. Er wollte sich nicht unterhalten. Nicht mit dem Wirt. Nicht über irgendwelche Belanglosigkeiten - was interessierte ihn der Junge des Wirtes? Er murmelte noch irgendwas Entschuldigendes. Sein Blut raste. Wenn Vigilanders Kinder eine heilige Rache zu vollstrecken hatten, konnte ihr unbändiger Tatendrang nicht größer sein als Varyns in diesem Moment. Am liebsten wäre er rausgestürmt, hätte seine Sachen geschnappt und die Straße nach Norden eingeschlagen. Aber statt dessen kehrte er nur zu seinem Platz auf der Eckbank zurück.
Man hatte ihn nicht vermißt. Mehr noch: Zumindest einer am Tisch schien ganz und gar nicht froh über Varyns Rückkehr. Das war Gaven. Aber er versuchte nicht einmal, seinen Bierkrug schnell wegzustellen oder hinter dem Rücken zu verstecken. Statt dessen - und es mochte am Bier liegen oder an seinem Alter oder an der Tatsache, daß er Gaven war - hob er den Krug und prostete Varyn zu. Es war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Es war zuviel für Varyn. In diesem Moment brach das aus ihm heraus, was nicht sein durfte. Und in diesem Moment war es egal.
Es waren zwei Schläge, beinahe gleichzeitig, linke Faust - rechte Faust. Die linke Frau schlug Gaven den Bierkrug aus der Hand. Die rechte Faust traf Gaven mitten ins Gesicht.
Varyn hatte noch nie eines seiner Geschwister ins Gesicht geschlagen - nicht mit der Faust. Aber jetzt nahm er es kaum wahr. Er fühlte es in der Hand, nicht im Herzen - innen war er ganz taub. Nicht mal wütend. Keine Schuld, keine Genugtuung. Er schlug einfach zu.
Gaven starrte ihn nur sehr kurz, aber sehr entsetzt an. Ein klein wenig Blut quoll aus seiner Nase. Er sagte nichts. Er schlug zurück. Aber seine Schläge, seine kleinen harten Fäuste, trafen ins Leere, obwohl sie Varyn nicht verfehlten. Und Varyn schlug weiter. Packte Gaven beim Schlafittchen und zerrte ihn von der Bank, nur damit er mehr Platz hatte, auf ihn einzuprügeln. Gaven spuckte und trat und zappelte, aber er konnte Varyn nichts entgegensetzen. Und Varyn wußte nicht einmal, warum er auf ihn einschlug, warum er nicht damit aufhören konnte - als wäre der echte Varyn schon schlafen gegangen oder desertiert und hätte dem falschen Varyn das Feld überlassen. Und der machte ein Schlachtfeld draus.
Normalerweise, wenn zwei Burschen anfingen, in einem Wirtshaus aufeinander einzuschlagen, war es nur eine Frage von wenigen Augenblicken, bis sich mindestens fünf Männer in einem Pulk aus Körpern, Köpfen und Fäusten befanden - jeder wartete doch nur auf die Gelegenheit für eine richtig gute Prügelei. Aber hier ließ man Varyn und Gaven allein. Niemand mischte sich ein, noch nicht einmal Varyn selbst, der alles miterlebte wie der unbeteiligste aller Zuschauer. Ob er mit seiner Hacke auf Kohle und Gestein einschlug oder mit bloßen Fäusten auf seinen Bruder, es fühlte sich gleich an. Es fühlte sich gleichgültig an. Aber die Schläge brachten dieses Hämmern in ihm zur Ruhe, und das war gut.
Varyn wehrte sich nicht, als er von hinten gepackt wurde, als man ihm die Arme verdrehte und auf den Rücken zwang und ihn aus der Schankstube schleifte. Er sah, hörte und fühlte nichts als ein zufriedenes ruhiges Rauschen, auch, als er bäuchlings zu Boden gepreßt wurde, das Gesicht auf kalten Stein gedrückt.
»Und jetzt gibst du Ruhe!«
Varyn rührte sich nicht, wartete nur, bis man ihn wieder hochzog und umdrehte. Der Hauptmann war puterrot im Gesicht, und das schien nicht vom Bier zu kommen. Hauptmann Bakonyn stand ein paar Schritte entfernt, einen sich heftig wehrenden Gaven im Haltegriff. Gavens Gesicht war rot, geschwollen, und blutig. Varyn wußte, daß er das getan hatte, daß es seine Schuld war - aber in Gavens Augen stand kein Schmerz, nur Wut, und eine ganz seltsame Form von Freude, die Varyn nicht verstand.
»Gibst du jetzt Ruhe?« brüllte der Hauptmann noch mal.
Varyn nickte, indem er zu Boden blickte. »Es tut mir leid«, sagte er mechanisch. Es tat ihm nicht leid - doch, irgendwie schon - aber der Hauptmann wollte es hören. Bestimmt.
»Ich dulde das nicht«, schrie der Hauptmann, »daß einer aus meiner Einheit einen Jungen verprügelt, selbst wenn das sein Bruder ist! Erst recht, wenn das sein Bruder ist!«
»Es tut mir leid«, wiederholte Varyn.
»Ich schließe dich unehrenhaft aus der Armee aus! Leute wie du sind eine Schande für Vigilanders Heer! Ich werde dich -«
»Halt!« schrie Gaven, so laut und schrill, wie Varyn ihn noch nie gehört hatte. Aber der Hauptmann reagierte auf das Kreischen des Jungen. Er brach den Satz ab. »Was?« fragte er knapp - was Gaven wahrscheinlich zum einzigen Jungen von ganz Doubladir machte, der einem Hauptmann der königlichen Armee erfolgreich einen Befehl gegeben hatte.
»Er hat mich nicht verprügelt«, sagte Gaven so würdevoll, als sei er sich dieser Ehre durchaus bewußt - sehr würdevoll für einen Jungen mit Nasenbluten und aufgeplatzter Lippe, der sich fühlen mußte, als ob all seine Vorderzähne lose wären.
Der Hauptmann Bakonyn lachte. »Daß du ihn noch in Schutz nehmen willst, Kleiner, ehrt dich - aber wir haben es doch gesehen.«
»Er hat mich nicht verprügelt«, sagte Gaven noch mal, aber dieses Mal betonte er es anders und fuhr fort: »Wir haben uns geprügelt.« Gaven zog die Nase hoch und spuckte. »Ich bin ein Soldat wie er. Wir haben uns geprügelt. Das macht man so in Wirtshäusern. Das ist unser gutes Recht.«
Die beiden Männer blickten den Jungen abschätzig an, doch keiner lachte. Dann blickten sie einander an, und nickten.
»Wie du willst«, sagte Hauptmann Mendrion dann. »Wenn du keine Rücksicht willst, nehmen wir auch keine.«
Er packte Varyn, und Hauptmann Bakonyn griff sich Gaven beim Nacken, und dann schleiften sie die Brüder zur Pumpe und drückten sie für einen Moment mit dem Kopf ins Wasser. Abgesehen von der etwas groben Hand im Genick tat es richtig gut, und Varyn hätte es so oder so auch Gaven vorgeschlagen - es war das erste, was man nach jeder Prügelei tun sollte. Das kalte Wasser kühlte sowohl den hitzigen Kopf als auch die glühenden Prellungen, und wenn man rechtzeitig wieder zum Luftholen auftauchte, gab es nicht viel Besseres.
Danach fühlte sich Varyn wieder wie er selbst. Im Auftauchen versuchte er einen Blick auf sein Spiegelbild in der Wasseroberfläche zu erhaschen - fast hoffte er auf ein blaues Auge oder zumindest ein paar Schrammen, damit Gaven sich nicht ganz so sehr wie ein Verlierer fühlen mußte. Aber es war zu dunkel und das Wasser zu schlammig und zu sehr in Bewegung, und auf der anderen Seite sah Gaven auch wirklich nicht wie ein Verlierer aus. Er fauchte und prustete, als Bakonyn ihn aus der Tränke zog.
»So«, sagte Hauptmann Mendrion. »Jetzt gebt euch die Hände, und dann vertragt euch - Zeit dafür habt ihr genug, denn für heute ist das Wirthaus für euch verbotener Boden. Und wenn sowas noch einmal vorkommen sollte, geht ihr beide in Schande nach Hause.«
Er versetzte Varyn noch einen Schlag in den Nacken und verschwand zusammen mit Bakonyn wieder im Inneren. »Wehe«, sagte er noch mal im Gehen. »Wehe, das sage ich euch!«
Und dann saßen Varyn und Gaven neben der Pferdetränke vor der Säugenden Sauund waren allein. Sie schwiegen und schnauften. Varyn lehnte sich zurück mit halbgeschlossenen Augen. Er hatte sich zweimal entschuldigt, jetzt brauchte es eine Pause, bis Gaven es im Zweifelsfall wieder ernstnehmen konnte - falls der überhaupt eine Entschuldigung haben wollte.
Gaven atmete schwer und durch zusammengebissene Zähne. Endlich nuschelte er: »Weißt du, ich hätte dich besiegt, wenn die Blödmänner nicht dazwischengegangen wären. Ich hatte dich schon fast!«
Varyn lachte leise. »Davon träumst du wohl! Ich hätte den Fußboden mit dir gewischt.«
»Ja, aber auch nur in einem von deinen Gesichtern.«
Dann schwiegen beide wieder, aber es war ein gutes, ein ebenbürtiges Schweigen. Gaven war ein seltsamer Junge mußte man ihn erst verdreschen, damit er sich ernstgenommen fühlte? Varyn fragte nicht danach. Es reichte ihm, wenn er sich selbst nicht verstand.
»Wollen wir reden?« fragte er nach einer Weile.
Gaven hustete höhnisch. »So wie gestern?«
Varyn blickte ihn an. »Sag mir, was dein Problem ist. Ich habe dir gestern alles erzählt, also was willst du? Soll ich’s noch mal erzählen?«
»Du begreifst wirklich nichts«, murmelte Gaven. »Ich höre immer nur deine Träume, deine Träume, deine Träume - und du kommst nie auf die Idee, auch nur einmal zu fragen, was ichfür Träume habe!«
»Weil es darum nicht ging«, entgegnete Varyn und hörte wieder Ärger in seiner Stimme aufsteigen. »Du träumst nicht, daß der Berg einstürzt und alle sterben. Du siehst nicht, wie sich die Erde auftut und alle verschlingt, du -«
»Nicht alle!« schrie Gaven. Und diesmal war es nicht nur Wut. Diesmal hörte Varyn eine Verzweiflung, die ihn aufhorchen ließ. »Und du merkst das nicht einmal!«
Varyn rutschte zu ihm rüber. »Was ist denn?« fragte er leise. »Du bist doch nicht ich! Du kannst sagen, was los ist.«
»Deine Träume«, flüsterte Gaven heiser. »Du hast mir gestern bestimmt vierhundert Träume erzählt - und in keinem davon, in keinem einem davon, komme ich vor. Nie. Ich reiße mir die Beine aus, um dich wieder heile nach Hause zu bringen - und für dich existiere ich überhaupt nicht.« Er schwieg wieder.
Varyn wußte nichts zu sagen. Er wollte Gaven so gern widersprechen, wollte ihm von Momenten erzählen, wo er auch von ihm geträumt hatte - aber so schnell er nun noch einmal im Kopf alle seine Träume durchrattern mochte: Es gab keinen Gaven. Nicht in Varyns Träumen, nicht in seinen Wahnvorstellungen - sein Onkel war da, seine Tante, Edrik, Noran, Harkon, Alsa - kein Gaven. In dieser Welt schien es keinen Gaven zu geben. Und Varyn, und das war das Schlimmste, hatte es nicht gemerkt. Nie. Er verstand es nicht. Er konnte es nicht erklären. Er dachte sich seine Träume nicht aus - aber wer tat es dann?
»Na?« fragte Gaven mit trotzigem traurigem Triumph. »Verstehst du es jetzt?«
Langsam, sehr langsam, nickte Varyn. »Ja«, sagte er dann. »Ja, ich verstehe es. Aber freu dich doch - das sind keine schönen Dinge, von denen ich da geträumt habe.«
Gaven schniefte, und daß er danach ausspuckte, klang wie eine schlechte Ausrede. »Das ist mir egal! Ich will einen Platz in deinen Träumen, irgendeinen. Du bist doch auch ein Teil meines Traumes.«
Varyn stand auf, streckte sich kurz, und reichte dann Gaven eine Hand, um ihm hochzuhelfen. »Denk doch mal nach«, sagte er. »Du bist ein Teil meiner Wirklichkeit.«
Gaven versuchte sich an einem Lächeln, doch sein geschwollenes Gesicht ließ ihm nicht viel Spielraum. »Wirklich?« fragte er.
»Wirklich«, sagte Varyn. Auch wenn das immer noch nichts erklärte. »Und jetzt - kommst du mit nach Norden?«
Gaven blickte zur Wirtshaustür, zu den Zelten, zum Nachthimmel. »Wie, jetzt? Meinst du jetzt jetzt?«
Varyn nickte. »Früher oder später wären wir doch so oder so abgehauen. Und gerade sind wir unbeobachtet, und der Wirt sagt, es geht hier eine Straße nach Norden, und daß die Steine im Norden sind, also - warum gehen wir nicht jetzt schon los?« Nach kurzer Pause setzte er hinzu: »Wenn du noch kannst, heißt das.«
»Ich kann, solange du kannst«, sagte Gaven tapfer. »Aber ich wette, wenn ich mich schlafen lege und aufwache, kann ich keinen Knochen mehr rühren.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Varyn, auch wenn das gelogen war. »Also?«
Gaven nickte. Und so desertierten sie in dieser Nacht, und sie gingen nach Norden.

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