Zehntes Kapitel

Sicherlich war Gaven nicht der erste Junge, der bei seinem Alter schummelte, um sich den Soldaten anzuschließen. Sicher war er auch nicht der erste, der seinen Fehler schnell erkannte und dieser Armee auf dem schnellsten Weg wieder den Rücken zukehrte. Aber von allen Jungen, die es zu eilig hatten, war Gaven sicher der erste und einzige, der auch das Sterben gar nicht mehr abwarten konnte. Warum bis zur großen Schlacht warten, wenn man auch mitten auf einer Handelsstraße krepieren konnte? Und das tat Gaven dann auch. Oder versuchte es zumindest nach bestem Gewissen. Der Wegrand erschien ihm dazu wie der passende Ort, und Gaven gab seinen Beinen nach und ließ sich fallen, um auf das Ende zu warten - oder auf Varyn, der ihn packte und wieder hinstellte.
»Jetzt komm schon, Gaven! So schlimm kann es doch gar nicht sein!«
Doch, es war schlimm. Es war sogar noch schlimmer. Warum begriff Varyn das nicht? Er hatte doch sonst das Elend für sich gepachtet! Gaven röchelte. »Varyn, ich sterbe.« Und weil das nicht so klang, wie er sich fühlte, hing Gaven noch ein »Verdammt!« dran. Wenn er eines bei den Soldaten gelernt hatte, war es fluchen.
»Gaven, du stirbst nicht. Also spiel nicht nasser Sack und versuch zumindest zu gehen.« Kein Mitleid, kein Verständnis - das würde Gaven sich für die Zukunft merken. Wenn er sie denn noch erleben sollte.
Gaven schnappte nach Luft. »Ich kann nicht mehr!« heulte er. Was wollte Varyn denn noch? Gaven hatte ihm direkt vor die Füße gekotzt - dreimal! - und war mindestens so oft hingefallen. Vor seinen Augen drehte sich alles, ihm war schlechte, und dabei war er seit einem Tag und einer Nacht auf den Beinen, und er konnte nicht mehr. Er war fertig. Am Ende. Alle. Und er wollte einfach nur still am Boden liegen und sich nicht rühren. Die Welt hielt still, wenn er es tat.
Aber Varyn ließ hin sich nicht hinlegen. »Hör mal, ich sehe, daß es dir dreckig geht. Aber ich kann dir hier draußen nicht helfen, und wir müssen immer noch damit rechnen, daß uns der Hauptmann doch mit dem Pferd hinterherkommt. Wenn du nicht mehr laufen kannst, trage ich dich - aber hier bleibst du mir nicht!«
Normalerweise hätte Gaven sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, wie ein kleines Kind durch die Gegend getragen zu werden, aber jetzt nickte er nur, und schon vom Nicken sah er wieder Sterne.
»Was machst du auch für Sachen?« hörte er Varyn noch fragen. Und: »Und ich weiß, warum ich dir das Biertrinken verboten habe.«
Gaven ließ ihn reden und schloß die Augen. Er widersprach nicht, obwohl er sicher war, daß Varyn Unrecht hatte - das lag nicht am Bier. Ein Bier und ein wenig von einem zweiten reichten nicht aus, um Gaven umzubringen. Sein Schädel dröhnte und drehte sich seit dem Moment, wo er Varyns Faust zwischen die Augen bekommen hatte. Aber Gaven hatte keine Ahnung, wie er das erklären sollte. Alle Worte waren so fern… Varyn schüttelte ihn mit jedem Schritt auf und ab, und in diesem Takt verlor sich Gaven, und in der Finsternis.
Das nächste Stück des Weges über war er so halb bei Bewußtsein - er nahm die Bewegung wahr, aber er ging nicht darauf ein und ließ geschehen, was immer ihm geschehen mochte. Aber irgendwann mußte er doch wohl weggedämmert sein, denn als er dann die Augen aufschlug und in einem richtigen Bett lag, wunderte er sich doch sehr. Wie er dorthin gekommen war, wußte er nicht, dabei hätte er schwören mögen… Er hatte etwas lauwarmes, nasses auf dem Kopf und keine große Lust, es fortzunehmen, da es doch nicht so sehr störte, und das Einfachste war, keine Fragen zu stellen und gleich wieder einzuschlafen. Vor allem, da niemand zum Fragen da war. Gaven lag wach zwischen Schlafen und Wachen, bis Varyn hereinkam.
»Gaven, du bist auf - wie geht es dir?«
»Geht so«, log Gaven. Er konnte nicht so liegen, wie er wollte, weil alles weh tat, allem voran Kopf und Gesicht. »Aber ich glaube, ich sterbe doch nicht. Hoffe ich zumindest.« Er wollte lachen, aber er bekam den Mund kaum auf oder zu. Was für ein Ort dies war, fragte er nicht. Das würde er schon noch früh genug erfahren, wenn sein Schädel wieder mitspielte.
Varyn setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Das Bett selbst war mehr eine Kiste als ein Bett und so kurz, daß Gaven mit den Füßn fast hinten anstieß, aber dafür so schön breit und mit hohen Seitenteilen, daß auch der unruhigste Schläfer nicht rausfallen konnte - ein Varynbett, sozusagen. Nichts für einen wie Gaven, der sich ohnehin nicht rühren konnte, aber immerhin ein Bett, und ganz für ihn allein.
»Gaven, es tut mir leid«, sagte Varyn. »Ich weiß, ich bin gestern zu weit gegangen, aber hier sind wir immerhin in Sicherheit, und du kannst dich ein paar Tage erholen.«
Gaven versuchte zu schlucken. »Du weißt - du weißt, daß du Schuld bist? Aber vorhin hast du noch gemeint…«
»Weil ich gehofft habe, du hältst länger durch, wenn du wütend auf mich bist. Wenn ich mich nur entschuldigt hätte, wärst du doch gleich liegengeblieben, als du das erste Mal umgekippt bist. Deswegen dachte ich, wenn du mir was beweisen willst, dann haben wir mehr davon. Entschuldigungen machen keinen Fehler wieder gut. Aber es ist immer noch das Beste, daß wir jetzt hier sind.« Er beugte sich weit vor und sagte so leise, daß Gaven es über dem Rauschen in seinen Augen kaum verstehen konnte: »Die Bauersleute müssen nicht wissen, daß ich dich so zugerichtet habe, hörst du? Ich habe ihnen nur gesagt, daß es ein Soldat des Königs war, und da sie gerade nicht gut auf die Soldaten zu sprechen sind, hast du jetzt diese Kammer und ich eine Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen - also hilf mir, sie in dem Glauben zu lassen, bitte.«
»Geht in Ordnung«, flüsterte Gaven. Es war ihm gleich, solange er in diesem Bett liegen durfte - ob das nun irgendwelchen Bauern gehören mochte oder dem König selbst machte keinen Unterschied. Gaven wollte nur schlafen, irgendwie. Reden konnte Varyn hinterher immer noch.
»Hier, ich habe dir Wasser mitgebracht.« Varyn zog den schlafen Lappen von Gavens Stirn, wrang ihn in den Nachttopf aus und tunkte ihn dann in einen Eimer, aber nicht, um ihn Gaven wieder auf den Kopf zu legen. Statt essen schob er ihm einen nassen Stoffzipfel in den Mund. »Versuch mal, ob du daran saugen kannst - du sollst dich so wenig wie möglich bewegen, meint die Bäuerin.«
Halbherzig nuckelte Gaven an dem Fetzen. Er hatte Durst, aber das Schlucken tat weh - keine Halsschmerzen, es fühlte sich mehr an, als hätte er sich verbrannt. Das kam vom Brechen. Aber immerhin: Das Wasser konnte er bei sich behalten. Und es tat irgendwie gut. Gaven wußte, warum er nie krank sein wollte, selbst wenn es bedeutete, nicht arbeiten zu müssen. Er haßte diese Hilflosigkeit. Aber zumindest ging es ihm schon wieder gut genug, um sie zu hassen.

Die nächsten zwei Tage sollten für Gaven genug sein, um wieder auf die Beine zu kommen. Eine Zeit, die ausreichte, um ihn wirklich jede Form der Langeweile kennenlernen zu lassen. Nichts zu tun, niemand zum Reden, und soviel konnte er gar nicht schlafen, um die Tage und Nächte auszufüllen. Gaven hatte Heimweh. Und er vermißte sogar die Arbeit.
Von Varyn sah er in diesen Tagen nur wenig. Der hatte nämlich nicht nur versprochen, für drei zu arbeiten, sondern versuchte das auch noch wirklich. Zwischendurch versuchte er sich noch als Krankenpfleger, aber ein Heiler war an ihm nun wirklich nicht verloren gegangen, und das wußten sie beide.
»Na, wie geht’s?« fragte Varyn dann.
Und Gaven antwortete: »Schon viel besser«, um endlich aufstehen zu dürfen, was Varyn aber nicht erlauben wollte.
»Ich habe dir was zu essen mitgebracht«, sagte Varyn. Meistens war das Grütze. Kauen sollte Gaven auch nicht. Dabei hatte er keine Zähne verloren, außer dem ersten Schlag hatte sein Gesicht ja nichts abbekommen; er war schlau genug, um seinen Kopf mit den Armen zu schützen und auszuweichen. Kein Zweifel, Varyn taten die Schläge leid. Aber Gaven hätte sich doch über eine andere Form der Buße gefreut, und selbst wenn es bedeutete, seinen Nachttopf selbst ausleeren zu müssen.
»Erzählst du mir wenigstens noch ein bißchen?« fragte Gaven.
»Ich habe nichts zu erzählen«, erwiderte Varyn. »Ich arbeite eben mit, wo gerade zwei Arme gebraucht werden.«
»Vielleicht brauchen die auch mal vier Arme?« Gaven gab nicht auf.
Varyn nutzte die Gelegenheit, Gaven einen neuen kalten Lappen auf die Stirn zu klatschen, um ihm durch das Haar zu wuscheln. Er mußte wissen, daß Gaven das haßte. Und das feuchte Tuch, anfangs noch ganz angenehm, war nun eine gräßlich naßkalte Angelegenheit. »Dann packe ich eben etwas fester an«, sagte Varyn dabei. »Aber mach dir keine Sorgen, ich bekomme auch ein wenig Geld dafür. Und Geld brauchen wir.«
Und das erinnerte ihn dann meistens daran, daß die Arbeit nicht auf ihn wartete und er nicht noch mehr Zeit mit seinem quengeligen kleine Bruder vergeuden durfte. Weswegen er sich schnell wieder verabschiedete, sich aus dem Staub machte und Gaven wieder mit der Zeit allein ließ.
Und dann gab es natürlich noch die Bauersleute selbst. Den Mann bekam Gaven nie zu Gesicht, solange er in der leeren Kammer lag. Die Frau dagegen warf ab und an zumindest einen Blick auf ihn. Sie war eine kleine dürre Frau mit einem dicken Knoten grauen Haares, auf dem ein lustiges kleines Häubchen saß - wirklich nichts, was man im Tal getragen hätte, aber vielleicht waren die Leute hier auch so arm, daß sie sich keine größeren Hauben leisten konnten. Es gab hier keine Kohle, keine Eisengießereien - den Menschen blieb nichts anderes übrig, als Bauern zu sein. Sie taten Gaven leid. Daheim blickten sie immer auf die Bauern runter. Obwohl die auf ihre Weise nützlich waren, blieben sie doch immer nur Bauern.
Aber zu der Bauersfrau war Gaven immer nett. Das sollte man auch sein, wenn man ein Bett von jemandem benutzen durfte… Sie hatte nie mehr Zeit für Gaven als Varyn, aber sie war nett - und neugierig. Es kam wohl selten vor, daß hier zwei fremde Jungen vor der Tür standen und fragten, ob sie bleiben durften.
»Ihr seid so weit weg von daheim - ist das nicht sehr schlimm?«
Gaven wußte nicht, was Varyn den Leuten für Geschichten erzählt hatte und wollte denen natürlich nicht widersprechen. Das zwang ihn, sich dumm und maulfaul zu geben, wo er sich gern richtig unterhalten hätte. »Och, das geht schon«, sagte er. »Wenn man nicht gerade in eine Prügelei gerät, heißt das.«
»Ja, diese Soldaten - schlimm ist das, schlimm. Als ob es nicht reicht, daß wir Krieg haben und sie du alle Männer mitgenommen haben, jetzt kommen schon die nächsten, um sich hier aufzuführen wie die Axt im Wald.«
Soldaten waren etwas, worüber sich die Bäuerin immer wieder aufregen konnte. Aber da die ihr nicht weniger als drei Söhne vom Hof geholt hatten und den Knecht noch dazu, konnte Gaven das verstehen, und Vigilander hoffentlich auch.
»Mein Bruder gibt immer gut auf mich Acht«, sagte Gaven schnell. Wenn sie eine gute Meinung von Varyn hatten, gaben sie ihm vielleicht noch etwas mehr Geld! »Aber ich bin frech geworden und habe mich selbst mit den Soldaten angelegt - aber du hättest sehen müssen, wie Varyn den Kerl dann verdroschen hat! Der kann auch in drei Tagen nur Brei essen, möchte ich wetten.«
Die Frau nickte. »Und wo wollt ihr jetzt hin?«
»Hat mein Bruder euch das nicht erzählt?« fragte Gaven vorsichtig.
Die Bäuerin schüttelte den Kopf. »Arbeiten kann er ja wirklich für drei, aber mit Wörtern hat er es nicht so, nicht wahr?«
Gaven lachte. Wenn Varyn wieder den Einfältigen spielte, dann hatte er etwas mehr Spielraum. »Nach Norden wollen wir - hat er euch nicht nach den Steinen von Sharaz gefragt? Das tut er sonst bei jedem!«
»Ja, aber die kennen wir auch nicht«, antwortete die Bauersfrau. »Und was das sein soll, das weiß er wohl selbst nicht.« Sie schmunzelte kurz und machte dann wieder ein ernstes Gesicht.
»Ja, er hat immer solche Hirngespinste«, sagte Gaven. »Aber mir soll es recht sein, wenn ich damit ein paar Abenteuer erleben kann. Und wenn er denn seinen Vater findet, um so besser, nicht wahr? Das war nämlich ein Schuft, sein Vater, hat Varyns Mutter mit dem Kind sitzen gelassen - vielleicht kennt ihr ihn ja? Dyrk hieß er. Und alles, was wir von ihm wissen, war, daß er aus diesem Sharaz gekommen sein soll. Aber da redet Varyn nicht gern drüber. Wer ist schon gerne ein Bastard? Und bei uns im Dorf hat man ihm das Leben schon so schwer gemacht deswegen - deswegen bin ich ja jetzt mit ihm gegangen, weil ich doch irgendwie daran Schuld bin.«
Er sah Verwirrung im Gesicht der Frau, vielleicht paßte die Geschichte jetzt doch nicht so gut zu dem, was sie schon von Varyn wußte? Schnell redete Gaven weiter: »Wir sagen immer, wir sind Brüder, obwohl wir natürlich eigentlich nur Vettern sind - damit er wenigstens einen Menschen hat, der richtig zu ihm gehört, versteht ihr?«
Und die Bäuerin verstand ihn wohl, als sie nickte und sagte: »Du hast einen sehr, sehr tüchtige Bruder, Junge. Aber er kann doch auch stolz auf dich sein.«
Ja, es gab keinen Zweifel daran: Hier hatte es sich Varyn endlich einmal nicht wieder auf Anhieb mit den Leuten verdorben - es war fast wieder so wie früher, als jeder ihn gernhatte und bewunderte und er der König des ganzen Tals war. Wenn sie das jetzt immer so machten - Gaven überließ Varyn das Arbeiten, und Varyn überließ Gaven das Reden - dann konnten sie es noch weit bringen. Bis ans Ende der Welt. Oder zumindest bis in diese vermaledeiten Steine von Sharaz - wenn man sie denn wieder gehen ließ, hieß das.

Die beiden Bauern waren die ersten Leute seit Wochen, wenn nicht Jahren, die traurig waren, Varyn zu verlieren. Er war ihnen natürlich unheimlich - es gab wohl kaum jemanden, dem Varyn das nicht war- aber das nahmen sie gern in Kauf, solange ihnen vier Männer fehlten, um die Ernte einzufahren. Rüber, oder etwas in der Art. Gaven erfuhr es nie so genau, und da er ohnehin nicht mithelfen durfte, fragte er auch nicht lange. Rüben waren Schweinefraß, mit dem man ihn jagen konnte…
Sicher hätte es den Bauern dagegen nichts ausgemacht, Gaven gehen zu lassen, wo er doch nichts tat und nur herumlag, aber natürlich brachen die Brüder gemeinsam auf, kaum daß Gaven durchgesetzt hatte, wieder gesund und munter zu sein. Die braven Bauern seufzten, aber sie taten nichts, um sie aufzuhalten. Dabei hatte Gaven schon mit dem Schlimmsten gerechnet: Daß sie sich nachts in seine Kammer schlichen und ihm eins überbrieten mit dem Spaten oder mit der Kohlenpfanne, damit er für noch drei Tage ans Bett gefesselt blieb, während Varyn weiterarbeiten konnte - aber nein, auf solche Ideen kamen die Bauern natürlich nicht. Gaven wußte schon, warum er normalerweise nicht viel von Bauern hielt!
Aber natürlich war es viel besser, wenn sie vielleicht nicht so schlau waren, sondern ehrlich und anständig. Denn so sollte Varyn tatsächlich seinen Lohn bekommen für die paar Tage. Fast schon eine seltsame Vorstellung: Im Bergwerk arbeiteten sie beide immer so viel mehr - und sahen doch kaum jemals auch nur einen Pfennig dafür. Aber hier bekamen sie richtiges Silber, glänzendes Silber zum Behalten und Mitnehmen!
Gaven wollte gar nicht zulassen, daß Varyn das Geld nahm - am liebsten hätte er es selbst eingesteckt, oder noch lieber die ganze Zeit über in der Hand gehalten. Eine Silbermark, eine ganze Silbermark! Und als ob das noch nicht ausreichte, bekamen sie noch ein Brot mit auf den Weg, und frische Eier, und keinen Brei - das war vielleicht sogar das Beste daran - und eine Hose. Die war nicht zum Essen, natürlich. Die war für Gaven, und sie war ihm auch noch zu groß, aber trotzdem! Dafür, daß Gaven ohne jedes Gepäck losgelaufen war, ohne auch nur ein Hemd zum Wechseln dabeizuhaben, gab es sicher garstigere Möglichkeiten, ihm mitzuteilen, daß er stank. Trotzdem wollte er die Hose erst gar nicht annehmen.
»Ich habe doch gar nichts gearbeitet«, sagte er und fühlte sich wie ein Bettler. »Das ist sehr nett, aber danke.«
Der Bauer schüttelte den Kopf - das war auch so ziemlich das erste, was Gaven von ihm überhaupt sah. »Ach was, nimm sie schon. Die paßt nicht mal mehr unserem Joram, die Frau hätte sowieso nur Flicken draus gemacht.« Aber sein Blick sagte etwas anderes. Sein Blick war sich nicht sicher, ob auch nur einer von seinen Söhnen aus dem Krieg heimkehren würde.
Gaven schluckte. Er mochte die Vorstellung nicht, daß seine Mutter jetzt seine und Varyns alte Hosen dem nächstbesten dahergelaufenen Kerl schenkte, und da war es auch nur ein schwacher Trost, daß sie das niemals tun würde, weil Harkon ja noch hineinwachsen konnte, oder Edrik, was Varyns Hosen anging… Dann nickte er. »Danke.« Er war nicht in der Lage, irgendwelche Geschenke auszuschlagen. »Aber wenn ich rausgewachsen bin, bringe ich sie euch zurück.«
Er grinste. Das ging schon viel besser als noch vor ein paar Tagen. Sein Gesicht war immer noch rot und blau und tat weh, wenn er dagegen drückte, aber es war auch sonst nicht Gavens Art, dauernd an seinem Gesicht rumzudrücken. Es hatte zu gehen.
Und dann waren sie wieder unterwegs. Es ging schnell, keine Zeit für lange Abschiede und Umarmungen, und das war fast schade: Von ihrer Familie hatten sich weder Varyn noch Gaven verabschieden können, und auch nicht vom Hauptmann und seinen Leuten - das hier wäre ein Ersatz gewesen. Aber es gab nur ein kurzes Nicken, und die Bäuerin sagte: »Mögen die Engel euch beschützen« - und das war es dann auch schon. Der Rest war Landstraße.
Die Sonne schien. Es war früh am Morgen, und sie hatten Silber in der Tasche. In diesem Moment gehörte ihnen die ganze Welt.
»Gut«, sagte Gaven. »Und weißt du, was wir jetzt machen, Varyn? Wir gehen nach Hause.«
Varyn grinste und schürzte seine Augen mit der Hand gegen das Morgenlicht. »Ach, Gaven - ich habe genau gewußt, daß du das sagen würdest, sobald du auch nur die Zähne wieder auseinander bekommst - aber gib das auf. Du kannst mich nicht umstimmen, und du hast versprochen, mich zu begleiten.«
Gaven schnaubte. Auch er hatte diese Worte vorausgesehen. Aber versuchen wollte er es trotzdem noch mal. Einmal, zumindest. Erstmal war das kein Versprechen«, sagte er. »Ein Versprechen zählt nicht von einem, den man gerade so durchgeprügelt hat, daß der noch drei Tage danach im Bett liegen muß. Ich habe das nur so gesagt, weil ich nicht wußte, wie ich dich sonst bei den Soldaten wegholen sollte. Und dann -« Er stutzte, irritiert, daß Varyn ihn aus- und weiterreden ließ - »Und dann überleg mal. Du hast keine Ahnung, wo deine Steine von Sharaz sind. Gib es zu, du wartest auf den nächsten Traum, der dir Genaueres verrät. Aber so einen Traum kannst du auch zuhause haben. Hauptsache, wir sehen deine blöden Soldaten nicht wieder. Du wolltest nach Norden, gut, da sind wir hingegangen. Sind hier deine Steine? Nein. Also gehen wir wieder nach Hause.«
Gaven war sehr stolz, daß er das so vernünftig auf die Reihe gebracht hatte, daß Varyn ihm gar nicht mehr widersprechen konnte - aber Varyn widersprach ihm auch gar nicht. Er kniff ihn nur in die Wange, was immer noch scheußlich weh tat.
»Fein, Gaven. Du hast Recht. Aber weißt du, wie weit wir nach Norden gekommen sind? Weniger als eine Tagesreise. Und weißt du, wie groß der Norden in Wirklichkeit ist? Viele Tagesreisen. Also sei ein guter Bruder und komm mit. Manchmal glaube ich schon fast, du findest die Steine eher als ich, also halt die Augen offen und komm gefälligst. Und hinterher gehen wir heim, Ehrensache.«
Dann verlor Varyn keine weiteren Worte mehr. Er machte das, was Varyn immer tat: Marschierte einfach los, als schere er sich nicht um Gaven. Und Gaven hatte keine andere Wahl, als hinterherzulaufen.
Er konnte nur hoffen, daß sein blöder Bruder, dieser sture alte Hund, wenigsten wußte, wo Norden war.

Manchmal wünschte sich Gaven, im Leben vielleicht doch einmal irgendwas gelernt zu haben als Gesteinsbrocken in einen Korb zu packen - zum Beispiel, wie groß sein Heimatland überhaupt war. Groß, natürlich, aber was hieß das schon? Für einen, der nie aus seinem Tal hinauskam, konnte groß alles bedeuten. Aber je länger Gaven nun mit Varyn unterwegs war, desto mehr begriff er, daß Doubladir nicht mehr und nicht weniger war als das größte Land der Welt. Und das war ausnahmsweise nichts, worüber man stolz sein und sich freuen sollte - es war ein Grund zum Verzweifeln. Oder wenigstens ein paar Pferde zu klauen. Aber auf den Vorschlag ging Varyn natürlich genausowenig ein wie auf den, umzukehren und heimzugehen.
»Zum letzten Mal«, sagte Varyn, und er klang jetzt wirklich ungehalten, »wir klauen keine Pferde!«
»Nicht klauen«, flüsterte Gaven. »Nur ausleihen! Und heute abend geben wir ihnen einen Klaps und sagen ihnen, sie sollen zurücklaufen. Und morgen nehmen wir uns -«
»Nein!« knurrte Varyn. Und ja, er hatte es schon so oft erklärt: Daß Pferde teuer waren. Nein, dann konnten sie die nicht im nächsten Ort verkaufen! Ja, jeder würde wissen, daß die Pferde geklaut waren. Nein, das erkannte auch so ein Bauer. Ja, sie wollten keinen Ärger. Nein, sie konnten doch nicht einmal reiten…
Gaven wollte natürlich gar keine Pferde stehlen. Nicht wirklich. Aber es war eine Sache, mit der er Varyn immer wieder hochnehmen konnte. Und sonst hatten sie einfach zu wenig, worüber sie sich unterhalten konnten.
Neulich, mit Hennes dem Fuhrmann, das ar etwas anderes! Der konnte erzählen, von seiner Familie, von der weiten Welt - Varyn dagegen hatte nichts zu erzählen, was Gaven noch nicht wußte. Und umgekehrt. Sie kannten einander schon einfach zu gut, und es war wirklich ein großer Fehler gewesen, gleich am ersten Tag ihres Wiedersehens so lange miteinander zu reden! Jetzt waren selbst die paar Tage oder Wochen aufgebraucht, die sie sich nicht gesehen hatten. Und der Rest, das waren alte Hüte. Und so interessant die Dinge auch waren, die man ab und an auf der Landstraße zu sehen bekam - ein Leiterwagen mit gebrochener Achse, oder ein wilder Stier, der dann aber doch nicht so wild war und lieber graste, weil er doch nur eine Kuh war - doch all das reichte für ein paar Lacher, aber nicht, um den ganzen Tag zu füllen.
Gaven wunderte sich über sich selbst. Wandern war nicht wirklich weniger anstrengend als Arbeiten, und beim Arbeiten wollte er sich doch auch nicht unentwegt unterhalten - aber beim Arbeiten begann auch nicht jeder tag mit dem Versprechen ‘Heute erlebst du ein großes Abenteuer!’ Arbeit war langweilig, aber sie enttäuschte ihn nicht. Und so sah sich Gaven immer darüber beklagt haben mochte, daß einer seiner Brüder nicht ganz richtig im Kopf war - es war nicht so schlimm, einen verrückten Bruder zu haben wie einen langweiligen.
Aber die Wahrheit war: Der letzte wirklichgute, abenteuerliche Tag in Gavens Leben war der gewesen, als er mit den Soldaten marschierte und Varyn aus dem weg ging. Gut, geendet hatte der Tag dann weniger erfreulich, aber immer noch irgendwie aufregend. Und was die anderen Soldaten unterwegs an Geschichten zu erzählen hatten… Varyn erzählte ihm nichts mehr.
Und selbst die Tatsache, daß sie keine Pferde hatten, war eigentlich egal - ob sie nun schneller vorankamen oder langsamer, sie wußten ja immer noch nicht, wo sie hinwollten. Nach Norden… Gaven schnaubte. Das hatte ihm am ersten Tag der Reise vielleicht gereicht. Aber wen Varyn nicht bald mit mehr kam, mit einem neuen Traum oder sonstwas, dann kam wirklich bald der Moment, wo Gaven genug hatte, von ihm und von allem und endgültig. Dann konnte Varyn ja sehen, wie er allein zurecht kam!
Ansonsten taten sie immer das gleiche: Einen Tag wandern, einen Tag arbeiten, einen Tag wandern. Von Dorf zu Dorf, von Gehöft zu Gehöft, immer wach, immer fleißig, immer die Burschen, die sich jeder als Söhne gewünscht hätte, um dann genauso schlau wie vorher und ein paar Pfennige reicher zu sein.
Gaven tat das, was er am besten konnte: Ermaulte. »Wenn du so wild darauf bist, dein blödes Sharaz zu finden, warum müssen wir dann in jedem Dorf auf en Acker?« Sicher, er hatte auch schon Glück gehabt und einen Pferdestall ausmisten dürfen, und Pech, das gleiche bei den Kühen tun zu müssen, und ganz großes Pech, im Regen über ein Rübenfeld kriechen zu müssen - nur wofür das Ganze?
»Weil wir Geld brauchen, darum«, sagte Varyn knapp.
»Aber warum? Wir geben doch nie welches aus! Die Bauern haben Mitleid und lassen uns umsonst übernachten« - meistens im Stall oder auf der Tenne - »und füttern tun sie uns doch auch ganz ordentlich - nur alle paar Tage arbeiten muß doch reichen!«
Varyn schüttelte den Kopf. »Das verstehst du nicht - wir brauchen Geld, richtig viel Geld - ich muß etwas kaufen, das richtig, richtig teuer ist.« Er biß sich auf die Lippen. Das Thema schien ihm nicht zu gefallen, und das wiederum gefiel Gaven
»So, und was soll das sein? Sag schon!«
Varyn scharrte mit dem Fuß. »Ein Schwert«, sagte er dann leise.
»Ein Schwert?« wiederholte Gaven. »Du meinst - ein Schwert? Wir sind zu zweit -«
»Du bist zu klein für ein Schwert«, sagte Varyn. »Später mal -«
Dann schrie Gaven ihn an, zum esten Mal, seit Varyn ihm die Nase blutig geschlagen hatte. Gebrochen war sie bestimmt immer noch, und sie stand jetzt ein bißchen schief, was Gaven eigentlich gefiel - es gab ihm ein verwegenes, erwachsenes Aussehen, und eine Schönheit wäre Gaven ohnehin nie geworden; wer einen Schönling wollte, der mußte mit Varyn vorliebnehmen… Also schrie Gaven ihn an. »Du läßt mich arbeiten, damit du ein Schwert bekommst? Und das findest du Hundsfott gerecht?«
Varyn schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht - Gerechtigkeit… Gerechtigkeit ist ein weites Feld. Gerecht ist nicht, wenn alle das Gleiche haben, sondern wenn jeder hat, was er braucht. Wenn ich ein Schwert habe, kann ich auch dich besser verteidigen.«
»Ja, natürlich!« höhnte Gaven. »Zum Beispiel gegen den Kerl, der mir a neulich was auf die Nase gegeben hat.« Was das anging, war Gaven derjenige, der ein Schwert brauchte. Varyn war mit seinen Fäusten schon stark genug.
Aber Varyns Tonfall war dabei so bitter, so ernst, daß Gaven gar nicht mehr auf der Schwertgeschichte rumreiten mochte. »Sag mir ehrlich«, flüsterte er daher. »Hast du wieder… etwas gesehen? Hast du was geträumt? Werden wir angegriffen? Verfolgt uns -«
»Nein«, sagte Varyn. Mehr nicht, und das machte Gaven fast Angst.
»Aber - irgendwas mußt du doch geträumt haben! Und wenn schon keine neue Wegbeschreibung oder sowas…« Gavens Stimme verebbte, als er Varyns Kopfschütteln sah.
»Ich habe nichts mehr geträumt«, sagte Varyn leise. »Jedenfalls nichts, was bliebe. Seit wir unterwegs sind, träume ich wie ein ganz normaler Mensch. Vielleicht dummes Zeug, vielleicht auch mal was gruseliges, aber nichts, was mich nach dem Aufwachen noch begleitet. Als wäre ich ein ganz normaler Junge - deswegen weiß ich, daß ich auf dem richtigen Weg bin.«
Gaven lache. Gaven lachte Varyn aus. »Du bist großartig, Varyn - großartig darin, dir was vorzumachen. Du willst deine Steine doch gar nicht finden! Du willst, daß alles genau so bleibt, wie es jetzt ist - dann bist du der glückliche Vagabund, Held auf der Landstraße, bis wir irgendwann den Rand der Welt erreichen und in den Abgrund fallen - glaubst du, das will ich? Also, streng dich gefälligst mehr an mit deiner Suche, sonst tu ich es.«
Manchmal mußte man so mit Varyn reden; es war die einzige Möglichkeit, ihn jemals irgendwas einsehen zu lassen.
Varyn seufzte. »Wahrscheinlich wirst du Recht haben.« Doch das war kein Grund zum aufatmen - da hing noch so ein ungehörtes ‘Aber’ hintendran: Varyn blieb bockig, selbst wenn er einsichtig war. Und da kam es auch schon: »Aber laß es uns trotzdem noch weiter in dieser Richtung versuchen, ja?«
»Warum?« fragte Gaven. Wenn Varyn auf stur schaltete, konnte Gaven das schon lange! »Gib mir einen vernünftigen Grund, warum Norden richtig ist! Seit deinem blöden Wirt hat dich niemand mehr nach Norden geschickt - und selbst dieser Wirt wollte dich auch bestimmt nur los sein.«
Varyn überlegte. Das tat er dann auch wirklich - wo jeder andere nur ein gescheites Gesicht gemacht hätte oder die Gelegenheit genutzt, um in der Nase zu bohren, dachte Varyn wirklich nach. Man merkte es an seiner Stimme, wenn er dann langsam etwas sagte, langsam und stockend und auch leiser als sonst.
»Der Tote Mann«, sagte Varyn.
Es klang so dumpf und unheimlich, daß selbst Gaven einen Moment lang an einen Leichnam denken mußte. »Was soll damit sein?« fragte er schnell, und schluckte.
»Er geht nach Norden«, sagte Varyn. »Das tut er wirklich, ich weiß das. In meinem Traum - da waren wir im Toten Mann und haben weitergehauen, den Gang nach Norden weitergebaut, und dahinter war ein Tunnel, den bin ich langgekrochen, und alles ging nach Norden!«
Doch darüber lachte Gaven nur. »Wenn du den Teil vom Traum so wörtlich nimmst - warum schnappst du dir dann keine Hacke und gräbst den Toten Mann weiter?«
»Weil man den Toten Mann nicht weitergraben kann«, sagte Varyn ruhig. »Aber man kann nach Norden gehen.«
Oder nach Hause, aber das sagte Gaven nicht mehr. Er gab sich wieder einmal geschlagen. »Vielleicht wäre es besser, wenn der nächste von deinen Träumen bei mir landet«, murmelte er nur. »Ich wette, ich könnte am Ende mehr damit anfangen als du.«
»Ja, das wünschte ich mir manchmal auch«, erwiderte Varyn. »Du, oder irgendein anderer, solange ich sie nicht mehr selber träumen muß.«
Danach sprachen sie nicht mehr darüber. Und es war nur gut, daß man sie zwei Dörfer weiter, als sie ihr übliches Sprüchlein aufsagten und ihre üblichen Fragen stellten, zu einer richtigen echten Wahrsagerin schickten:
»Da kann ich euch nicht weiterhelfen«, sagte der Bauer. »Aber meiner Frau die Schwägerin, die könnt ihr fragen gehen.«
Und das taten sie dann auch.

Die Hütte war so schief, daß ihre Tür schon fast wieder gerade hing, aber Varyn und Gaven trauten sich trotzdem nicht, anzuklopfen - und eigentlich auch nicht einzutreten. Jede Bewegung drohte dieses Ding einstürzen zu lassen. Und ohnehin konnte man sich nicht vorstellen, daß mehr als ein Mensch in diesen Schuppen hineinpassen sollte.
»He!« rief Varyn. »Ist da jemand?« Seine Stimme klang unsicherer als sonst, vielleicht, weil der Himmel über ihnen sich zusammenzog zu einem schwarzen Berg, der ein schlimmes Gewitter ankündigte.
Sonst war der Kerl ja nicht so schüchtern - platzte fröhlich immer dann in die Häuser, wenn die Leute da drin beim Abendessen saßen und man sicher sein konnte, die ganze Familie auf einen Schlag versammelt zu haben - dann mußten sie nicht mehrmals fragen. Gaven gefiel das nicht - wenn sie draußen vor der Tür stehen mußten wie Bettler oder Hausierer, und drinnen war es trocken und warm und roch nach gutem Essen… Hier vor der Hütte war das anders. Hier mußten sie sich nicht fühlen wie schäbige Eindringlinge. Aber vielleicht hatten sie doch ein wenig Angst. Zumindest Gaven fühlte sich etwas mulmig.
»Was ist denn?« fragte eine barsche Stimme aus der Hütte, ehe Varyn noch mal rufen mußte, und dann schaute auch ein Kopf durch die halboffene Tür - eine alte Frau mit wirrem weißen Haar und zahnlosen eingefallenen Wangen, daß man sie eigentlich nur als Vettel bezeichnen konnte. Und unfreundlich sah sie aus!
»Wir … Der Bauer schickt uns«, sagte Varyn schnell und deutete in die Richtung, aus der sie kamen, ungewohnt fahrig. »Er hat gesagt, du hast das Zweite Gesicht.« Er war ein wenig bleich, als er diese Worte aussprach, die man ihm selbst so oft an den Kopf geschmissen hatte. »Und da wollten wir fragen -«
»Abhauen könnt ihr!« schnaubte die Frau und riß die Tür auf, aber nur, um ihnen eigenhändig Beine machen zu können. Sie war wirklich eine furchterregende Erscheinung, zerlumpt und schmutzig, und was sie vom Inneren der Hütte sehen konnten, paßte nur allzu gut dazu. Am liebsten hätte Gaven seinen Bruder beim Arm gepackt und davongezogen, aber Varyn war davon unbeeindruckt.
»Bitte«, sagte er ruhig. »Wir sind nicht hier, um dich zu verhöhnen. Wir brauchen nur einen Rat von dir.« Wie er mit soviel Hochachtung mit dieser Frau reden konnte! Er war wirklich etwas ganz Besonderes… Gaven wollte immer noch am liebsten wegrennen.
»Pah, einen Rat!« Die Frau spie aus, was scheußlich aussah - ihre Wangen zogen sich dabei so sehr zusammen, als ob sie nicht nur keine Zähne, sondern überhaupt keine Knochen mehr im Gesicht hatte. »Als ob ich euch helfen kann oder will!«
»Bitte«, sagte Varyn noch mal. »Wir haben auch Geld.« Er zog eine Münze, eine von seinen kostbaren harterarbeiteten Silbermünzen, hervor und hielt sie der Alten hin - dabei ging er langsam auf sie zu. Gaven nutzte die gleiche Gelegenheit, um sich ein paar Schritte zurückzuziehen - nicht nur aus Feigheit, sondern weil diese Frau so übel roch, daß er sich am liebsten die Nase zugehalten hätte - und er war wirklich schon an einiges gewöhnt!
»Geld? Was soll ich mit Geld? In einem der Bäume da wohnt eine Elster, der kannst du es gleich hinschmeißen - und jetzt schert euch endlich davon, eh ich euch verfluche und euch die Abgründigen auf den Hals hetz!«
Aber Varyn wäre nicht Varyn gewesen, wenn er locker gelassen hätte. Fast tat Gaven die Frau schon wieder leid. Die wollte auch nur ihre Ruhe. Und wirklich, ihr Geld anzubieten - wer würde der denn überhaupt irgendwas verkaufen wollen? Die ließ doch keiner in die Nähe von irgendwas Wertvollem!
»Wir arbeiten auch gern für dich«, sagte Varyn. »Dein Dach muß repariert werden - da drüben zieht ein Gewitter auf, und deine Hütte braucht unsere Hilfe mindestens so dringend wie wir deine.« Jetzt stand er nah genug vor der Frau, um ihre Hände nehmen zu können, aber der letzte Rest von Schamgefühl hielt ihn wohl noch davon ab. Um sie herum war es dunkel geworden, aber auf Varyn - und nur auf Varyn - lag ein seltsames gelbes Licht.
Und plötzlich war es die alte Frau, die aussah, als ob sie Angst hatte. »Was - wer seid ihr? Was wollt ihr?« fragte sie heiser.
»Hilfe«, sagte Varyn leise. »Den Weg in die Steine von Sharaz. Wir glauben, wenn irgendwer uns da helfen kann, dann du.« Irgendwo grollte ein Donner, als ob er sich mit Varyn abgesprochen hätte.
Sie sah ihn an, reglos, und er sah sie an, ebenso reglos - und es war ein seltsames Band zwischen ihnen, etwas, das sogar Gaven sehen konnte, auch wenn er keinen Namen dafür kannte - es war eine Art von Erkennen. In diesem Moment verstand Gaven, daß Varyn die Frau von Anfang an erkannt hatte - und nun erkannte sie auch ihn.
»Das Dach ist mir egal«, murrte sie endlich. »Soll die Hütte doch einstürzen und mich begraben - wenn das mein Schicksal ist, ist es das eben. Ich les dir aus der Hand - und dann macht ihr euch vom Acker, ja?« Und mit diesen Worten zog sie sich in ihre Hütte zurück, und bevor Varyn auch nur versuchen konnte ihr zu folgen, hatte sie auch schon die Tür zugeschlagen, mit soviel Wucht, daß die ganze Bude zu wackeln schien -
Gaven blickte Varyn an und zuckte die Schultern. »Die weiß auch nicht, was sie will.« Er atmete tief durch und stutzte, als ihn der erste Regentropfen mitten auf den Nasenrücken traf. »Komm, gehen wir uns irgendwo unterstellen, eh das Haus noch auf uns drauffällt.«
Aber natürlich schüttelte Varyn den Kopf. »Sie kommt gleich wieder. Ich weiß das.«
»Und du weißt auch, daß sie dir wirklich helfen kann?«
Wieder schüttelte Varyn den Kopf. »Nein. Ich glaube sogar sicher, daß sie das nicht kann. Aber irgendwie würde ich ihr gerne helfen - ich weiß nur nicht, wie.«
Gaven seufzte, und der Wind tat das gleiche. »Komm, du kannst nichts für sie tun - wenn du jedem armen Schwein helfen willst, kommst du aus dem Helfen nicht mehr raus.« Aber er konnte ja auch nicht nachvollziehen, was Varyn in dieser Frau - dieser Frau, von allen, die es gab! - sah, oder warum sie ihn dermaßen faszinierte. Konnte ebensogut wieder eine von seinen Wahnvorstellungen sein - Gaven wollte es gar nicht genau wissen. Gaven wollte nur weg.
Aber in genau dem Augenblick, als er Varyn stehenlassen und sich verdrücken wollte, ging die Tür der Hütte wieder auf. Und Gaven konnte nicht anders, als die Frau, die dort stand, anzustarren. Er hätte schwören können, daß das eben noch eine andere war - wie konnte sie in der kurzen Zeit…
Es war keine Verwandlung zum Guten. Es war eine Verwandlung vom Gruseligen zum unheimlich Gruseligen. Die Frau hatte sich eine Art Fell umgehängt - Gaven hoffte, daß es nur von einem Schaf stammte. In ihrem Haar saß eine Krone aus Zweigen, die aussah wie ein Vogelnest. Aber vor allem war sie plötzlich von einem Ring aus Licht umgeben. Gaven brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß sie in der Hütte Kerzen angezündet hatte. Kerzen! In der kleinen wackeligen Hütte! Die Frau konnte nicht bei Trost sein!
»Tretet ein«, krächzte sie langsam. Auch ihre Stimme war verändert - jetzt klang sie wie eine knarzende Tür. Sie winkte ihnen mit einem knorrigen, knubbeligen Finger. Aber dann sagte sie mit ihrer gewöhnlichen Stimme: »Jetzt gafft nicht so! Wenn ich euch wahrsagen soll - ich kann das nur mit diesem Zeug.« Sie spie nochmals aus.
Varyn nickte Gaven zu. »Kommst du mit?«
Gaven hätte gerne Nein gesagt, aber hatte er nicht versprochen, auf Varyn aufzupassen? Er durfte diese beide Verrückten nicht allein lassen. Vor allem nicht in einem Gewitter. So nickte Gaven und quetschte sich zusammen mit Varyn in die übelriechende Hütte.
Übelriechend war sogar noch untertrieben. Im Leben konnte sich Gaven nichts vorstellen, was einen solchen Gestank verursachen sollte - oder wie man es an einem solchen Ort länger als ein paar Momente aushalten sollte. Die Frau selbst war das noch nicht mal - aber auf einer Art Anrichte lagen Dinge, die aussahen wie tot - Vögel? Mäuse? Gaven wollte das nicht wissen. Er atmete durch den Mund und blickte zur Tür. Es konnte sein, daß sie schnell - sehr schnell - wegrennen mußten.
»Nehmt Platz«, sagte die Frau mit heiserer, düsterer Stimme, doch sie blickte nicht die beiden Jungen an, sondern starrte auf die Tischplatte, die unter einem wachsbefleckten alten Tuch verschwand. Fast hatte Gaven das Gefühl, daß sie sich schämte.
Aber es gab nur noch einen zweiten Schemel in der Hütte, den Gaven Varyn haben ließ - der wollte schließlich auch etwas von der Frau; Gaven dagegen war nur froh, wenn er schnell zur Tür kommen konnte. Er blieb stehen und verzichtete darauf, sich statt dessen auf die schmutzstarrende Bettstatt zu hocken.
»Ich bin bereit«, sagte Varyn leise.
»Jaa«, sagte die Frau. Es klang mehr wie der verzerrte Ruf eines Vogels. »Deine Hand - gib mir deine Hand. Ich werde dir dein Schicksal sagen.«
»Aber wir haben nur nach dem Weg gefragt!« rief Gaven dazwischen, bevor diese Vettel Varyns Hand in ihren Krallen hatte. Plötzlich hämmerte sein Herz vor Angst, richtiger Angst vor diesem Geschöpf - er wußte nichts dagegen zu tun, als irgendwie zu verhindern, daß Varyn sie berührte. Hier drin, im dämmrigen Kerzenlicht, das flackerte wie ein rastloser Geist aus einer Schauergeschichte, sah die Frau gar nicht mehr aus wie ein menschliches Wesen. Und hatte sie nicht eben noch selbst von den Abgründigen gesprochen?
»Gaven, gib Ruhe!« fuhr Varyn ihn an - und reichte ihr seine Hand.
Gaven hielt die Luft an - das hieß, er hielt sie mit etwas mehr Nachdruck an als zuvor. Die Frau nahm die Hand ganz, ganz vorsichtig, packte sie dann fest und starrte auf Varyns Handfläche. Dabei machte sie seltsame Geräusche, die klangen, als wenn man ein Tier würgte. Endlich fand sie die Sprache wieder, und Gaven konnte nach Luft schnappen.
»Aaah«, machte sie. »Diese Hand - aah. Eine solch tief eingegrabene Schicksalslinie habe ich in meinem Ganzen Leben noch nicht gesehen.« Mit einer Hand ließ sie Varyn los, langte unter den Tisch und zog eine bauchige Tonflasche hervor, aus der sie einen langen Schluck nahm. Der Geruch von Schnaps war danach fast erfrischend. Gaven sah Varyn nur von hinten, und er sah seine Schultern zittern. Einen Moment lang hing eine Angst in der Luft, von der Gaven nicht wußte, wem sie gehörte. Dann konnte er nicht mehr anders als lachen.
Er kannte Varyns Hände fast so gut wie seine eigenen. Zur Erinnerung hatte er ja auch noch die Abdrücke davon im Gesicht. Aber Schicksalslinien? Gaven lachte, so laut er konnte. »Das hat nichts mit Schicksal zu tun!« rief er. »Da hat sich Kohlenstaub eingefressen. Das habe ich auch!«
Aber niemand interessierte sich für ihn oder seine Hände. Die beiden am Tisch verhielten sich, als wäre Gaven überhaupt nicht da. Varyn hockte da wie eingefroren, während die Frau sich über seine Hand beugte, als hoffe sie Gold darin zu finden. Dabei machte sie wieder ihre seltsamen Geräusche und murmelte Sachen, die Gaven nicht richtig verstand - irgendwas mit einer dunklen Fremden, die in Varyns Leben treten sollte… Aber draußen rauschte jetzt der Regen und wehte der Wind und donnerte der Donner, daß man das Ohr dicht am Mund der Frau hätte haben müssen, um wirklich alles zu hören - und das war das letzte, was Gaven wollte.
»Ich sehe Veränderungen… Gefahr, ich sehe Gefahr… große Gefahr…«
Gaven schnaubte. Wie lange sollte das noch weitergehen? Es regnete rein, eine von den Kerzen war davon schon ausgegangen, und die Frau hatte ihnen ganz offensichtlich nichts zu sagen. Sie hatte Varyn vor sich, und dann fiel ihr nicht mehr als ein als Dunkle Fremde und Gefahr? Da hätte sie sich wirklich mehr Mühe geben können!
»Aber du wirst deinen Weg gehen, vertrau ihm, er führt sich auf den richtigen Weg…« Wieder langte die Frau nach ihrem Schnaps, und Gaven hätte sie am liebsten gepackt und geschüttelt und geschrieen: ‘Ja, genau, der Weg - wo geht der denn nun hin?’ Aber er sah Varyn zittern und die Alte schwitzen - sie wußte, daß sie dummes Zeug redete, aber sie wußte die Wahrheit einfach nicht, und erst recht nicht die Zukunft. Man konnte ihr nichts vorwerfen - das ganze Wahrsagen war ja nie ihre Idee gewesen.
Gaven schüttelte den Kopf. Das brachte alles nichts. Und wenn es draußen zehnmal gewitterte - und wenn Varyn hundertmal da sitzen bleiben wollte - Gaven würde nicht länger hierbleiben. Er hielt es nicht mehr in der Hütte aus. Vielleicht fanden sie sowieso, daß er störte. Vielleicht sah die Frau ja auch deswegen Varyns Zukunft nicht richtig? Es war egal. Gaven konnte nichts tun. Und in Gefahr schwebte sein Bruder nun auch gerade nicht, außer, sich am Schnaps der Frau zu vergreifen, und das war sein eigenes Problem. Nicht Gavens.
»Ich bin dann mal draußen«, sagte Gaven noch und marschierte hinaus ins Gewitter. Dann atmete er tief durch. Diese frische Luft, kühl und naß, war genau das, was er brauchte. Luft, und Bewegung. Gaven breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und drehte sich ein paarmal im Kreis. Dabei wurde er naß bis auf die Knochen, aber es tat trotzdem gut.
Der Wind war sehr heftig; der Regen kam mehr von der Seite als von oben - Gaven suchte sich dann doch lieber einen geschützten Platz im Schatten der Hütte und versuchte nachzudenken. Einer mußte das schließlich tun, und Varyn war offensichtlich nicht wirklich in der Lage dazu, wie schlau er auch immer tun mochte. Gaven zog sich das Hemd über den Kopf, versuchte die Nässe zu ignorieren, und strengte den Kopf an. Wenn er nicht eine Lösung fand, würde das noch endlos so weitergehen mit Varyn. Denken, Gaven, denken!
Aber statt dessen bekam er plötzlich das Gefühl, beobachtete zu werden. Gaven blickte hoch und sah sich um - kein Mensch da. Nur ein Vogel im Baum - dem schien der Regen wohl nicht soviel auszumachen -
Gaven stutzte. War das nicht eine Elster? Und redete Varyn nicht von Elstern, die ihm dauernd im Traum erschienen und ihm den Weg wiesen? In dem Licht war das nicht gut zu erkennen - aber es war ein großer, schlanker Vogel, der sehr aufrecht saß: Das paßte zu einer Elster. Vor allem, da die Vettel eben selbst noch eine Elster erwähnt hatte.
Gaven grinste. So ging das also. Vergeßt die Frau! Folgt dem Vogel! Vorsichtig stand er auf und näherte sich dem Baum. Die Elster sah ihn ruhig an. Aber jetzt hatte Varyn sie durchschaut. Das war kein normaler Vogel. Vielleicht nicht mal ein richtiger Vogel.
»Du bist der Dämmervogel, nicht wahr?« fragte er leise. »Varyn redet Tag und Nacht von dir - also tu mir den Gefallen, hör mit dem Versteckspielen auf. Sag ihm einfach, wo es langgeht.« Er hoffte, daß die Elster ihn überhaupt hören konnte. Gegen das Wetter hätte er eigentlich anschreien müssen, um sich auch nur selbst richtig verstehen zu können - aber wenn man brüllte, flogen Vögel davon.
»Ich tu dir nichts«, sagte Gaven zur Sicherheit und etwas lauter. »Und wenn du nicht mit mir reden willst, verstehe ich das ja auch noch - aber dann tu mir den Gefallen und rede mit Varyn, ja? Oder erschein ihm zumindest noch mal im Traum.«
Ohne Vorwarnung zuckte der nächste Blitz über den Himmel, und in dem kurzen Moment des Lichts war klar zu erkennen, daß dieser Vogel wirklich die schwarzen und weißen Federn einer Elster hatte. Unwillkürlich zog Gaven den Kopf ein, holte die Luft an und begann zu zählen, bis der Donner krachte. Eine Bewegung im Baum: Fort war die Elster. Gaven fluchte. Jetzt konnte er nicht mal sagen, ob der Vogel nun nach Norden geflogen war oder sonstwo hin.
Seufzend setzt er sich unter den Baum. Das war wohl nichts - aber er hätte sich ja auch denken können, daß sich so eine Elster nicht mit einem gewöhnlichen Jungen wie Gaven abgab, wenn noch nicht mal eine alte Wahrsagerin ihn beachten mochte. Und es konnte auch immer noch eine stinknormale Elster gewesen sein.
Aber wenn… Wenn diese Elster sie nun beobachtete - wenn sie wußte, daß sie hier durch die Irre liefen - und ihnen trotzdem keinen neuen Hinweis gab - dann hatte sie einen Grund dafür. Und der Grund konnte nur heißen: Varyn war zu dämlich. Solange er aus diesem großartigen Traum von neulich noch nicht alle Hinweise rausgeholt hatte, machte es keinen Sinn, ihnen einen neuen Traum zu schicken, nicht wahr? Also: Was hatten sie - was hatte Varyn - übersehen?
Es war schwer genug, sich an einen eigenen Traum zu erinnern. Bei einem Traum, den ein anderer geträumt hatte, war es so gut wie unmöglich. Gaven schloß die Augen, ließ sich das Wasser übers Gesicht rinnen und versuchte sich alles genau so vorzustellen, wie Varyn es ihm erzählt hatte: Varyn, Edrik und Noran arbeiteten im Toten Mann - das war nicht weiter schwer. Den Anblick der drei kannte Gaven gut genug, und daß er selbst in dem Traum nicht vorkam, machte es fast noch einfacher. Dann stürzte oder brach der Gang ein: Das stellte er sich lieber nicht so genau vor. Und dahinter war dann ein Durchbruch. Eine Elster trat auf, stahl Noran das Haarband, wo sie doch in Wirklichkeit nie eines trug auf der Arbeit, aber das konnte nichts bedeuten - und flog wieder davon.
Varyn hinterher. Kriecht durch einen Gang. Gang bricht hinter ihm zusammen. Und dann kriecht Varyn erst mal vor sich hin, möglicherweise ja sogar nach Norden - hier hatten sie bestimmt nichts übersehen. Gaven übersprang das mit dem Kriechen. Interessant war ohnehin nur das, was danach kam. Die Steine von Sharaz.
Gaven konzentrierte sich. Jetzt bloß nichts vergessen. Jede Kleinigkeit konnte wichtig sein. Varyn kommt aus einem Loch an einem Hang raus - dann rollt er zusammen mit dem Geröll hinunter, und nichts ist mehr da als Steine und Steine und Steine… Das konnte sich Gaven sehr, sehr gut vorstellen. Er war oft genug auf der Halde herumgeklettert, und wenn man da abrutschte, ging es bergab. Im Winter, wenn Schnee lag, konnte man das gut ausnutzen; im Sommer tat man sich dabei meistens scheußlich weh. Einen Moment lang bekam Gaven wieder Heimweh nach Zuhause, nach der Halde…
Und dann schoß er hoch. Halde. Die Berge in Varyn Traum waren keine richtigen Berge - es waren Halden.
Durch den Wind und Regen stolperte Gaven zur Hütte, rutschte aus, rappelte sich auf, und riß vor Schwung die Tür halb aus den Angeln. »Varyn!« brüllte er.
Drinnen waren die Kerzen erloschen. Die Luft roch nach Regen, Schmutz, Schnaps und Tod. Varyn saß immer noch auf dem kleinen Schemel, der Frau gegenüber. Aber sie las ihm nicht mehr aus der Hand. Sie war über der Tischplatte zusammengesunken.
»Leise«, sagte Varyn. »Ich glaube, sie schläft.«
Tot war die Frau jedenfalls nicht, dafür machte sie noch zu viele Geräusche - mehr ein Stöhnen als ein Schnarchen, aber trotzdem.
»Komm«, sagte Gaven nur.
Varyn nickte, warf noch einen traurigen Blick auf das Bündel Frau, dann faltete er seine Beine wieder auseinander, stand auf und kam ins Freie. »Sie ist…« Er brach ab.
»Du kannst nichts für sie tun«, sagte Gaven. »Wirklich nicht.«
»Sie hat mir die Zukunft gezeigt«, murmelte Varyn düster.
Gaven schüttelte den Kopf. »Ich hab sie doch gehört.« Er versuchte zu lachen. »Sie hat nur dummes Zeug geredet.«
»Es ist nicht, was sie gesagt hat.« Varyn blickte Gaven nicht an. Er reckte sich, während er ein paar Schritte rückwärts ging, die Augen immer auf die Hütte gerichtet. »Es ist das hier, das ganze.« Er machte eine weite Armbewegung, die alles bedeuten konnte. »Ihr Leben hier - ihre Familie, die sie für verrückt hält, ihr Bruder, der nicht mal mehr zugeben mag, daß sie seine Schwester ist, der ganze Schnaps - so eine Zukunft meine ich.« Er schüttelte sich, naß und kläglich und traurig. »Sie hat kein Zweites Gesicht, oder nicht mehr, oder sie hat keine Macht darüber. Sie ist wie ich - und wenn ich Sharaz nicht finde, werde ich wie sie.«
Gaven sagte nichts dazu. Er wollte Varyn nicht widersprechen, weil er sicherlich Recht damit hatte und darauf auch bestehen würde: Aber wenn man ihn jetzt auch noch bestätigte, würde er noch für alle Zeiten an diese Frau denken und sich in Selbstmitleid suhlen. Und immerhin hatte Gaven seinem Bruder etwas Besseres mitzuteilen. Und wenn ihn irgendwas auf andere Gedanken bringen konnte, dann das.
»Varyn«, sagte Gaven und strahlte. »Ich glaube, ich habe Sharaz gefunden.«

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