Elftes Kapitel

Wenn es um den König ging, mußte alles stimmen: Ein frischgestutzter Bart und ein gründlicher Besuch im Badehaus waren da noch das Mindeste. Aber so entspannend ein Bad auch sein mochte, nun war davon nicht mehr viel zu merken. Hauptmann Mendrion schwitzte aus jeder Pore. Und je länger er noch warten mußte, desto wahrscheinlicher wurde es, daß der König ihn gleich mit den Worten ‘Wascht Euch erstmal!’ gleich wieder rauswerfen würde.
Mendrion war nervös. Da half es auch nichts, daß er dem König schon früher begegnet war, oder daß er zusammen mit dessen Söhnen Kriegskunst studiert hatte und sogar soweit gehen konnte zu behaupten, daß sie als seine Freunde waren - solange er nicht wußte, warum er hier war, anstatt mit seiner Einheit Scharmützel im Grenzgebiet auszufechten, war es ihm heiß und kalt.
Und jetzt stand er vor der Tür des Audienzraumes und konnte nicht hinein. Soviel zum Thema ‘Mendrion! Der König verlangt Euch zu sehen, sofort!’ Zwei Soldaten standen auf dem Gang Wache, doch sie konnten ihm auch nicht sagen, wie lange er noch warten mußte. Geschah ihm Recht. Wenn sich Mendrion noch die Zeit für einen Besuch im Badehaus nahm, sollte auch der König entscheiden können, was er mit seiner Zeit tat. Immerhin war er der König.
Neben der Tür stand eine hölzerne Bank, aber Mendrion mochte sich nicht setzen. Ein königlicher Hauptmann sollte immer stehen, in Bereitschaft sein, immer kampfbereit sein, oder zumindest so aussehen. Mendrion konnte sich eigentlich nur zwei erfreuliche Gründe denken, warum der König ihn herbestellen sollte: Um ihm einen Orden zu verleihen und ihn zu befördern, oder um ihm die Hand seiner Tochter anzubieten. Und beides war mehr als unwahrscheinlich. Für Rang und Orden hatte einfach noch nicht genug Krieg stattgefunden, und was die Hand der Tochter anging… Mendrion buhlte seit einiger Zeit mehr oder weniger halbherzig um Leota, aber zum einen war er da nicht der einzige, und zum anderen war die Prinzessin an einer Heirat offenbar ebensowenig interessiert wie irgendein anderes Mitglied der königlichen Familie. So warb Mendrion, wie alle anderen auch, nur sehr verhalten um sie. Derjenige, der am plumpsten und lautesten aufführte, war der letzte, der diese Frau gewinnen sollte. Aber derjenige, der sie am Ende bekam, hatte ein Generalspatent so gut wie in der Tasche. General Mendrion - das war jede Heirat wert. Selbst mit einer Frau wie Leota, der man nun vieles nachsagen konnte, aber keinen Liebreiz. Der einzige Liebreizende in dieser Familie war noch der jüngste Sohn, Jaro, der Sanftmütige. Aber auch das rettete den jetzt nicht vor dem Krieg. Er war jetzt dort, kommandierte oder kämpfte, wie es sich für einen Erben Vigilanders gehörte - oder auch für Mendrion, der statt dessen hier vor verschlossenen Türen stand…
»Mendrion. Also doch«, sagte eine wohlbekannte Stimme hinter ihm.
Mendrion fuhr herum. »Dannen?« Es gelang ihm nicht, die Verwirrung aus seiner Stimme herauszuhalten, und das entging dem anderen Mann nicht.
»Was willst du fragen?« Dannen grinste kurz und schief. »Warum ich ausgerechnet jetzt ausgerechnet hier bin?«
Mendrion schüttelte den Kopf. »Sowas hinterfrage ich nicht. Dein Vater ist ja wohl auch gerade hier. Ihr werdet schon wissen, was ihr tut. Nein, das war mehr ein ‘Bist du es wirklich, Dannen?’-Dannen.«
Er kannte Dannen jetzt seit Jahren, und nie hatte der einen Bart getragen. Man erkannte ihn daran unter hunderten von Männern: Dannen, der Bartlose. Und so oft der auch behaupten mochte, das sei alles nur, weil er es leid war, mit seinem älteren Bruder verwechselt zu werden, war es doch immer mehr ein Akt der Auflehnung gegen seine Familie, Bruder, König, das Land, alles - wie es eben so war mit zweitgeborenen Söhnen. Irgendwann gewöhnte man sich daran und gab nicht mehr viel darauf, bis man es eines Tages nicht einmal mehr bemerkte. Das Bärtigste, was Mendrion je an Dannen gesehen hatte, waren Stoppeln nach einer durchzechten Nacht. Aber das hier waren keine Stoppeln mehr. Da wuchs ein Bart an Dannen. Und das veränderte ihn mehr, als wenn sein Bruder Gerrat sich seinen Bart abrasiert hätte. Man mußte wirklich zweimal hinsehen, um zu wissen, daß es wirklich Dannen war. Oder ihn, wie es Mendrion getan hatte, an der Stimme erkennen. Der Bart schien Dannen nicht gut zu tun - zumindest sah der Mann nicht so aus, er wirkte blaß und übernächtigt. So durften Männer aussehen, wenn sie aus dem Krieg zurückkamen, aber nicht, bevor auch nur die erste Schlacht geschlagen war!
Das Vertrauteste an Dannen war noch sein Grinsen, auch wenn es zwischen den Haaren etwas verloren wirkte. »Ich habe doch immer gesagt, ohne Bart sehe ich nicht so dick aus. Jetzt weißt du, warum.«

Dannen. gemalt von Andrea Jelen

Mendrion wollte schon etwas Kameradschaftliches erwidern, als ihm die beiden Soldaten vor der Tür wieder einfielen - sie mochten ihre Münder halten, nicht aber ihre Augen und Ohren. Hinter der Tür war immer noch der König, und Dannen war immer noch dessen Sohn. Pflichtschuldig ging Mendrion auf ein Knie.
»Dannen - erlaubt mir, Euch die Aufwartung zu machen.«
»Ich bin erfreut, Euch wohl zu sehen…« Dannen schnaubte. »Hauptmann - spar dir das Gerede und mach dich nicht lächerlich!« Sein Tonfall war nicht das, was an einen Ort wie diesen gehörte. Ausgerechnet Dannen war doch sonst derjenige, der Wert auf Ruf und Ehre seines Hauses legte! Kurz fragte sich Mendrion…  - aber nein, Dannen war nicht betrunken. Er war nur verändert. Offenbar mußte etwas vorgefallen sein, und das nicht erst gestern - aber Mendiron hatte auch zuviel Zeit damit verbracht,  mit seinen Hinterwäldern durchs Hinterland zu stampfen - währendessen konnte anderswo der Nilomar aufbrechen… Es war nicht an Mendrion, Fragen zu stellen. Nicht jetzt, nicht hier.
Mendrion nickte also nur und richtete sich wieder auf, klopfte sich den Staub von den Knien. »Wie du willst - ich weiß nicht, was dein Vater mit mir vorhat, aber vielleicht können wir zwei hinterher noch ein Bier zusammen trinken.«
»Von mir aus«, sagte Dannen ohne große Begeisterung. »Aber verzeih mir, wenn ich nicht in Feierlaune bin.« Und offenbar auch nicht in Redelaune - er beließ es bei der Andeutung mit düstererer Stimme. »Was willst du überhaupt hier?«
»Na, wenn ich das wüßte!« Es wunderte Mendrion doch schon, daß nicht einmal Dannen Bescheid zu wissen schien - normalerweise sprach sich der König doch wohl mit seiner Familie ab. Aber vielleicht doch nur mit dem Erstgeborenen? »Ist Gerrat auch da?« fragte Mendrion - und begriff, daß er in eine offene Wunde griff, als ein Schatten über Dannens Gesicht zog, der seine Augen für einen Moment grün funkeln ließ.
»Frag nicht«, sagte Dannen. »Frag nicht. Ich kann dir nichts sagen. Nichts zu meiner Familie, und auch sonst nichts. Du mußt mir nicht mehr hintenrein kriechen, damit ich dich zum General schlage - wenn es dir darum geht, Freunde mit Status zu haben, such dir andere.«
Seine schroffen Worte trafen Mendrion hart - nicht einmal wegen der Ausdrucksweise, sondern wegen der Unterstellung. War Mendrion so durchschaubar? Dabei stimmte es nicht einmal, zumindest nicht so.
»Was ist denn los?« fragte Mendrion rundheraus, und jetzt konnten ihm die Türsteher auch egal sein. »Hat er dich enterbt? Verstoßen? Oder was?«
Jetzt lachte Dannen, und noch immer war keine Spur von Vergnügen darin. Die beiden Soldaten blickten derweil mit besonderem Nachdruck in eine andere Richtung. »Mich enterben - wie will er das anstellen? Die einzige Möglichkeit, Vigilanders Blut wieder aus mir rauszubekommen, führt durch einen abgeschlagenen Kopf. Oder einen glatten Stich durchs Herz, und soweit geht er dann nicht. Nur beinahe. Falls er mich nachher da drin erwähnt, was ich nicht glaube, wird er dir sagen, daß ich in Ungnade gefallen bin und Hausarrest habe.« Er klopfte Mendrion auf die Schulter, und dabei schien er dann doch fast ein wenig amüsiert. »So schnell geht das - da hätte er fast seinen eigenen Sohn umgebracht! Was dich betrifft, Mendrion - ich hoffe, du kommst da an einem Stück wieder raus, sonst wird das nichts mit dem Bier nachher. Ich weiß ja nicht, warum der alte Mann dich sehen will - aber man hört hier ja so einiges, und dazu gehört, daß er deinen Namen gebrüllt haben soll. In bemerkenswerter Lautstärke.«
Und endlich war da wieder sein altes Grinsen, aber es war nicht mehr an Mendrion, sich darüber zu freuen. »Also dann - viel Glück!« Dannen wandte sich zum Gehen.
»Warte noch!« rief Mendrion ihm nach. Ihm war plötzlich sehr, sehr unwohl zumute, heiß und kalt und flau. Manchmal hatte Dannen ein Talent dafür, wirklich das Falsche zu sagen. Dann mußte Mendrion jetzt eben selbst für andere Gedanken sorgen!
»Was denn noch?« fragte Dannen barsch.
»Magst du mir wenigstens sagen, ob deine Schwester auch hier ist?«
Dannen lachte. Für ihn war Mendrions Interesse nichts Neues - tatsächlich hingen Mendrions ganze Hoffnungen an ihm und seinen Vermittlungen - und auch das wußten sie beide. »Leota?« fragte Dannen, als ob er sich sonst vor Schwestern nicht retten konnte. Aber wenigstens schien der Name für ihn kein rotes Tuch zu sein wie sein Vater oder sein Bruder. »Ja, die ist auch hier - aber mach dir keine Hoffnungen: Sie ist nicht allein…« Und mit einem boshaften Grinsen verschwand er um die Ecke.
Mendrion schickte ihm noch einen gemurmelten Fluch hinterher. Dann straffte er sich, biß die Zähne zusammen, und wartete darauf, daß der König ihn endlich aufrufen ließ. Schlimmer als Dannens Andeutungen konnte das schließlich kaum noch werden.

»Hauptmann Mendrion!«
»Jawohl!« bellte Mendrion und stand stramm, als sich die Doppelflügeltür zum Audienzsaal auftat.
»Hauptmann Mendrion, Ihr seid aufgerufen einzutreten!«
»Jawohl!« wiederholte Mendrion und gehorchte. Schnellen und festen Schrittes trat er ein. Er wußte, wie sehr der König Trödelei haßte, wenn es auch zügig ging. Und nicht nur der König - auch er selbst, was das betraf. Er zuckte nur kurz zusammen, als hinter ihm die Tür wieder zugeschlagen wurde. Und stutzte. Es war niemand da.
Niemand außer dem König, hieß das.
Hauptmann Mendrion war schon mehrmals dem König begegnet. Dann war ein General dabei, und Gerrat oder andere Angehörige, ein Schreiber, Leibwachen - der Audienzsaal war nicht ohne Grund so groß. Nun war war niemand da, außer dem König… Mendrion wurde schlecht.
»Verschließt die Türen!« rief der König, nicht zu Mendrion, sondern durch ihn hindurch, und durch die Tür, zu seinen Männern. »Ich will nicht gestört werden.« Und dann: »Mendrion.« In einem Tonfall, der keinen Orden versprach und keine Tochter. Sondern Ärger.
»Majestät.« Pflichtschuldig ging Mendrion auf die Knie, zum zweiten Mal an diesem Tag. Und zum zweiten Mal an diesem Tag stieß er damit auf wenig Gegenliebe.
»Spart Euch das Gehabe und steht auf. Es ist niemand hier, der Wert legt auf solchen Firlefanz.« In diesem Moment begriff Mendrion, wie sehr Dannen mit dem Bart doch seinem Vater ähnelte, mehr noch als seinem Bruder. Der König winkte Mendrion zu sich. »Ihr seid spät dran, also kommt gefälligst!«
Mendrion verkniff sich die Bemerkung, daß der König ihm warten gelassen hatte, wie auch jede andere. Er gehorchte nur. Der König saß nicht auf seinem Thron und legte offensichtlich auch keinen Wert auf Etikette, aber er war immer noch der König. Mit ebenso unwirscher wie anklagender Geste deutete er auf einen Satz Schriftrollen, die vor ihm auf dem großen Besprechungstisch lagen.
»Da - was sagt Ihr dazu? Erkennt Ihr die wieder?«
Mendrion fehlte die Erfahrung mit anderen Königen und ihren Audienz- und Thronsälen, aber in diesem hier war sicher der Tisch wichtiger als der Thron. Ein großer Tisch, ohne Stühle, um den man herumgehen konnte, groß genug, um Platz für eine sehr große Landkarte des Feindeslandes zu bieten. Im Vergleich dazu machten die Soldlisten auf dem dunklen Holz einen sehr verlorenen Eindruck.
»Soldlisten«, sagte Mendrion, seltsam befremdet. Mit Soldlisten hatte er wenig zu schaffen. Wenn er nur deswegen hier war - sollte er sich einen Rüffel fangen, weil er und seine Männer am Ende weniger Rekruten abgeliefert hatten als jede andere Einheit? Das war nicht Mendrions Schuld, soviel stand fest!
»Eure Soldlisten, Mendrion. Kommen sie Euch bekannt vor?«
Ehrlicherweise schüttelte Mendrion den Kopf. »Sehen für mich alle gleich aus, Majestät. Der Schreiber hat sich darum gekümmert.« Ach ja, der Schreiber. Das Beste am eigentlichen Krieg war, daß man dafür keinen Schreiber mehr um sich haben mußte.
Der König lachte dröhnend und wenig belustigt. »Dann schaut sie Euch nun gut an, solange Euer Kopf noch an Eurem Nacken festgewachsen ist. Her. Wer ist das?« Mit einem mächtigen Finger zeigte er mitten auf einen der Bögen.
Der sicherste Weg war der sicherste. »Ich kann nicht -«, begann er.
Der sicherste Weg war auch oft der kürzeste. »Jetzt sagt nicht, Ihr könnt nicht lesen!« Wo Mendrion eine laute und befehlsgewohnte Stimme hatte und in der Lage war, den ganzen Tag lang Kommandos zu geben ohne heiser zu werden, drang die des Königs durch Mark und Bein. Dazu schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Pergamente einen schreckten kleinen Hüpfer taten.
Mendrion sagte nichts, starrte auf seine Hände und nahm die Schriftrolle. Es war nicht so, daß er nicht lesen konnte. Man wurde kein Hauptmann, wenn man nicht wengistens ein paar Buchstaben beherrschte. Aber er las nicht viel, nicht gut, und nicht gern. Er brauchte es auch nie. Wo keine Schreiber waren, gab es für gewöhnlich auch nur wenig Schrift. Ab und an mal eine Depesche, vielleicht, und selten an Mendrion. Aber lesen konnte er. Er gab es nur nicht gern zu. Man hatte nur Scherereien, wenn die Leute das erst einmal wußten, und lästige Arbeit. Jeder rechnete damit, daß wer lesen konnte auch schrieb. Und damit hatte Mendrion es nun wirklich nicht.
Aber als sein Blick auf den Bogen fiel, erstarrte Mendrion. Dafür mußte er nicht lesen können. Dafür reichte schon die Erinnerung. Die rechte Spalte, fein säuberlich Kreuz über Kreuz unter Kreuz. Große Kreuze. Kleine Kreuze. Dünne Kreuze. Krakelige Kreuze. Und mittendrin ein komisches Geschnörkel, das kein Kreuz war und auch keines sein wollte. Und Mendrion wußte genau, von dem das kam.
Varyn. Er hätte es sich denken müssen, daß die Scherereien mit diesem Jungen niemals ein Ende nahmen. Innerlich fluchte Mendrion. Laut sagte er: »Gut. Und um was oder wen geht es jetzt?«
Der König grollte. »Euer Gesicht verrät mir, daß Ihr das bereits wißt.«
Trotzdem schüttelte Mendrion nochmals den Kopf. Er konnte jetzt lügen, soviel er wollte - die Wahrheit selbst war es, die ihn jetzt alles kosten konnten: Gleich würde der König verlangen, Varyn zu sehen. Und dann mußte Mendrion damit rausrücken, daß Varyn, ausgerechnet Varyn, ihm desertiert war. Und wie sehr er sich darüber gefreut hatte…
»Mit der Liste habe ich nichts zu tun«, sagte er schnell. »Caion wird Euch da weiterhelfen können - ich merke mir doch nicht alle Namen von den -«
»Verdammt!« brüllte der König, daß Mendrion unwillkürlich einen Satz rückwärts machte. »Ich rate Euch, Mendrion - verkauft mich niemals, hört Ihr - niemals, für dumm! Euer verdammter Schreiber war der Erste, den wir zu dieser verdammten Liste befragt haben, und er verweist auf Euch! Ihr seid der Hauptmann, und wenn Ihr das noch einen Tag länger bleiben wollt, macht gefälligst Euer verdammtes Maul auf! Wer ist dieser Kerl?«
Mendrion atmete tief durch. »Varyn«, sagte er dann. »Ein ziemlich verkrachter Junge aus einem von diesen Bergdörfern. Hat meine Truppe gestört, gesoffen und sich geprügelt. Irgendwann ist er abgehauen, und ich war froh drum - so einer hätte nicht in Vigilanders Armee gehört, das könnt Ihr mir glauben.«
Der König hörte ihm mit eingefrorener Miene zu. »Und das wagt Ihr mich so direkt ins Gesicht zu sagen?« fragte er langsam und kalt.
Und in diesem Moment entschied sich Mendrion doch für die Wahrheit. Er kannte den König nicht so gut wie Dannen oder Gerrat, aber bei denen kam man auf die direkte Art immer weiter. »Nein, tu ich nicht«, sagte Mendrion. »Mir wär’s lieber, ich hätte den Jungen nie im Leben getroffen. Oder es hätte ihn nicht gegeben. Aber Ihr habt gefragt, Majestät.«
Zumindest lachte der König jetzt wieder. »Na, wenigstens scheint Ihr Euch noch an den Burschen zu erinnern - das ist mehr, als Euer Schreiber zugeben mochte. Um so besser, Mendrion - denn Ihr werdet mir diesen Kerl heranschaffen. Sofort.«
»Heranschaffen?« fragte Mendrion vorsichtig.
»Ja, heranschaffen. Ihr habt ihn laufen lassen, jetzt bringt Ihr ihn mir zurück. Wie oder woher, das ist mir egal.«
Mendrion atmete tief durch, straffte sich, und nahm dann allen Mut zusammen. Irgendwie machte ihm die Aussicht, allein gegen das ganze Heer Loringarils antreten zu müssen, weniger Angst als: »Majestät - erlaubt mir eine Frage.«
Der König schnaubte. »Fragt zu. Erwartet keine Antwort, aber fragt.«
»Gut. Danke.« Mendrion schluckte. »Warum?« fragte er dann.
»Warum was
»Warum Ihr solch ein Aufhebens um einen ordinären Deserteur macht. Nein, noch anders: Warum Ihr ein solches Aufhebens um einen Fußsoldaten macht, noch ehe Ihr überhaupt wißt, daß er desertiert ist.« Er schwieg, abwartend.
»Sprecht weiter«, sagte der König leise. »Sagt, was Euch auf der Seele brennt. Ich werd Euch nicht vom Denken abhalten können, also sagt, was Ihr denkt.«
»Es ist Folgendes.« Auch Mendrion sprach leise, nicht absichtlich, sondern weil seine Stimme nicht mehr hergeben wollte. Er war heiser. »Mir ist dieser Junge von Anfang an aufgefallen, weil man merkte, daß er auf Ärger aus war. Aber Ihr seid ihm nie begegnet, zumindest nicht daß ich wüßte - und doch habt Ihr ihn Euch aus der Soldliste rausgepickt, ausgerechnet ihn aus einer Auswahl von ich weiß nicht wie vielen Namen - und da wüßte ich schon gerne, warum. Es sei denn, er ist Euch in Wirklichkeit völlig gleichgültig, und Ihr habt es statt dessen auf mich abgesehen und Vergnügen daran, mich statt in den Krieg zurück ins Hinterland zu schicken.«
Der König umrundete den Tisch und blieb direkt vor Mendrion stehen. Daß er dabei sein gefürchtetes schwarzes Schwert an der Seite trug, machte die Sache nicht leichter. »Hat Euch mein Sohn gegen mich aufgehetzt, oder warum nehmt Ihr Euch so wichtig?«
»Euer Sohn?« Noch einmal versuchte Mendrion unschuldig zu spielen. Immerhin, der König hatte mehrere Söhne, drei, wenn nicht sogar vier, je nachdem, zu welchem er sich gerade bekannte und zu wem nicht.
»Ja, mein Sohn - welchen werde ich wohl meinen? Drei sind im Krieg, wo sie hingehören, und einer spukt hier durch die Gänge, um mir das Leben schwer zu machen - und ja, ich weiß, daß er gerade mit Euch gesprochen hat.«
»Aber nicht von Euch«, sagte Mendrion schnell, und das war die Wahrheit. »Trotzdem, genug von ihm - was hat es nun mit Varyn auf sich?«
»Varyn.« Zum ersten Mal sprach auch der König diesen Namen aus, langsam, grollend, rollend, wie zwei Wörter, jede Silbe mit Gewicht. »Hat er sich wirklich Varyn genannt?«
»Ja, Majestät. Er hat mir nie Grund gegeben, daran zu zweifeln, daß er wirklich so hieß. Selbst sein kleiner Bruder hat ihn bei diesem Namen -«
»Es ist kein Name!« brüllte der König. »Es ist Hochverrat.«

In diesem Moment beschloß der Hauptmann Mendrion, seinen König zu hintergehen. Das, was er noch über Varyn wußte und noch nicht erzählt hatte, würde er für sich behalten - seine Beobachtungen, all die Momente, in denen Varyn mehr wie ein Geschöpf des Himmels erschien oder des Abgrunds denn wie ein Mensch. Alles seltsame. Nichts davon mußte der König wissen. Und Mendrion würde statt in den Krieg ins Hinterland ziehen. Er hatte keine Ahnung, wohin Varyn mit seinem Bruder verschwunden war - da konnte er ebensogut die Zeit nutzen und ein paar Weingüter aufsuchen, eine Gegend, wo die Männer in den Krieg gezogen waren und die schönen Frauen sich vor unbestimmter Sehnsucht verzehrten… Mendrion wollte nicht Varyn schützen. Aber sich selbst.
»Ein Hochverräter?« sagte er. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen!« Er konnte es wirklich nicht. »Der Junge war vielleicht sechzehn, siebzehn Jahre alt, und überhaupt - was sollte ein Hochverräter draußen in den Bergen, wo sie Kohle hauen?«
»Ich sagte nicht, er ist ein Hochverräter«, erwiderte der König. »Woher auch - Ihr kennt den Burschen, ich nicht. Habe keine Ahnung, wer er ist, oder was - darum will ich ja auch, daß Ihr ihn mir anschleppt, und zwar lebendig. Fragen könnt Ihr Euch sparen; es reicht, wenn ich weiß, worum es geht.«
Mendrion neigte sein Haupt. »Wie Ihr wünscht, Majestät. Ich werde mein möglichstes tun. Aber ich kann Euch nicht versprechen, daß ich ihn wirklich -«
»Mendrion!« unterbrach der König ihn schroff. »Schaut mich an! Ihr habt einen Eid auf mein Haus geleistet, und gleich werdet Ihr mir noch einen leisten, und Ihr findet den Burschen!«
»Aber es ist ein großes Land, Majestät«, versuchte es Mendrion nochmals und rechnete jeden Moment mit einer Ohrfeige. »Ich werde ihn suchen, aber er kann inzwischen überall sein.«
»Ihr sagt, er ist desertiert!« blaffte der König. »Seid kein Dummkopf! Wohin rennen Deserteure, wenn nicht sofort, dann früher oder später? Zu ihren Liebchen oder heim zu ihren Familien! Hatte der Junge ein Liebchen?«
Mechanisch schüttelte Mendrion den Kopf und verriet gleich zuviel von dem, was er wußte. »Nein, zu jung, wenn Ihr mich fragt. Und was die Familie angeht - er war ein Waisenkind, sagte er.«
»Ha! Und so steht es in eurer Soldliste.« Der König bleckte die Zähne. »Aber Ihr habt eben selbst einen Bruder erwähnt. Also glaubt mir - wenn er irgendwo hingelaufen ist, dann heim. Und dort werdet Ihr Eure Suche anfangen. Treibt alles zusammen, was Ihr über ihn erfahren könnt. Und dann bringt ihn mir.«
»Aber warum?« platzte es noch einmal aus Mendrion heraus, weil er die verfänglichere Frage ‘Und was ist für mich dabei drin?’ nicht anders zurückdrängen konnte.
»Weil ich es so sage.« Der König machte langsam einen Schritt zurück und zog dabei sein Schwert. »Und wenn Ihr unbedingt noch eine andere Antwort darauf haben wollt, so lautet sie: Weil die Sicherheit meines Reiches bedroht ist, und nicht nur durch Loringaril.«
Und schon wünschte sich Mendrion, niemals gefragt zu haben. Auf der einen Seite war er, wie wohl jeder andere auch, neugierig. Aber auf der anderen Seite gab es Dinge, die wollte man lieber gar nicht wissen. Und dazu gehörte, was für eine Gefahr von einem Jungen ausgehen konnte, der kämpfte wie ein Engel. Oder warum das Mendrion überhaupt nicht verwunderte.
»Vergebt mir, daß ich zu fragen gewagt habe«, murmelte Mendrion. »Ich werde Euch nicht mehr enttäuschen.« Und hatte doch genau das vor…
»Vor allem werdet Ihr mich nicht mehr täuschen«, dröhnte der König, und einen Moment lang war in seinen Augen dieses grüne Funkeln, das Mendrion zuvor bei Dannen aufgefallen war. »Glaubt nicht, ich werde Euch einfach so ziehen lassen, auf daß Ihr mir eine lange Nase dreht und Euch ins süße Landleben stürzt!« Was immer Vigilanders Gaben für seine Kinder sein mochten, der König war in jedem Fall ein Menschenkenner - aber welcher Vater von fünf Kindern war das nicht? »Zunächst mal werdet Ihr mir einen heiligen Eid leisten, auf mein Schwert.«
Mendrion nickte nur. Er hatte bereits einen Eid auf dieses Schwert geleistet, als er zum Hauptmann geschlagen wurde - mehr als absoluten Gehorsam konnte der König nicht von ihm verlangen, und nicht von ihm bekommen. Ob er nun doppelt schwor konnte beiden Männern, und sogar dem Schwert, gleich sein. Als Mendrion sich niederkniete, mußte er kurz an Varyn denken, der vor ein paar Wochen noch das gleiche getan hatte, aber mit größerem Ernst… Mendrion verbannte den Gedanken schnell - das war noch eines von den Dingen, die der König nicht zu wissen brauchte - aber es war schon zu spät. Der Gedanke war kurz, aber nicht unbemerkt geblieben.
»Was gibt es da zu grinsen?«
»Es ist das dritte Mal, daß ich heute vor Eurem Haus knie«, sagte Mendrion schnell, »aber das erste Mal, bei dem man mich nicht dafür auslacht.« Gut gerettet. Hoffentlich.
Doch der König schnaubte. »Mir ist egal, wie Ihr schwört - von mir aus könnt Ihr dabei auf dem Kopf stehen, solange Ihr auf mein Schwert schwört, auf mein und bei Eurem Blute.«
Wieder nickte Mendrion. Niemals entschuldigen. Der König haßte und verachtete Entschuldigungen. »Ja, Majestät. Ich schwöre, Ich werde meinen Auftrag ausführe, wie Ihr es mir befehlt, und alles daransetzen, die Ermittlungen in diesem Fall voranzutreiben.«
»Schweigt, Narr!« Der König zog erbost das Schwert fort. »Ihr schwört nichts, was ich Euch nicht sage. Und habe ich Euch gesagt, daß Ihr die Ermittlungen führen werdet?«
Wütend erhob sich Mendrion. »Ja, sagtet Ihr. Eben noch. Ihr wolltet den Jungen und alles wissen, was mit ihm -«
»Aber nicht durch Euch.« Der König atmete sichtbar durch. »Mit der Ermittlung werde ich jemanden beauftragen, der die Hintergründe kennt. Jemand, dem ich vertrauen kann. Ein Mitglied meiner Familie.«
»Auch dann werde ich meine Pflicht tun«, sagte Mendrion ruhig. Innerlich betete er, daß der König ihm Dannen mitgeben würde - das machte dann Sinn, daß der nicht im Krieg war und hochoffiziell in Ungnade, um inoffiziell dunklen Bedrohungen nachzujagen. Dannen konnte man vielleicht dafür begeistern, die Suche in den Weinbergen zu beginnen - nicht einmal abwegig, wenn man Varyns Durst kannte und sein Gelübde außer Acht ließ, das der Junge ohnehin niemals durchhalten würde. Dannen, bitte laßt es Dannen sein! Nicht Rul, Mendrion konnte Rul nicht ausstehen - dessen Geburt war Mendrion ja noch egal, aber der Kerl war ein unerträglicher Eiferer und Streber, der es jedem beweisen mußte, und Mendrion, der selbst hoch hinaus wollte, konnte wie alle von diesem Schlage Gleichgesinnte schlecht ertragen. Und Jaro, der mochte ein netter Jungr sein, der im Krieg ebensowenig verloren hatte wie in seiner Familie - der Junge war einfach zu flaumig für Mendrions Gesellschaft. Also Dannen, bitte. Mit Gerrat konnte er ja kaum rechnen. Gerrat war im Krieg. Wo er hingehörte. Wo jeder hingehörte. Wo Mendrion hingehörte.
»Freut Euch nicht zu früh, wenn Ihr meine Wahl hört«, sagte der König. »Sie ist nicht für -«
Und in diesem Moment flog die Tür auf - nicht die große Doppelflügeltür, sondern die kleine am Ende des Raumes, durch die der König selbst seinen Audienzsaal betrat- und Leota stürmte herein.
Sie war sichtlich aufgebracht, wenn nicht sogar erregt, und Mendrion konnte nicht umhin festzustellen, wie schön sie war. Vor allem, wenn man sie in normalen Kleidern zu sehen bekam und nicht in einer Rüstung. Und sie ihr schwarzes Haar offen trug, statt die üppigen Locken in einen Knoten zu zwingen. Und bei diesem Kleid mußte einfach auch erwähnt werden, daß auch nicht nur ihren Locken üppig waren… Und ihre Augen, Himmel, diese Augen… Mendrions Verstand sagte ihm, daß er diese Augen schon kannte, Dannen, Gerrat, die anderen Brüder, sogar der König hatte die gleichen. Aber hier war es etwas anderes. Mendrion wünschte sich, die Elomaran hätten wirklich einmal etwas für die Welt getan und all ihre Kinder Töchter sein lassen. Und wo er gerade beim Wünschen war, dann doch bitte auch noch, daß sie nur gekommen war, um ihn zu sehen, und daß ihre Erregung ihm galt… Aber fast alle Engelsgeborenen waren Männer. Und Leota war da, um ihren Vater zu sehen. Mendrion dagegen würdigte sie keines Blickes. Keines zweiten, zumindest.
»Entschuldige, Vater, aber ich muß dich sprechen!«
Ihr Vater blieb ganz König, als er die Stirn runzelte und streng auf seine Tochter hinunterblickte. »Leota, ich sagte, ich will nicht gestört werden!«
»Nur für einen Augenblick, Vater. Es ist wegen Hana.«
Mendrion wußte, daß nichts davon für seine Ohren bestimmt war, und machte ein paar höfliche Schritte rückwärts - gerade genug, um noch jedes Wort verstehen zu können. Den Saal zu verlassen, ohne daß der König ihn verabschiedete, wäre aber auch zu unverschämt gewesen. Nicht für Mendrions Ohren, aber als Wissen im Zweifelsfall sehr, sehr nützlich.
»In einem Augenblick komme ich zu dir.« Der König bileb kurz angebunden. »Und glaub mir, ich hätte dich auch gleich aufgerufen. Aber jetzt -«
»Hana geht es schlecht!« unterbrach ihn Leota. »Und sie muß -«
»Ich sagte, jetzt nicht!« Wenn der König schon mit seiner einzigen Tochter so redete, erklärte das zumindest zum Teil Dannens schlechte Laune. »Das hier ist wichtig!«
»Hana ist auch wichtig!« schrie Leota zurück. »Den ganzen Tag über versuche ich es dir schon zu sagen, jetzt reicht es mir! Hana muß immerzu speien, und ich glaube, sie ist -«
»Bin ich ein Heiler? Such einen Heiler, und stör mich nicht!«
»Sie ist schwanger!«
Mendrion schüttelte bei sich den Kopf. Entweder war er wirklich unsichtbar, oder sie hatten ihn vergessen, oder man maß ihm nicht mehr Bedeutung zu als einer Ameise. Es war schwer, nicht mitzuhören. Und dabei wußte er noch nicht einmal, wer Hana war. Außer schwanger. Dannens Geliebte? Das konnte dann wirklich alles erklären… Aber ausgerechnet Dannen? In ein Kopfschütteln paßte viel, wenn niemand dabei zusah.
»Schwanger? Hana? Hana ist schwanger?« Man konnte fast meinen, der König sei schwer von Betriff oder zumindest schwer von Gehör, aber das stimmte nicht - er brauchte nur etwas länger, um sich von einem König in einen Vater zu verwandeln. Und mit diesen Worten wurde seine Stimme erst ungläubig und dann erfreut, ohne dabei jemals leiser zu werden. »Aber - das ist doch prachtvoll! Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«
Leota schüttelte den Kopf und verdrehte ihre schönen Augen. Dann blickte sie zu ersten Mal Mendrion an und nickte still, wie zu einem Verbündeten und doch verächtlich, und Mendrion hoffte, daß sich das nicht auf ihn beziehen sollte. Er hob die Hände, das hatte für sein Mithören Entschuldigung genug zu sein.
»Ich glaube«, sagte Leota etwas leiser, »daß es nicht wirklich eine prachtvolle Zeit für so etwas ist. Und Hana ist ganz und gar nicht glücklich dabei.«
»Das legt sich wieder, glaub mir, wenn sie erst einmal aufhören zu spucken, ist das mit den Frauen ganz anders.« Der König, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, behielt seine Ansicht um jeden Preis. Und seine Ansichten hatten für die ganze Welt, oder zumindest für ganz Doubladir, zu gelten. Ein Kind, auf das er sich freute, hatte jeden zu freuen. Aber immer noch besser sorum, als wenn er gegen das Kind war… »Also, sag der armen Kleinen, sie soll sich keine Sorgen machen. Sie wird ihn heiraten, sobald der Krieg gewonnen ist, und das ist nicht mehr lang hin. Sag ihr, das Kind wird kein Bastard, und sie wird Königin.« Und damit war wohl alles gesagt, und der König wandte sich wieder Mendrion zu.
»So. Wo waren wir stehengeblieben?«
»Aufbrechen«, sagte Mendrion knapp. Es stand ihm nicht zu, auf das einzugehen, was ihn nichts anging - und gratulieren konnte man dem König und dem glücklichen Vater immer noch, wenn das Kind einmal da war. »Den Jungen suchen. Ihr wolltet mir ein vertrauenswürdiges Mitglied Eurer Familie zur Seite zu stellen.«
Und so verwandelte sich der Mann wieder vom Vater zum König. »Nicht zur Seite. Denkt daran, wo Euer Platz ist, Mendrion.«
Mendrion nickte kurz. »Dem ich unterstellt werde, also.«
Der König lachte. »Es steht vor Euch.«
Mendrion war in diesem Moment wohl der einzige, der vor Überraschung umzukippen drohte. Es enttäuschte den König sichtlich, daß Leota offenbar nicht auf das achtete, was ihr Vater mit einem niederen Hauptmann zu besprechen hatte, denn er sagte scharf: »Leota!«
Jetzt blickte sie wieder hin. »Vater?«
»Ich sagte, ich hätte dich in einem Moment rufen lassen. Du wirst diesen Hauptmann Mendrion in die Berge begleiten, Leota. Er wird dein Führer sein, und du wirst den Fall untersuchen, von dem ich dir berichtet habe.«
Mendrion suchte noch nach passenden Worten, um seine Freude auszudrücken, ohne daß sie zu offensichtlich wurde - diese große Ehre, Stolz, und so weiter - als ihm die Königstochter selbst die Dankesrede abnahm. Und das mit den entschiedenen Worten: »Nein, das werde ich nicht tun!«
Es mußte einiges hier geschehen sein, daß die Kinder so offen gegen ihren Vater rebellierten. Trotzdem nahm Mendrion diesen Ausspruch weniger als Indiz auf denn mehr als Beleidigung. Er schwieg lieber. So oder so wäre er nicht zu Wort gekommen gegen den König.
»Du wirst tun, was ich dir auftrage, Leota! Ich bin kein Hanswurst, der sich von seiner Brut auf der Nase herumtanzen läßt - und auch wenn das einer deiner Brüder anders sieht, du wirst gehorchen!« Und wieder war dieser schroffe Ton in seiner Stimme, ganz der oberste Befehlshaber, dem sich niemand widersetzen sollte.
Außer Leota, offenbar. Man mußte sie dafür bewundern. Zumindest Mendrion tat es. Fast. »Nein, Vater. Meine Aufgabe ist es, in diesem Krieg zu kämpfen wie meine Brüder, oder wie du. Nicht du hast sie mir aufgetragen, sondern Vigilander selbst - es ist mein Erbe ebenso wie deines, und meine Verpflichtung.« Eine Rede, wie sie vor ein Heer gehörte, so flammend und mit Inbrunst vorgetragen, daß man fast versucht war, sie ernst zu nehmen - aber eine Frau wie Leota gehörte nicht in den Krieg, und der König wußte das.
»Nein«, sagte er. »Ich habe dich den Kampf gelehrt wie deine Brüder. Ich lasse dich ein Schwert führen, und du wirst es auf deiner Reise auch an deiner Seite tragen, ohne daß dich irgend jemand daran hindern wird - aber dieser Krieg ist nicht dein Krieg, und du wirst darin nicht kämpfen.« Und dann sagte er, leise, aber Mendrion hörte ihn noch: »Drei geliebte Söhne von mir kämpfen in diesem Moment in diesem Krieg. Ich werde nicht ruhig schlafen, bis ich nicht weiß, daß zumindest meine Tochter lebendig zu mir zurückkehren wird. Vigilander hat uns diesen Krieg geschenkt, aber auch ich brauche jemanden, für den ich kämpfen kann.«
Bewegende Worte. Zumindest für Mendrion. Leota, die sich vielleicht schon zu oft gehört hatte, schnaubte. »Dann kämpf für Dannen. Solange er hier ist, wird dir ein Kind bleibe - schick ihn doch mit deinem Hauptmann in die Berge! Aber ich gehe dorthin, wo ich -«
»Du gehst mit Mendrion!« donnerte der König widerspruchserstickend. »Und habe ich mit einem Wort behauptet, daß Dannen hierbleibt? Er wird dich selbstverständlich begleiten! Oder glaubst du - glaubst du wirklich - ich lasse meine Tochter mit einem Mann allein, der es ebenso eilig hat, in deine Wäsche zu kommen wie du in den Krieg? Niemals!«
Und damit war dann wohl das letzte Wort gesprochen. Leider auch für Mendrion.

Es war die Aussicht auf ein Bier mit Dannen, die Mendrion half, den Tag in Würde zu überstehen. Ohne vor Wut zu heulen, ohne wild um sich zu schlagen, sogar ohne zu fluchen wo ihn jemand hätte hören können - Mendrion gab sich ganz als Meister der reglosen Miene, aber als er dann in den Wirtskeller trat, wo er sich mit dem Königssohn verabredet hatte, sah sein Plan nicht mehr ein kleines Bier vor, sondern vielleicht zwanzig. Es gab Momente, da brauchte man das, und Dannen gehörte zu den wenigen Leuten, mit denen das ging. Mendrion betrank sich nicht vor Untergebenen und nicht vor Vorgesetzten, und allein machte es keinen Spaß. So waren Mendrions Möglichkeiten, als Säufer zu enden, sehr eingeschränkt. Dannen war nun nicht unbedingt ein gleichrangiger Freund - so wichtig konnte und wollte sich Mendrion nun doch nicht nehmen - aber zumindest einer, der einem Bier ebensowenig abgeneigt war wie mehreren davon. Und die Tatsache, daß Mendrion vor Wut fast zu platzen drohte, paßte doch gut zu der von Dannen so offen zur Schau getragenen Gemütslage.
Als Dannen sich dann endlich blicken ließ - und seine Verspätung half kaum zur Aufmunterung - war Mendrion willens und bereit, sich an diesem Abend unfeierlich und bodenlos zu betrinken. Im Geiste gab er schon jetzt Varyn die Schuld an seinen Kopfschmerzen vom kommenden Tag. Und dem König. Sogar Leota, zumindest so ein bißchen. Und Varyn, und dem König -
»Wartest du schon lange?« fragte Dannen und ließ sich auf die Bank gegenüber plumpsen. Und als Mendrion nur die Schultern zuckte, fügte er hinzu: »Nimm es leicht. Jede Stunde, die du warten mußt, kannst du dich mehr daran freuen, daß dir dein Kopf für heute erhalten geblieben ist.«
Mendrion bemühte sich um ein Grinsen, aber von einem Lachen war er noch mehrere Biere entfernt.»Na gut«, sagte er. »Immerhin, die Nacht ist noch jung.«
»Wie alt willst du sie denn werden lassen?« Dannen hob skeptisch seine Augenbrauen. »Ich wollte mein Bier trinken und dann wieder verschwinden.«
Mit solchen Tönen hatte Mendrion nicht gerechnet. Nicht aus Dannens Mund, zumindest. »Hat - hat dein Vater noch irgendwas gesagt?« fragte er heiser und versuchte gleichzeitig, den Wirt zu sich hinüberzuwinken.
»Worüber gesagt?« fragte Dannen. »Darüber, daß ich höchstpersönlicher Leibwächter der Ehre meiner Schwester sein soll? Oder, daß wir drei jetzt gemeinsam das Glück haben, diesen Krieg in der Ferne zu überleben? Was willst du hören? Soll ich dir gratulieren oder dich tränenreich bemitleiden?«
Dumpf schüttelte Mendrion den Kopf. »Ich schlage vor, wir betrinken uns«, sagte er düster. Und sah Dannens müde Belustigung.
»Ich werde dich gewiß nicht zurückhalten«, sagte der. »Aber erwarte nicht, daß ich mitziehe.«
Mendrion hob entschuldigend die Hände. »Ich will dir nicht reinreden - war nur eine Idee, nachdem ich mich heute maßlos über deinen Vater aufregen mußte. Wenn du nicht willst, kein Problem. « So sollte dann auch Mendrion gezwungenermaßen nüchtern bleiben. Er betrank sich nicht vor Untergebenen, Vorgesetzten, allein - oder als einziger. »Kann ich wenigstens in Ruhe mit dir reden?«
»Kommt drauf an über was«, erwiderte Dannen kühl. »Erwarte nicht, daß ich mich zu Dingen äußere, die dich nichts angehen.« Sein Blick, kälter und wacher als seine Stimme, warnte schon jetzt davor, die falschen Fragen zu stellen und war vielleicht auch die Antwort, warum Dannen sich untreu werden und nüchtern bleiben wollte.
»Es geht um Varyn«, sagte Mendrion. »Und komm mir jetzt nicht und sag, der geht mich nichts an - ich weiß, daß er mich angeht, dafür kenne ich den Jungen zu gut, und dafür hat er mir schon zuviel Ärger eingebrockt.«
»Zu dem kann ich dir nichts sagen.« Ruhig griff Dannen nach seinem inzwischen eingetroffenen Bierkrug und trank und ließ Mendrion die Hoffnung, daß er es sich noch anders überlegen würde. »Ich kenne den Jungen nicht. Erzähl du mir lieber, was du über ihn weißt.« Er schob Mendrion den zweiten Krug hin, eine doppelte Aufforderung.
Einen Moment lang zögerte Mendrion. Früher oder später würde Dannen - wie auch seine Schwester - alles über Varyn erfahren, was Mendrion wußte. Über irgend etwas mußten sie sich ja auch unterhalten, wenn sie erst einmal unterwegs in die Berge waren. Aber dann konnten die beiden nicht gleich alles brühwarm dem König weitererzählen… »Kommt schon noch«, sagte Mendrion. »Wenn eßein muß, kann ich mich stundenlang über den Kerl aufregen.« Er ließ offen, ob er damit Varyn meinte oder den König. »Aber was mich wirklich umtreibt - und wenn du dich nicht mit mir betrinken magst, kannst du es mir auch gleich sagen - wie kommt dein Vater ausgerechnet auf meinen Varyn? Woher wißt ihr, daß der Junge, unter Tausenden von Rekruten, eine Landplage ist?« Das Bier war kühl und bitter und tat gut, verlangte aber immer noch nach mehr.
Dannen lachte. »Treibt dich um, nicht wahr?« Seine Augen und Zähne blitzten vor Vergnügen. »Wenn du wählen müßtest - die Wahrheit, oder die Chance, bei meiner Schwester zu landen - was wär dir lieber?«
Jetzt konnte Mendrion wenigstens lachen. »Dannen, deine Schwester schaut mich mit dem Arsch nicht an - und selbst wenn, kann sich da immer noch was entwickeln, wenn wir erstmal unterwegs sind - aber der Wahrheit kann man nicht so einfach an den Hintern tatschen.«
»Das war gut, das merke ich mir.« Dannen langte quer über den Tisch und klopfte Mendrion auf die Schulter. »Und ganz ehrlich, ich würde auch nie auf eine Frau setzen, wenn es um sowas geht.«
Bei dem Stichwort hätte Mendrion jetzt fast nach der geheimnisvollen Hana gefragt, doch er verkniff es sich. Alles zu seiner Zeit, und Varyn zuerst. »Und die Wahrheit?« fragte er.
»Sicher daß du sie wissen willst?« Dannens Stimme war wieder düster. »Nimm mich, ich kenne ein paar Wahrheiten, die ich gern wieder zurückgeben würde, wenn ich könnte.« Auch hier bohrte Mendrion nicht nach. »Aber das hier - das ist schon fast eine nette Abwechslung dagegen. Gefällt mir. Gefällt keinem außer mir, aber mir gefällt es. Dein Varyn kann meine ganze Familie in den Abgrund stoßen, und du weißt so gut wie ich, daß sie das verdient hätte.« Er bleckte die Zähne und lehnte sich wieder zurück.
»Aber warum?« Mendrion konnte sich nicht erinnern, dieses Wort jemals so oft an einem Tag gebraucht zu haben. »Woher wollt ihr das wissen? Ihr seid ihm nie begegnet.«
Dannen leerte sein Bier. »Bleibt es unter uns?«
Mendrion nickte. Er hatte nie mit irgend jemandem über Varyn geredet, warum sollte er also plötzlich damit anfangen? »Je mehr ich durch dich erfahre«, sagte er leise, »desto mehr gebe ich dir ab von dem, was ich weiß.«
»Damit am Ende doch noch eine Nacht mit meiner Schwester rausspringt?« Dannen schüttelte den Kopf. »Es ist eigentlich ganz simpel. Ich war nicht dabei, als der alte Mann die Soldliste durchgearbeitet hat, und es wundert mich, daß er sowas überhaupt tut - aber der Eintrag von deinem Varyn muß doch selbst dir ins Auge gesprungen sein; den Unterschied zwischen einem Kreuz und keinem Kreuz solltest du wohl noch erkennen.«
Mendrion lächelte. »Ach ja, seine eigenen Zeichen.« Typisch und lästig, aber nichts, woran Mendrion nun den Fortbestand des Königshauses festgemacht hätte. »Denk dir, er hat sogar angeboten, mir seine Schrift beizubringen.«
Was eine witzige Anekdote sein sollte, um die Stimmung etwas aufzulockern, ließ Dannen sichtbar zusammenzucken. Er sagte nichts, bevor er sich nicht doch noch ein zweites Bier genommen hatte. »Und?« fragte er rauh und tonlos und machte sich noch nicht einmal die Mühe, sich das Bier aus dem Bart zu wischen - war wohl noch nicht daran gewöhnt, einen zu haben… »Hast du das Angebot angenommen?«
»Natürlich nicht! Eine Maulschelle hat er sich für die Dreistigkeit gefangen. Was will ich mit so einem Geschnörksel?«
»Und hat er das sonst noch jemandem gezeigt? Freunden vielleicht?«
»Freunde?« Das Wort ließ Mendrion auflachen. »Der hat keine Freunde. Der Wirrkopf hat einen Bruder, oder Halbbruder, oder Stiefbruder, das will ich gar nicht wissen - aber ich habe den nie mit solchen Zeichen gesehen und kann mir nicht vorstellen, daß er damit was am Hut hat - aber was hat es jetzt damit auf sich? Varyn hat sich seine eigene Schrift ausgedacht, das ist verrückt, aber -«
»Das ist nicht seine eigene Schrift!« fiel ihm Dannen ins Wort. »Das ist unsere
Mendrion sagte nichts. Dieser Moment war da, um Dannen stumm und fragend anzublicken. Und der würde das schon erklären - nach einem Augenblick der Stille und einem Schluck Bier.
»Unsere Schrift«, wiederholte Dannen dann. »Wir Engelsgeborenen haben von den Elomaran so ein paar Dinge geerbt - mehr oder weniger sinnvolle Gaben, überragendes Aussehen, eindrucksvolle Artefakte - und außerdem eine Sprache und Schrift, die uns ganz allein gehört. Und den Elomaran, natürlich, aber ganz sicher nicht irgendwelchen hergelaufenen Rekruten aus irgendwelche Bergdörfern.« Dannen lächelte knapp. »Versteh das nicht falsch, Mendrion, wir werden nicht mit dieser Sprache geboren, wir müssen sie lernen wie jede andere auch, und ich kann sie nicht einmal besonders gut. Aber sie ist immer noch etwas Geheimes, Privates. Wir schwimmen ja nicht gerade im Gold, da wollen wir zumindest unsere Sprache behalten.«
Mendrion blies Luft durch die Backen. »Kann ein Zufall sein«, meinte er dann. »Solche Schnörkel kann jeder mal malen.«
Zwinkernd hob Dannen eine Augenbraue. »Du sprichst von der Schrift der Elomaran, ist dir das bewußt? Natürlich kann das Zufall sein - aber nicht, wenn sein Name Varyn ist.«
Diesmal mußte Mendrion nicht mehr wie ein Trottel auftreten. Er begann zu verstehen, mehr, als ihm lieb war. »Das heißt, was er da… geschrieben hat« - es fiel ihm schwer, das als Schrift anzusehen - »ist Varyn
»Nicht ganz«, sagte Dannen. »Das Wort heißt Varyniel, aber das ist schlimm genug. Irgendwer hat deinem Rekruten Elomond beigebracht. Und von uns war das keiner. Der alte Mann meint, vielleicht ist der Junge ein Spion aus dem Ausland, aber -«
»Kein Spion wäre so dämlich, sich in einer geheimen Schrift in die Soldliste einzutragen«, vollendete Mendrion den Satz für ihn. »Er sieht wohl durchaus wie ein Ausländer aus, wenn du es genau wissen willst, aber - nein, kein Spion. Zu auffällig.«
Dannen schüttelte den Kopf. »Du denkst zu einfach. Wenn du es mal zum General bringen willst, bricht dir das noch das Genick. Nehmen wir mal an, der Junge will an den König ran, oder an sonstwen aus der Familie - dann ist das hier genau der richtige Weg. Erst Aufmerksamkeit erregen, dann hintenrum… tun, was immer er tun will.«
Nochmals schüttelte Mendrion den Kopf. »Dann wäre er aber nicht einfach abgehauen.« Er wollte nicht, daß Varyn ein Spion war. Er wollte nicht, daß Varyn irgend etwas war. Er wollte nicht darüber nachdenken müssen, und nicht schuld sein. Besser, das Thema zu wechseln. »Und dieses Varyn - oder Varyniel - was bedeutet das jetzt?«
»Hab ich dir nicht gesagt, die Sprache ist nur für Engel und ihre Brut?« Dannen schob seinen leeren Krug auf der Tischplatte hin und her, doch er füllte nicht nach. »Selbst, wenn du das wüßtest, ändert es nichts mehr. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, aber das muß ich wohl, wenn ich den Fall untersuche - also, wenn ich Leota dabei entschütze, meine ich.« Er nickte Mendrion noch einmal zu und erhob sich dann. »Von mir war’s das für heute, genug Bier und genug Geschwätz. Mehr darfst du ohnehin nicht wissen.«
Auch Mendrion stand auf. Sitzenbleiben, alleine weitertrinken, das war seine Welt nicht. Sein Zorn auf den König war unbemerkt verraucht, der auf Leota sowieso, und immerhin hatte er jetzt erfahren, um was es da mit Varyn überhaupt ging.
»Ach, eine Frage hätt ich doch noch«, kam es dann abrupt aus ihm heraus. »Keine Sorge, hat nichts mit dem Kohlenjungen zu tun.«
»Was dann?« Dannens Gesicht verriet keine Freude darüber, daß diese Frage dann wohl offensichtlich privater Natur sein mußte.
Hinterher sollte sich Mendrion noch oft in den Hintern beißen und wünschen, den nun folgenden Satz nie gesprochen zu haben. Nicht, nachdem Dannen in seiner eigenen Rauchwolke davon gestürmt war und wohl nur noch sein Schwert suchte, um ihm den Krieg zu erklären. So aber fragte Mendrion, allzu arglos: »Wer ist eigentlich diese Hana? Und von wem von euch ist sie jetzt schwanger?«

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