Zwölftes Kapitel

Sie ritten auf schwarzen Pferden, und an ihren Seiten trugen sie Schwerter. Und sie waren zu dritt, und das bedeutete: Sie waren einer zuviel. Nur wer von ihnen jetzt fehl am Platze war, darüber konnte Dannen sich nicht einigen. Es konnte zum Beispiel Leota sein. Ohne Leota konnte Dannen versuchen, einfach alles zu vergessen, Engel, Krieg du den ganzen anderen Mist, und versuchen, zusammen mit Mendrion das beste aus dieser Reise zu machen. Also, keine wilden Trinkgelage oder Rumgehure, aber es gab doch vieles, was man nicht tun konnte, wenn man eine Frau dabeihatte. Oder, noch schlimmer: Seine große Schwester. Ohne Leota wäre auch Mendrion sicher nicht gar so ein unerträglicher Schleimbeutel gewesen, sondern der Mann, als den Dannen ihn kannte und - gelegentlich - schätzte. Und überhaupt - als ob Dannen nicht Manns genug war, den Fall selbst zu untersuchen! Keine Zweifel, Leota war zuviel.
Oder Mendrion. Solange der Hauptmann dabei war, konnte sich Dannen keinen Augenblick vernünftig mit Leota unterhalten - natürlich, er konnte, wollte, durfte sein Geheimnis nicht blind ausposaunen, aber hier konnte es wichtig sein, hier war irgend etwas genauso faul wie an Vigilanders Hofe, und das ging Leota durchaus etwas an. Nicht jedoch Mendrion. Der mochte sich jetzt vielleicht als allwissender Wegweiser aufspielen, aber wozu? Dannen wußte, aus welchem Tal dieser Varyn stammte, und auch wenn sicher noch nie ein Engelsgeborener in dieser entlegenen Ecke gewesen war, dann doch zumindest ein Kartograph. Brauchte man eine Zecke wie Mendrion, um nach Elad Courblaka zu reiten und dort nach einem Jungen zu fragen? Sicher keine. Mendrion war zuviel, keine Zweifel.
Oder Dannen selbst. Dannen war definitiv zuviel, und das nicht nur hier. Ohne Dannen hätte Mendrion sich anstrengen können, um Leota ins Bett zu bekommen. Und Leota mußte nicht mehr andauernd betonen, daß sie Herrin ihres Schwertes war und keinen Beschützer brauchte, um aufdringliche Hauptmänner abzuwehren… Und wenn er jetzt nicht mit Leota einmal quer durchs ganze Land reiten müssen, wäre dannen doch lieber anderswo gewesen, weit weit weg. Auf seiner eigenen Bug, wo er niemanden sehen mußte und niemand ihn und er so tun konnte, als gäbe es keinen Vater und keine Leota und keinen Mendrion und keine Hana. Vor allem keine Hana. Ob sie nun von ihm enttäuscht war? War sie sauer, weil er losgeritten war, ohne sich auch nur von ihr zu verabschieden, ohne ihr Glück zu wünschen, mit dem, was da in ihr wuchs? Dannen schüttelte den Kopf. Damit hatte er nichts zu schaffen, nicht mit ihr und nicht mit ihrer Brut -
Ein scharfes Pfeifen riß ihn hoch. Dannen schreckte zusammen und sah sich nach links und rechts um. »Wie - was ist?«
Leota feixte. »Ich war das. Du wärst fast vom Pferd gefallen.«
Dannen straffte sich. »Wäre ich nicht. Ich kann im Schlafen reiten, wenn es sein muß.« Er versuchte zu lachen, ungeachtet dessen, daß er wirklich müde war und wirklich bedenklich nah daran, aus dem Sattel zu rutschen. Das Lachen geriet ihm zum Gähnen. Sie waren noch keinen halben Tag unterwegs - das fing ja gut an.
Und Leota seufzte. »Hättest ja gestern nicht gleich die ganze Nacht durch saufen müssen.«
Dannen schloß die Augen. Wenn Leota in über zwanzig Jahren noch nicht gelernt hatte, den Unterschied zu sehen zwischen ‘Dannen trank die ganze Nacht durch’ und ‘Dannen konnte die ganze Nacht über kein Auge zutun’, konnte Dannen ihr auch nicht helfen. Zumindest riechen können mußte man es! Und im ersten Fall hätte Dannen zumindest ein paar Stunden tiefen Schlaf bekommen. Statt dessen hatte Dannen die erste Hälfte der Nacht mit Grübeln verbracht und die zweite Hälfte damit, sich nicht zu betrinken, obwohl es wie eine gute Idee erschien. Dannen schlief nicht mehr gut, seit sein Vater ihm das Geheimnis aufgedrängt hatte, doch daß er die ganze Nacht durch kein Auge zutat, war zum Glück noch immer eine Seltenheit. Aber die Mischung aus dem Geheimnis und der Schwangerschaft und Mendrions Deserteur - das gab Dannen den Rest. Nach einigem Hin und Her entschied er sich dann dafür, daß der fremde Junge wohl das schmerzloseste Kopfzerbrechen mit sich brachte. Und das war es dann, für den Rest der Nacht. Ohne, daß Dannen zu einem Ergebnis kam, verstand sich. Ein Ergebnis in Sachen Varyn hätte bedeutet, statt dessen wieder an eines der anderen Themen denken zu müssen.
»Wenn dir soviel an meinem Wohlergehen liegt«, murmelte Dannen vage in die Richtung seiner Schwester, »dann laß uns am nächsten Gasthaus eine Pause einlegen.« Und dann am besten gleich für die Nacht absteigen. Jetzt war Dannen müde genug, um wirklich zu schlafen - das sollte er besser ausnutzen. Sofort.
Zu Dannens großem Erstaunen widersprach ihm niemand. Niemand bedeutete hier nur Leota, denn Mendrion machte seit dem Aufbruch nicht den Eindruck, als wolle er jemals wieder die Zähne auseinanderbringen. Er ritt eine Pferdelänge hinter den beiden, und es war wirklich nötig, ihn sich gleich ernst zur Brust zu nehmen, wenn das nicht noch die nächsten Wochen so weitergehen sollte. Dannen wollte keinen Reisekameraden haben, der ihn zwang, sich ausschließlich mit seiner Schwester zu unterhalten.
»Von mir aus«, sagte Leota. »Ich denke, es gibt da durchaus einiges, was wir besprechen sollten.«
»Deine Entscheidung«, erwiderte Dannen. »Du hast das Sagen. Wir anderen sind nur hier, um dir zu gehorchen.« Über die Schulter nickte er Mendrion zu. Das sollte nun wirklich deutlich genug sein.
Sie pausierten dann doch nicht am nächsten Gasthaus, sondern erst am dritten - die beiden ersten sahen nicht so aus wie Orte, an denen man ein gutes Pferd unbeaufsichtigt in de Stall stellen sollte, und solange sie noch Auswahl hatten, sollten sie die auch nutzen. Im Umfeld von Car Diuree langen noch zahlreiche Ortschaften und Dörfer, jedes mit einem oder zwei Gasthöfen, so daß niemand lange hungrig und durstig bleiben mußte. Aber das sollte sich noch ändern. Das Hinterland von Doubladir war rauh und schroff und hatte nicht viel zu bieten als Berge und Heidekraut - man konnte dort auf die Jagd gehen, aber es war kein Land, wo man leben wollte, Dannen nicht und auch sonst wohl kaum jemand. Selbst im Norden, an Dannens eigener Burg, war noch mehr los. Aber dafür konnte man in diesen Gegenden auch beinahe jedem Wirt vertrauen.
Das dritte Gasthaus war es dann also. Nichts großartiges, aber doch ein Ort, wo man vom Geruch nach leckerem Eintopf begrüßt wurde, wenn man hereinkam. Und von einer freundlichen Wirtin.
»Na, ihr Krieger, auf dem Weg nach Loringaril?«
Die drei blickten sich kurz an, dann sagte Leota, knapp, aber mit einem Lächeln: »Auf dem Weg zum Mittagessen.«
Die anderen Gäste drehten sich zu ihnen um - ein halbes Dutzend Leute, die besser daran bedient waren, sich um ihren Eintopf zu kümmern. Dannen wollte kein Aufsehen erregen, was ihm allein auch gut genug gelang - aber es liefen zu wenig Frauen mit Schwertern herum oder Krieger mit Brüsten, als daß die Leute nicht zu starren anfingen. Und dann kam schnell der Moment, wo sie zwei und zwei zusammenzählten und begriffen, daß sie die Tochter des Königs vor sich hatten. Dannen schloß die Augen und wünschte sich weit fort, an einen Ort, wo er nicht gleich seiner Schwester sagen mußte, daß sie ihr Schwert und ihre Rüstung ablegen mußte und ein Kleid an.
Leota dagegen ignorierte diese Blicke mit einer Gewohnheit, die fünfundzwanzig Jahre zum Wachsen genutzt hatte. »Und sag, habt Ihr vielleicht ein Hinterzimmer, wo wir unter uns sein können?«
»Hm, ein Hinterzimmer?« Was gab es da zu überlegen? Entweder hatte man ein Hinterzimmer, oder man hatte keines! Dannen war müde und schlecht gelaunt und hatte keine Lust, sich das lange anzuhören und dabei von allen Leuten begaffen zu lassen. Das war die Schuld seiner Schwester, dann sollte die das jetzt auch regeln.
Er klopfte Leota auf die Schulter. »Du klärst das eben, ja? Ich bin solange draußen und rede ein paar Wörtchen mit dem hier.« Mit dem Kinn deutete er auf Mendrion. »Und ich hätte gern eine gute Schüssel Eintopf und ein Bier, wenn das soweit ist.«
Dann, ohne sich noch groß um die Leute zu kümmern, nahm er Mendrion bei der Schulter und zog ihn mit etwas zuviel Nachdruck nach draußen, einmal quer ums Haus, hinter die Stallungen. »So, mein Freund«, sagte er leise. »Wir müssen reden. Und dann sagst du mir, für was du dich hier hältst!«
Jetzt, wo Leota nicht mehr dabei war, konnte Mendrion natürlich rüde zurückschnauzen. »Ich weiß nicht, wovon du redest! Ich habe die ganze Zeit über nichts gesagt, nichts getan.«
»Eben!« knurrte Dannen. »Glaubst du, du bist ein verdammter Diener, oder was? Du tust doch sonst so, als wärst du ein Hauptmann.«
»Ich dachte, ich wär einer, bis dein verdammter Vater -«
Und dann scheuerte Dannen ihm ein paar. »Erstmal, niemand verflucht meinen Vater außer uns. Und tu jetzt nicht so, als wär ich dein bester Freund!«
Mendrion schüttelte den Kopf und rieb sich das Kinn. »Das dachte ich auch, aber offenbar habe ich dich gestern Abend -«
»Paß mal auf, Mendrion«, fiel ihm Dannen ins Wort. Wenn sie das jetzt nicht regeln konnten, dann nie. »Du bist nicht mein bester Freund - ich glaube nicht mal, daß ich so einen habe oder brauche - aber du bist ein Freund. Und ich wette, du hast auch bessere Freunde als mich - aber hör gefälligst auf, hinter mir herzueiern wie ein Diener oder ein Jagdhund, sobald irgend jemand dabei ist. Du bist mein Freund, also verhalte dich gefälligst auch so.«
Mendrion, ganz wie Dannen es vermutet hatte, gab Leota die Schuld: »Es tut mir leid, es ist nur wegen deiner Schwester.«
»Und meinst du nicht, du nervst meine Schwester damit gewaltig? Sie will nichts von dir; sie kommt noch nicht mal auf die Idee, daß sie das sollte. Also hör gefälligst damit auf, sie so demonstrativ nicht anzugraben, und behandle sie wie jeden anderen Kerl.«
Um Mendrion jetzt nicht in die Verlegenheit zu bringen, Leota beleidigen zu müssen, redete Dannen weiter: »Als du mit deinem Kommando hier durch die Gegend geritten bist, warst du der Hauptmann, und dabei waren die anderen Reiter bestimmt zweimal so alt wie du.« Dannen hatte keine Ahnung, wer mit Mendrion geritten war, aber es würde schon stimmen. Der König gab seinen jüngeren Hauptmännern immer ein paar altgediente Recken an die Seite, damit sie alt und jung anführen konnten - und Mendrion war sicher einer der jüngsten Hauptmänner, die Doubladir zu bieten hatte. »Hier ist es umgekehrt, du bist der älteste von uns. Nicht viel, aber immerhin, also mach was draus. Denn wenn du hier tust, als wärst du nur ein Diener, muß ich so tun, als wär ich nur Leotas Leibwächter - und wenn du mich dazu zwingst, hast du Leotas Schwert zwischen den Rippen, bevor ich auch nur meines ziehen kann. Verstanden?«
Mendrion nickte. Und Dannen hoffte, daß der Mann da jetzt seine Lehre draus ziehen würde. »Also dann - auf zum Eintopf!«
Drinnen hatte Leota inzwischen tatsächlich so etwas wie ein Hinterzimmer aufgetan, und nun verstand Dannen auch das Zögern der Wirtin - das ‘Hinterzimmer’ war dann doch mehr eine Nische mit einem Vorhang davor. Nicht gerade der geheimste Ort der Welt, aber doch wenigstens eine Möglichkeit, zu Mittag zu essen, ohne angestarrt zu werden. Außer von Leota, vielleicht. Es gab auch Bier und Eintopf, beides ungefähr von gleicher Temperatur, aber das war nicht weiter schlimm. Dannen, der nicht gefrühstückt hatte, war so müde, daß er wirklich alles gegessen hätte.
Dannen nickte der Wirtin noch einmal freundlich zu, bevor er den Vorhang sorgfältig schloß und sich zum Essen setzte. Der Geruch von Fleisch und Erbsen stach ihm in die Nase. »Erst essen, dann reden?« schlug er vor, und merkte erst dann, daß ihm Mendrion und Leota mit ihren vollen Mündern gar nicht widersprechen konnten. Dieses Essen wollte verschlungen werden, solange noch ein letztes Bißchen Wärme darin war.
»Wißt ihr, was ich meine?« fragte Leota dann. »Ich meine, ich will keine dummen Witze hören, von wegen ‘Ich habe das Sagen’ - ich habe das Sagen. Findet euch damit ab. Ich würde auch lieber nach Loringaril reiten, aber wenn das jetzt so sein soll, dann -«
Beschwichtigend hob Dannen die Hände. »Komm, bitte, Frieden, zumindest für uns! Jeder von uns könnte ebensogut anderswo sein, aber es ist nun mal, wie es ist, also machen wir das Beste draus.«
»Das Beste?« Damit traf er Leota an der falschen Stelle. Ich kann euch sagen, welche Lösung die Beste wäre! Wenn nämlich Vater, statt immer gleich alles im Alleingang machen zu müssen, eine Depesche nach Elysir geschickt hätte! Die haben die Leute für sowas, und wir könnten sein, wo wir hingehören.«
Mendrion sagte nichts, aber er nickte wenigstens mit offenem Blick und starrte nicht nur in seine leere Schüssel. Trotzdem, nicken war falsch. Dannen machte es besser. Er lachte.
»Nach Elysir? Und die Sache diesen Lichtfressern überlassen, wo wir uns doch in einem so schönen Krieg befinden? Das ist Staatsgeheimnis« - er sagte das Wort nicht so laut, wie er angesichts des Vorhangs einen Moment lang versucht war - »sonst wär das ja noch schöner! Warum nicht gleich Nachricht nach Koristar schicken? Oh, ich vergaß - denen fehlt ja auch noch ihr richtiger König…«
»Wenn du das so lustig findest«, sagte Leota, ihre Stimme noch kälter als der Eintopf, »dann willst du uns jetzt wohl sagen, was wir zu tun haben?«
Dannen wollte schon irgend etwas sagen, um sie entweder zu beruhigen der völlig mundtot zu machen, aber während er noch im kopf Für und Wider abwägte, zeigte Mendrion, daß er sich Dannens Worte wirklich zu Herzen genommen hatte. Ob er sonst zu einem solchen Wandel fähig gewesen wäre? Der Hauptmann klatschte mit der Hand auf den Tisch und sagte: »Jetzt ist aber genug! Könnt ihr nicht mit dem Kinderkram aufhören? So kommen wir doch nicht voran!«
Dannen versteckte sein Grinsen hinter der hohlen Hand - nicht wegen Mendrion, sondern wegen Leota, der vor Erstaunen schier die Augen aus dem Kopf fielen.
»Wir sind zu dritt«, redete Mendrion weiter. »Da ist es hackegal, wer das Sagen hat - jeder von uns kann etwas, jeder weiß etwas. Und wir sollten jetzt damit anfangen, die Karten auf den Tisch zu legen.«
Dannen sagte immer noch nichts. Erst wollte er Leotas Reaktion abwarten. Ihr Gesicht kräuselte sich. Fast glaubte Dannen, daß sie lachen würde, doch sie schnaubte.
»So? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr eine Ahnung habt, um was es hier geht.« Und Dannen hatte schon gemeint, sie wäre ein wenig beeindruckt - aber es stimmte wohl, der Mann, der Leota beeindrucken konnte, mußte erst noch geboren werden.
»Ihr vergeßt, daß ich den Jungen kenne«, erwiderte Mendrion gelassen. »Und ich weiß genau, was eure Sorge ist.« Er lächelte. »Ihr, nicht nur euer Vater, sondern auch ihr beide hier, glaubt, daß Varyn ein Engel sein könnte. Und ihr wollt ihn aufhalten, bevor er euch den Thron wegnehmen kann.«
Anerkennend mußte Dannen eingestehen, daß offenbar noch jemand die Nacht zum Nachdenken genutzt hatte - und sich dabei doch deutlich besser gehalten. Er beobachtete Leota durch zusammengekniffene Augen, als sie leise sagte: »So? Wie kommt ihr darauf?«
Mendrion behielt das Lächeln bei, dabei waren es nur drei oder vier Stunden Kriechen und Katzbuckeln, für die er sich zu entschädigen hatte. Recht hatte er, Leota hätte ebensogut gleich Ja sagen können. »Erstmal war ich gerade lang genug in Caer Diruree, um zu wissen, was in Koristan passiert ist - daß da aus dem Nichts ein sehr junges Engelskind aufgetaucht ist und die alte Familie Korisanders nichts mehr zählt. Und zum anderen, wie gesagt - ich kenne Varyn. nd wenn ein Engel aus dem Himmel fällt und dabei auf dem Kopf landet, dann müßte so etwas wie Varyn dabei rauskommen.«
Und jetzt, endlich, schmunzelte Leota.
»Darf es noch etwas sein, die Herrschaften?« Schon streckte die Wirtin ihren Kopf durch den Vorhang, schon schob sie den drallen Rest hinterher. Dannen knurrte leise. Nicht nur, daß man Mendrion durch den dünnen Vorhanf wohl in der halben Schankstube hatte hören kommen - jetzt waren sie bei der Wirtin schon bei Herrschaften angekommen!
»Danke, wir sind zufrieden«, sagte Leota schnell. »Alles bestens. Wir melden uns schon, wenn wir etwas wollen.«
Aber das bezog die Frau wohl nur auf sie selbst. »Und die Herren? Noch ein Bier? Nachschlag vom Eintopf? Stück Fleisch dabei?«
Dannen schüttelte den Kopf. »Danke, wir sind soweit fertig. Wir wollten gerade aufbrechen.« Selbst wenn er jetzt Leota schon wieder um ihre Befehlsgewalt gebracht hatte - es ging nicht anders. Sich unterhalten konnten sie auch unterwegs. Am besten da, wo so wenig Leute wie möglich waren, um ihnen zuzuhören. Und reden sollten sie wirklich, und nicht nur über das Wetter.
Mendrion hatte Recht, Recht mit Koristan, und Recht mit seinen Sorgen. Und je mehr er jetzt über diesen Jungen erzählte, desto mehr Grund hatten Dannen und Leota, ihm nicht zu sagen, was dieser Name bedeutete. Varyn. Ich bin. Und Varyniel. Ich bin der Oberste.

Dannen glaubte nicht an Vigilander. Das war kein Geheimnis, es war schon ein paarmal aus ihm rausgerutscht, im Suff oder nüchtern - ernst nahm das kaum jemand, warum sollte Dannen nicht an einen glauben, dessen Blut in seinen eigenen Adern floß? Dann grinste Dannen und meinte, nach allem was er wüßte, hatte Vigilander nicht sein Blut in diese Frau gespritzt… Aber die Wahrheit war ganz schlicht: Dannen fand es deutlich einfacher, an etwas nicht zu glauben, als an etwas zu glauben. An Vigilander. Das Glück. Die Liebe. Seinen Vater. Den Krieg. Und seit neuestem auch an Varyn.
Es klang wie etwas, das der König in die Welt setzte. Konnte man nicht eine Soldliste ebenso leicht fälschen wie einen Brief, wenn nicht noch einfacher? Dann einen leicht zu kaufenden Hauptmann nehmen, der sich ködern ließ mit Ruhm, Ehre, oder Töchtern, und der ein ehrliches Gesicht machte, wenn er die Geschichte erzählte, die der König ihm eingepflanzt hatte… Oh, das lag so nahe!
Mit jedem Tag, den sie unterwegs waren, ärgerte sich Dannen mehr denn jemals, auf diesen Mist hereingefallen zu sein, die Geschichte ernst genommen zu haben, statt die Falle als Falle und die Fälschung als Fälschung zu erkennen. So ein gerissener Plan, um Dannen aus dem Weg zu halten und Leota aus dem Krieg… Aber es war zuviel. Mendrion redete zuviel, das war der Fehler. Der König konnte ihm in der kurzen Zeit keine allzu umfangreiche Geschichte mitgegeben haben, jetzt war es am Hauptmann, sie auszuschmücken. Und auszuschmücken. Und auszuschmücken. Bis wirklich nichts an der Geschichte mehr glaubwürdig war. Wenn es nach Mendrion ging, war Varyn stark wie ein persönlicher Sohn Lorimanders, dazu klug, trinkfest, und so bescheuert, daß er nie und ninmer groß geworden wäre, weil man ihn in Wirklichkeit schon längst erschlagen hätte. Typisch für den König - sich nicht auf einen Elomaran festlegen mögen, damit er nicht zu schnell aufflog! Aber irgendwann war es einfach zuviel. Und mit jeder Geschichte, die Mendrion ihnen nun aufzutischen versuchte, mußte Dannen die Augen gen Himmel drehen und denken ‘Geh, hör auf, du redest dich um Kopf und Kragen!’
Außer um Leota, vielleicht. Die hörte sich alles an, sehr, sehr geduldig und immer interessiert. Aber sie wußte nichts von dem gefälschten Krieg. Oder sie brauchte eine Ausrede, um Mendrion reden zu hören, hatte Gefallen gefunden an seinem blonden Bart und den blitzenden Augen und dem kühnen Gehabe…
Dannen schüttelte den Kopf. Varyn. Was für ein Name! Varyniel. Ein toller Köder. Niemand würde in Wirklichkeit so heißen. Aber wenn Dannen mal einen Sohn bekommen würde, konnte er ihn ja Varyn nennen… Und damit war der Gedanke an Hana wieder da, und an das Kind, das seines sein sollte, wenn er nur das Rechte getan hätte an jenem Tag, als er durch den Regen ritt, um Hana die Wahrheit zu offenbaren - und Dannen fluchte, und er wünschte sich, er könne an Varyn glauben, und an Vigilander, und an den ganzen Rest. Und seine Laune war wieder da, wo sie sich offenbar heimisch fühlte: Tief, tief unten im Keller.
Aber eines mußte er Mendrion wirklich lassen: Wenn Varyn ich auch von Tag zu Tag weiterentwickelte und wuchs wie ein prachtvoller Hirsch, dessen Geweih mit jeder Erzählung mehr Enden bekam, hielt der Hauptmann sich doch bei dem Weg, den er sie nehmen ließ, dicht an die Wirklichkeit. Sie nahmen genau die Strecke, die Mendrion mit seinen Rekruten zurückgelegt hatte - und mit einer Art böser Vorfreude wartete Dannen auf den Tag, wo sie im hinterletzten Bergdorf ankamen, kein Mensch jemals von einem Varyn gehört hatte und Mendrion die ganze Lüge eingestehen musste - und darauf, wie Leota diesen armen Mann dann zu Hackfleisch verarbeiten würde.
Dannen sollte es recht sein. Immer noch besser hier unterwegs als in einem falschen Krieg - wenn nicht… wenn nicht die Beweise dafür, daß Mendrion diesen Weg mit seinen Rekruten genommen hatte, allzu unangenehm gewesen wären. Denn egal, ob die Leute in den Gaststätten nun Dannen und Leota erkannten - an diesen Hauptmann erinnerten sie sich. Und offenbar nicht gerade mit Freude.
Wirte konnten schmerzlich direkt sein. »Sagt, seid Ihr nicht der Hauptmann, der vor ein paar Wochen hier durchgekommen ist?«
Da konnte Mendrion noch so vehement den Kopf schütteln können - Schwerter und vor allem Rüstungen verrieten sie.
Und so konnte der Wirt um so lauter fortfahren: »Und der uns mit seinen Männern alle Haare vom Kopf gefressen hat.« Und dann, noch lauter: »Und dann weitergezogen ist -« Und, wie um ein ganzes Schlachtfeld zu beschallen: »ohne zu bezahlen!«
Bevor Mendrion noch irgendwas sagen konnte, schnaubte Leota den Wirt an: »Euer König ist da draußen im Feindesland bereit, sein Leben für Euch zu geben - und Ihr sorgt Euch um ein paar Goldstücke, um ein paar Fässer Bier?«
Dannen sagte lieber nichts. Es wäre klüger gewesen, dem Wirt einen Beutel voll Silber zu geben und es gut sein zu lassen - das reichte dann wohl für Mendrions Leute ebenso wie für ein paar gute Zimmer und anständige Mahlzeiten jetzt - aber das Silber war im Krieg. Und was sie drei selbst an Geld dabeihatten, sollte für sie reichen - aber nicht rückwirkend für Mendrions verfressene Mannen.
»Oh, ich tue nur meine Pflicht, ganz so wie ihr«, sagte der Wirt, leiser und mit versöhnlichem Tonfall und einem drohenden Funkeln in den Augen. »Ich weiß, daß die Pflicht schmerzen kann und wenig Vergnügen bereiten. Aber wir alle müssen Opfer bringen.«
Dannen schluckte. Er ahnte, was nun kommen würde, und so kaum es dann auch: »Das Bier ist leider aus.« Natürlich, es war ja schon in den Krügen der anderen Gäste. Und das Fleisch war auch aus. Und die guten Zimmer. So gab es dann also Dünnbier, eine so schale Brühe, als hätte des Wirtes Großvater sie vor dem fünftletzten Krieg eingelagert, und dünne Suppe, die offenbar aus diesem Bier gekocht wurde, und einen Schlafsaal, in dem sie dann wenigstens die einzigen Gäste waren. Denn so sehr sich die Wirte von Vigilanders Gnaden die perfekte Rache auch herbeiwünschen mochten: Sie war ein kostbares Gut und wurde nur selbst gewährt.
»Wir geben euch extra einen Koch mit«, murrte Dannen mit knurrendem Magen, »damit ihr genau eine Sache nicht tut, nämlich unsere Wirte kahlfressen und leersaufen. Wir geben euch säckeweise Hafer mit - glaub bloß nicht, der wär für die Pferde! Grütze ist gut für Vigilanders Männer.«
»Ich weiß«, erwiderte Leota trocken. »Und dieser Wirt weiß das offenbar auch.« Oh, sie war zornig. Mendrion sollte sich in Acht nehmen vor Leotas Rache. Und davor, daß sie bei erster Gelegenheit alles dem Vater verraten würde. Das gab dann erst mal keinen Orden für den Hauptmann. Und erst recht keinen Ehebund.
Wenigstens versuchte Mendrion nicht, sich zu entschuldigen. »Es ging immer um die Moral der Truppe«, sagte er nur. »Ihr habt mir kein Geld für Moral gegeben, aber ihr erwartet sie.«
Dann schwieg er. An diesem Abend hatten sie sich nicht viel zu sagen. Wenn es hier wirklich um Moral ging, so war es zumindest um Dannens schlecht bestellt. Und ebenso schlecht um den zerlegenen alten Strohsack, den ihn der Wirt als Matratze haben ließ. Dannen hatte genug.
»Mir ist egal, was ihr jetzt sagt«, erklärte er am anderen Morgen, als er sich so garstig und zerschlagen fühlte, daß ihm rückwirkend ein halbes Faß Bier dafür zustand. »Aber ich zieh die Rüstung heute nicht mehr an, und morgen auch nicht, und wenn ihr’s doch tun wollt, kenn ich euch nicht mehr.«
Leota schaute ihn wortlos an. Sie sah nicht viel besser aus, als er sich fühlte, mit verquollenem Gesicht und wirrem Haar. Aber Dannen hatte sie auch noch nie direkt nach dem Aufwaschen gesehen, müde, ungewaschen und wenig königlich. Sie gähnte herzhaft. Dann schnaubte sie. »Wenn du glaubst, das reicht?«
»Ich weiß es zumindest besser, als hier noch länger den Mann des Königs rauskehren zu wollen. Ich will mein Bier und mein Bett.« Und zwar am besten beides, und zwar sofort.
»Nur weil wir einmal Pech hatten?« fragte Mendrion. Er war früher aufgestanden, hatte sich schon draußen an der Pumpe gewaschen und sah entsprechend besser aus. »Das war jetzt einmal ein Wirt, der sich zufällig an mein Gesicht erinnert, und es tut mir leid. Aber heute und die nächsten Tage kommen wir nur durch Orte, da haben wir ordentlich im Zelt übernachtet, und kein Wirt hat uns gesehen.«
»Es sei denn«, sagte Leota, und Dannen war froh, daß sie ihn verstand, »Ihr habt seinen Sohn mitgenommen. Oder seinen Bruder. Oder den Wirt selbst - dann will ich nicht Ihr sein, wenn seine Frau am Zapfhahn steht.«
Mendrion hatte schon sein Gambeson angezogen, und er schien nicht wild darauf, das jetzt wieder auszuziehen. So sagte er: »Was wollt ihr mir sagen - daß man uns besser behandeln wird, wenn man nicht weiß, wer wir sind?«
Dannen bleckte die Zähne. »Schlimm, nicht?«
»Ja!« sagte Mendrion. »Ja, das ist schlimm! Ihr müßtet euch schämen! Da ziehen Kinder in den Krieg, um für euch zu kämpfen, und ihr -«
»Nicht für mich!« fiel Dannen ihm schroff ins Wort. »Für meinen Vater.«
Und Leota sagte: »Und ja, ich schäme mich, daß ich nicht da sein kann wo sie sind - und wir kommen durch halbleere Dörfer, und ich muß den Müttern in die Augen sehen…« Sie schüttelte den Kopf. Wirklich, sie sah nicht gut aus, und Dannen hätte sie fast in den Arm genommen - aber es hätte an diesem Kummer nicht geändert, und abgesehen davon wollte sie es nicht, so oder so.
»Es ist eure Sache«, sagte Mendrion und machte Anstalten, nach seinem Hüftpanzer greifen zu wollen, doch den trat Dannen fort, daß er quer durch den Schlafsaal rutschte. »Ich zwinge euch nicht in Rüstungen.«
»Und ich sag, zieh deine an, und ich kenne dich nicht mehr.« In Dannen Fäusten juckte der Wunsch, sich zu prügeln.
»Aber was soll’s ändern?« fragte Mendrion weiter. »So oder so, ihr bleibt Engelsgeborene, und die Leute werden euch erkennen.«
Doch da hatte Dannen ihn durchschaut. »Ha!« sagte er. »Jetzt hab ich dich!« Er nahm dem Mann auch noch den Brustharnisch weg. »Du glaubst, du bist ein Hauptmann, solange du gerüstet bist, und sonst nicht mehr als jeder andere Hinz und Kunz! Neidisch bist du!« Und dann, zu Leota noch mal: »Neidisch ist er, stell dir das vor! Neidisch auf mich?« Er packte Mendrion bei den Schultern und zog ihn so nah an sich heran, daß sich ihre Bärte fast ineinander verkeilten. »Paß auf, da gibt es nichts zu beneiden. Und es wird uns kein Schwein erkennen, schon allein -« Er ließ Mendrion los und stieß ihn zurück, um sich wieder Leota zuzuwenden - »weil uns jeder Mensch im Krieg glaubt. Zusammmen mit all den braven Kindern dieser Dörfer.«
»Zieht die Rüstung aus, Mendrion«, sagte Leota - aber nicht mit dem Tonfall, auf den Mendrion vielleicht noch immer wartete. »Es gibt hier nichts für uns zu kämpfen. Und ich will nicht, daß die Leute Fragen stellen, was wir hier zu suchen haben.«
Dannen erinnerte sich, dieses Argument schon am Tag des Aufbruchs aufgebraucht zu haben, aber aus dem Mund seiner Schwester war es zumindest nicht vergessen, und es konnte ihm recht sein.
Mendrion seufzte kurz und gehorchte. Dabei sollte er froh sein, so wie man unter dem starren Leder und dem warmen Polster darunter schwitzte und stank, wenn man wieder herauskam, sollte es ihm so sicher leichter fallen, sich am Abend ein Mädchen zu suchen. Dannen zumindest freute sich schon alle, die nun kommen sollten…
Und selbst wenn nicht, war die Reise von diesem Tag an viel entspannter, sorgloser, und fast schon angenehm zu nennen.

Sie ritten auf schwarzen Pferden, und an ihren Seiten trugen sie Schwerter. Und sie waren immer noch zu dritt, aber was für ein Unterschied: Sie sahen jetzt aus wie Menschen. Jäger vielleicht. Oder Kaufleute. Oder Steuereintreiber. Oder wen auch immer es hierher verschlagen sollte, tief in die Berge, an den Arsch der Welt. Und das konnten sie wörtlich sagen, denn hier lagen die einzigen nennenswerten Reichtümer Doubladirs: Erz und Kohle. Vor allem Kohle. Die Leute hier draußen mußten das nicht unbedingt wissen, aber im königlichen Haus nannte man Kohle ‘die Scheiße der Engel’. Sie war hier überall, schon immer, man konnte nicht viel damit anfangen, bis irgendwer mal merkte, daß sie ganz gut brannte - und wenn man so Scheiße zu Gold machen konnte, war das gut. So war und blieb Doubladir das einzige Land, das seinen Schatz verheizte. Und natürlich, ein Teil davon wurde auch ins Ausland verkauft. Das meiste davon nach Loringaril. Außer jetzt, natürlich. So ein Krieg machte doppelt arm.
Aber hier draußen mußte man sich darüber nicht ärgern. Hier war niemand, der irgendwie reich aussah. Selbst die Berge waren arm. Kahl und grau - hier ein wenig Farn, dort ein wenig Moos, etwas buschiges Gras, und die unansehnlichen struppigen Überreste von dem Zeug, das im Frühsommer als Heidekraut noch ganz nett anzusehen war. Dannen, der überlegt hatte, in diesen Bergen auf die Jagd zu gehen, verwarf den Gedanken wieder. Viel mehr als ein Kaninchen würde er hier nicht bekommen. Aber falls die Zeit es erlaubte - und das würde sie sicher - wollte Dannen in diesen Bergen wandern, um auf der anderen Seite das Meer zu sehen. Das Meer mußte nah sein, hier am Ende der Welt. Und sein Anblick mußte es wert sein, Gipfel über Gipfel zu überqueren. Diese Berge waren karg und schroff. Und Dannen mußte zugeben, daß sie ihm wirklich gut gefielen.
»Und ich hatte gehofft, dieses Nest nie wieder sehen zu müssen«, sagte Mendrion leicht gequält, als sie auf einer schmalen Straße zwischen Fluß und Bergen auf das langersehnte Dorf zuritten.
»Ich mag es hier«, erwiderte Dannen. »Und so schön weit weg vom Krieg.« Es ging ihm wirklich von Tag zu Tag besser, aber erst jetzt hatte er begonnen, das auch zu begreifen. Alles war so schön weit weg. Krieg, Vater, Bruder, Hana, Geheimnisse. Nichts mehr, was Dannen davon abgehalten hätte, sich jung, gesund und vergnügt zu fühlen. Diese Strafe war eigentlich das Beste, was ihm hatte passieren können. Das, und die Verheißung des Meeres hinter den Bergen… »Komm, Mendrion, jetzt ist die letzte Gelegenheit, es zuzugeben. Deinen Varyn gibt es gar nicht, Vater und du habt ihn euch ausgedacht. Kannst es ruhig gestehen. Ich bin dir nicht böse, im Gegenteil.« So eine Hütte in den Bergen, das war doch eigentlich perfekt. Bergsteigen, Kaninchen beizen, keine Bücher führen müssen… Dannen streckte sich zufrieden.
»Ach, red keinen Unsinn, Dannen.« Leota mochte weniger angespannt sein, seit sie ihre Rüstung abgelegt hatte, doch die Gebirgsluft schien ihrer Laune nicht wirklich gutzutun. »Der Junge existiert, wir sammeln ihn ein und bringen ihn nach Car Diuree, und dann -«
Vor ihnen lag das Dorf. Es klebte am Berg wie Mehltau, es nutzte aus, was es an Tal gab, aber viel konnte das nicht sein. Ein paar Dutzend Häuser, grau wie der Fels der Berge, mit grauen Wänden und grauen Dächern, und alles so düster und trostlos, daß es einem ganz warm ums Herz werden konnte. Wirklich der letzte, der allerallerletzte Ort, an dem man einen Engel erwarten sollte. Dafür aber bestimmt der Erste, wo einer gebraucht wurde.
»Sagt, Mendrion«, setzte Leota neu an, ohne ihren Satz von vorher zuende zu sprechen, »glaubt Ihr, Euer Varyn ist beliebt in diesem Dorf?«
»Ach, sicher nicht«, erwiderte Mendrion. »Außer bei seiner Familie, denk ich mal, nach dem, was sein Bruder erzählt hat.«
»Und diese Familie«, fragte Leota weiter, »ist die groß?«
Der Hauptmann zuckte die Schultern. »Was weiß ich - vielleicht so groß wie eure, keine Ahnung.«
»Dann«, sagte Leota, »sollten wir hier eine kurze Pause machen und an windgeschützter Stelle die Rüstungen wieder anlegen. Ich weiß nicht, wie diese Bergleute reagieren, wenn wir kommen und ihren Sohn abführen, aber sie werden nicht begeistert sein. Wir müssen mit einem Kampf rechnen.«
»Und wenn der Junge gar nicht hier ist?« Dannen gab die Hoffnung nicht auf. Und verfluchte sich dafür, die verdammte Rüstung nicht irgendwo unterwegs in den Fluß geworfen zu haben. Am besten gleich alle drei! Und vielleicht noch Leota hinterher…
»Dann warten wir hier auf ihn«, sagte Leota.»Früher oder später wird er wohl heimkehren. Und wir reden mit den Leuten. Alles was sie wissen hilft uns weiter.«
Dannen zuckte die Schultern. »Warten klingt immer gut.« Und ließ ihm sicher Zeit zum Wandern. »Aber dafür brauchen wir keine Rüstungen. Lassen wir sie doch denken, wir kommen in Frieden. Allemal besser.«
»Es ist Hohn, in Zeiten wie diesen vom Frieden zu sprechen, vor Leuten, die ihre Kinder -«
Doch dieses Mal war es Mendrion, dessen Räuspern Leotas Predigt stoppte. Wirklich, Dannen wünschte sich, die beiden wären doch in der letzten Woche irgendwo miteinander im Bett gelandet, dann hätte dieses arme Frau jetzt wenigstens ein anderes Thema, über das sie sich aufregen konnte! »Hier nicht«, sagte Mendrion, nachdem er sich ausgeräuspert hatte. »Dieses verfluchte Dorf hat genau zwei Kinder an den Krieg verloren - und der Krieg hat sie am Ende an dieses Dorf zurückverloren, so daß man uns hier nichts vorwerfen kann.«
»Hm«, sagte Leota. »Sofern sie tatsächlich wieder hier sind.«
Aber dieses Hin-und-Her-Überlegen wurde Dannen dann doch zu bunt. Er war nicht Tag um Tag auf müden Hinterbacken geritten, nur um sich dann so kurz vor dem Ziel in endlosen Diskussionen zu verlieren. »Bleibt für mich nur noch eine Frage übrig«, fiel er den beiden ins Wort. »Mendrion, hast du vielleicht auch hier einen Wirt geprellt?«
Und als Mendrion nickte, vielleicht ein wenig schuldbewußt, wurde es Dannen ganz leicht ums Herz. Oder zumindest um die Stelle, wo er seine Börse sitzen hatte. Geld war ein guter Türöffner. Und von ihm aus konnte es jetzt auf in dieses Dorf-mit-dem-viel-zu-langen-Namen gehen.
Ja, das Dorf. Aus der Nähe merkte man, daß der erste Augenschein trog. Es zog sich weiter ins Tal hinein, als Dannen gedacht hatte. Hier war nicht der Hund begraben: Hier wurde er geröstet. Geschmolzen. Geschmiedet. Wenn es hier auch friedliche Schweine- und Ziegenhirten geben mochte, die richtigen Männer in diesem Dorf waren damit beschäftigt, die dunkeln Wolken aus dem Tal qualmen zu lassen: Aus den Schornsteinen von etwas, das Dannen sofort als eine große Schmiede identifizierte. Und einem noch viel größeren steingemauerten Gebäude, in dem wohl Erz geschmolzen wurde. Über allem lag ein geschäftiges Hämmern und Dröhnen. Und niemand saß auf seiner Türschwelle und kaute auf einem Grashalm herum - so, wie das Gras hier aussah, wollte das sicher auch niemand. Es hatte so einen mattgrauen Schimmer, daß Dannen alle Gewalt daransetzte, Horalon am Grasen zu hindern. Er wußte nicht, was passierte, wenn ein Pferd Kohle fraß.
»Eine Feststellung«, sagte Dannen leise. »Ich sehe hier niemanden, auf den deine Beschreibung von Varyn passen wollte - aber ich ahne, daß man uns gleich mit Steinwürfen empfangen wird.«
Denn in diesem Moment hatte er einen mächtigen Haufen Bruchsteine erspäht, im Schatten des Bergs und in der Nähe dreier dunkler Löcher im Fels, die den Eingang zum Bergwerk darstellten. Die Bergleute warfen das achtlos fort und interessierten sich nur noch für ihre Kohle oder ihr Erz - aber Dannen, durch dessen Adern immer noch Vigilanders Blut höchstpersönlich floß, sah einen großen Haufen wirklich billiger Munition. Ein paar Wagen davon an die Front schaffen - Katapult beladen - und dann regnete es Schotter auf Lorimanders Truppen. Tötete nicht, aber Beulen und Prellungen konnten diesen ungerüsteten Bauern schon weh tun…
Dannens Lächeln erstarb. Es gefiel ihm nicht, hier draußen schon wieder an den Krieg zu denken. Aber er wußte, angesichts der Kohle, des Erzes und der Schmiede, in der keine Hufeisen geschmiedet wurden: Hier wurde er gemacht.
»Erst mal zum Gasthaus«, sagte Mendrion, als hätte er Dannens Gedanken gelesen - aber wenn ein vergnügter Mensch plötzlich finster dreinblickte, war das nicht weiter schwer. »Der Wirt war ein alter Brummbär, aber ich erinnere mich, daß er eine ganz nette Tochter hatte.«
Leota schüttelte den Kopf. »Mich interessieren weder Wirte noch ihre Töchter. Kümmert Euch nur allein um unsere Unterbringung, Mendrion - und zahlt Eure Zeche - mein Bruder und ich werden derweil der Familie des Jungen einen Besuch abstatten. Wenn er nicht schon gewarnt ist.«
Gewarnt hin oder her es gab nur einen Weg aus dem Tal hinaus, und sie hatten mit Sicherheit die besseren Pferde - da sollte doch Zeit für ein Bier bleiben, nur ein kleines!
Mendrion sprang ein, bevor Dannen sich mit seiner Schwester anlegen mußte. »Es ist noch Tag, da werden die Männer alle im Berg sein.«
Das doch wirkte nicht bei Leota. Sie schnaubte und verdrehte die Augen, verzweifelt, welche Gesellschaft man ihr da zumutete. »Männer haben Frauen«, sagte sie. »Und wenn nicht Frauen, dann Mütter. Wo also immer dieses Haus ist« - nun ließ sie ihren Blick abschätzend über Berg und Dorf gleiten, bis Mendrion auf ein Haus im Schatten der Felsen deutete - »jemand wir dort sein. Und mit der werde ich reden.« Ich war gut. Für ‘ich’ brauchte sie ja nicht - »Dannen, du kommst mit mir!«

Erst, als er ein ganzes Stück weit mürrisch hinter seiner Schwester hergestapft war, ging Dannen auf, was für eine Situation das gerade war: Zum ersten Mal seit dem Aufbruch war er jetzt wirklich mit Leota allein, ohne Mendrion oder die Gefahr, daß er jeden Augenblick hereinplatzen konnte. Gut, die letzten Tage über hatte ihn die schlechte Stimmung seiner Schwester davon abgehalten, solch einen Moment zum Gespräch ernsthaft zu suchen, aber wo es gerade soweit war… Und da drehte sich Leota auch schon zu ihm um, und lächelte.
»Hana rechnet dir das übrigens hoch an«, sagte sie. »Daß du sie in Ruhe läßt und ihr nicht mehr nachstellst. Sie weiß, daß es im Moment schwer für dich ist.«
Dannen schüttelte den Kopf. »Ich bin drüber weg.« Was nicht stimmte. Nur weil er die Gelegenheit genutzt hatte, eine Weile nicht an sie zu denken, hieß das nicht, daß sie ihm nichts mehr bedeutete. Oder daß es nicht mehr wehtat. »Ich will nicht über sie sprechen, erst recht nicht jetzt.« Warum konnte sie mit Leota so einfach befreundet sein, und nicht mit ihm?
Dannen schluckte heftig und sagte dann rundheraus: »Mich würde interessieren, was du über Varyn denkst. Wir haben nie über die Dinge gesprochen, die Mendrion nicht zu wissen braucht.«
Leota blickte sich nach den Seiten um. »Welche Dinge?«
»Sein Name. Var yn.« Es war niemand da, um sie zu belauschen. »Zwei Wörter. Ich bin.«
»Ach, das!« Leota winkte ab. »Ich dachte, das wäre klar!«
»Mir nicht«, erwiderte Dannen und fühlte sich dumm und ausgestoßen.
»Ha! Das erklärt deine unnötig überragende Laune!« Leota schnaubte. »Und du hast dich nicht gewundert, daß ich so schlechtes Wetter verbreite?«
»Du hast keinen Augenblick ausgelassen, um den Krieg zu bejammern, der dir entgeht.«
»Das habe ich doch nur gemacht, damit dein Freund keine Fragen stellt.« Die beiden starrten einander an, als wisse keiner von ihnen, wer nun das größere Recht hatte, enttäuscht zu sein. »Und ich dachte, du kennst mich besser!«
Dannen rieb sich die Stirn. »Ehrlich, ich kenne zur Zeit noch nicht mal mich selbst richtig.« War das noch der Weg, den Mendrion ihnen beschrieben hatte, oder wählte Leota mit Absicht einen Umweg, um sich besser und länger unterhalten zu können? Nötig war es ja wohl allemal! »Und was ist jetzt, warum bist du so stinkig?«
»Wegen was wohl? Wegen Vater! Ich dachte, du weißt es längst - er hat dir ein Geheimnis anvertraut, soviel ist bekannt, daraufhin läßt du dir einen Bart wachsen und hörst auf zu saufen und rumzuhuren - also komm, du weit es!«
Dannen mußte stur bleiben. Selbst wenn sie es auch wußte, er durfte sich nicht offenbaren. Es war ja immer noch möglich, daß ihr Vater mehrere Geheimnisse an seine Kinder verteilt hatte. »So? Was hat er dir denn gesagt?«
»Mir? Gesagt?« Leota spuckte aus - hier durfte sie das, sah ja keiner. »Mit mir führt er doch keine solchen Gespräche von Mann zu Mann! Nein, mir kommt er nur mit ‘Zukunft der Familie’ und ‘Sicherheit des Hauses Vigilanders’, und dann darf ich ihm die Kastanien aus dem Feuer holen! Nur weil der alte Bock -«
»Weil der alte Bock was?« fragte Dannen.
»Jetzt tu nicht mehr so, bitte!« fauchte Leota. »Plötzlich taucht aus dem Nichts ein Knabe auf mit engelsgleichen Kräften, einem Namen auf Elomond, und Vater ist ganz wild darauf, ihn möglichst unversehrt in seine Burg zu bekommen?«
»Na ja«, sagte Dannen. »Ich sage mir ja auch, besser hier bei uns, als wenn der nachher in Loringaril gelandet wäre! Darum verstehe ich auch diese ganze Weltuntergangsstimmung nicht.«
Leota starrte ihn an wie einen Schwachsinnigen. »Du verstehst offenbar wirklich einiges nicht«, sagte sie dann leise. »Dieser Varyn, irgendwo muß er hergekommen sein. Den Namen hat er sich ja wohl nicht selbst gegeben. Ich bin der Oberste - klingt das nicht nach einem Vater, der voll Stolz fast platzt, daß seine Lenden noch soviel Kraft besitzen?«
»Nein!« entfuhr es Dannen. »Du meinst jetzt nicht -«
»Natürlich meine ich!« Leota lachte kurz, böse und triumphierend. »Der Herr der Bastarde hat wieder einmal zugeschlagen. Und wir sind um einen Bruder reicher. Mal wieder.«
»Nein«, sagte Dannen noch einmal, leiser und unüberzeugter. Wenn der Junge jetzt, wie Mendrion meinte, fünfzehn oder sechzehn Jahre als war, dann war er gezeugt worden, nachdem Dannens Mutter die Familie verlassen hatte. Jaro war fort, Rul aus den Windeln raus - Zeit für den König, noch einmal zu beweisen, was er noch konnte? Er war oft genug lange weg - auf der Jagd, wie er sagte… Dannen hörte ihn noch genau: Und ich sage, es wird keine weiteren Bastarde geben, aber dieser Junge hier ist mein Sohn, und er wird leben
Er würde den Tag nicht vergessen, niemals. Seit dem Tag haßte Dannen seinen Vater. Der Tag, an dem er Rache geschworen hatte, ein Junge von fünf oder sechs Jahren, geschworen, die Familienehre wieder herzustellen, eines Tages… Und Leota, die irgendwann damit herausrückte, daß sie am selben Tag, am Tag als Mutter ging, auch einen Schwur geleistet hatte, den Schwur, ihre Mutter zu rächen… Und jetzt sie beide, ausgerechnet, hier draußen, um den nächsten Bastard freudestrahlend in Empfang zu nehmen? War das Absicht oder Hohn oder nur der Beweis, daß Vigilander sie haßte?
»Gehen wir«, sagte Varyn. »Wir wissen es nicht, eh wir ihn nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Vorher aber… Ach, gehen wir einfach.«
Hin zu diesem kleinen Steinhaus am Fuß des Kohlenberges, wo ein Junge gelebt hatte, dessen Name Ich bin lautete.
Und so traf Dannen auf die Mutter des Jungen, den es nicht gab. Und daß sie dann nicht seine Mutter war, tröstete ihn auch nicht wirklich über das Hinweg, was der Bursche alles sein mochte. So fiel sein hübsches Luftschloß nun endgültig in sich zusammen, verschwand in einer Wolke aus Rauch und grauem Staub.
Aber eine Tatsache gab es, geeignet, um Dannen wieder versöhnlich zu stimmen: Selbst wenn es Varyn gab - selbst wenn alles wahr war, was Mendrion über ihn erzählt hatte oder Leota über ihn vermutete: Er war nicht in diesem Haus, diesem Berg, diesem Dorf, diesem Tal. Nicht jetzt, jedenfalls. Nicht seit Monaten. Nicht, seit er mit den Soldaten gezogen war.
»Gut«, sagte Leota. »Gut. Dann bleiben wir.«
Und Dannen sah nicht die leiseste Veranlassung, ihr da zu widersprechen.

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