Sie ritten auf schwarzen Pferden, und an ihren Seiten trugen sie
Schwerter. Und sie waren zu dritt, und das bedeutete: Sie waren
einer zuviel. Nur wer von ihnen jetzt fehl am Platze war,
darüber konnte Dannen sich nicht einigen. Es konnte zum
Beispiel Leota sein. Ohne Leota konnte Dannen versuchen, einfach
alles zu vergessen, Engel, Krieg du den ganzen anderen Mist, und
versuchen, zusammen mit Mendrion das beste aus dieser Reise zu
machen. Also, keine wilden Trinkgelage oder Rumgehure, aber es gab
doch vieles, was man nicht tun konnte, wenn man eine Frau
dabeihatte. Oder, noch schlimmer: Seine große Schwester. Ohne
Leota wäre auch Mendrion sicher nicht gar so ein
unerträglicher Schleimbeutel gewesen, sondern der Mann, als
den Dannen ihn kannte und - gelegentlich - schätzte. Und
überhaupt - als ob Dannen nicht Manns genug war, den Fall
selbst zu untersuchen! Keine Zweifel, Leota war zuviel.
Oder Mendrion. Solange der Hauptmann dabei war, konnte sich Dannen
keinen Augenblick vernünftig mit Leota unterhalten -
natürlich, er konnte, wollte, durfte sein Geheimnis nicht
blind ausposaunen, aber hier konnte es wichtig sein, hier war
irgend etwas genauso faul wie an Vigilanders Hofe, und das ging
Leota durchaus etwas an. Nicht jedoch Mendrion. Der mochte sich
jetzt vielleicht als allwissender Wegweiser aufspielen, aber wozu?
Dannen wußte, aus welchem Tal dieser Varyn stammte, und auch
wenn sicher noch nie ein Engelsgeborener in dieser entlegenen Ecke
gewesen war, dann doch zumindest ein Kartograph. Brauchte man eine
Zecke wie Mendrion, um nach Elad Courblaka zu reiten und dort nach
einem Jungen zu fragen? Sicher keine. Mendrion war zuviel, keine
Zweifel.
Oder Dannen selbst. Dannen war definitiv zuviel, und das nicht nur
hier. Ohne Dannen hätte Mendrion sich anstrengen können,
um Leota ins Bett zu bekommen. Und Leota mußte nicht mehr
andauernd betonen, daß sie Herrin ihres Schwertes war und
keinen Beschützer brauchte, um aufdringliche Hauptmänner
abzuwehren… Und wenn er jetzt nicht mit Leota einmal quer
durchs ganze Land reiten müssen, wäre dannen doch lieber
anderswo gewesen, weit weit weg. Auf seiner eigenen Bug, wo er
niemanden sehen mußte und niemand ihn und er so tun konnte,
als gäbe es keinen Vater und keine Leota und keinen Mendrion
und keine Hana. Vor allem keine Hana. Ob sie nun von ihm
enttäuscht war? War sie sauer, weil er losgeritten war, ohne
sich auch nur von ihr zu verabschieden, ohne ihr Glück zu
wünschen, mit dem, was da in ihr wuchs? Dannen schüttelte
den Kopf. Damit hatte er nichts zu schaffen, nicht mit ihr und
nicht mit ihrer Brut -
Ein scharfes Pfeifen riß ihn hoch. Dannen schreckte zusammen
und sah sich nach links und rechts um. »Wie - was
ist?«
Leota feixte. »Ich war das. Du wärst fast vom Pferd
gefallen.«
Dannen straffte sich. »Wäre ich nicht. Ich kann im
Schlafen reiten, wenn es sein muß.« Er versuchte zu
lachen, ungeachtet dessen, daß er wirklich müde war und
wirklich bedenklich nah daran, aus dem Sattel zu rutschen. Das
Lachen geriet ihm zum Gähnen. Sie waren noch keinen halben Tag
unterwegs - das fing ja gut an.
Und Leota seufzte. »Hättest ja gestern nicht gleich die
ganze Nacht durch saufen müssen.«
Dannen schloß die Augen. Wenn Leota in über zwanzig
Jahren noch nicht gelernt hatte, den Unterschied zu sehen zwischen
‘Dannen trank die ganze Nacht durch’ und ‘Dannen
konnte die ganze Nacht über kein Auge zutun’, konnte
Dannen ihr auch nicht helfen. Zumindest riechen können
mußte man es! Und im ersten Fall hätte Dannen zumindest
ein paar Stunden tiefen Schlaf bekommen. Statt dessen hatte Dannen
die erste Hälfte der Nacht mit Grübeln verbracht und die
zweite Hälfte damit, sich nicht zu betrinken, obwohl es wie
eine gute Idee erschien. Dannen schlief nicht mehr gut, seit sein
Vater ihm das Geheimnis aufgedrängt hatte, doch daß er
die ganze Nacht durch kein Auge zutat, war zum Glück noch
immer eine Seltenheit. Aber die Mischung aus dem Geheimnis und der
Schwangerschaft und Mendrions Deserteur - das gab Dannen den Rest.
Nach einigem Hin und Her entschied er sich dann dafür,
daß der fremde Junge wohl das schmerzloseste Kopfzerbrechen
mit sich brachte. Und das war es dann, für den Rest der Nacht.
Ohne, daß Dannen zu einem Ergebnis kam, verstand sich. Ein
Ergebnis in Sachen Varyn hätte bedeutet, statt dessen wieder
an eines der anderen Themen denken zu müssen.
»Wenn dir soviel an meinem Wohlergehen liegt«, murmelte
Dannen vage in die Richtung seiner Schwester, »dann laß
uns am nächsten Gasthaus eine Pause einlegen.« Und dann
am besten gleich für die Nacht absteigen. Jetzt war Dannen
müde genug, um wirklich zu schlafen - das sollte er besser
ausnutzen. Sofort.
Zu Dannens großem Erstaunen widersprach ihm niemand.
Niemand bedeutete hier nur Leota, denn Mendrion machte seit
dem Aufbruch nicht den Eindruck, als wolle er jemals wieder die
Zähne auseinanderbringen. Er ritt eine Pferdelänge hinter
den beiden, und es war wirklich nötig, ihn sich gleich ernst
zur Brust zu nehmen, wenn das nicht noch die nächsten Wochen
so weitergehen sollte. Dannen wollte keinen Reisekameraden haben,
der ihn zwang, sich ausschließlich mit seiner Schwester zu
unterhalten.
»Von mir aus«, sagte Leota. »Ich denke, es gibt
da durchaus einiges, was wir besprechen sollten.«
»Deine Entscheidung«, erwiderte Dannen. »Du hast
das Sagen. Wir anderen sind nur hier, um dir zu gehorchen.«
Über die Schulter nickte er Mendrion zu. Das sollte nun
wirklich deutlich genug sein.
Sie pausierten dann doch nicht am nächsten Gasthaus, sondern
erst am dritten - die beiden ersten sahen nicht so aus wie Orte, an
denen man ein gutes Pferd unbeaufsichtigt in de Stall stellen
sollte, und solange sie noch Auswahl hatten, sollten sie die auch
nutzen. Im Umfeld von Car Diuree langen noch zahlreiche Ortschaften
und Dörfer, jedes mit einem oder zwei Gasthöfen, so
daß niemand lange hungrig und durstig bleiben mußte.
Aber das sollte sich noch ändern. Das Hinterland von Doubladir
war rauh und schroff und hatte nicht viel zu bieten als Berge und
Heidekraut - man konnte dort auf die Jagd gehen, aber es war kein
Land, wo man leben wollte, Dannen nicht und auch sonst wohl kaum
jemand. Selbst im Norden, an Dannens eigener Burg, war noch mehr
los. Aber dafür konnte man in diesen Gegenden auch beinahe
jedem Wirt vertrauen.
Das dritte Gasthaus war es dann also. Nichts großartiges,
aber doch ein Ort, wo man vom Geruch nach leckerem Eintopf
begrüßt wurde, wenn man hereinkam. Und von einer
freundlichen Wirtin.
»Na, ihr Krieger, auf dem Weg nach Loringaril?«
Die drei blickten sich kurz an, dann sagte Leota, knapp, aber mit
einem Lächeln: »Auf dem Weg zum Mittagessen.«
Die anderen Gäste drehten sich zu ihnen um - ein halbes
Dutzend Leute, die besser daran bedient waren, sich um ihren
Eintopf zu kümmern. Dannen wollte kein Aufsehen erregen, was
ihm allein auch gut genug gelang - aber es liefen zu wenig Frauen
mit Schwertern herum oder Krieger mit Brüsten, als daß
die Leute nicht zu starren anfingen. Und dann kam schnell der
Moment, wo sie zwei und zwei zusammenzählten und begriffen,
daß sie die Tochter des Königs vor sich hatten. Dannen
schloß die Augen und wünschte sich weit fort, an einen
Ort, wo er nicht gleich seiner Schwester sagen mußte,
daß sie ihr Schwert und ihre Rüstung ablegen mußte
und ein Kleid an.
Leota dagegen ignorierte diese Blicke mit einer Gewohnheit, die
fünfundzwanzig Jahre zum Wachsen genutzt hatte. »Und
sag, habt Ihr vielleicht ein Hinterzimmer, wo wir unter uns sein
können?«
»Hm, ein Hinterzimmer?« Was gab es da zu
überlegen? Entweder hatte man ein Hinterzimmer, oder man hatte
keines! Dannen war müde und schlecht gelaunt und hatte keine
Lust, sich das lange anzuhören und dabei von allen Leuten
begaffen zu lassen. Das war die Schuld seiner Schwester, dann
sollte die das jetzt auch regeln.
Er klopfte Leota auf die Schulter. »Du klärst das eben,
ja? Ich bin solange draußen und rede ein paar Wörtchen
mit dem hier.« Mit dem Kinn deutete er auf Mendrion.
»Und ich hätte gern eine gute Schüssel Eintopf und
ein Bier, wenn das soweit ist.«
Dann, ohne sich noch groß um die Leute zu kümmern, nahm
er Mendrion bei der Schulter und zog ihn mit etwas zuviel Nachdruck
nach draußen, einmal quer ums Haus, hinter die Stallungen.
»So, mein Freund«, sagte er leise. »Wir
müssen reden. Und dann sagst du mir, für was du dich hier
hältst!«
Jetzt, wo Leota nicht mehr dabei war, konnte Mendrion
natürlich rüde zurückschnauzen. »Ich
weiß nicht, wovon du redest! Ich habe die ganze Zeit
über nichts gesagt, nichts getan.«
»Eben!« knurrte Dannen. »Glaubst du, du bist ein
verdammter Diener, oder was? Du tust doch sonst so, als wärst
du ein Hauptmann.«
»Ich dachte, ich wär einer, bis dein verdammter Vater
-«
Und dann scheuerte Dannen ihm ein paar. »Erstmal, niemand
verflucht meinen Vater außer uns. Und tu jetzt nicht so, als
wär ich dein bester Freund!«
Mendrion schüttelte den Kopf und rieb sich das Kinn.
»Das dachte ich auch, aber offenbar habe ich dich gestern
Abend -«
»Paß mal auf, Mendrion«, fiel ihm Dannen ins
Wort. Wenn sie das jetzt nicht regeln konnten, dann nie. »Du
bist nicht mein bester Freund - ich glaube nicht mal, daß ich
so einen habe oder brauche - aber du bist ein Freund. Und
ich wette, du hast auch bessere Freunde als mich - aber hör
gefälligst auf, hinter mir herzueiern wie ein Diener oder ein
Jagdhund, sobald irgend jemand dabei ist. Du bist mein Freund, also
verhalte dich gefälligst auch so.«
Mendrion, ganz wie Dannen es vermutet hatte, gab Leota die Schuld:
»Es tut mir leid, es ist nur wegen deiner
Schwester.«
»Und meinst du nicht, du nervst meine Schwester damit
gewaltig? Sie will nichts von dir; sie kommt noch nicht mal auf die
Idee, daß sie das sollte. Also hör gefälligst damit
auf, sie so demonstrativ nicht anzugraben, und behandle sie wie
jeden anderen Kerl.«
Um Mendrion jetzt nicht in die Verlegenheit zu bringen, Leota
beleidigen zu müssen, redete Dannen weiter: »Als du mit
deinem Kommando hier durch die Gegend geritten bist, warst du der
Hauptmann, und dabei waren die anderen Reiter bestimmt zweimal so
alt wie du.« Dannen hatte keine Ahnung, wer mit Mendrion
geritten war, aber es würde schon stimmen. Der König gab
seinen jüngeren Hauptmännern immer ein paar altgediente
Recken an die Seite, damit sie alt und jung anführen konnten -
und Mendrion war sicher einer der jüngsten Hauptmänner,
die Doubladir zu bieten hatte. »Hier ist es umgekehrt, du
bist der älteste von uns. Nicht viel, aber immerhin, also mach
was draus. Denn wenn du hier tust, als wärst du nur ein
Diener, muß ich so tun, als wär ich nur Leotas
Leibwächter - und wenn du mich dazu zwingst, hast du Leotas
Schwert zwischen den Rippen, bevor ich auch nur meines ziehen kann.
Verstanden?«
Mendrion nickte. Und Dannen hoffte, daß der Mann da jetzt
seine Lehre draus ziehen würde. »Also dann - auf zum
Eintopf!«
Drinnen hatte Leota inzwischen tatsächlich so etwas wie ein
Hinterzimmer aufgetan, und nun verstand Dannen auch das Zögern
der Wirtin - das ‘Hinterzimmer’ war dann doch mehr eine
Nische mit einem Vorhang davor. Nicht gerade der geheimste Ort der
Welt, aber doch wenigstens eine Möglichkeit, zu Mittag zu
essen, ohne angestarrt zu werden. Außer von Leota,
vielleicht. Es gab auch Bier und Eintopf, beides ungefähr von
gleicher Temperatur, aber das war nicht weiter schlimm. Dannen, der
nicht gefrühstückt hatte, war so müde, daß er
wirklich alles gegessen hätte.
Dannen nickte der Wirtin noch einmal freundlich zu, bevor er den
Vorhang sorgfältig schloß und sich zum Essen setzte. Der
Geruch von Fleisch und Erbsen stach ihm in die Nase. »Erst
essen, dann reden?« schlug er vor, und merkte erst dann,
daß ihm Mendrion und Leota mit ihren vollen Mündern gar
nicht widersprechen konnten. Dieses Essen wollte verschlungen
werden, solange noch ein letztes Bißchen Wärme darin
war.
»Wißt ihr, was ich meine?« fragte Leota dann.
»Ich meine, ich will keine dummen Witze hören, von wegen
‘Ich habe das Sagen’ - ich habe das Sagen.
Findet euch damit ab. Ich würde auch lieber nach Loringaril
reiten, aber wenn das jetzt so sein soll, dann -«
Beschwichtigend hob Dannen die Hände. »Komm, bitte,
Frieden, zumindest für uns! Jeder von uns könnte
ebensogut anderswo sein, aber es ist nun mal, wie es ist, also
machen wir das Beste draus.«
»Das Beste?« Damit traf er Leota an der falschen
Stelle. Ich kann euch sagen, welche Lösung die Beste
wäre! Wenn nämlich Vater, statt immer gleich alles im
Alleingang machen zu müssen, eine Depesche nach Elysir
geschickt hätte! Die haben die Leute für sowas, und wir
könnten sein, wo wir hingehören.«
Mendrion sagte nichts, aber er nickte wenigstens mit offenem Blick
und starrte nicht nur in seine leere Schüssel. Trotzdem,
nicken war falsch. Dannen machte es besser. Er lachte.
»Nach Elysir? Und die Sache diesen Lichtfressern
überlassen, wo wir uns doch in einem so schönen Krieg
befinden? Das ist Staatsgeheimnis« - er sagte das Wort nicht
so laut, wie er angesichts des Vorhangs einen Moment lang versucht
war - »sonst wär das ja noch schöner! Warum nicht
gleich Nachricht nach Koristar schicken? Oh, ich vergaß -
denen fehlt ja auch noch ihr richtiger
König…«
»Wenn du das so lustig findest«, sagte Leota, ihre
Stimme noch kälter als der Eintopf, »dann willst du uns
jetzt wohl sagen, was wir zu tun haben?«
Dannen wollte schon irgend etwas sagen, um sie entweder zu
beruhigen der völlig mundtot zu machen, aber während er
noch im kopf Für und Wider abwägte, zeigte Mendrion,
daß er sich Dannens Worte wirklich zu Herzen genommen hatte.
Ob er sonst zu einem solchen Wandel fähig gewesen wäre?
Der Hauptmann klatschte mit der Hand auf den Tisch und sagte:
»Jetzt ist aber genug! Könnt ihr nicht mit dem
Kinderkram aufhören? So kommen wir doch nicht
voran!«
Dannen versteckte sein Grinsen hinter der hohlen Hand - nicht wegen
Mendrion, sondern wegen Leota, der vor Erstaunen schier die Augen
aus dem Kopf fielen.
»Wir sind zu dritt«, redete Mendrion weiter. »Da
ist es hackegal, wer das Sagen hat - jeder von uns kann etwas,
jeder weiß etwas. Und wir sollten jetzt damit anfangen, die
Karten auf den Tisch zu legen.«
Dannen sagte immer noch nichts. Erst wollte er Leotas Reaktion
abwarten. Ihr Gesicht kräuselte sich. Fast glaubte Dannen,
daß sie lachen würde, doch sie schnaubte.
»So? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr eine
Ahnung habt, um was es hier geht.« Und Dannen hatte schon
gemeint, sie wäre ein wenig beeindruckt - aber es stimmte
wohl, der Mann, der Leota beeindrucken konnte, mußte erst
noch geboren werden.
»Ihr vergeßt, daß ich den Jungen kenne«,
erwiderte Mendrion gelassen. »Und ich weiß genau, was
eure Sorge ist.« Er lächelte. »Ihr, nicht nur euer
Vater, sondern auch ihr beide hier, glaubt, daß Varyn ein
Engel sein könnte. Und ihr wollt ihn aufhalten, bevor er euch
den Thron wegnehmen kann.«
Anerkennend mußte Dannen eingestehen, daß offenbar noch
jemand die Nacht zum Nachdenken genutzt hatte - und sich dabei doch
deutlich besser gehalten. Er beobachtete Leota durch
zusammengekniffene Augen, als sie leise sagte: »So? Wie kommt
ihr darauf?«
Mendrion behielt das Lächeln bei, dabei waren es nur drei oder
vier Stunden Kriechen und Katzbuckeln, für die er sich zu
entschädigen hatte. Recht hatte er, Leota hätte ebensogut
gleich Ja sagen können. »Erstmal war ich gerade lang
genug in Caer Diruree, um zu wissen, was in Koristan passiert ist -
daß da aus dem Nichts ein sehr junges Engelskind aufgetaucht
ist und die alte Familie Korisanders nichts mehr zählt. Und
zum anderen, wie gesagt - ich kenne Varyn. nd wenn ein Engel aus
dem Himmel fällt und dabei auf dem Kopf landet, dann
müßte so etwas wie Varyn dabei rauskommen.«
Und jetzt, endlich, schmunzelte Leota.
»Darf es noch etwas sein, die Herrschaften?« Schon
streckte die Wirtin ihren Kopf durch den Vorhang, schon schob sie
den drallen Rest hinterher. Dannen knurrte leise. Nicht nur,
daß man Mendrion durch den dünnen Vorhanf wohl in der
halben Schankstube hatte hören kommen - jetzt waren sie bei
der Wirtin schon bei Herrschaften angekommen!
»Danke, wir sind zufrieden«, sagte Leota schnell.
»Alles bestens. Wir melden uns schon, wenn wir etwas
wollen.«
Aber das bezog die Frau wohl nur auf sie selbst. »Und die
Herren? Noch ein Bier? Nachschlag vom Eintopf? Stück Fleisch
dabei?«
Dannen schüttelte den Kopf. »Danke, wir sind soweit
fertig. Wir wollten gerade aufbrechen.« Selbst wenn er jetzt
Leota schon wieder um ihre Befehlsgewalt gebracht hatte - es ging
nicht anders. Sich unterhalten konnten sie auch unterwegs. Am
besten da, wo so wenig Leute wie möglich waren, um ihnen
zuzuhören. Und reden sollten sie wirklich, und nicht nur
über das Wetter.
Mendrion hatte Recht, Recht mit Koristan, und Recht mit seinen
Sorgen. Und je mehr er jetzt über diesen Jungen erzählte,
desto mehr Grund hatten Dannen und Leota, ihm nicht zu sagen, was
dieser Name bedeutete. Varyn. Ich bin. Und Varyniel. Ich
bin der Oberste.
Dannen glaubte nicht an Vigilander. Das war kein Geheimnis, es war
schon ein paarmal aus ihm rausgerutscht, im Suff oder nüchtern
- ernst nahm das kaum jemand, warum sollte Dannen nicht an einen
glauben, dessen Blut in seinen eigenen Adern floß? Dann
grinste Dannen und meinte, nach allem was er wüßte,
hatte Vigilander nicht sein Blut in diese Frau
gespritzt… Aber die Wahrheit war ganz schlicht: Dannen fand
es deutlich einfacher, an etwas nicht zu glauben, als an etwas zu
glauben. An Vigilander. Das Glück. Die Liebe. Seinen Vater.
Den Krieg. Und seit neuestem auch an Varyn.
Es klang wie etwas, das der König in die Welt setzte. Konnte
man nicht eine Soldliste ebenso leicht fälschen wie einen
Brief, wenn nicht noch einfacher? Dann einen leicht zu kaufenden
Hauptmann nehmen, der sich ködern ließ mit Ruhm, Ehre,
oder Töchtern, und der ein ehrliches Gesicht machte, wenn er
die Geschichte erzählte, die der König ihm eingepflanzt
hatte… Oh, das lag so nahe!
Mit jedem Tag, den sie unterwegs waren, ärgerte sich Dannen
mehr denn jemals, auf diesen Mist hereingefallen zu sein, die
Geschichte ernst genommen zu haben, statt die Falle als Falle und
die Fälschung als Fälschung zu erkennen. So ein
gerissener Plan, um Dannen aus dem Weg zu halten und Leota aus dem
Krieg… Aber es war zuviel. Mendrion redete zuviel, das war
der Fehler. Der König konnte ihm in der kurzen Zeit keine
allzu umfangreiche Geschichte mitgegeben haben, jetzt war es am
Hauptmann, sie auszuschmücken. Und auszuschmücken. Und
auszuschmücken. Bis wirklich nichts an der Geschichte mehr
glaubwürdig war. Wenn es nach Mendrion ging, war Varyn stark
wie ein persönlicher Sohn Lorimanders, dazu klug, trinkfest,
und so bescheuert, daß er nie und ninmer groß geworden
wäre, weil man ihn in Wirklichkeit schon längst
erschlagen hätte. Typisch für den König - sich nicht
auf einen Elomaran festlegen mögen, damit er nicht zu schnell
aufflog! Aber irgendwann war es einfach zuviel. Und mit jeder
Geschichte, die Mendrion ihnen nun aufzutischen versuchte,
mußte Dannen die Augen gen Himmel drehen und denken
‘Geh, hör auf, du redest dich um Kopf und
Kragen!’
Außer um Leota, vielleicht. Die hörte sich alles an,
sehr, sehr geduldig und immer interessiert. Aber sie wußte
nichts von dem gefälschten Krieg. Oder sie brauchte eine
Ausrede, um Mendrion reden zu hören, hatte Gefallen gefunden
an seinem blonden Bart und den blitzenden Augen und dem kühnen
Gehabe…
Dannen schüttelte den Kopf. Varyn. Was für ein Name!
Varyniel. Ein toller Köder. Niemand würde in
Wirklichkeit so heißen. Aber wenn Dannen mal einen Sohn
bekommen würde, konnte er ihn ja Varyn nennen… Und
damit war der Gedanke an Hana wieder da, und an das Kind, das
seines sein sollte, wenn er nur das Rechte getan hätte an
jenem Tag, als er durch den Regen ritt, um Hana die Wahrheit zu
offenbaren - und Dannen fluchte, und er wünschte sich, er
könne an Varyn glauben, und an Vigilander, und an den ganzen
Rest. Und seine Laune war wieder da, wo sie sich offenbar heimisch
fühlte: Tief, tief unten im Keller.
Aber eines mußte er Mendrion wirklich lassen: Wenn Varyn ich
auch von Tag zu Tag weiterentwickelte und wuchs wie ein
prachtvoller Hirsch, dessen Geweih mit jeder Erzählung mehr
Enden bekam, hielt der Hauptmann sich doch bei dem Weg, den er sie
nehmen ließ, dicht an die Wirklichkeit. Sie nahmen genau die
Strecke, die Mendrion mit seinen Rekruten zurückgelegt hatte -
und mit einer Art böser Vorfreude wartete Dannen auf den Tag,
wo sie im hinterletzten Bergdorf ankamen, kein Mensch jemals von
einem Varyn gehört hatte und Mendrion die ganze Lüge
eingestehen musste - und darauf, wie Leota diesen armen Mann dann
zu Hackfleisch verarbeiten würde.
Dannen sollte es recht sein. Immer noch besser hier unterwegs als
in einem falschen Krieg - wenn nicht… wenn nicht die Beweise
dafür, daß Mendrion diesen Weg mit seinen Rekruten
genommen hatte, allzu unangenehm gewesen wären. Denn egal, ob
die Leute in den Gaststätten nun Dannen und Leota erkannten -
an diesen Hauptmann erinnerten sie sich. Und offenbar nicht gerade
mit Freude.
Wirte konnten schmerzlich direkt sein. »Sagt, seid Ihr nicht
der Hauptmann, der vor ein paar Wochen hier durchgekommen
ist?«
Da konnte Mendrion noch so vehement den Kopf schütteln
können - Schwerter und vor allem Rüstungen verrieten sie.
Und so konnte der Wirt um so lauter fortfahren: »Und der uns
mit seinen Männern alle Haare vom Kopf gefressen hat.«
Und dann, noch lauter: »Und dann weitergezogen ist -«
Und, wie um ein ganzes Schlachtfeld zu beschallen: »ohne zu
bezahlen!«
Bevor Mendrion noch irgendwas sagen konnte, schnaubte Leota den
Wirt an: »Euer König ist da draußen im Feindesland
bereit, sein Leben für Euch zu geben - und Ihr sorgt Euch um
ein paar Goldstücke, um ein paar Fässer Bier?«
Dannen sagte lieber nichts. Es wäre klüger gewesen, dem
Wirt einen Beutel voll Silber zu geben und es gut sein zu lassen -
das reichte dann wohl für Mendrions Leute ebenso wie für
ein paar gute Zimmer und anständige Mahlzeiten jetzt - aber
das Silber war im Krieg. Und was sie drei selbst an Geld
dabeihatten, sollte für sie reichen - aber nicht
rückwirkend für Mendrions verfressene Mannen.
»Oh, ich tue nur meine Pflicht, ganz so wie ihr«, sagte
der Wirt, leiser und mit versöhnlichem Tonfall und einem
drohenden Funkeln in den Augen. »Ich weiß, daß
die Pflicht schmerzen kann und wenig Vergnügen bereiten. Aber
wir alle müssen Opfer bringen.«
Dannen schluckte. Er ahnte, was nun kommen würde, und so kaum
es dann auch: »Das Bier ist leider aus.«
Natürlich, es war ja schon in den Krügen der anderen
Gäste. Und das Fleisch war auch aus. Und die guten Zimmer. So
gab es dann also Dünnbier, eine so schale Brühe, als
hätte des Wirtes Großvater sie vor dem fünftletzten
Krieg eingelagert, und dünne Suppe, die offenbar aus diesem
Bier gekocht wurde, und einen Schlafsaal, in dem sie dann
wenigstens die einzigen Gäste waren. Denn so sehr sich die
Wirte von Vigilanders Gnaden die perfekte Rache auch
herbeiwünschen mochten: Sie war ein kostbares Gut und wurde
nur selbst gewährt.
»Wir geben euch extra einen Koch mit«, murrte Dannen
mit knurrendem Magen, »damit ihr genau eine Sache nicht tut,
nämlich unsere Wirte kahlfressen und leersaufen. Wir geben
euch säckeweise Hafer mit - glaub bloß nicht, der
wär für die Pferde! Grütze ist gut für
Vigilanders Männer.«
»Ich weiß«, erwiderte Leota trocken. »Und
dieser Wirt weiß das offenbar auch.« Oh, sie war
zornig. Mendrion sollte sich in Acht nehmen vor Leotas Rache. Und
davor, daß sie bei erster Gelegenheit alles dem Vater
verraten würde. Das gab dann erst mal keinen Orden für
den Hauptmann. Und erst recht keinen Ehebund.
Wenigstens versuchte Mendrion nicht, sich zu entschuldigen.
»Es ging immer um die Moral der Truppe«, sagte er nur.
»Ihr habt mir kein Geld für Moral gegeben, aber ihr
erwartet sie.«
Dann schwieg er. An diesem Abend hatten sie sich nicht viel zu
sagen. Wenn es hier wirklich um Moral ging, so war es zumindest um
Dannens schlecht bestellt. Und ebenso schlecht um den zerlegenen
alten Strohsack, den ihn der Wirt als Matratze haben ließ.
Dannen hatte genug.
»Mir ist egal, was ihr jetzt sagt«, erklärte er am
anderen Morgen, als er sich so garstig und zerschlagen fühlte,
daß ihm rückwirkend ein halbes Faß Bier dafür
zustand. »Aber ich zieh die Rüstung heute nicht mehr an,
und morgen auch nicht, und wenn ihr’s doch tun wollt, kenn
ich euch nicht mehr.«
Leota schaute ihn wortlos an. Sie sah nicht viel besser aus, als er
sich fühlte, mit verquollenem Gesicht und wirrem Haar. Aber
Dannen hatte sie auch noch nie direkt nach dem Aufwaschen gesehen,
müde, ungewaschen und wenig königlich. Sie gähnte
herzhaft. Dann schnaubte sie. »Wenn du glaubst, das
reicht?«
»Ich weiß es zumindest besser, als hier noch
länger den Mann des Königs rauskehren zu wollen. Ich will
mein Bier und mein Bett.« Und zwar am besten beides, und zwar
sofort.
»Nur weil wir einmal Pech hatten?« fragte Mendrion. Er
war früher aufgestanden, hatte sich schon draußen an der
Pumpe gewaschen und sah entsprechend besser aus. »Das war
jetzt einmal ein Wirt, der sich zufällig an mein Gesicht
erinnert, und es tut mir leid. Aber heute und die nächsten
Tage kommen wir nur durch Orte, da haben wir ordentlich im Zelt
übernachtet, und kein Wirt hat uns gesehen.«
»Es sei denn«, sagte Leota, und Dannen war froh,
daß sie ihn verstand, »Ihr habt seinen Sohn
mitgenommen. Oder seinen Bruder. Oder den Wirt selbst - dann will
ich nicht Ihr sein, wenn seine Frau am Zapfhahn steht.«
Mendrion hatte schon sein Gambeson angezogen, und er schien nicht
wild darauf, das jetzt wieder auszuziehen. So sagte er: »Was
wollt ihr mir sagen - daß man uns besser behandeln wird, wenn
man nicht weiß, wer wir sind?«
Dannen bleckte die Zähne. »Schlimm, nicht?«
»Ja!« sagte Mendrion. »Ja, das ist schlimm! Ihr
müßtet euch schämen! Da ziehen Kinder in den Krieg,
um für euch zu kämpfen, und ihr -«
»Nicht für mich!« fiel Dannen ihm schroff ins
Wort. »Für meinen Vater.«
Und Leota sagte: »Und ja, ich schäme mich, daß ich
nicht da sein kann wo sie sind - und wir kommen durch halbleere
Dörfer, und ich muß den Müttern in die Augen
sehen…« Sie schüttelte den Kopf. Wirklich, sie
sah nicht gut aus, und Dannen hätte sie fast in den Arm
genommen - aber es hätte an diesem Kummer nicht geändert,
und abgesehen davon wollte sie es nicht, so oder so.
»Es ist eure Sache«, sagte Mendrion und machte
Anstalten, nach seinem Hüftpanzer greifen zu wollen, doch den
trat Dannen fort, daß er quer durch den Schlafsaal rutschte.
»Ich zwinge euch nicht in Rüstungen.«
»Und ich sag, zieh deine an, und ich kenne dich nicht
mehr.« In Dannen Fäusten juckte der Wunsch, sich zu
prügeln.
»Aber was soll’s ändern?« fragte Mendrion
weiter. »So oder so, ihr bleibt Engelsgeborene, und die Leute
werden euch erkennen.«
Doch da hatte Dannen ihn durchschaut. »Ha!« sagte er.
»Jetzt hab ich dich!« Er nahm dem Mann auch noch den
Brustharnisch weg. »Du glaubst, du bist ein Hauptmann,
solange du gerüstet bist, und sonst nicht mehr als jeder
andere Hinz und Kunz! Neidisch bist du!« Und dann, zu Leota
noch mal: »Neidisch ist er, stell dir das vor! Neidisch auf
mich?« Er packte Mendrion bei den Schultern und zog ihn so
nah an sich heran, daß sich ihre Bärte fast ineinander
verkeilten. »Paß auf, da gibt es nichts zu beneiden.
Und es wird uns kein Schwein erkennen, schon allein -« Er
ließ Mendrion los und stieß ihn zurück, um sich
wieder Leota zuzuwenden - »weil uns jeder Mensch im Krieg
glaubt. Zusammmen mit all den braven Kindern dieser
Dörfer.«
»Zieht die Rüstung aus, Mendrion«, sagte Leota -
aber nicht mit dem Tonfall, auf den Mendrion vielleicht noch immer
wartete. »Es gibt hier nichts für uns zu kämpfen.
Und ich will nicht, daß die Leute Fragen stellen, was wir
hier zu suchen haben.«
Dannen erinnerte sich, dieses Argument schon am Tag des Aufbruchs
aufgebraucht zu haben, aber aus dem Mund seiner Schwester war es
zumindest nicht vergessen, und es konnte ihm recht sein.
Mendrion seufzte kurz und gehorchte. Dabei sollte er froh sein, so
wie man unter dem starren Leder und dem warmen Polster darunter
schwitzte und stank, wenn man wieder herauskam, sollte es ihm so
sicher leichter fallen, sich am Abend ein Mädchen zu suchen.
Dannen zumindest freute sich schon alle, die nun kommen
sollten…
Und selbst wenn nicht, war die Reise von diesem Tag an viel
entspannter, sorgloser, und fast schon angenehm zu nennen.
Sie ritten auf schwarzen Pferden, und an ihren Seiten trugen sie
Schwerter. Und sie waren immer noch zu dritt, aber was für ein
Unterschied: Sie sahen jetzt aus wie Menschen. Jäger
vielleicht. Oder Kaufleute. Oder Steuereintreiber. Oder wen auch
immer es hierher verschlagen sollte, tief in die Berge, an den
Arsch der Welt. Und das konnten sie wörtlich sagen, denn hier
lagen die einzigen nennenswerten Reichtümer Doubladirs: Erz
und Kohle. Vor allem Kohle. Die Leute hier draußen
mußten das nicht unbedingt wissen, aber im königlichen
Haus nannte man Kohle ‘die Scheiße der Engel’.
Sie war hier überall, schon immer, man konnte nicht viel damit
anfangen, bis irgendwer mal merkte, daß sie ganz gut brannte
- und wenn man so Scheiße zu Gold machen konnte, war das gut.
So war und blieb Doubladir das einzige Land, das seinen Schatz
verheizte. Und natürlich, ein Teil davon wurde auch ins
Ausland verkauft. Das meiste davon nach Loringaril. Außer
jetzt, natürlich. So ein Krieg machte doppelt arm.
Aber hier draußen mußte man sich darüber nicht
ärgern. Hier war niemand, der irgendwie reich aussah. Selbst
die Berge waren arm. Kahl und grau - hier ein wenig Farn, dort ein
wenig Moos, etwas buschiges Gras, und die unansehnlichen struppigen
Überreste von dem Zeug, das im Frühsommer als Heidekraut
noch ganz nett anzusehen war. Dannen, der überlegt hatte, in
diesen Bergen auf die Jagd zu gehen, verwarf den Gedanken wieder.
Viel mehr als ein Kaninchen würde er hier nicht bekommen. Aber
falls die Zeit es erlaubte - und das würde sie sicher - wollte
Dannen in diesen Bergen wandern, um auf der anderen Seite das Meer
zu sehen. Das Meer mußte nah sein, hier am Ende der Welt. Und
sein Anblick mußte es wert sein, Gipfel über Gipfel zu
überqueren. Diese Berge waren karg und schroff. Und Dannen
mußte zugeben, daß sie ihm wirklich gut gefielen.
»Und ich hatte gehofft, dieses Nest nie wieder sehen zu
müssen«, sagte Mendrion leicht gequält, als sie auf
einer schmalen Straße zwischen Fluß und Bergen auf das
langersehnte Dorf zuritten.
»Ich mag es hier«, erwiderte Dannen. »Und so
schön weit weg vom Krieg.« Es ging ihm wirklich von Tag
zu Tag besser, aber erst jetzt hatte er begonnen, das auch zu
begreifen. Alles war so schön weit weg. Krieg, Vater, Bruder,
Hana, Geheimnisse. Nichts mehr, was Dannen davon abgehalten
hätte, sich jung, gesund und vergnügt zu fühlen.
Diese Strafe war eigentlich das Beste, was ihm hatte passieren
können. Das, und die Verheißung des Meeres hinter den
Bergen… »Komm, Mendrion, jetzt ist die letzte
Gelegenheit, es zuzugeben. Deinen Varyn gibt es gar nicht, Vater
und du habt ihn euch ausgedacht. Kannst es ruhig gestehen. Ich bin
dir nicht böse, im Gegenteil.« So eine Hütte in den
Bergen, das war doch eigentlich perfekt. Bergsteigen, Kaninchen
beizen, keine Bücher führen müssen… Dannen
streckte sich zufrieden.
»Ach, red keinen Unsinn, Dannen.« Leota mochte weniger
angespannt sein, seit sie ihre Rüstung abgelegt hatte, doch
die Gebirgsluft schien ihrer Laune nicht wirklich gutzutun.
»Der Junge existiert, wir sammeln ihn ein und bringen ihn
nach Car Diuree, und dann -«
Vor ihnen lag das Dorf. Es klebte am Berg wie Mehltau, es nutzte
aus, was es an Tal gab, aber viel konnte das nicht sein. Ein paar
Dutzend Häuser, grau wie der Fels der Berge, mit grauen
Wänden und grauen Dächern, und alles so düster und
trostlos, daß es einem ganz warm ums Herz werden konnte.
Wirklich der letzte, der allerallerletzte Ort, an dem man einen
Engel erwarten sollte. Dafür aber bestimmt der Erste, wo einer
gebraucht wurde.
»Sagt, Mendrion«, setzte Leota neu an, ohne ihren Satz
von vorher zuende zu sprechen, »glaubt Ihr, Euer Varyn ist
beliebt in diesem Dorf?«
»Ach, sicher nicht«, erwiderte Mendrion.
»Außer bei seiner Familie, denk ich mal, nach dem, was
sein Bruder erzählt hat.«
»Und diese Familie«, fragte Leota weiter, »ist
die groß?«
Der Hauptmann zuckte die Schultern. »Was weiß ich -
vielleicht so groß wie eure, keine Ahnung.«
»Dann«, sagte Leota, »sollten wir hier eine kurze
Pause machen und an windgeschützter Stelle die Rüstungen
wieder anlegen. Ich weiß nicht, wie diese Bergleute
reagieren, wenn wir kommen und ihren Sohn abführen, aber sie
werden nicht begeistert sein. Wir müssen mit einem Kampf
rechnen.«
»Und wenn der Junge gar nicht hier ist?« Dannen gab die
Hoffnung nicht auf. Und verfluchte sich dafür, die verdammte
Rüstung nicht irgendwo unterwegs in den Fluß geworfen zu
haben. Am besten gleich alle drei! Und vielleicht noch Leota
hinterher…
»Dann warten wir hier auf ihn«, sagte
Leota.»Früher oder später wird er wohl heimkehren.
Und wir reden mit den Leuten. Alles was sie wissen hilft uns
weiter.«
Dannen zuckte die Schultern. »Warten klingt immer gut.«
Und ließ ihm sicher Zeit zum Wandern. »Aber dafür
brauchen wir keine Rüstungen. Lassen wir sie doch denken, wir
kommen in Frieden. Allemal besser.«
»Es ist Hohn, in Zeiten wie diesen vom Frieden zu sprechen,
vor Leuten, die ihre Kinder -«
Doch dieses Mal war es Mendrion, dessen Räuspern Leotas
Predigt stoppte. Wirklich, Dannen wünschte sich, die beiden
wären doch in der letzten Woche irgendwo miteinander im Bett
gelandet, dann hätte dieses arme Frau jetzt wenigstens ein
anderes Thema, über das sie sich aufregen konnte! »Hier
nicht«, sagte Mendrion, nachdem er sich ausgeräuspert
hatte. »Dieses verfluchte Dorf hat genau zwei Kinder an den
Krieg verloren - und der Krieg hat sie am Ende an dieses Dorf
zurückverloren, so daß man uns hier nichts vorwerfen
kann.«
»Hm«, sagte Leota. »Sofern sie tatsächlich
wieder hier sind.«
Aber dieses Hin-und-Her-Überlegen wurde Dannen dann doch zu
bunt. Er war nicht Tag um Tag auf müden Hinterbacken geritten,
nur um sich dann so kurz vor dem Ziel in endlosen Diskussionen zu
verlieren. »Bleibt für mich nur noch eine Frage
übrig«, fiel er den beiden ins Wort. »Mendrion,
hast du vielleicht auch hier einen Wirt geprellt?«
Und als Mendrion nickte, vielleicht ein wenig schuldbewußt,
wurde es Dannen ganz leicht ums Herz. Oder zumindest um die Stelle,
wo er seine Börse sitzen hatte. Geld war ein guter
Türöffner. Und von ihm aus konnte es jetzt auf in dieses
Dorf-mit-dem-viel-zu-langen-Namen gehen.
Ja, das Dorf. Aus der Nähe merkte man, daß der erste
Augenschein trog. Es zog sich weiter ins Tal hinein, als Dannen
gedacht hatte. Hier war nicht der Hund begraben: Hier wurde er
geröstet. Geschmolzen. Geschmiedet. Wenn es hier auch
friedliche Schweine- und Ziegenhirten geben mochte, die richtigen
Männer in diesem Dorf waren damit beschäftigt, die
dunkeln Wolken aus dem Tal qualmen zu lassen: Aus den Schornsteinen
von etwas, das Dannen sofort als eine große Schmiede
identifizierte. Und einem noch viel größeren
steingemauerten Gebäude, in dem wohl Erz geschmolzen wurde.
Über allem lag ein geschäftiges Hämmern und
Dröhnen. Und niemand saß auf seiner Türschwelle und
kaute auf einem Grashalm herum - so, wie das Gras hier aussah,
wollte das sicher auch niemand. Es hatte so einen mattgrauen
Schimmer, daß Dannen alle Gewalt daransetzte, Horalon am
Grasen zu hindern. Er wußte nicht, was passierte, wenn ein
Pferd Kohle fraß.
»Eine Feststellung«, sagte Dannen leise. »Ich
sehe hier niemanden, auf den deine Beschreibung von Varyn passen
wollte - aber ich ahne, daß man uns gleich mit
Steinwürfen empfangen wird.«
Denn in diesem Moment hatte er einen mächtigen Haufen
Bruchsteine erspäht, im Schatten des Bergs und in der
Nähe dreier dunkler Löcher im Fels, die den Eingang zum
Bergwerk darstellten. Die Bergleute warfen das achtlos fort und
interessierten sich nur noch für ihre Kohle oder ihr Erz -
aber Dannen, durch dessen Adern immer noch Vigilanders Blut
höchstpersönlich floß, sah einen großen
Haufen wirklich billiger Munition. Ein paar Wagen davon an die
Front schaffen - Katapult beladen - und dann regnete es Schotter
auf Lorimanders Truppen. Tötete nicht, aber Beulen und
Prellungen konnten diesen ungerüsteten Bauern schon weh
tun…
Dannens Lächeln erstarb. Es gefiel ihm nicht, hier
draußen schon wieder an den Krieg zu denken. Aber er
wußte, angesichts der Kohle, des Erzes und der Schmiede, in
der keine Hufeisen geschmiedet wurden: Hier wurde er gemacht.
»Erst mal zum Gasthaus«, sagte Mendrion, als hätte
er Dannens Gedanken gelesen - aber wenn ein vergnügter Mensch
plötzlich finster dreinblickte, war das nicht weiter schwer.
»Der Wirt war ein alter Brummbär, aber ich erinnere
mich, daß er eine ganz nette Tochter hatte.«
Leota schüttelte den Kopf. »Mich interessieren weder
Wirte noch ihre Töchter. Kümmert Euch nur allein um
unsere Unterbringung, Mendrion - und zahlt Eure Zeche - mein Bruder
und ich werden derweil der Familie des Jungen einen Besuch
abstatten. Wenn er nicht schon gewarnt ist.«
Gewarnt hin oder her es gab nur einen Weg aus dem Tal hinaus, und
sie hatten mit Sicherheit die besseren Pferde - da sollte doch Zeit
für ein Bier bleiben, nur ein kleines!
Mendrion sprang ein, bevor Dannen sich mit seiner Schwester anlegen
mußte. »Es ist noch Tag, da werden die Männer alle
im Berg sein.«
Das doch wirkte nicht bei Leota. Sie schnaubte und verdrehte die
Augen, verzweifelt, welche Gesellschaft man ihr da zumutete.
»Männer haben Frauen«, sagte sie. »Und wenn
nicht Frauen, dann Mütter. Wo also immer dieses Haus
ist« - nun ließ sie ihren Blick abschätzend
über Berg und Dorf gleiten, bis Mendrion auf ein Haus im
Schatten der Felsen deutete - »jemand wir dort sein. Und mit
der werde ich reden.« Ich war gut. Für
‘ich’ brauchte sie ja nicht - »Dannen, du kommst
mit mir!«
Erst, als er ein ganzes Stück weit mürrisch hinter seiner
Schwester hergestapft war, ging Dannen auf, was für eine
Situation das gerade war: Zum ersten Mal seit dem Aufbruch war er
jetzt wirklich mit Leota allein, ohne Mendrion oder die Gefahr,
daß er jeden Augenblick hereinplatzen konnte. Gut, die
letzten Tage über hatte ihn die schlechte Stimmung seiner
Schwester davon abgehalten, solch einen Moment zum Gespräch
ernsthaft zu suchen, aber wo es gerade soweit war… Und da
drehte sich Leota auch schon zu ihm um, und lächelte.
»Hana rechnet dir das übrigens hoch an«, sagte
sie. »Daß du sie in Ruhe läßt und ihr nicht
mehr nachstellst. Sie weiß, daß es im Moment schwer
für dich ist.«
Dannen schüttelte den Kopf. »Ich bin drüber
weg.« Was nicht stimmte. Nur weil er die Gelegenheit genutzt
hatte, eine Weile nicht an sie zu denken, hieß das nicht,
daß sie ihm nichts mehr bedeutete. Oder daß es nicht
mehr wehtat. »Ich will nicht über sie sprechen, erst
recht nicht jetzt.« Warum konnte sie mit Leota so einfach
befreundet sein, und nicht mit ihm?
Dannen schluckte heftig und sagte dann rundheraus: »Mich
würde interessieren, was du über Varyn denkst. Wir haben
nie über die Dinge gesprochen, die Mendrion nicht zu wissen
braucht.«
Leota blickte sich nach den Seiten um. »Welche
Dinge?«
»Sein Name. Var yn.« Es war niemand da, um sie
zu belauschen. »Zwei Wörter. Ich bin.«
»Ach, das!« Leota winkte ab. »Ich dachte, das
wäre klar!«
»Mir nicht«, erwiderte Dannen und fühlte sich dumm
und ausgestoßen.
»Ha! Das erklärt deine unnötig überragende
Laune!« Leota schnaubte. »Und du hast dich nicht
gewundert, daß ich so schlechtes Wetter verbreite?«
»Du hast keinen Augenblick ausgelassen, um den Krieg zu
bejammern, der dir entgeht.«
»Das habe ich doch nur gemacht, damit dein Freund keine
Fragen stellt.« Die beiden starrten einander an, als wisse
keiner von ihnen, wer nun das größere Recht hatte,
enttäuscht zu sein. »Und ich dachte, du kennst mich
besser!«
Dannen rieb sich die Stirn. »Ehrlich, ich kenne zur Zeit noch
nicht mal mich selbst richtig.« War das noch der Weg, den
Mendrion ihnen beschrieben hatte, oder wählte Leota mit
Absicht einen Umweg, um sich besser und länger unterhalten zu
können? Nötig war es ja wohl allemal! »Und was ist
jetzt, warum bist du so stinkig?«
»Wegen was wohl? Wegen Vater! Ich dachte, du weißt es
längst - er hat dir ein Geheimnis anvertraut, soviel ist
bekannt, daraufhin läßt du dir einen Bart wachsen und
hörst auf zu saufen und rumzuhuren - also komm, du weit
es!«
Dannen mußte stur bleiben. Selbst wenn sie es auch
wußte, er durfte sich nicht offenbaren. Es war ja immer noch
möglich, daß ihr Vater mehrere Geheimnisse an seine
Kinder verteilt hatte. »So? Was hat er dir denn
gesagt?«
»Mir? Gesagt?« Leota spuckte aus - hier durfte sie das,
sah ja keiner. »Mit mir führt er doch keine solchen
Gespräche von Mann zu Mann! Nein, mir kommt er nur mit
‘Zukunft der Familie’ und ‘Sicherheit des Hauses
Vigilanders’, und dann darf ich ihm die Kastanien aus dem
Feuer holen! Nur weil der alte Bock -«
»Weil der alte Bock was?« fragte Dannen.
»Jetzt tu nicht mehr so, bitte!« fauchte Leota.
»Plötzlich taucht aus dem Nichts ein Knabe auf mit
engelsgleichen Kräften, einem Namen auf Elomond, und Vater ist
ganz wild darauf, ihn möglichst unversehrt in seine Burg zu
bekommen?«
»Na ja«, sagte Dannen. »Ich sage mir ja auch,
besser hier bei uns, als wenn der nachher in Loringaril gelandet
wäre! Darum verstehe ich auch diese ganze
Weltuntergangsstimmung nicht.«
Leota starrte ihn an wie einen Schwachsinnigen. »Du verstehst
offenbar wirklich einiges nicht«, sagte sie dann leise.
»Dieser Varyn, irgendwo muß er hergekommen sein. Den
Namen hat er sich ja wohl nicht selbst gegeben. Ich bin der
Oberste - klingt das nicht nach einem Vater, der voll Stolz
fast platzt, daß seine Lenden noch soviel Kraft
besitzen?«
»Nein!« entfuhr es Dannen. »Du meinst jetzt nicht
-«
»Natürlich meine ich!« Leota lachte kurz,
böse und triumphierend. »Der Herr der Bastarde hat
wieder einmal zugeschlagen. Und wir sind um einen Bruder reicher.
Mal wieder.«
»Nein«, sagte Dannen noch einmal, leiser und
unüberzeugter. Wenn der Junge jetzt, wie Mendrion meinte,
fünfzehn oder sechzehn Jahre als war, dann war er gezeugt
worden, nachdem Dannens Mutter die Familie verlassen hatte. Jaro
war fort, Rul aus den Windeln raus - Zeit für den König,
noch einmal zu beweisen, was er noch konnte? Er war oft genug lange
weg - auf der Jagd, wie er sagte… Dannen hörte ihn noch
genau: Und ich sage, es wird keine weiteren Bastarde geben, aber
dieser Junge hier ist mein Sohn, und er wird leben…
Er würde den Tag nicht vergessen, niemals. Seit dem Tag
haßte Dannen seinen Vater. Der Tag, an dem er Rache
geschworen hatte, ein Junge von fünf oder sechs Jahren,
geschworen, die Familienehre wieder herzustellen, eines
Tages… Und Leota, die irgendwann damit herausrückte,
daß sie am selben Tag, am Tag als Mutter ging, auch einen
Schwur geleistet hatte, den Schwur, ihre Mutter zu
rächen… Und jetzt sie beide, ausgerechnet, hier
draußen, um den nächsten Bastard freudestrahlend in
Empfang zu nehmen? War das Absicht oder Hohn oder nur der Beweis,
daß Vigilander sie haßte?
»Gehen wir«, sagte Varyn. »Wir wissen es nicht,
eh wir ihn nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Vorher
aber… Ach, gehen wir einfach.«
Hin zu diesem kleinen Steinhaus am Fuß des Kohlenberges, wo
ein Junge gelebt hatte, dessen Name Ich bin lautete.
Und so traf Dannen auf die Mutter des Jungen, den es nicht gab. Und
daß sie dann nicht seine Mutter war, tröstete ihn auch
nicht wirklich über das Hinweg, was der Bursche alles sein
mochte. So fiel sein hübsches Luftschloß nun
endgültig in sich zusammen, verschwand in einer Wolke aus
Rauch und grauem Staub.
Aber eine Tatsache gab es, geeignet, um Dannen wieder
versöhnlich zu stimmen: Selbst wenn es Varyn gab - selbst wenn
alles wahr war, was Mendrion über ihn erzählt hatte oder
Leota über ihn vermutete: Er war nicht in diesem Haus, diesem
Berg, diesem Dorf, diesem Tal. Nicht jetzt, jedenfalls. Nicht seit
Monaten. Nicht, seit er mit den Soldaten gezogen war.
»Gut«, sagte Leota. »Gut. Dann bleiben
wir.«
Und Dannen sah nicht die leiseste Veranlassung, ihr da zu
widersprechen.
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