Dies war Sharaz.
Fast war es wie in
einem Traum. Und das allein war schon merkwürdig genug, denn in
Varyns Leben gab es kein fast, nicht im Traum und nicht im
Wachen: Alles war ganz, alles war absolut, und nichts war wirklich.
Hier war es umgekehrt: Es war wirklich, und es war fast. Vielleicht
lag es daran, daß Gaven bei ihm war. Ohne Gaven wäre ganz
Traum gewesen, aber mit ihm fühlte er sich sicher.
Dies war Sharaz. Dies
war das Land der Steine, und der Steine, und der Steine.
In Varyns Traum hatte
der Ort ihn an eine Kohlenhalde erinnert, und tatsächlich war es
eine Halde, nur Kohle hatte man hier niemals abgebaut. Es gab hier
keine Kohle. Es gab hier nichts mehr außer Steinen, Steinen,
Steinen. Aber früher - so lange früher, daß niemand
mehr lebte, der auch nur jemanden gekannt hatte, der sich noch an
diese Zeit erinnern konnte - hatte man hier Schiefer abgebaut.
Dunkelgrauen Schiefer, mit dem Dächer im ganzen Land gedeckt,
mit dem Häuser verschindelt wurden, mit dem… Nein, Varyn
und auch Gaven sahen beide keinen Sinn im Schieferbergbau. Schiefer
war zu nichts wirklich gut. Kohle, die konnte brennen, so heiß,
wie es nur Kohle konnte. Aber Schiefer? Dächer konnte man auch
mit Holz decken oder mit Reet, Häuser mit Lehm verputzen -
niemand brauchte Schiefer. Und doch waren hier die Halden von
jahrhundertelangem Schieferabbau, so hoch und so breit wie die Berge
daheim - nur die Halden! Wieviel Schiefer mußten sie hier aus
dem Fels geholt haben, daß die Halden selbst zu Bergen wurden?
Wie viele Bergleute? Wie viele hundert Jahre? Varyn starrte die
Steine an. Und er konnte nicht anders, als sich klein und hilflos zu
fühlen.
»Weißt du,
was ich mich frage?« Es war gut, daß Gaven da war. Ohne
Gaven wäre Varyn niemals bis hier gekommen. Und ohne Gaven wäre
er jetzt wohl davongerannt. »Ich frage mich, wo ihre Berge
hingekommen sind. Die richtigen, meine ich. Die vor den Halden da
waren. Die, wo sie den Schiefer rausgeholt haben.«
Varyn dachte nach,
schütze seine Augen mit der Hand gegen das malmende Grau. Das
mußte er beantworten können! Er war doch immer berühmt
im Tal, daß er jede Frage beantworten konnte! »Ich
glaube, sie sind unter dem Geröll verschwunden«, sagte er
schließlich. Aber er war sich nicht sicher.
Diese Steine schienen
einfach alles unter sich begraben zu wollen. Ihr stumpfes Grau
wucherte, wie Moosflechte, wie ein Ausschlag. Wieviel Welt es wohl
noch verschlingen würde, wenn man es ließ? Wie lange, bis
die es nichts mehr gab es ein Meer von schartigen grauen Steinen?
»Unsere zuhause
ist nicht mal halb mal halb mal halb so hoch«, sagte Gaven, der
mit seinen Zahlen zu schnell am Ende war. Er hätte noch viel
öfter halb sagen können, ohne zu lügen.
Varyn gab ihm einen
Klaps. »Ja, weil du immer so ein fauler Hund warst! Hättest
du schnell geräumt, wie ich gehauen hab - wir hätten so
eine Prachthalde mirnichts-dirnichts.«
Dann lachten sie beide,
nicht nur, weil sie so ein Haldenmeer gar nicht haben wollten,
sondern vor allem, um die Luft mit Geräusch zu füllen.
Damit man die Steine nicht mehr hörte. Damit die Steine still
waren, oder zumindest übertönt. Steine sollten schweigen.
Da, wo die beiden
Jungen herkamen, gab es nichts stilleres als Stein. Die erdrückende
Stille im Toten Mann - plötzlich wünschte Varyn, er hätte
etwas davon mitbringen können. Die Steine hier schwiegen nicht.
Sie flüsterten. Sie murmelten. Sie brummten. Vielleicht taten
das alle Steine, so leise, daß kein menschliches Ohr das
wahrnehmen konnte: Aber hier, wo tausend und aber-abertausend Steine
versammelt lagen, da erfüllten sie die Luft mit etwas, das keine
Worte waren und keinen anderen Namen hatte als die Abwesenheit von
Stille.
»Gaven«,
fragte Varyn vorsichtig, »hörst du das auch?«
Gaven nickte. »Falls
du das Gewitter meinst, ja. Da grollt etwas.«
»Das ist kein
Gewitter«, sagte Varyn. »Das sind die Steine.« Sein
Mund fühlte sich trocken an. Das war nicht nur Angst - das war
auch Durst. Gaven und er hatten jetzt seit zwei oder drei Tagen
nichts richtiges mehr gegessen, und ebensolang war es her, daß
sie den letzten Menschen getroffen hatten. So weit waren sie im
Norden, im Niemandsland - vielleicht war Doubladir hier schon zuende.
Vielleicht sogar die Welt.
»Für dich
sind das die Steine«, erwiderte Gaven ungerührt, »und
für mich ist es ein Gewitter. Je nachdem, was da gleich auf uns
runtergeprasselt kommt, sehen wir ja, wer Recht hatte - aber du
verzeihst mir, wenn ich will, daß ich das ist?« Seine
Stimme klang immer noch irgendwie vergnügt, doch das war nicht
echt - Gaven spielte Gaven, um es für Varyn leichter zu machen.
Und das mußte man ihm hoch anrechnen, wie alles, was er in den
letzten Tagen und Wochen geleistet hatte. »Glaubst du, wir
finden hier irgendwo eine Hütte zum Unterstellen? Ich meine,
hier müssen doch auch mal Leute gelebt haben, und die können
doch nicht einfach -«
Ein Blick von Varyn
brachte ihn zum Schweigen, so abrupt, daß Varyn vor seinen
eigenen Augen Angst bekam.
»Ich will mich
nicht unterstellen«, sagte Varyn. »Ich will auf die
andere Seite. Dies sind die Steine von Sharaz, aber unser Ziel liegt
dahinter, oder dazwischen.« Er hörte seine Stimme, doch wo
die Worte herkamen, wußte er nicht. Er fühlte sie nicht
aus seinem Mund kommen. Vielleicht dachte er nur. Es war egal,
solange Gaven ihn verstand. Ob die Steine ihn hörten oder nicht…
Varyn schüttelte den Kopf. Steine hatten ebensowenig zu hören
wie zu sprechen. Dieser Ort jagte ihm Angst ein.
»Und was
erwartest du jetzt von mir?« fragte Gaven. »Soll ich da
vielleicht drüberklettern? Jetzt? Da machst du deine Rechnung
ohne mich!« Er schüttelte sich. »Erstmal ist es
gefährlich, auf eine Halde zu klettern - nachher gerät
alles ins Rutschen, und dann geht es abwärts. Und außerdem
wird es bald schon dunkel.«
Sie waren den ganzen
Tag über auf den Beinen gewesen. Gaven hatte sicher Recht - aber
trotzdem… »Die Dämmerung kommt«, sagte Varyn.
»Das ist ihre Tageszeit. Wenn es einen Moment gibt,
diese Halde zu besteigen, dann jetzt.«
»Oder morgen
früh«, entgegnete Gaven ungerührt. »Das ist
doch das Gute an der Dämmerung - da gibt es immer zwei von.
Warte bis zum Morgengrauen, oder mach es allein, aber dann ist es mir
egal, ob und wenn du unter einem Haufen Geröll begraben endest.
Ich such mir inzwischen was zum Unterstellen. Und zum Übernachten.«
Varyn musste zugeben,
daß er eigentlich zu müde war und zu hungrig, um ihm da zu
widersprechen. Wenn sie jetzt eine Hütte suchten, vielleicht
fanden sie dann auch einen anderen Weg in das Herz der Steine? Aus
seinem Traum erinnerte sich Varyn an einen Talkessel, nach allen
Seiten von Steinen umgeben - kein Eingang, kein Paß, nichts.
Aber Träume konnten auch trügen. Und sie zeigten nie die
ganze Wahrheit… Varyn schluckte.
»Ich möchte,
daß du dabei bist, Gaven«, sagte er. »Damit ich
weiß, was geschieht - weil ich nicht weiß, was geschieht
- weil ich will, daß du dabei bist. Du hast es dir verdient.«
Mit dem Kopf im Nacken
blickte Gaven in den gräulichen Himmel. »Womit ich das
verdient habe, will ich gar nicht wissen. Und was deinen Dämmervogel
angeht - jetzt sind wir so weit gelaufen, da kann sie ruhig auch mal
drei Schritte tun und ihren Hintern aus dem Berg raus bewegen, das
ist doch wirklich nicht zuviel verlangt!«
Varyn nickte.
Wenigstens in seinen Träumen hätte sie sich in der letzten
Zeit einmal wieder Zeigen können, als Bestätigung, daß
sie auf dem richtigen Weg waren. Oder so. Er wollte sie einfach gerne
wiedersehen. Genauer: Er wollte sie endlich einmal sehen. Ihr
Gesicht. Einmal - nein, oft sogar - hatte er Alpträume gehabt
mit ihr. Träume, in denen sie sich zu ihm umwandte oder den
Schleier hob - und da war kein Gesicht. Nichts. Oder ein
Totenschädel. Oder eine scheußliche Fratze mit winzig
kleinen schwarzen Augen und einem riesigen Mund voller spitzer Zähne.
Oder das eingefallene Gesicht einer uralten Frau. Oder der Abgrund
selbst. Träume über Träume. Aber es waren keine
richtigen Träume, es waren Träume von ihr, nicht mit
ihr. Nur die Ausgeburten von Varyns Einbildungskraft. Varyn dürstete
es nach der Wirklichkeit. Aber das einzige Gesicht, daß er für
den Dämmervogel hatte, war das einer Elster.
»Schau mal, das
dahinten - das sieht mir doch nach was aus!« rief Gaven und
zeigte auf ein entferntes dunkles Etwas, das vielleicht wirklich
einmal ein Gebäude gewesen war, ein Haus oder ein Schuppen. Und
schon lief er los, und Varyn hinterher - wenn er hier allein endete,
wenn er Gaven aus den Augen verlor, dann würde der Wahn ihn
holen. Hinterher, und das Murmeln der Steine immer in seinem Ohr.
Es war tatsächlich
ein altes Haus, auch wenn die Zeit nicht viel davon übriggelassen
hatte. Der Boden im Inneren war mit Schiefertrümmern bedeckt -
die hatten überlegt, als der Moder das Holz des Daches fraß.
Man konnte sich wirklich bessere Schlafplätze vorstellen -
alles, was dieses Haus ihnen bot, war ein klein wenig Windschutz.
Aber hier drinnen konnte Varyn die Steine nicht mehr hören, und
das war eine Menge wert.
»Wenn dir das
genügt?« sagte er. »Glaubst du mir, ist das ein
sicherer Ort. Aber wenn du auf dein Gewitter warten willst - hier
drinnen findet es dich ganz sicher.«
»Also, etwas mit
Dach würde mir schon lieber«, sagte Gaven. »Ich
werde so ungern naß. Aber ich hab das hier gefunden, und nehmen
wir das auch. Hier drin kann man wenigstens versuchen, ein Feuer
anzumachen.«
Und beim Versuchen
blieb es bei Gaven dann meistens auch. Jeden Abend zeigte ihm Varyn
geduldig, wie man mit Flintstein und Stahl Funken schlug und ein
Feuer entfachte, aber der Junge hatte den Dreh einfach nicht raus.
Außerdem gehörte der Feuerstein Varyn - eine der
nützlichen Sachen, die er unterwegs für die Reise gekauft
hatte. Wenn es schon noch nicht für ein Schwert reichte - das
Leben bestand nicht nur aus Brot und Käse.
»Dann schau mal,
ob du Holz findest«, sagte Varyn. »Und ich räume
hier in der Zwischenzeit ein wenig auf.«
Gaven entfernte sich
nicht ohne Grinsen - so schnell vergaß er sicher nicht, daß
Räumen früher immer seine Aufgabe war, und daß Varyn
wußte, wie sehr er die Plackerei haßte. Varyn auf der
anderen Seite war immer noch froh über alles, was seinen Körper
anstrengte - je schneller der zur Ruhe kam, desto schneller ruhte
auch der Kopf.
Und während er
Schiefer zu sauberen Haufen zusammenschob und schleppte, daß
darunter glatter Boden sichtbar wurde, auf dem man liegen konnte,
hoffte Varyn doch einen Moment lang, daß gleich der Dämmervogel
hereinkommen würde. Vielleicht wartete sie nur darauf, ihn
einmal allein und ohne Gaven zu fassen zu bekommen - Gaven war ein
guter Schutz, doch vielleicht schützte er manchmal auch zu gut…
Aber niemand kam, bis Gaven dann mit einem Arm voll Bruchholz
auftauchte.
»Hier, mehr habe
ich nicht finden können - zeigst du mir noch mal, wie du das mit
dem Stahl machst?«
Varyn nickte
geistesabwesend. Draußen verabschiedete sich das Licht von den
Bergen. Eigentlich wäre er doch am liebsten schon jetzt auf die
Halden gestiegen. Er fürchtete die Nacht im Schatten der Steine.
Aber wenn es ihnen jetzt gelang, den Abend zu verbringen wie jeden
anderen, mit Hunger und Scherzen - dann durfte diese Dämmerung
auch ohne ihn vorübergehen und Platz machen für die Nacht -
bis zum nächsten Morgen, bis zur nächsten Dämmerung.
Und sie kam.
Varyn erwachte mit dem
Morgengrauen, und Gaven war fort. Da wußte Varyn, daß er
nicht wirklich wach war, sondern es wieder einer von diesen Träumen
war. Er trat hinaus in das frostkalte Frühlicht und sah sich um.
Dort lagen die Steine von Sharaz in ihrer ganzen grauen Pracht, noch
halb von Dunst eingehüllt, und alles sah genauso unberührt
aus wie am Vorabend. Niemand war sehen. Niemand war zu hören.
Selbst die Steine schwiegen.
Varyn ging auf sie zu -
wenn der Traum seinen Fortgang nehmen sollte, dann dort, und er mußte
seinen Fortgang nehmen, damit Varyn irgendwann erwachen und auch im
wirklichen Leben diesen Berg besteigen konnte. Und das Ganze
beschleunigen?
»Dämmervogel!«
rief Varyn. »Ich bin deinem Ruf gefolgt. Ich bin hier - wo bist
du?« Und er ahnte die Antwort schon: Hinter dem Berg…
Varyn seufzte. Sollte er also schon im Traum mit dem Bergsteigen
anfangen! Aber vielleicht fand er so einen Weg, den sie später
im Wachen nehmen konnten -
»Varyn! Bleib
stehen, du Blödmann!«
Varyn fuhr herum. Das
war nicht die Stimme, mit der er hier rechnete. Das war nicht der
Dämmervogel, das klang wie… Gaven?
Gaven hier? Gaven jetzt? Gaven, der da hinten angerannt kam…
»Gaven - was
suchst du hier?« fragte Varyn verwirrt.
»Na, was schon -
dich!«
»Aber du kannst
du nicht einfach…«
Gaven verdrehte die
Augen. »Nicht schon wieder, bitte! Nicht um diese Tageszeit,
das vertrage ich noch nicht.« Er bebte auf und ab und blies
sich auf die Hände. Die Kälte schien ihm mehr auszumachen
als Varyn - aber Varyn hatte auch noch nie in ein Traum gefroren.
Langsam dämmerte
es Varyn, und dann kam die Kälte auch zu ihm. »Kein
Traum?« fragte er.
Gaven knuffte ihn vor
die Brust. »Kein Traum, Blödmann. Regel Nummer Eins: Wenn
ich da bin, ist’s kein Traum.«
»Aber - gerade
eben, als ich wach wurde - da warst du nirgends zu sehen.«
Varyn fühlte sich lahm und dümmlich. Aber ob er doch noch
immer träumte, selbst wenn alles um ihn herum schon wach war.
»Ja, großer
schlauer Varyn!« schnaubte Gaven. »Weil ich nämlich
schon vor dir aufgestanden bin, schon mal daran gedacht?«
Varyn mußte den
Kopf schütteln - er kannte seinen mittleren Bruder ja schon
lange, aber noch nie als Frühaufsteher.
»Willst du
wissen, warum?« fragte Gaven leise. »Weil diesmal ich
etwas geträumt habe. Jawohl.«
»Schlecht
geträumt?« fragte Varyn vorsichtig.
Gaven gelang es, selbst
mit dem unglücklichen Nicken noch stolz zu wirken. »Glaub
bloß nicht, du hast schlechte Träume für dich allein
gepachtet!« Er sah plötzlich so klein und verloren und
verfroren aus, daß Varyn plötzlich wieder daran erinnert
wurde, wie jung sein Bruder doch eigentlich war, und wie jung er
selbst.
»So schlimm, daß
du es nicht ertragen konntest liegenzubleiben, aus Angst, wieder
einzuschlafen und weiterzuträumen?« fragte er.
Wieder nickte Gaven.
»Und das gemeinste ist - ich weiß noch nicht mal mehr,
was ich überhaupt geträumt habe!« Er versuchte zu
grinsen, gab aber schnell auf und hauchte sich statt dessen auf
Finger und Lippen. »Aber wie ich dann hier rausgekommen bin,
ist mir endlich aufgefallen, was hier mit den Steinen nicht stimmt.«
Er hatte Recht, etwas
stimmte hier nicht, aber selbst Varyn konnte es an nichts festmachen
- warum die Steine von Sharaz wirkten wie ein Stück, das man aus
einem Traum herausgerissen hatte. Aber da Varyn sie ja aus einem
Traum kannte, war er blinder für die Wirklichkeit als Gaven, der
sie zum ersten Mal sah. »Was denn?« fragte er.
»Hier wächst
nichts«, sagte Gaven - vielleicht wollte er düster
klingen, doch seine Stimme war zu aufgeregt. »Auf den Steinen,
meine ich - denk mal an unsere Halde zuhause, die ist winzig im
Vergleich zu dem hier, und sie bekommt dauernd Körbe voll
Schotter übergebraten - und trotzdem setzen sich da andauernd
Birkenschößlinge rein, und Gras, und Disteln, und
Gestrüpp. Aber hier hatte das Zeug über hundert Jahre zum
Wachsen, da dürfte man eigentlich vor Gras und Birken gar keine
Steine mehr sehen - aber hier wächst nichts. Als ob die Zeit
hier still steht.«
Er schwieg einen
Moment, und als Varyn nichts erwidern mochte, setzte er hinterher:
»Und jetzt wünsche ich mich irgendwie in diesen Alptraum
zurück.«
Varyn wollte ihm nicht
widersprechen und ihn nicht bestätigen - Gaven sollte Recht
haben, aber Varyn war es lieber, jetzt nicht über diesen Ort zu
sprechen. Die Steine waren zu nah. Es war, als ob sie zuhörten -
und wehe, was sie hörten, gefiel ihnen nicht!
»Ich habe nichts
geträumt« , sagte er. »Jetzt, wo wir beide auf sind
- wollen wir uns ans Bergsteigen machen?«
»Und mehr hast du
dazu nicht zu sagen?« Gavens Stimme quoll über vor
Enttäuschung. »Ich habe etwas Wichtiges herausgefunden,
und du -«
»Ja, du hast es
herausgefunden, und jetzt wissen wir es beide, fiel ihm Varyn schroff
ins Wort. »Aber wir können nichts daran ändern, und
ich suche nach einem Weg, daß dieser Berg mir weniger Angst
macht, nicht mehr, verstehst du?« Er hätte das Wort Angst
besser nicht aussprechen sollen - vorher hatte er eigentlich keine.
Jetzt war sie wieder da. Ein Ort, an dem die Zeit stillstand - das
war etwas Entsetzliches. Das war etwas, das man mit nichts erklären
konnte, nicht mit den Engeln, nicht mal mit den Göttern - die
Zeit war größer, sie stand über allem, sie würde
alles überdauern: Aber nicht, indem sie stillstand…
»Du siehst ganz
grün aus«, sagte Gaven mit angestrengter Bestimmtheit,
»und ich habe Hunger und Durst, daß ich mich auch schon
ganz grün fühle - wir steigen jetzt gleich auf den Berg,
aber vorher essen wir was. Ein bißchen haben wir uns ja
übriggehalten.«
Varyn nickte, und sie
gingen zur Ruine und frühstückten, was an Essen noch da
war, aber danach hatten sie keine andere Entschuldigung mehr. Die
Morgendämmerung würde nicht endlos andauern, nicht einmal
dort, wo die Zeit stillstand. Jetzt mußten sie auf den Berg
steigen.
Wer behauptet hatte,
das letzte Stück eines Weges wäre immer das längste,
der irrte. Das letzte Stück war immer das kürzeste, schon
allein, weil es sonst nicht das letzte gewesen wäre, sondern nur
irgendwas in der Mitte. Aber Varyn wünschte sich, es wäre
wirklich so. Mit jedem Schritt, den sie sich auf der steilen Halde
nach oben bewegten, wünschte sich Varyn, daß es noch weit
war bis zum Gipfel, endlos weit, so weit, daß kein Mensch es an
einem Tag schaffen konnte - Varyn fürchtete sich. Und am meisten
fürchtete er sich vor einer Enttäuschung. Daß die
Rückseite des Berges genauso aussah wie die vordere. Daß
es dort keinen Dämmervogel gab und auch sonst nichts und
niemanden, der er wert gewesen wäre, die Heimat zu verlassen und
um die halbe Welt zu wandern.
»Eines verspreche
ich dir«, sagte er, halb zu Gaven und halb zu sich selbst.
»Wenn wir hier fertig sind, gehen wir heim. Wir haben genug von
der Welt gesehen.«
Gaven nickte nur
wortlos. Das Klettern war für ihn anstrengender als für
Varyn, und das, obwohl Varyn schon vorweg ging und ihm zeigte, wohin
er die Füße setzen konnte.
Es gab verschiedene
Halden - solche, auf denen man klettern und im Winter mit dem
Rodelschlitten hinuntersausen, sofern man die Zeit dazu hatte neben
all der Arbeit; und solche, um die machte man besser einen großen
Bogen. Je steiler eine Halde aufgeschüttet war, desto
gefährlicher wurde sie - die Steine lagen loser und gaben sich
nicht soviel gegenseitigen Halt, als wenn sie fest ineinander
verkanteten. Die Zeit kümmerte sich um solche Halden. Irgendwann
waren so viele Steine von oben hinuntergerutscht, daß die Halde
viel flacher war und in sich stabil: Eine Halde und nicht nur eine
Ansammlung von einzelnen Steinen. Je älter eine Halde war, desto
freier konnte man darauf herumturnen. Zumindest für normale
Halden galt das. Nicht aber für diese.
Die Steine hier hatten
kein Interesse an einem Bündnis miteinander. Jeder kämpfte
für sich, und jeder kämpfte gegen Varyn und Gaven. Vor
allem gegen Gaven. Stellen, die Varyn eben noch für stabil
befunden hatte, rutschten unter dem Jungen war. Schon ein paarmal war
Gaven richtig übel hingefallen und mit dem Schotter bergab
gerissen worden; er hatte Schrammen an den Händen und im
Gesicht, seine Knie lagen blank und blutig, und er hatte - wollte man
es ihm verdenken? - wirklich kein Vergnügen an der Sache.
»Ich sag dir
was«, grummelte Gaven atemlos. »Mit dir redet dieser
Drecksberg, und mich mag er nicht. Warum fällst du nicht auch
mal hin, so zur Abwechslung?«
Varyn zuckte die
Schultern. »Damit wäre dir doch auch nicht geholfen.«
Er hielt ihm die Hand hin - so konnte er Gaven wenigstens auffangen
und festhalten, wenn der das nächste Mal abrutschen sollte.
»Oder weißt du was - geh vor mir, dann fällst du
höchstens in mich, und mit Glück haut’s mich dann
auch um.«
Gaven lachte
angestrengt. »Ich weiß… was besseres. Ich kletter
hier wieder runter und laß dich alleine machen - ich weiß,
wo ich nicht erwünscht bin.«
Varyn packte ihn beim
Handgelenk und hielt ihn fest, bevor der Junge sich tatsächlich
an den Abstieg machen konnte. »Du bleibst!« befahl er.
»Auf wen hörst du, auf den verdammten Berg oder auf mich?«
Gaven schnaubte. »Auf
den, der mir mehr wehtut, was sonst.«
Varyn lockerte seinen
Griff nicht, packte sogar noch fester zu. »Paß auf, ich
geh jetzt nicht vor dir auf die Knie, und ich trag dich auch nicht
nach oben.« Es waren Momente wie dieser, in denen Varyn wieder
die Wut in sich brodeln fühlte, und wenn Gaven wollte, daß
man ihm wehtat, konnte er das haben! Varyn ballte die andere Hand zur
Faust und versuchte, etwas von der Kraft darüber anzugeben, er
durfte Gaven nicht schlagen, nicht hier, wo er hundert Meter und
tiefer abstürzen konnte. Er atmete durch. Langsam. »Aber
das ist nicht mehr nur mein Ziel, das ist längst auch deines -
und ich lasse nicht zum daß du so kurz vor dem Ende aufgibst.«
So weit wie sie jetzt waren, hatten sie es nach oben ebensoweit wie
runter. Und so schnell würde Varyn seinen Bruder jetzt nicht
wieder loslassen.
Gaven schüttelte
den Kopf und spuckte aus. »Lüg mich nicht an, Varyn! Wenn
du ohne mich Schiß hast, sag es, aber erzähl mir nichts
über meine Ziele!«
Varyn schluckte einen
schalen Geschmack hinunter. »Also gut, ich habe Schiß
ohne dich - bist du jetzt glücklich? Können wir jetzt
weiter? Oder willst du immer noch lieber unten warten?«
Gaven verzog das
Gesicht. »Ehrlich, ich hab ja keine Wahl - nachher steigst du
noch auf der anderen Seite runter, und ich sehe dich nie wieder. Aber
ich will eine Pause. Hab mir die Knie aufgeschlagen, alle beide.«
»Tut mir leid«,
sagte Varyn. »Ich passe nachher auf, daß du nicht mehr
fällst.«
»Von mir aus«,
sagte Gaven. »Aber jetzt kannst du meine Hand wieder loslassen,
ja?« Er grinste. »Ich hau auch nicht ab, versprochen. Wär
doch gelacht, wenn ich mir von so einem Berg was sagen ließe.«
Varyn nickte. Eine
Pause brauchte auch er. Selbst wenn das Bergsteigen nicht das
Schwerste war, selbst wenn er das Flüstern der Steine kaum noch
bewußt wahrnahm und es nicht mehr war als ein rauschender Baum
oder ein säuselnder Wind, den man ignorieren konnte - es war
anstrengend, die ganze Zeit über seinen Kopf ausschalten zu
müssen und nicht drüber nachzudenken, was sie, was ihn
hier erwarten mochte. Diese Angst und Unsicherheit brachte Varyns
übelste Seiten zum Vorschein - seine Ungeduld, seinen Jähzorn,
und zum ersten Mal seit Wochen dachte er wieder an Alkohol und war
froh, daß es hier weit und breit keinen gab. Aber es wäre
ein Fluchtweg gewesen, kein schöner, aber ein Fluchtweg…
Es gab nur wenig, was
sie über die Steine von Sharaz in Erfahrung hatten bringen
können: Nur daß mit dem Schieferabbau, und daß es
hier einmal ein Orakel gab. Wußten die Leute sonst nichts -
oder wollten sie es lieber nicht wissen? Und wollte Varyn?
Erst als Gaven und
Varyn endlich den Gipfel erreichten, nachdem das Zwielicht lange
vergangen war und die Sonne hoch am Himmel stand, ihnen auf die
schattenlosen Köpfe brannte und das Knurren ihrer Mägen und
Jammern ihrer Füße längst das Murmeln des Berges
übertönte, bekam Varyn eine Antwort zum Geheimnis der
Steine. Und mit ihr eine neue Frage, und ein neues Geheimnis.
Der Gipfel war kein
Gipfel. Er war der obere Rand eines gewaltigen Kraters. Und was Varyn
im Traum für einen Talkessel gehalten hatte, war der Boden eines
steinernen Schlundes. Aber das war nicht das, was ihn eigentlich
erschütterte. Das Erschütterndste war, daß sie den
ganzen Krater gut überblicken konnten - und dort unten war kein
Mensch zu sehen. Es war niemand da.
Varyn strauchelte.
Seine Knie fingen an zu zittern, wollten unter ihm nachgeben, während
Varyn noch versuchte, sie durchzudrücken und aufrecht zu stehen,
als hätte er einen Stock vom Nacken bis in die Fersen.
»Varyn…«
Gaven zögerte nur einen Moment, dann packte er Varyn beim Arm,
gerade noch rechtzeitig, bevor der vorwärts in den Krater
stürzen konnte. »Hinsetzen, aber sofort!« bellte er.
Aber selbst dafür
brauchte Varyn die Hilfe seines Bruders, bis es ihm gelang, sich auf
dem schmalen Grat niederzulassen. Der Kraterrand war gerade breit
genug, um dort zu stehen oder zu balancieren, aber schon beim Setzen
musste Varyn seine Beine in die Tiefe baumeln lassen. Die Innenwände
des Kraters fielen nicht senkrecht ab, aber sie waren ein viel
steilerer Trichter als die Außenwand, auf der sie
hochgeklettert waren. Varyn war schwindelig, er sah schwarze Flecken
vor Sonne, Hunger und Enttäuschung.
Und Gaven fiel nichts
besseres ein zu sagen als: »Also, Varyn, gib es zu, du hast
verloren.«
»Es tut mir
leid«, murmelte Varyn. Alles für nichts, der ganze Ärger,
die ganze Anstrengung, nur damit der Dämmervogel ihn jetzt
auslachen konnte! Und Varyn hatte das alles auch noch Gaven
zugemutet, der nichts dafür konnte und nichts zu gewinnen hatte
- und dieses Gefühl der Schuld war noch stärker als seine
eigene Enttäuschung.
»Da ist ganz
bestimmt kein Berg unter der Halde«, redete Gaven weiter. »Da
ist nicht mal eine Halde unter der Halde.«
Varyn schaute ihn nicht
an, starrte nur blicklos hinunter in den Krater vor ihm. »Hau
mich«, sagte er dumpf.
»Was?«
entfuhr es Gaven.
»Hau mich. Du
bist sauer auf mich, dann laß es raus. Hau mich.«
»Warum soll ich
jetzt ausgerechnet sauer sein?« fragte Gaven. »Ich meine,
saurer als sonst? Wenn du gern gehauen werden willst, von mir aus -
aber du kannst dir nicht aussuchen, wenn ich dich hauen will!«
Er lachte. »Blödmann.«
Jetzt drehte sich Varyn
doch zu ihm um. Er rechnete ja mich allem, aber nicht mit diesem
vergnügten Tonfall. »Was ist denn?« fragte er
verwirrt. »Warum hast du so gute Laune? Du mußt doch
sonstwie sauer auf mich sein!«
Gaven schüttelte
den Kopf. »Warum? Ich bin völlig erschöpft, aber -
hey! Ich bin oben! Weißt du, wie sich das anfühlt, ganz
oben auf einem Berg? Ich bin noch nie auf einen Berg gestiegen, und
das, obwohl ich immer unten drunter gewohnt habe, und ich jetzt bin
ich oben und kann die ganze Welt da unten liegen sehen wie ein Vogel
- da ist die Hütte, in der wir übernachtet haben, und sie
ist ganz klein, und da sind die anderen Berge, denen kann man von
hier aus richtig in die Augen schauen, und das alles ist doch - ist
doch großartig!«
Er breitete die Arme
aus und drehte sich, oben auf diesem schwindeligen Rand, ganz frei
und ohne jede Angst, daß es schon Mut machte, ihm dabei
zuzusehen, und gleichzeitig Furcht einflößte. Aber der
maulende Junge, der auf dem schnellsten Weg wieder runter wollte,
mußte wohl irgendwo unterwegs verloren gegangen sein…
»Fein«,
sagte Varyn, seltsam stumpf und unbeeindruckt. »Und jetzt
genieße es noch für den Moment, gleich steigen wir wieder
runter und gehen nach Hause. Ich freue mich, daß es wenigstens
für dich etwas gebracht hat.« Bei den letzten Worten
versagte ihm die Stimme. Die Schuldgefühle hatte Gaven jetzt
fortgewirbelt - was blieb, war nur nackte und schmerzend beißende
Enttäuschung.
»Warum das?«
fragte Gaven. »Willst du jetzt heulen? Dann hau ich dich
wirklich! Jetzt ist es wirklich zu spät, um noch zu kneifen!«
Es war ja nett, daß
Gaven ihn aufmuntern wollte - aber bei Varyn kam es nur als Hohn an.
»Siehst du das nicht?« Varyn zeigte mich fahriger Geste
hinunter in den Kessel. »Da ist nichts. Oder siehst du jetzt
plötzlich Dinge, die ich nicht sehen kann?«
Gaven hockte sich neben
ihn. »Nein, und? Was hast du denn erwartet?«
»Der Dämmervogel
hat versprochen, hier zu sein. Und sie ist nicht hier.« Das war
es, was am meisten schmerzte. Der Verrat. Er hatte ihr geglaubt, ihr
vertraut, wo er nicht einmal sich selbst trauen konnte - und sie war
nicht da.
»Ja, aber das wär
auch etwas billig, meinst du nicht?« Gaven zog sich die Schuhe
aus und räkelte die Zehen. »Du hast doch nicht wirklich
geglaubt, daß sie hier ihre kleine Kate stehen hat, wo die
Hühner durch den Garten laufen? Wenn da unten jetzt so ein
popeliges Haus stünde, dann wär ich jetzt enttäuscht
an deiner Stelle. Aber so? So weißt du’s erst, wenn du
unten angekommen bist.«
Varyn nahm seine Hand
und drückte sie. »Danke«, sagte er nur.
»Paßt
schon«, sagte Gaven. »Dafür bin ich schließlich
da.«
Und jetzt konnte Varyn
auch endlich wieder klar denken. »Aber wenn wir da jetzt
runtersteigen«, sagte er langsam, so wie der Gedanke hinter
seiner Stirn auftauchte, »dann weißt du, was das
bedeutet?«
Gaven nickte. »Du
triffst die Frau aus deinen Träumen, und ich stehe dabei dumm
rum. Aber das ist schon in Ordnung.«
»Nein.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Etwas ganz anderes meine ich.
Siehst du, wie steil das hier runtergeht? Wir können da
runterkommen, entweder schnell oder heile, auch wenn ich mir das
zweite nicht wirklich gut vorstellen kann - aber ich weiß beim
besten Willen nicht, wie wir da jemals wieder rauskommen sollen.«
Schon auf dem wesentlich flacheren Anstieg war Gaven teilweise kaum
voran gekommen - da drinnen würde Klettern zumindest für
ihn praktisch unmöglich sein. »Überleg dir gut, ob du
das willst.«
Was er nicht aussprach
war, daß sie dort unten sterben würden. Wenn sie nicht
mehr hinauskamen, wenn das fallende Geröll sie immer wieder
hinunterspülte, dann waren es nur ein oder zwei Tage, bis sie
tot waren. Verhungert, verdurstet, lebendig begraben - wenn sie nicht
gleich dort verschwanden, wo die Halde hin verschwunden war: So ein
Krater kam nicht von ungefähr. Auch wenn von oben nichts zu
sehen war - wo ein Krater war, da war ein Loch im Boden, wenn nicht
gleich der Abgrund selbst…
Gaven schluckte. »Das
ist die Herausforderung, oder? Du mußt dem Dämmervogel
trauen und da runtersteigen, selbst wenn es aussieht, als ob es
keinen Weg hinaus gibt.«
Varyn hätte ihn am
liebsten gepackt und geschüttelt und geschrieen: ‘Ja,
verdammt, aber du nicht! Mich erwartet da unten vielleicht die Lösung
all meiner Probleme, aber dich erwartet nur der Tod!’ Er sagte
es nicht.
Gaven blickte ihn an.
Er wußte es.
»Steigst du da
jetzt runter?« fragte er.
Varyn nickte. Es war
eigentlich nicht einmal eine Entscheidung. Er hatte keine Wahl,
nicht, seit er das erste Mal dem Dämmervogel begegnet war. »Ja«,
sagte er. »Ich muß.«
Gaven zitterte. Er
hatte Angst. Und er sagte, ganz leise und mit belegter Stimme: »Dann
komme ich mit dir.«
»Du mußt
das nicht tun«, sagte Varyn. »Wirklich. Ich bin dir nicht
böse, wenn du dich einfach in Sicherheit bringst. Du mußt
es nicht tun.«
»Wenn du gehst,
dann geh ich auch«, sagte Gaven. »Ich hab es dir
versprochen. Und wenn du da runtersteigst und nicht mehr rauskommst,
werde ich mir das nie verzeihen, und ich weiß auch nicht, wie
ich das Mutter erklären sollte. Also, du gehst, und ich komme
mit.« Er zitterte am ganzen Körper, während er
sprach. »Und wenn wir - wenn wir da nicht mehr hochkommen -
dann - dann - dann räume ich die ganze verdammte Halde ab. Mir
meinen Händen.«
Und dann begann er zu
heulen.
Sie stiegen hinab in
den Kessel, in die Ungewissheit, langsam, grimmig und vorsichtig. Es
gab keinen Weg, kein Seil, nichts zum Festhalten. Manchmal rutschten
sie ein Stück abwärts, auf den Fersen oder auf dem
Hosenboden, und konnten sich gerade noch wieder fangen und
aufrappeln. Manchmal mußten sie still stehen und warten, bis
sich der Boden unter ihren Füßen wieder beruhigt hatte.
Ihre Schritte waren kurz und tastend. Varyn fühlte lieber
dreimal mit der Fußspitze, wie fest der Abraum vor ihm lag, ehe
er sein ganzes Gewicht darauf setzte. Sie versuchten, ein leichtes
Zickzackmuster zu laufen, immer irgendwie seitwärts zum Berg,
aber sie kamen nur langsam vorwärts. Bis sie unten ankamen,
würde es bald dunkel sein, und das war gefährlich. Wenn
wieder Nebel aufkam; wenn sie nicht mehr sahen wo sie hintraten,
würden sie sehr schnell unten sein, aber nicht mehr an einem
Stück…
»Und ich habe
gedacht«, ächzte Gaven, »runter kommt man immer.
Meinst du nicht, wir können da einfach irgendwie
runterrutschen?«
Varyn schüttelte
den Kopf. Auch ihm ging langsam die Puste aus, nicht vor Schwäche,
aber sein Kopf schwirrte, und je tiefer sie kamen, desto lauter wurde
es um ihn und in ihm. Hier, im inneren des Kraters, wurde das
Flüstern und Murmeln hin und her geworfen, es konnte nicht
entkommen, es tanzte im Kreis. Es füllte Varyns Kopf, daß
er nichts mehr wissen und denken konnte - alles, was sein Verstand
noch konnte war, in dem Wirrwarr nach Worten zu suchen. Worte sollten
Sinn machen. Worte sollten Worte sein. Aber hier gab es keine Worte,
und keinen Sinn. Nur Dröhnen.
»Wenn du das
machst«, murmelte er, »dann löst du einen Erdrutsch
aus, und kommst unten an, aber unter einem Haufen Schutt. Mach weiter
wie jetzt. Bleib hinter mir. Schau auf deine Füße, auf
meinen Rücken und meine Füße, aber sonst nirgendwo
hin. Nicht nach unten. Wenn du nicht mehr kannst, gib mir ein
Zeichen, sofort.« Reden half etwas. Wenn Varyn redete, war
seine eigene Stimme in seinem Kopf, das besser als die Steine.
»Kannst du noch?«
»Mhm«,
sagte Gaven. »Muß ich ja.«
Varyn wollte ihm sagen,
daß er keine Rücksicht nehmen konnte, daß Gaven eine
Entscheidung getroffen hatte und allein für sich selbst
verantwortlich war, aber es brachte es nicht über sich. »Stört
es dich«, fragte er statt dessen, »wenn ich
Selbstgespräche führe?«
Gaven sagte nicht Nein,
doch er machte ein Geräusch, das wenig zustimmend klang. »Wenn
ich mich dabei noch konzentrieren kann, von mir aus. Aber es ist hier
so laut. Ich will hören können, was da zu meinen Füßen
passiert.«
Varyn nickte und
schwieg dann. Gaven hatte Recht. Sie mußten auf die Steine
achten. Varyn starrte und lauschte auf die Steine, schob sich
vorwärts, langsam, vorsichtig. Wenn ein Stein sich löste
und in die Tiefe rutschte, hielt er inne und beobachtete ihn - wie er
fiel, wohin er fiel, wie weit, wie er landete. Drehte er sich dabei?
Tat er Hüpfer? Riß er andere Steine mit? Varyn wußte
nicht, was die Steine redeten. Aber es gab noch einen anderen Weg,
sie zu verstehen. Und das versuchte Varyn nun. Mit den Augen. Mit den
Ohren. Und mit dem, was von seinem Verstand noch übrig war.
»Was machst du
den da?« fauchte Gaven, als Varyn ebenso versonnen wie
vorsichtig einen Stein mit dem Fuß hinunterstieß, um
seinem Weg zu folgen. »Willst du, daß hier alles
zusammenkracht?«
Varyn schüttelte
den Kopf. »Wenn ich verstehe, wie die Steine fallen, verstehe
ich, wie wir fallen müssen.«
»Vergiß
es!« schrie Gaven. »Du bist kein Stein, ich auch nicht.«
Varyn schüttelte
den Kopf. »Ich verliere hier noch den Verstand«, sagte er
zu sich selbst. War er kein Stein? Nicht? Nicht einmal ein kleines
Bißchen? Half es dann gar nichts, die Steine zu verstehen? Sein
Schädel dröhnte. Die Steine waren in seinem Kopf. Sie waren
in ihm. Aber er war kein Stein… Varyn hielt sich den Schädel.
Wie kurz stand er davor, sich einfach zur Seite kippen zu lassen und
den Abhang hinunterzutanzen? Er wußte es nicht. Er mußte
weiter.
Sie schlichen,
rutschten, stolperten weiter, immer tiefer in den Abgrund, und auch
wenn der Boden nicht wirklich näherzukommen schien, entfernte
sich doch zumindest der obere Rand immer weiter. Als ob die Steine
wuchsen, während die Beiden ihren Abstieg nahmen.
Wie die beiden es
trotzdem bis unten schafften, noch bevor die Dunkelheit und der Nebel
sie packen konnten, das wußten die Steine allein, aber Varyn
und Gaven schafften es, beinahe. So viele Schritte machten sie, mehr
als an jedem anderen Tag der Wanderung, als an jedem anderen Tag in
ihrem Leben - und der eine, der sie den Tod kosten konnte, kam, als
sie es schon fast hinter sich hatten.
Es war Gaven, der
ausrutschte, dem die Füße wegrutschten mit einem Regen von
Steinen. Der Junge warf sich vorwärts, versuchte sich noch an
Varyn festzuhalten, und riß ihn mit von den Füßen.
Und dann fielen sie.
Varyn konnte nicht
sagen, wo er die Geistesgegenwart hernahm, aber er packte Gaven,
schlang die Arme um ihn und schützte ihn mit seinem Körper,
während sie den Abhang hinunterrollten, sich überschlugen,
Geröll mit sich rissen, und weiterfielen. Wie ein Stein.
Und wie ein Stein
blieben sie dann liegen am unteren Ende des Abhangs, Stein zwischen
Steinen. Von oben rutschte noch etwas Schotter nach, auf sie, auf die
Welt, dann war es still. Vielleicht lebten sie noch. Nein, kein
Vielleicht: Sie lebten noch. Und sie waren unten angekommen, in den
Steinen von Sharaz, unten am Grund. Und um sie war Zwielicht.
Varyn wußte
nicht, wie lange sie so lagen, bis einer von beiden sich aufrappelte,
und wußte auch nicht, wer von ihnen es war. Er war ein Stein in
diesem Moment. Es gab keine Zeit, und es gab auch keine Schmerzen,
nur Ruhe und Taubheit. Dann, langsam, kam seine Seele zurück.
Vielleicht hatte er ein paar Prellungen - eigentlich sollten sie sich
alle Knochen gebrochen haben, aber er fühlte sich nicht so. Und
als er sich dann hochstemmte und hinaufblickte und die Stelle sah, wo
sie abgestürzt waren, wußte er auch, warum. Sie hatten
eine deutliche Spur in der Halde hinterlassen, dunkles Grau unter den
von der Sonne ausgeblichenen helleren Steinen: Und die begann nur ein
Stück oberhalb seiner Augenhöhe.
Ein Sturz, der sich
fast nicht mehr lohnte, der nur den Triumph verhindern konnte,
lächerlich. Und ganz ohne Schmerzen war das auch nicht
vorübergegangen, zumindest für Varyn. Er hatte Schrammen
und blaue Flecken, und seine linke Schulter hatte etwas mehr
abbekommen, aber nicht einmal sie erschien gebrochen. Und was fast
noch mehr wert war: Auch Gaven war so gut wie unversehrt - wenn man
davon absah, daß er da zwischen den Steinen saß und
lachte und lachte, als ob der Abgrund selbst hinter seine Seele her
war. Gaven lachte.
Varyn setzte sich zu
ihm, knuffte ihn erst und umarmte ihn dann - er wußte nicht
mehr viel zu sagen, es war einfach gut, daß sie es so heile
nach unten geschafft hatten. Auch Gaven beruhigte sich dann ziemlich
schnell wieder.
»Ich meine ja
nur«, krächzte er, »den Sprung hätten wir schon
viel früher machen können, oder? Ist ja nichts passiert.
Aber so fürs letzte Stück - das können wir mal unseren
Kindern erzählen, daß von so einer hohen Halde gestürzt
sind. Wenn wir hier wieder draußen sind, heißt das.«
Ja, draußen. Von
hier unten erschien der Rand des Trichters unerreichbar weit, viel
weiter als der Boden von oben - aber so war es ja wohl auch. Der
Schein täuschte nicht. Runter kam man immer. Aber um aus diesem
Loch wieder rauszukommen, konnten sie gleich versuchen, einen Tunnel
durch die Steine zu graben…
»Also gut,
Dämmervogel«, sagte Varyn leise. »Du hast mich
gerufen, und ich bin gekommen, jetzt zeig dich.«
Dann wartete er,
blickte hinauf in den dunkler werdenden Himmel, sah zu, wie die
Dämmerung den Tag verspeiste, und wartete. Labgsam fühlte
er, wie alle Kraft, die ihn durch den Tag und über die Steine
getragen hatte, ihn wieder verließ, bis kaum noch etwas von ihr
und ihm übrig war.
Und niemand antwortete
ihm.
Varyn wußte
nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
»Wollen wir uns
nicht erst mal hier umsehen?« fragte Gaven. »Ich meine,
eh du wieder nur dein Schicksal verfluchst?«
Varyn nickte und atmete
durch. »Ja«, sagte er dann. »Natürlich. Du
hast Recht.« Hier war nicht viel zum Umsehen, aber zumindest
das konnten sie hinter sich bringen. Trotzdem hatte Varyn ein ganz,
ganz übles Gefühl im Bauch: Je länger er dort saß
und dieses Flüstern in seinem Kopf hörte, desto mehr ahnte
er, daß die Steine versuchten, ihm etwas mitzuteilen; daß
er hier war, um sie zu hören, nicht mehr und nicht weniger. Aber
er verstand sie nicht, wie sehr er es auch versuchen mochte: Varyn
sprach nicht die Sprache der Steine.
Langsam, mit müden
Muskeln und wehen Knochen, begannen die Brüder das Innere des
Steinkraters zu erkunden. Auf den ersten Blick gab es auch hier
nichts als Steine und Steine - nicht nur die Hände, die sie
vollständig einkesselten, sondern auch der Boden war Steine, zur
Mitte hin sanft anfallend. Aber es war immerhin eine Fläche, gut
und gerne so groß wie das Dorf ohne die umliegenden Höfe,
und da sollten sie sich die Mühe machen, sie zumindest einmal zu
umrunden.
Sah es hier aus wie in
seinem Traum? Varyn wußte es nicht. Die Steine verwirrten ihn,
sie hatten keine Gesichter, sahen alle gleich aus… Säulen.
In seine Traum waren Säulen, oder so etwas ähnliches. Und
hier? Gab es hier Säulen? Spontan wollte man sagen: Nein - aber
die Steine täuschten das Auge. Jede Form konnte sich hier tarnen
wie ein Falter auf der Birkenrinde, und im schwindenden Licht wurde
dieser Effekt nur noch verstärkt, denn es gab keine Schatten
mehr, durch den sich die Dinge verrieten hätten. Steine über
Steine, keine Pflanzen, nicht mal Moos, nicht mal Gras oder Disteln,
nichts, was dem endlosen Grau einen Funken an Farbe entlocken konnte.
Keine Tiere, keine Vögel. Selbst Gaven und Varyn waren grau von
Kopf bis Fuß; Steinstaub hing in ihren Haaren, auf ihrer Haut,
saß in ihren trockenen Mündern und ihren verkrusteten
Schrammen - es war ein vertrautes Gefühl. Früher schwarzer
Kohlenstaub, jetzt grauer Steinstaub… Es gab auch kein Wasser
zum Waschen, aber das sollte ihr kleinstes Problem sein. Wenn sie
nicht bald ein Zeichen fanden, oder sonst etwas, dann fand sie noch
der Tod.
Steine, Steine, Steine.
Und alles sah gleich aus. Ob die beiden schon eine ganze Runde
gedreht hatten, oder erst eine halbe, oder sogar schon zwei -
unmöglich zu sagen. Ihre Füße hatten das Zählen
längst verlernt. Man mußte der Engel der Weisheit
persönlich sein, um zu wissen, wie viele Steine es hier
insgesamt gab. Und Varyn wollte es auch lieber gar nicht wissen.
»Schau mal, da
drüben, das kann doch etwas sein«, sagte Gaven ziemlich
lustlos. Sie hatten schon ein paarmal gedacht, etwas entdeckt zu
haben, was dann doch wieder nur ein natürliches Muster im Stein
war. Oder ein Haufen zufällig daliegender Steine ohne jeden
Sinn. Oder sonst was aus Steinen, das keine Bedeutung hatte, egal wie
man es auch drehte, wendete und betrachtete.
Trotzdem, es konnte
ja etwas sein. Varyn folgte Gavens Zeigefinger und schleppte sich
müde in die bezeichnete Richtung, zur Mitte des Kreises hin. Da
war etwas, irgend etwas, aber es regte nichts mehr in Varyn. Er
wollte sie nur noch hinlegen und schlafen, vielleicht auch träumen,
und nicht daran denken, was für ein Fehler es doch gewesen war,
jemals auf seine Wahnträume zu hören, jemals
hierherzukommen.
Also gut, vor ihnen war
etwas. Etwas Größeres, aber so groß nun auch wieder
nicht. Ein wenig hörer als Varyn vielleicht, geformt wie ein
natürlicher Torbogen aus aufgetürmten Bruchsteinen. Nur ein
Torbogen, sonst nichts. Er stand mitten auf der Fläche, einsam
und verlassen, Steine vor ihm, unter ihm und hinter ihm. Varyn sah
ihn, ohne sich zu wundern und ohne sich zu freuen.
Erst als Gaven sagte:
»Ich frage mich, wer den hier aufgebaut hat«, wurde Varyn
ein bißchen hellhörig und etwas wacher.
»Oder wo er
hinführt«, erwiderte er leise, ohne es wirklich so zu
meinen.
Gaven zuckte die
Schultern, auch zu erschöpft, um noch zu lachen. »Gehen
wir durch, dann wissen wir es.«
Varyn nickte. Es konnte
ja nichts passieren, wenn das Portal nicht über ihren Köpfen
zusammenbrach. »Du oder ich zuerst?«
Es war egal. Es gab
hier keinen Dämmervogel, keine Antworten, kein Ziel. Das beste,
was ihm hier noch passieren konnte, war, daß er aufwachte und
alles doch nur ein Traum war.
»Wenn schon, dann
gleichzeitig«, antwortete Gaven. »Sonst bist du nachher
weg, und ich komme nicht mehr hinterher.«
»Von mir aus«,
sagte Varyn. Er hatte keine Lust zum Streiten. Es war ihm gleich.
Artig stellte er sich neben Gaven vor das Tor, und statt vergebens in
seinem Herzen nach Aufregung zu suchen, nickte er nur, und gemeinsam
durchschritten Varyn und Gaven das steinerne Portal.
Er war schon halb
hindurch, als Varyn etwas aus den Augenwinkeln bemerkte, etwas, das
ihm nicht aufgefallen war, weil er sich gar nicht mehr die Mühe
gemacht hatte, dieses Tor noch zu untersuchen oder sich auch nur aus
der Nähe anzuschauen. Da war eine Einschrift im Stein, oder
zumindest Zeichen auf einzelnen Steinen, hineingemeißelt, alt -
und es waren Varyns Zeichen. Er wollte einen Schritt zurück
machen, er wollte sie lesen, plötzlich fühlte er wieder
sein Herz klopfen wie lebendig, aber er konnte nicht - etwas zog ihn,
sog ihn vorwärts, durch das Portal, auf die andere Seite.
Und so kamen Varyn und
Gaven in das Reich des Dämmervogels.
Erst war es wie ein
Sturz - genauer, wie ein Sturz, wenn man sehr betrunken war. Die Welt
klappte ihm entgegen, und er kippte haltlos in die Tiefe, ohne sich
in Wirklichkeit auch nur ein Stückweit zu bewegen. Es fühlte
sich an, als überquere er die Grenze zwischen Schlaf und Traum -
doch er war wach dabei.
Dann war er auf der
anderen Seite, und Gaven neben ihm - und sie waren an einem Ort, wie
er ferner der unwirtlichen Steine kaum sein konnte: Es war warm und
heller, aber nicht klar - ein helles Zwielicht füllte den Raum.
Ein Ort, der Kraft und Ruhe ausstrahlte. Varyn war am Ziel.
Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.
Daß die beiden
sich in einer Art Halle befanden, interessierte Gaven offenbar mehr
als Varyn - er sah sich bewundernd und mit großen Augen um: Den
Boden, der mit hellem und dunklen glänzenden Gestein gefliest
war, die hohe Decke, den vielen Platz. Allein in diesem Raum hätte
man ihr ganzes Haus zweimal unterbringen können. Aber Varyn
hatte nur Augen für die große zweiflüglige Tür
am Ende des Saales - der einzige sichtbare Ausgang, und doch waren
sie nicht hindurch gekommen. Diese Tür sollte sich gleich
öffnen. Varyn spürte es, als könne er in die Zukunft
sehen: Die Tür öffnete sich, und herein trat der
Dämmervogel…
Und das war der Moment,
wo die Wirklichkeit etwas anderes tat als erwartet. Herein trat nicht
eine Frau. Herein traten drei.
Varyns erster Gedanke
war Man kann ihre Gesichter sehen! Sein zweiter Gedanke, oder
gleichzeitig: Sie sind unglaublich schön! Und
gleichzeitig der dritte Gedanke: Aber welche von ihnen ist der
Dämmervogel?
Es waren drei Frauen,
jede einzelne von ihnen schöner als alle, die Varyn je gesehen
hatte, zusammen. So schön, daß man nicht einmal davon zu
träumen wagte. So schön, daß man zitterte und
schwitze und fror im gleichen Moment. Sie mußten Schwestern
sein, so sehr ähnelten sich ihre Gesichter - nein, Ähneln
war das falsche Wort: Ähneln war das, was Gaven und Noran,
Edrik, Alsa und Harkon taten. Das hier war mehr als Ähneln. Dies
waren drei Gesichter, mit der selben Form gegossen. Drei Paar Augen,
so tief und schwarz, daß sie nicht mehr braun zu nennen waren.
So groß und schön, daß Engel das Wort war, nicht
Mensch. Drei Engel traten durch die Tür, und einer von ihnen
mußte der Dämmervogel sein.
Sie unterschieden sich
nur in ihren Farben: Ihre Haare, die sie alle drei hoch über dem
Kopf aufgetürmt trugen, so kunstvoll, daß es bestimmt den
halben Tag dauern mochte, sie so herzurichten, waren schwarz bei der
einen, hellblond bei der zweiten und steingrau bei der dritten.
Ebenso war es mit ihren Kleidern - die Schwarze trug ein
tiefdunkelblaues Kleid, die Blonde eines, das fast ohne jede Farbe
war, vielleicht ein ganz helles blau oder grau oder sogar gelb, und
das Kleid der Dritten hatte die Farbe von grauem Lavendel, oder von
Flieder. Die Farben des Zwielichts.
Varyn lächelte,
lächelte sie an, nur sie, und sagte: »Dämmervogel. Du
hast mich gerufen, und ich bin gekommen.«
»Ja«, sagte
sie mit einem seltsamen Tonfall und doch mit der Stimme, die Varyn
aus seinen Träumen kannte. »Dich haben wir gerufen. Aber
wer ist der andere?«
Und in diesem Moment
begriff Varyn, was an diesen perfekten schönen Gesichtern nicht
stimmte: Keines von ihnen lächelte.
Varyn fühlte sich
zittern, er fror, aber er versuchte den Dreien ein Lächeln zu
bieten, als täte er den ganzen Tag lang nichts anderes. »Also,
das Gleiche wollte ich auch fragen«, sagte er mit aller
Dreistigkeit, die er aufbringen konnte. »Ich bin hier, um dich
zu sehen - aber wer sind die anderen?«
Sie standen sich
gegenüber, und zwischen ihnen kein Schleier und kein Nebel und
doch eine Wand. Und Kälte. War er das wert, alle Strapazen, alle
Hoffnung? Varyn lächelte, so sehr er konnte, bis endlich auch
der Dämmervogel ein klein wenig lächelte.
»Gut, Varyniel,
ich werde dir meine Schwestern vorstellen. Dies«, und sie
deutete auf die Frau im hellen Kleid, »ist das Orakel des
Tages, Elysrah Sonnenschwinge.«
Das Orakel des Tages
senkte kurz den Blick.
»Und dies«
- die Frau in Dunkel - »ist das Orakel des Nacht, Asvarah
Nachtfeder.«
Das Orakel der Nacht
nickte.
»Und du«,
fragte Varyn, »bist du das Orakel der Nacht, Dämmervogel?«
»Das bin ich«,
sagte sie sanft, »und mein Name ist Brionvah.«
Varyns Lächeln
erstarb. Es tat weh. Daß sie einen Namen hatte, und wenn es ein
schöner Name war, machte sie gewöhnlich. Sie war immer
etwas besonderes, die schönste Frau der Welt, eine Frau ohne
Gesicht, mit einem Titel anstelle eines Namens. Nun hatte sie beides
- und plötzlich nichts mehr. Varyn schluckte.
»Mein Name ist
Varyn«, sagte er heiser , »einfach nur Varyn, nichts
weiter. Und Gaven ist mein Bruder, und ohne ihn wäre ich jetzt
nicht hier, nie und nimmer.« Er legte den Arm um Gaven und
drückte den Jungen fest an sich.
Er kannte die Stimmen
der beiden anderen Frauen nicht, doch nun wußte er, daß
die Stimme Asvarahs sich auch wie die Nacht anfühlte, als sie
sagte: »Dein Name ist Varyniel. Und du hast keinen Bruder.«
»Du bist
einzigartig, Varyniel«, sagte Elysah. Ihre Stimme war heller
und sanfter. »Du brauchst keine Brüder.«
Aber jetzt war Varyn
wieder ganz da, nüchtern und wachsam. Er hielt Gaven fester.
»Bis ihr mir sagt, wer ich bin und was ich bin, und er und war
ihr seid und was für ein Ort dies ist, bin ich Gavens Bruder.«
Der Dämmervogel
trat einen Schritt vor, daß sie zwischen ihren Schwestern und
den beiden Brüdern stand. »Versteh es, Varyn«, sagte
sie leise. »Wir haben die Wahrheit, die du suchst. Aber sie
geht niemanden etwas an als dich.«
Varyn schüttelte
den Kopf. »Was ihr mir sagt, werde ich auch Gaven erzählen,
so oder so. Also sagt es jetzt, oder ich werde euch kein Wort
glauben.«
»Vertrau mir
nur«, erwiderte der Dämmervogel. »Wenn er die
Wahrheit kennt, will er dein Bruder nicht mehr sein.«
»Nein«,
sagte Gaven und löste sich von Varyn. »Die Wahrheit ist
mir egal. Varyn ist mein Bruder, mehr muß ich nicht wissen.«
»Dann wirst
du es auch nicht wissen«, sagte der Dämmervogel.
»Das ist in
Ordnung«, erwiderte Gaven. »Ich verstehe ohnehin immer
nur die Hälfte von dem, was er redet. Solange ich ihn heile von
euch zurückbekomme, könnt ihr ihn haben.«
»Also gut«,
sagte der Dämmervogel. »Dann werden wir dich jetzt -«
»Nein!«
schrie Varyn. »Nein, verdammt! Das lasse ich nicht zu!«
In dem Moment war ihm egal, daß er es sich gerade vielleicht
mit den einzigen Leuten verscherzte, die ihm helfen konnten - wenn er
jetzt nicht handelte, würde er sich das länger übelnehmen.
»Gaven hat die gleichen Strapazen auf sich genommen wie ich, er
hat genauso geschwitzt und geblutet, er hat ein Recht auf Wahrheiten
wie ich, und wenn es seine eigenen sind! Und wir sind seit der
Morgendämmerung auf den Beiden, nichts gegessen, nichts
getrunken - und ihr werdet Gaven jetzt nicht einfach wegschicken!«
Die Schwestern blickten
einander an, mehr belustigt denn erzürnt.
»Gerechtigkeit«,
sagte Elysrah, und ihre schönen Lippen kräuselten sich.
»Gerechtigkeit«,
wiederholte Asvarah, seufzend.
Und der Dämmervogel
nickte. »Gerechtigkeit.«
Es machte Varyn vor
allem eines: Zornig. »Und das ist alles, was ihr dazu zu sagen
habt?« So wie sich die drei verhielten, stand es ihnen nicht
zu, ein Wort wie Gerechtigkeit auch nur in den Mund zu nehmen! Am
liebsten hätte er sich Gaven geschnappt und auf der Ferse
kehrtgemacht, heim ins Tal, um niemals wieder von dort fortzugehen.
Am liebsten hätte er geheult. Aber er hatte keine Ahnung, wie
sie diesen Ort wieder verlassen konnten. Die einzige Möglichkeit,
aus einer solchen Welt herauszukommen, war Aufwachen. Doch selbst
wenn die Wände hier solide genug aussahen, um den Kopf dagegen
zu schlagen: Varyn schlief nicht, und er träumte nicht.
»Nein,
Schwestern«, sagte der Dämmervogel. »Er hat Recht.«
Varyn ahnte, daß sie es in Wirklichkeit zu ihm sagte. Niemand
würde seine eigenen Schwestern mit ‘Schwestern’
anreden. »Dieser Junge hat aus eigener Kraft hierher gefunden,
und damit steht ihm zu, was jedem Gast des Orakels zusteht.«
»Essen und ein
Bett«, murmelte Gaven an Varyns Seite. »Was anderes will
ich doch gar nicht. Essen und ein Bett, und Wasser zum Waschen…«
Asavah trat vor.
»Still, Junge«, sagte sie streng. »Du stehst vor
dem Orakel und denkst nur an Essen?«
Gaven nickte. »Ich
weiß nicht mal, was so ein Orakel ist - aber das wir beide hier
gleich umfallen, das weiß ich.«
Ein wenig hoben sich
Asvarahs Lippen. »Ein Orakel nennt dir dein Schicksal. Wer uns
aufsucht, dem sagen wir die Zukunft voraus.«
Gaven schüttelte
den Kopf. »Ich will wirklich nur was zu essen und ein Bett,
wirklich! Mein Schicksal lerne ich schon noch kennen, wenn es soweit
ist.«
Varyn wußte
nicht, ob es beeindruckender Mut war, der da aus seinem Bruder
sprach, oder nur beeindruckende Erschöpfung. Aber auf jeden Fall
hatte Gaven es damit geschafft, den Schwester des Dämmervogels,
und vielleicht auch ihr selbst, gehörig auf die Füße
zu treten. Bildlich gesprochen.
»Dein Schicksal -
das sind wir.« Noch nie hatte Varyn von einer Drohung solche
Gänsehaut bekommen wie von diesen Worten, die plötzlich in
der Luft hingen, ohne daß er sagen konnte, welche der
Schwestern sie ausgesprochen hatte. Alle drei?
Doch Gaven war wohl
jenseits des Punktes, wo man ihn noch einschüchtern konnte.
Entweder war es ihm egal, oder er hatte schon aufgegeben. »Das
wüßte ich aber!« schnaubte er. Er zitterte. »Ich
kann meine Zukunft gut selbst voraussehen - ich sterbe, wenn ich
nicht bald etwas zu trinken und zu essen bekomme.« Und das
würde dann wohl ihrer beider Schicksal sein, wenn die Schwestern
sie gleich vor die Tür setzten und zurück in die Steine…
»Wir verstehen«,
sagte Elysrah seltsam sanft. »Wir werden euch ein Mahl
bereiten. Wir werden euch Zimmer geben, in denen ihr schlafen könnt.
Ihr seid nicht in der Verfassung, daß wir unsere Wahrheiten an
Euch verschwenden mögen. Ruht euch aus. Die Zeit läuft uns
hier nicht davon.«
Wenn Gaven diese Frage
nicht selbst stellte, mußte Varyn es tun. »Weil sie still
steht?«
»Die Zeit, wo sie
ist, steht niemals still«, antwortete der Dämmervogel.
»Aber es gibt Orte, da ist sie nicht. Dieser ist einer davon.«
Ihr Blick erinnerte
Varyn daran, daß er schon an mindestens einem weiteren gewesen
war, und Wehmut überkam ihn, Heimweh nach dem Königreich
der Stille, das er nie wieder betreten durfte.
Er schluckte. »Wenn
ihr Gaven etwas erzählen wollt«, sagte er, »und er
seine Zukunft noch nicht wissen will, ehe sie passiert - dann erzählt
ihm von den Steinen von Sharaz. Daß sie ein Geheimnis haben,
daß die Zeit auch dort stillsteht - das hat er gemerkt. Und
dann soll er auch den Rest erfahren, und ich wäre froh, mithören
zu dürfen.«
Er fühlte Gaven an
seiner Seite nicken. »Bitte. Nicht die Zukunft. Die Geschichte
der Steine.«
Aber er wußte
nicht mehr, was und wie die Schwestern antworteten. Er sah nur noch
den Dämmervogel lächeln, und in diesem Lächeln verlor
er sich. In diesem Moment erkannte er, daß nur sein Widerspruch
ihn noch so lange aufrechtgehalten hatte, und daß es nun keinen
Grund mehr zum Widersprechen mehr gab. Im nächsten Moment
klappten Beine und Wirklichkeit unter ihm weg.
Wieder erwachte Varyn
an einem fremden Ort. Dazwischen lag nichts, keine Zeit, keine
Träume, aber er fühlte sich ausgeruht und satt. Und sauber,
so sauber wie seit seinem letzten richtigen Bad nicht mehr - nein,
sogar noch sauberer: Es hing nicht einmal mehr schmutziges Wasser an
ihm. Er fühlte sich rein. Es war ein seltsames Gefühl,
und je mehr er darüber nachdachte, auch kein gutes. Als hätte
er mit dem letzten Körnchen Kohlenstaub auch allen Schutz
verloren und lag nun hier in diesem zu weichen und zu weißen
Bett, nackt. Es mochte ein Traum sein, aber es konnte nicht. Wenn
Sharaz ein Ort war wie das Königreich der Still oder das
Traumland selbst, dann konnte man nicht träumen, wenn man schon
da war. In Sharaz gab es nur diese eine Wirklichkeit, und Varyn war
nackt.
Es war eine Sache, vor
drei schönen Frauen umzukippen und sich hinterher in einem
fremden Bett wiederzufinden - zwar war es Varyn noch nie passiert,
aber er konnte es sich vorstellen. Aber daß die drei schönen
Frauen ihn nicht nur ins Bett steckten, sondern auch noch fütterten,
auszogen und badeten - nein, das ging zu weit. Das wollte
Varyn sich gar nicht vorstellen. Man sollte meinen, daß ihm
nichts mehr peinlich sein konnte, seit alle Welt wußte, daß
Varyn den Verstand verloren hatte - aber das stimmte nicht. Wenn
jetzt der Dämmervogel reinkam oder eine ihrer Schwestern, und
Varyn war nackt - nackt und wach, um es zu erleben - würde er
tausend Tode sterben. Er wollte seine Sachen. Sofort.
Varyn wunderte sich
über sich selbst - er hatte sonst nie Probleme damit, nackt zu
sein, vor seinen Geschwistern, vor den Soldaten - sein Körper
war nichts, dessen er sich schämen mußte, kein Mann hatte
ihn je dafür ausgelacht und auch keine Frau - aber dies war
etwas ganz, ganz anderes. Wo also waren seine Kleider?
Varyn hechtete aus dem
Bett - er hatte schon zuviel Zeit vergeudet, jetzt mußte es
schnell gehen. Jetzt durfte er sich nicht mal mehr darüber
wundern, wie weich dieses Bett war, daß es nicht stach und
nicht kratzte und nicht piekste, und wie weiß - so weiß,
daß einem gar keine andere Farbe dafür einfiel. Das Bett
war egal - oder sollte er sich vielleicht die Laken umhängen?
Das war noch lächerlicher, als nackt zu bleiben.
Varyn wollte seine
Hosen, sofort, und seine Schuhe, und sein Hemd. Aber alles, was er
fand, über einen Stuhl gebreitet, war ein Hemd. Nicht sein
eigenes, es war zu weiß dafür - Varyns Sachen waren grau,
blau oder schwarz, aber niemals weiß - seine Tante hatte schon
genug zu waschen. Trotzdem nahm Varyn das Hemd auf und zog es an -
und an - und an: Es reichte ihm bis auf die Füße. Ein
Nachthemd. Aber immerhin besser als nichts. Wenn die Schwestern
beschlossen hatten, Varyns Sachen zu waschen - und bei allen Engeln,
das hatten die sicherlich nötig: Langsam ging Varyn auf, wie
sehr Gaven und er doch gestunken haben mußten. Und das erklärte
dann auch den frostigen Empfang… Bei der Vorstellung mußte
Varyn lachen. Alles erschien leichter, schöner, besser, jetzt,
wo er nicht mehr mit Erschöpfung und Hunger zu kämpfen
hatte. Jetzt war er vielleicht nackt und trug nur ein Nachthemd
darüber, aber er war am Ziel.
Varyn lachte noch
immer, als sich die Türen des Zimmers auftaten und der
Dämmervogel hereinkam. Auf der Schwelle blieb sie stehen,
blickte ihn an, und lächelte.
»Varyniel - ich
bin erfreut, dich ausgeruht und erholt vorzufinden.«
Ihr Lächeln machte
Varyn plötzlich wieder verlegen. Es mußte an dem Hemd
liegen oder daran, daß seine Füße viel zu grob und
groß darunter hervorragten - dieses Gewand verlangte
eigentlich, daß man nur noch auf Zehenspitzen ging und dabei
flüsterte. »Danke«, brachte er heiser hervor und
errötete. »Gestern war ich so erledigt - ich erinnere mich
nicht mal mehr, gegessen zu haben, geschweige denn, wie ich ins Bett
gekommen bin.«
»Und es wird dir
auch nicht mehr einfallen«, entgegnete sie, »aber das ist
nicht weiter schlimm. Ich bitte dich, mit mir zu kommen. Meine
Schwestern erwarten dich bereits.«
»Und mein
Bruder?«
»Auch der, den du
Bruder nennst.« Sie seufzte. »Ich kann dich verstehen,
Varyniel, aber du hättest ihn nicht mitbringen sollen. Es macht
alles nur viel schwieriger.«
Ihre Verlegenheit
machte Varyn wieder sicherer. »Für mich oder für
euch?«
Sie antwortete nicht
darauf, aber das mußte sie auch nicht. Varyn hatte seinen Punkt
gemacht. »Das Gewand paßt dir besser, als ich erwartet
habe«, sagte sie statt dessen.
»Es war nichts
anderes da.« Warum entschuldigte sich Varyn? Er hatte die
Sachen schließlich nicht selbst versteckt! »Es ist ja
eigentlich gedacht, um drin zu schlafen, aber ich habe es gerade erst
gefunden.«
Sie schüttelte den
Kopf. »Es ist ein Robe, Varyniel, kein Nachthemd. Aber das
wirst du noch lerne. Du wirst noch vieles lernen.«
Ihre Stimme war so
ernst, daß Varyn scherzen mußte. »Nur, wenn du
lernst, daß mein Name Varyn ist - und wie soll ich dich
anreden? Brionvah?« Er sprach ihren Namen das erst Mal aus, er
war fremd und schmeckte nicht. Varyn war froh, als sie abwinkte.
»Hier bin ich
Brionvah, aber für dich bin ich der Dämmervogel und werde
es immer sein. So wie du immer Varyniel bist. Aber nun komm.«
Sie streckte ihm eine
kalkweiße Hand hin. Varyn zögerte. Er wagte es nicht, sie
zu nehmen - nicht, sie auch nur zu berühren. »Es ist das
erste Mal, daß wir uns wirklich gegenüberstehen, nicht
wahr?« fragte er leise. »Ich meine nicht gestern, ich
meine - vorher?«
Sie nickte. »Du
kennst mein Traum-, Send- und Schattenbild. Ich aber kenne dich. Und
wenn du mit mir kommst, wirst du beides kennenlernen.«
Es klang fast wie eine
Drohung. Varyn gehorchte. Einen Moment lang war ihm schwindelig, als
er ihre kühlen Finger berührte. Dann stand er neben ihr im
Eingang einer Halle.
Es war nicht die, in
der sie gestern angekommen waren - diese hier war wenigstens nicht
völlig leer. In der Mitte - und Varyn spürte, daß es
genau die Mitte des Saales war - stand ein Podest, achteckig,
aus hellgrauem Gestein, brusthoch. Das war es aber nicht, was dem
Raum die Leere nahm: Es war die Kugel, die über dem Podest
schwebte.
Sie mochte einen halben
Schritt im Durchmesser haben, ziemlich klein für so einen großen
Saal und doch beherrschend. Vielleicht war sie aus Glas und mit Nebel
gefüllt. Vielleicht war sie aus Nebel und mit Glas gefüllt.
Es war egal. Sie war da. Und sie zog Varyn an wie der Abgrund einen
stürzenden Stein. Etwas bewegte sich darin - etwas lebte - und
es wollte, daß Varyn es befreite…
»Rühr es
nicht an!« Asvarahs Stimme zerschnitt den Raum. Das Orakel der
Nacht stand hinter der Kugel, das des Tages neben ihr, und ihre
Gesichter waren in ein bläuliches Licht getaucht, das aus der
Kugel drang, ohne daß diese leuchtete.
Varyn hob schnell
entschuldigend die Hände. Er wollte es ja nicht anfassen, nur
schauen, aber dennoch…
Und dann sah er Gaven.
Er stand im Schatten
der beiden Schwestern, zerzaust sein Haar, trotzig seine Augen,
zerschlissen seine Kleider, schmutzig. Varyn fühlte Gavens Blick
an ihm hinunterwanderte, und was die Mundwinkel des Jungen dann
kräuselte, war Hohn - aber Varyn spürte Wut. Selbst wenn
die Schwestern auf Gaven nicht vorbereitet waren und auf Varyn seit
langem, mußten sie das nicht so deutlich zeigen. Er wünschte
sich seine alten Sachen zurück. Hoffentlich war Gaven zumindest
ausgeruht und hatte auch etwas zu essen bekommen! Aber trotzdem sagte
Varyn nichts dazu. Es half nicht, sich immerzu zu wiederholen.
»Was ist das?«
fragte er und deutete mit der Stirn auf die Kugel, während er
die Hände hinter den Rücken nahm - wenn er sie nicht
anfassen durfte, wollte er auch nicht mehr in Versuchung geführt
werden. Nur die Finger danach ausstrecken…
»Ist dies das Orakel?« Er mußte wieder an die alte
Frau in der Hütte denken mit ihren Kerzen und Knöchelchen -
das hier war schon etwas anderes.
»Nein«,
sagte der Dämmervogel. »Das Orakel sind wir. Die Kugel ist
nur unser Fokus - er hilft uns, das Schicksal zu sehen.«
»Dein Schicksal«,
sagte Elysrah.
Varyn schüttelte
den Kopf. »Bitte, spart das auf für später.« Es
machte ihm Angst - das Schicksal, eingesperrt in einer Kugel voll
Nebel - der kalte Steinboden unter seinen Füßen, das
fremde Hemd - in seinem Herzen wußte Varyn, daß er ein
Feigling war. »Ich habe schon so viel von euch bekommen, aber
mein Bruder noch nicht - ihm steht die erste Antwort zu, nicht mir.
Vor allem -« Er schluckte. Etwas schnürte ihm die Kehle
zu. »Vor allem, wenn er danach nichts mehr mit mir zu tun haben
will - dann würde er auch nicht mehr bleiben wollen, um sie zu
hören.« Mit langsamen Schritten trat er zu Gaven hin. »Wie
geht’s dir?« fragte er leise.
Gaven zuckte die
Schultern. »Weiß nicht«, sagte er. »Seltsam
hier - ich kann’s nicht wirklich sagen. Gut, denke ich. Aber
warum bist du angezogen wie ein Mädchen?«
»Ist nur ein
Nachthemd«, flüsterte Varyn zurück. »Hab es mir
vom Dämmervogel geliehen.« Er wollte ihm nicht die
Wahrheit sagen. Gaven wußte schon, daß er hier
unerwünscht war, da mußte Varyn es ihn nicht auch noch
unter die Nase reiben.
»Vom
Dämmervogel?« Gaven riß die Augenbrauen hoch. »Habt
ihr zwei etwa -«
Varyn ohrfeigte ihn
ohne nachzudenken. Entschuldigen konnte er sich hinterher immer noch,
wenn es sein mußte - solange der Dämmervogel das Ganze
ignorierte, würde Varyn nicht weiter darauf eingehen.
Gaven machte sich nicht
viel aus Ohrfeigen, als daß er es ihm jetzt lange übelnehmen
sollte. Er schnaubte nur kurz. »Also gut«, sagte er.
»Erzählt mir nur, warum die Zeit hier stillsteht. Dann bin
ich hier weg, und ihr könnt mit Varyn machen was ihr wollt.«
»Wenn das euer
Wunsch ist«, sagte Elysrah, »dann sei es so. Tretet vor,
beide, und schaut in die Kugel.«
Varyn nickte.
Hineinschauen: Mit den Augen. Nicht mit den Fingern. Aber wenn sie
sich der Kugel nun nähern durften… »Gut«,
sagte er. »Danke.«
»Und dann sehen
wir darin etwas?« fragte Gaven, die Augen überall, nur
nicht auf der Kugel.
Asvarah lachte leise.
»Sehen werde ihr nur, was eure Vorstellungskraft euch sehen
läßt. Unsere Stimmen sind das Wichtigste für euch.
Aber eure Augen wollen sich an etwas festhalten, und wir wollen euch
aufmerksam, nicht abgelenkt. Darum: Schaut in die Kugel.«
Gaven blickte Varyn
zweifelnd an, und erst als der nickte, trat er vorsichtig an die
Kugel heran, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Er biß die Lippen zusammen und ging auf die Zehenspitzen; sein
Gesicht so konzentriert, wie Varyn ihn sich oft gewünscht und
nie bekommen hatte. Jeder Zoll von Gaven war Wachsamkeit, und das war
gut, denn es bedeutete, daß der Junge auf sich Acht gab, daß
Varyn sich selbst in der Kugel verlieren durfte, ohne daß
Sorgen um seinen Bruder ihn zurückhielten. Varyn atmete tief
ein, langsam aus, füllte sich mit Ruhe, bis er seinen Atem und
seinen Herzschlag nicht mehr hören konnte, und ließ dann
sich und seinen Blick in den gläsernen Nebel fallen, bis die
Kugel in ihm war und er in der Kugel.
Die Stimmen erreichten
ihn von weither, doch sie waren klar und deutlich, und jedes Wort
sickerte direkt in Varyns Verstand, ohne noch den Umweg über
seine Ohren nehmen zu müssen. Und was in den Worten war, war in
dem wirbelnden Nebel; nahm Gestalt an, unsichtbar für jeden als
Varyn.
»Vor langer Zeit,
vor mehr als tausend Jahren, als die Elomaran noch auf unserer Welt
wandelten, wurde schon Schiefer an diesem Ort geschlagen. Die
Menschen, die hier lebten und arbeiteten, waren arme, gewöhnliche
Leute, und niemand achtete sie oder ihre Heimat eines Engels würdig.«
Varyn lächelte.
Die Menschen, die der sah, trugen die vertrauten Gesichter seiner
Brüder und Schwestern und der anderen Bergleute, die für
seinen Onkel arbeiteten. Und da er nicht wußte, wie Schiefer
abgebaut wurde, schlugen sie das Gestein wie Kohle.
»So lebten die
Menschen unberührt von Engeln und Göttern, vom Himmel und
vom Abgrund - und solche Orte sind es, die das Unheil anziehen:
Diejenigen, die in der Tiefe sind, streben nach oben, um an der
Oberfläche ihr Werk der Zerstörung zu vollbringen. Und was
wäre ein besseres Ziel als ein Ort wie dieser, der ebenso
unschuldig wie arglos ist?«
Die Stimme jagte Varyn
Angst ein. Es war ihm egal, wer das sprach - die Worte waren egal,
wenn es um die Geschichte ging. Aber für Varyn handelte sie
nicht vom alten Sharaz - sondern von seinem Tal. Abgeschieden und
arglos, ohne Engel und Furcht - und voll mit fleißigen
Bergleuten, die nur darauf warteten, den Nilomar aufzubrechen…
»Und so geschah
es hier, wie es schon an manchem Ort geschah in diesen Zeiten, die
wild waren und finster, bevor die Länder waren was sie wurden
und die Welt der Menschen nach dem Verrat der Götter in Trümmern
lag, daß die Erde bebte und sich ein Riß im Boden auftat,
der direkt hinunterführte in den Nilomar, den endlosen Abgrund,
über dem diese Welt zu liegen verdammt ist…«
Reglos nickte Varyn.
Was der Nilomar war, das mußte ihm niemand mehr erklären
und auch Gaven nicht. Vielleicht waren sie im Tal doch nicht so
arglos wie die Leute von Sharaz, bitte nicht, hoffentlich nicht! Er
sah die Erde beben, er sah den Boden aufreißen wie ein gieriges
Maul, bereit, das Tal und alle die darin waren zu verschlingen. Er
sah Entsetzen in den Gesichtern, er sah seine Tante schreien, er sah
Grauen in den Augen seines Onkels - war das noch die Erzählung
der Schwestern? Oder war es etwas anderes, sein eigenes Schicksal?
Und hatte er es nicht schon oft gesehen, ebendiese Bilder, ebendiesen
Tod, so oft, seit die Heimsuchungen begannen?
»Die Menschen
sahen den Riß, und auch wenn er für sie nicht mehr war als
ein Loch im Boden, erkannten sie doch die Gefahr, die von dieser
Stelle ausging. Erst war erst nur ein feiner Riß, kaum breit
genug, um einen Finger hineinzustrecken, aber bodenlos. Und die Leute
ahnten, daß er weiter wachsen würde. Da taten sie, was die
Geschichte sie gelehrt hatte: Sie halfen sich selbst. Es war eine
Zeit, in der Gebete kein Ziel hatten und kein Ohr fanden, und so kam
es, daß niemand mehr betete und niemand mehr hoffte.«
Aber Varyn sah seine
Leute hoffen und beten und weinen und schreien, und der Abgrund
klaffte weiter auf als der Fluß, und die Berge bebten - doch
alles blieb stumm, und nichts war zu hören als die sanften
Stimmen aus einer anderen Zeit.
»Sie beschlossen,
das Loch zu stopfen, und dafür nahmen sie, was sie hatten:
Steine. Sie schleppten das Geröll und den Abraum aus
Jahrhunderten des Schieferbergbaus zu der Stelle, wo sich der Boden
auftat; Korb um Korb, Kiepe um Kiepe setzten sie ihre Halden um,
türmten alles zu einem riesigen Berg, um dem aufbrechenden
Abgrund Einhalt zu gebieten. Bald taten sie nichts mehr, als Steine
um Steine zu schleppen.«
In Varyns Welt
schleppte niemand Steine. In Varyns Welt driftete der Abgrund
auseinander und auseinander und gab den Blick frei auf ein brodelndes
Dunkel. Varyn wollte nicht mehr; er wollte weg, zurück in die
Halle und die Kugel Kugel sein lassen, die Augen zukneifen,
aufwachen.
»Doch der Abgrund
war nicht aufzuhalten, und so hoch der Berg oben auch aufgeschüttet
werden mochte, unten rieselten und fielen immerfort Erde und Steine
in den Riß, der sich weiter und weiter auftat. Und es war nur
eine Frage der Zeit, bis kein einer Stein mehr übrig sein würde
und der Nilomar den Sieg davontragen. Doch wenn auch die Götter
fort sein mochten, blieben doch die Mühen und die Geschicke der
Menschen nicht unbeobachtet.«
Der Teil von Varyn, der
sich nicht von Angst und Dunkelheit überwältigen ließ,
verstand jetzt das, was sie draußen gesehen hatten, den
Trichter aus Steinen - doch dieses Wissen half ihm nichts mehr. Er
konnte sein Tal nicht retten. Er konnte die Menschen nicht warnen. Er
konnte nicht einmal schreien.
»Der Engel des
Schicksals, dem nichts auf dieser Welt verborgen bleibt, wußte,
daß es an ihm war, dem Abgrund Einhalt zu gebieten, denn er war
der Herr über die Geschicke der Menschen und wie alle Elomaran
ein erbitterter Feind des Nilomar. Er kam in dieses Tal, unerkannt
und wie ein Fremder. Er war mächtig, vielleicht mächtiger
als alle Elomaran zusammen, doch auch er konnte nichts tun, um den
Riß zu schließen - das Geschehene ungeschehen zu machen,
bringt die Welt aus dem Gleichgewicht, und darum darf es nicht sein.
Doch er war auch der Herr über alle Zeit, und als solcher konnte
er eines tun: Er hielt für die Steine die Zeit an, daß sie
nicht noch weiter in den Abgrund rutschten konnten, sondern
verharrten wo und wie sie waren. Und so wurden und blieben sie, was
sie heute sind: Sie gehorchen dem Wind und der Witterung, nur die
Zeit allein hat keine Macht mehr über sie, und nicht der
Abgrund.«
Varyn brauchte eine
Weile, um zu begreifen, daß die Erzählung vorbei war.
Seine Geschichte war nicht vorbei und war es doch. Das Bild war
erstarrt, wie die Zeit der Steine - die Menschen eingefroren in Tod
und Schrecken, und Varyn zwischen ihnen, frei von der Zeit, gefangen
in einem Augenblick. Er irrte stolpernd zwischen den reglosen
Gestalten, ohne Ziel, ohne Ausweg, bis ihn gnädiger gläserner
Nebel umfing und er wieder in der Halle stand, vor der Kugel, nicht
mehr darin, gefangen nur noch in der Erinnerung, im Schatten der
Bilder. Die Stimmen um ihn herum waren fremd und unwirklich.
»Engel des
Schicksals? Seit wann soll es den denn geben?« Eine kecke
Jungenstimme, viel zu munter in all dem Elend, ein Junge, der nichts
begreifen konnte in Jugend und Dummheit.
»Der Engel des
Schicksals. Sharazander.« Langsam kehrte die Gegenwart zu Varyn
zurück: Frauenstimme. Sanft. Elysrah Sonnenschwinge. Und der
Junge davor war Gaven. Genau. »Die Steine tragen seinen Namen
bis heute, und doch ist das alles, was heute noch an ihn erinnert.«
»Aber es gibt
acht Engel!« rief Gaven. »Keinen mehr, keinen weniger!«
»Irre nicht,
Junge. Nur weil ein Engel nicht bekannt sein möchte und nicht
angebetet werden, heißt das nicht, daß es ihn nicht
gibt.«
Varyn zwang sich, den
Kopf zu heben und sie anzublicken anstelle der kalten Kugel. Elysrah.
Asvarah. Und den Dämmervogel.
»Und nun, Junge«,
sagte der Dämmervogel, »sind deine Fragen beantwortet, und
du hast genug gehört. Bitte geh nun und warte draußen vor
der Tür. Sei geduldig.«
Varyn konnte sich kaum
rühren, geschweige denn widersprechen - er wollte, daß
Gaven blieb, er mußte ihn warnen vor dem, was er schon so lange
ahnte und immer verschwiegen hatte. Er brauchte Gaven. Gaven mußte
bei ihm bleiben, durfte ihn nicht verlassen, durfte nicht im Abgrund
verloren gehen - aber da nickte Gaven schon, und war fort.
Einen Moment lang griff
Panik nach Varyn. Das, was er am meisten fürchtete, war
eingetreten - und in dem Augenblick begriff Varyn, daß das
nicht stimmte. Er fürchtete sich nicht davor, mit den Schwestern
allein zu sein. Er fürchtete um sein Tal. Sonst nichts. Kein
Wahn, keine Wahrheit konnte ihm jetzt noch Angst einjagen.
»Du bist so
still, Varyniel«, sagte der Dämmervogel leise. »Hast
du keine Fragen an uns?«
Langsam kehrten seine
Sinne zu Varyn zurück. »Wißt ihr, was ich gesehen
habe? Ist das die Wirklichkeit? Oder die Zukunft?«
Der Dämmervogel
strich ihm sanft über den Arm, ganz nah und doch so körperlos
wie im Traum. Es tat gut. »Was du gesehen hast, kannst nur du
selbst ergründen. Du bist für eine andere Wahrheit hier.«
Varyn schwieg. Es
erschien ihm plötzlich seltsam bedeutungslos. Welcher Eigensinn
ihn aus dem Tal getrieben hatte, welche Fragen er an sich selbst
gehabt haben mochte - war es das wert, seine Familie, seine Freunde
im Stich zu lassen, wo sie ihn am dringendsten brauchten? Er
schüttelte den Kopf. Er wollte nichts mehr hören. Seine
Antworten hatte er schon: Er wußte, woran er war, und wo sein
Herz schlug. Alles andere… alles andere brauchte er nicht. Er
wollte nach Hause. Sonst nichts.
»Was wir dir
jetzt sagen, wirst du schon lange insgeheim ahnen«, sagte der
Dämmervogel. »Auch wenn du es wohl nie gewagt -«
Varyn hob die Hände.
»Bitte, macht es kurz. Ich will keine langen Erklärungen.
Ich will es nur hinter mir haben.« Und dann seine Sachen wieder
anziehen, und Gaven schnappen, und heim.
»Wie du willst«,
sagte der Dämmervogel. Die Schwestern blickten sich an, nickten.
Doch Varyn ertrug es nicht länger, ihre Gesichter zu sehen. Er
starrte wieder auf die Kugel; ihr mußte er mehr glauben als den
sanften Stimmen - doch sie blieb gefüllt mit stummen Nebel.
Dann sagte, vielleicht,
Asvarah: »Du hast Engelsblut, Varyniel.«
Varyn antwortete nicht.
War er überrascht? Hatte er damit gerechnet? Oder war es ihm
gleichgültig?
»Du wußtest
es schon, nicht wahr?« fragte der Dämmervogel. »Warum
sonst warst du immer besser als alle anderen? Aber es stimmt, es ist
wahr. Du birgst einen Engel in dir.«
Varyn schüttelte
den Kopf. Nicht aus Unglauben, sondern damit sie schwieg. Und wenn es
so war? Hatte er je um Engelsblut gebeten?
Sie standen um ihn
herum, ein unerbittliches Dreieck, und ließen ihm keinen
Frieden. Varyn wollte keine von ihnen anblicken. Aber er mußte
etwas sagen, etwas, das sie hören wollten, sonst würden sie
ihn nie gehen lassen.
»Warum sagt ihr
mir das?« brach es aus ihm heraus. »Warum mußte ich
herkommen?« Es war nicht das, was sie hören, und nicht
das, was er sagen wollte. Er war aus eigener Entscheidung aus dem Tal
ausgebrochen, hergekommen. Niemand hatte ihn gezwungen. Er war ihrem
Rufen gefolgt, weil er genau die Art von Antwort gesucht hatte, die
er nun hören mußte. Eigentlich solle er zufrieden sein.
Ein Engelsgeborener. Und doch… »Warum hast du es mir
nicht sofort gesagt?« Jetzt sprach er nur noch mit dem
Dämmervogel. »Du hättest es mir schon im Tal sagen
können, schon vor Monaten. Warum erst hier? Warum erst jetzt?«
»Weil ich es
nicht darf«, erwiderte sie und wirkte endlich wie eine
lebendige Frau, wie jemand, für den es Grenzen gab. »Ich
war nicht wirklich bei dir, nur in deinem Geist. Es war niemand da,
der dir dieses Wissen geben konnte. Nur hier.«
»Und warum mußtet
ihr es mir überhaupt sagen?« Was sollte dieses Wissen
ändern? Es half Varyn nicht, machte ihn nur noch fremder -
»Damit du deine
Aufgabe begreifst, wenn sie dir begegnet«, sagte der
Dämmervogel, wieder kühl und fern. »Engelsblut ist
eine Gabe, kein Geschenk.«
Varyn nickte. »Ich
habe meine Aufgabe gesehen«, murmelte er und wünschte, er
hätte es nicht. So oft gesehen, so oft…
Sie schüttelten
ihre Köpfe. »Deine Aufgabe wird noch kommen, Varyniel.
Nicht an diesem Tag, und nicht an diesem Ort.«
»Ich will heim«,
erwiderte Varyn. »Ich weiß, was passieren wird, wenn ich
hierbleibe! Ich komme wieder, später, ich verspreche es, aber
laßt mich jetzt gehen.« Der Abgrund verschlang das Tal.
So wie er es schon so oft getan hatte. Wenn er es nicht schon längst
getan hatte…
»Du wirst noch
oft an diesen Ort zurückkehren.« Es war Asvarah, deren
Stimme Varyn wieder Angst machte. Er sehnte sich den alten
Dämmervogel zurück, der kein Gesicht hatte, den er in der
vertrauten Zweisamkeit seiner Träume treffen konnte. Drei von
der Sorte, und in Fleisch und Blut, waren zuviel für ihn.
»Dein Blut hat
dich hergerufen, dein Blut rufen wir wieder her. Wir haben lange nach
dir gesucht, Varyniel, seit dich uns das Schicksal zum ersten Mal
sehen ließ. Du trägst das Blut -«
Und in diesem Moment
begann es in Varyns Schädel zu dröhnen, von einem Gedanken,
einem Begreifen, das hinauswollte und drängte und nicht durfte,
weil Varyn es nicht zuließ. Die Frage, die er hätte
stellen müssen, und die er nicht stellte, weil er ihre Antwort
schon kannte und doch nicht kennen wollte. ‘Welches Blut?
Welcher Engel?’ Die Bilder in seinem Kopf sprachen ihre eigene
Sprache. Sie schrieen einen Namen, spieen seine Zeichen vor Varyns
Augen, daß er nichts anderes sehen, denken, fühlen konnte:
Sharazander. Der Engel des Schicksals. Der Engel, dessen Blut in
Varyns Augen floß. Der Engel, der Varyn in ein wandelndes
Orakel verwandelt hatte. Der Engel, dessen Blut sich Varyn
herausreißen würde, sobald er wußte, wie es irgend
ging; er wollte ein Mensch sein, kein Engel, kein Orakel, kein
Schicksal -
»Sharazander«,
sagte Varyn.
Und der Dämmervogel sagte: »Ja. Auch der.«
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