Der kräftig
gebaute Schatten verschwand zügig im Frühnebel des Berges,
dass bald nur noch die kräftigen Schultern zu erahnen waren,
doch Mendrion sah wenig Sinn darin, ihm nachzublicken. Die Sonne ging
auf, und das bedeutete, Dannen schnürte sich einen Rucksack mit
Brotzeit und Feldflasche und brach ins Gebirge auf. Aber selbst wenn
ihm das gut tun mochte - die frische Luft, die Bewegung, und nicht
zuletzt die Einsamkeit - war solcher Sport doch nichts für
Mendrion. Und so brauchte er keine großen Ausreden, um an
Leotas Seite zu bleiben. Berge hin, Jagdgründe her - sie waren
zu einem anderen Zweck in Elad Courblaka. Sie hatten Arbeit zu tun in
diesem Tal. Aber es war eine Arbeit, für die man sie auf ewig
nur als 'Die Fremden' bezeichnen würde - jetzt nach zwei
Wochen, aber auch noch in Jahren - und Mendrion wagte nicht zu
fragen, wie lange sie noch hier sitzen und warten sollten. Und
Patrouillen reiten, sinnlose Patrouillen, die kaum einen Sinn hatten,
als den Pferden ein wenig Bewegung zu verschaffen. Arme Pferde.
Dieses Tal war kein Ort für sie, und nicht für einen
Hauptmann, dessen Krieg nun ohne ihn statt finden mußte.
Also hatte Mendrion die
Wahl: Patrouillieren in der Hoffnung, die Jungen noch vor dem Tal zu
erwischen, bevor einer der Dorfbewohner die beiden warnen konnte, daß
die Häscher des Königs hinter ihnen her waren. Oder dem
vergnügten Wandersmann im Dunst auf den Berg zu folgen. Oder im
Wirtshaus zu sitzen und sich von der Dorfjugend erst bestaunen und
dann beleidigen zu lassen, nur um zwischendurch die schöne Venna
für sich allein zu haben. Oder zusammen mit Leota Varyns - oder
besser: Gavens - Mutter von der Arbeit abzuhalten, alles für
einen Moment mit der schönen Königstochter - nichts davon
war das Wahre. Was immer man hier auch über königliche
Hauptmänner sagen und denken mochte, Mendrion lebte dafür,
nützlich zu sein und dabei noch bewundert zu werden. Er wollte
nicht als Hanswurst enden und war doch auf dem besten Wege dorthin.
»Sagt, Leota, ist
es in Ordnung, wenn ich mit Euch komme?«
Sie zuckte die
Schultern. »Tut, was Ihr nicht lassen könnt. Aber erwartet
nicht, daß wir heute noch etwas Neues erfahren werden.«
Mendrion versuchte zu
lachen. »Natürlich nicht.« Sie wußten, was es
über Varyn zu wissen gab - und das war nur unwesentlich mehr,
als sie bei ihrer Ankunft wußten. Alles an seiner Herkunft war
seltsam genug, um ins Bild zu passen, und der Schuft von einem
Wanderarbeiter, der den Jungen gezeugt hatte, mochte ebensogut ein
Engel auf der Durchreise gewesen sein - es änderte nichts, und
das Wissen nutzte auch niemandem, solange sie hier festsaßen.
»Irgendwann
müssen wir uns damit abfinden«, sagte Mendrion. »Er
kommt nicht mehr hierher zurück. Ist längst über alle
Berge, hat sich nach Elysir durchgeschlagen oder sonstwo hin, hat
seinen Bruder totgeschlagen und traut sich nicht heim - wir sehen ihn
nicht wieder.«
Leota schüttelte
den Kopf. »Ich will hier nicht überwintern, ganz sicher
nicht. Ich würd gern zu meinem Vater gehen und ihm sagen, tut
mir leid, der Junge ist tot - aber das geht nicht, solange er noch
irgendwo lebend auftauchen könnte.«
»Aber das kann er
auch, während wir hier warten - und uns derweil zu Tode
langweilen.« Nein, das waren nicht Mendrions Pläne! Da
freute er sich so auf den Moment, wo er mit Leota allein sein sollte
- und vermutete, daß Dannens Bergwanderungen auch dazu dienten,
ihm diese Gelegenheit zu geben - und dann redeten sie doch immerzu
nur über Varyn. Und wenn es eine Sache gab, die Mendrion dem
Kohlenjungen übelnahm, dann das!
»Wenn Ihr Euch
langweilt, unterrichtet die Burschen hier mit dem Schwert. Oder
vergnügt Euch mit der Schankmagd.«
Oh, diese Worte
schmerzten! Mendrion hatte die Schankmagd gnädig Dannen
überlassen - von ein paar neckenden Worten dann und wann mal
abgesehen - damit Leota nicht schlecht von ihm dachte. Aber es hätte
wohl keinen Unterschied gemacht, wenn die beiden Männer sich die
Wirtstochter geteilt hätten; Venna war ein einfach gestricktes,
gut gebautes Mädchen, das um ein bißchen Abwechslung froh
war. Mendrion verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, was
Ihr von mir denkt, Leota -«
Sie lachte schnippisch.
»Wißt Ihr, Mendrion«, sagte sie, »für
gewöhnlich ziehe ich es vor, gar nicht an Euch zu denken.«
»Wie auch immer«,
sagte Mendrion. »Gehen wir.« Es war müßig, auf
dem Thema weiter herumzureiten oder auch nur zu fragen, was sie schon
wieder bei Varyns Familie wollte. Der Mutter im Haushalt helfen? Ganz
sicher nicht. Aber sie gingen dort so oft aus und ein, dass nicht
mehr viel fehlte, bis die Kinder sie mit Onkel und Tante anreden
würden. Oder, bis man sie eines Tages endgültig vor die Tür
setzte.
Unüberhörbar
seufzte die Frau, als schon wieder zwei ungebetene Gäste vor
ihrer Tür standen und Einlaß verlangten. »Tretet
ein, in Vigilanders Namen.« Sie gab die Tür frei - eine
kleine schmale Frau, die nur aus Entfernung zerbrechlich wirkte,
bevor man die harten Muskeln unter der Haut sah und das strenge
Gesicht unter dem schwarzen Haarknoten. Unverkennbar ihre Ähnlichkeit
mit Gaven, der hatte ihre wachen schwarzen Augen geerbt - und ebenso
unverkennbar hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit
Varyn.
Auch Leotas Stimme war
streng und lange nicht mehr so freundlich wie noch vor einer Woche.
»Wirklich, Katka, Ihr wißt, wie ungern ich Euch von der
Arbeit abhalte - aber wenn Ihr Euch nicht entschließt, mit uns
zu reden, habe ich keine andere Wahl.«
Die Hütte war karg
und wirkte armseliger, als man von der Familie eines Mannes erwarten
durfte, der immerhin ein Bergwerk besaß. Aber reich war hier
oben niemand, und auch niemand dick - da mochte Dannen noch so sehr
jammern, aber er war zur Zeit sicherlich der bestgenährte Mann
im ganzen Tal. Mendrion konnte froh sein um die paar Pfunde, die ihm
an dem Titel fehlten. Dennoch, selbst für diese Maßstäbe
war Varyn zu dünn. An den Kochkünsten der Mutter sollte es
sicher nicht liegen.
»Warum soll ich
mit Euch reden wollen? Ihr sagt mir nicht einmal, warum Ihr meine
Söhne jagt - was erwartet Ihr von mir oder meinem Mann?«
»Wir reisen im
Auftrag des Königs«, erwiderte Leota hart. »Das ist
alles, was Ihr wissen müßt.«
Die Frau lachte. »Ich
bin die Mutter dieser beiden Jungen - und das ist alles, was Ihr
wissen müßt.«
Leota schüttelte
den Kopf. Mendrion verzog keine Miene. Sie konnten der Frau jetzt
sagen, daß sie den Grund selbst nicht wußten - aber was
für einen Eindruck sollte das machen? Es war der beste Weg, um
noch lauter ausgelacht zu werden. An Sturheit war diese Frau ihrem
Mann ebenbürtig, und an Dreistigkeit das ganze Dorf. Es hätte
Mendrion nicht mal gewundert, wenn die Leute hier längst wußten,
daß Leota und Dannen nicht irgendwelche königlichen
Gesandten waren - hier machte es keinen Unterschied, und so war es
den Engelsgeborenen weniger peinlich, sich hier hinter ihrer
vorgeblichen Anonymität verstecken zu können. Und für
Mendrion sowieso.
»Wenn wir Euch
irgendwie zur Hand gehen können?« fragte Leota.
Aber so gern Mendrion
die Königstochter mal mit dem Besen in der Hand gesehen hätte
oder am Kochtopf, sagte die Bergmannsfrau nur: »Ach, setzt Euch
einfach irgendwo hin, und seid mir nicht in den Füßen.«
Sie setzten sich an den
massiv gezimmerten Esstisch, von dessen glattgehobelter Platte sicher
schon Generationen von Kohlenhauern und Kindern gegessen hatten, und
dann begann das quälende Warten, wer zuerst etwas sagen würde.
Katka hatte die besseren Karten: Sie war zu beschäftigt.
Mendrion dagegen wünschte sich, wieder einmal, doch Patrouille
geritten zu sein. Oder mit Dannen auf den Berg gestiegen. Es war kein
Vergnügen, einer Frau bei der Hausarbeit zuzusehen, erst recht
nicht für einen Mann. Mendrion fühlte sich überflüssig
und fehl am Platz. Aber zuvor hatte es Leota auch schon allein
versucht, von Frau zu Frau - das Ergebnis war das Gleiche. Ob er sie
einmal fragen sollte, ob sie Würfel dabeihatte oder Spielkarten?
Mendrion ließ es bleiben.
»Ihr wißt,
daß ich Euch gleich vor die Tür setzen werde«, sagte
Katka irgendwann, nach einer Ewigkeit des ungemütlichen
Schweigens. »Aber Gesandte des Königs hin oder her - ich
dulde keine Fremden im Haus, wenn ich selbst nicht drin bin.«
Diesmal war es Leota,
die seufzte. »Ihr bringt ihnen schon wieder das Mittagessen
raus?«
»Wie an jedem
Tag«, erwiderte die Frau mit geduldigem Gleichmut. Wer wußte,
wie oft sie das Leota schon gesagt hatte?
»Warum tut Ihr
Euch das immerzu an?« fragte Leota weiter. »Raus zum Berg
und wieder zurück - Ihr braucht bestimmt eine Stunde, bis Ihr
wieder hier seid, und dabei habt Ihr wahrlich genug Arbeit.«
»Meine Arbeit ist
nicht Eure Sache.« Der Tonfall Katkas verriet, wieviel
Hausarbeit sei einer Frau zutraute, die Rüstung und Schwert trug
- sicher kaum mehr als Mendrion, und sicher ebenso verdient.
»Ich verstehe ja,
daß sie nicht schon Mittags ihren Dreck ins Haus schleppen
sollen.« Diesmal konnte Leota nicht klein bei geben. Was
bezweckte sie? Wenn die Bergmannsfrau schon nicht reden wollte, mußte
sie zumindest ihr Leben nach Leota ordnen? »Aber sie sollten
doch wenigstens Manns genug sein, sich morgens eine Brotzeit fürs
Mittagessen einzupacken.«
Einen Moment lang sah
es aus, als wolle Katka Leota ohrfeigen, doch sie beließ es bei
einem Blick. »Was versteht Ihr schon? Manns genug? Ihr sprecht
von meinem Mann, und von meinen Kindern!«
»Entschuldigt
bitte«, sagte Leota schnell. »Ich wollte nicht -«
»Ich bringe ihnen
das Essen in den Berg«, sagte Katka, »weil ich
es will. Weil ich sehen will, daß sie alle noch da sind und
noch am Leben. Der Berg ist gefährlich, jeder Narr weiß
das. Und ich habe gerade erst zwei Söhne verloren. Reicht das?«
Mendrion
und Leota verließen die Hütte hastig, aber nicht
überhastet. Mit allem rechnete Mendrion - daß Leota
fluchen sollte oder diese sture Frau verwünschen, ihr endlich
drohen, bis sie redete - wo es keinen Büttel gab, konnte man
sich immer noch selbst dazu machen, und diese Leute hatten kein
Recht, derart mit Gesandten des Königs umzugehen, geschweige
denn mit seiner Tochter - mit allem rechnete Mendrion, nur nicht
damit, daß sich Leota nach dem Haus umdrehen würde, kaum
daß sie die Wegbiegung erreicht hatten, und seufzen.
»Ach,
ich liebe diese Frau einfach!«
»Was?«
entfuhr es Mendrion. Das konnte sie doch unmöglich so
meinen! Wenn das jetzt bedeutete, daß Leota…
Wenn sie schon lieber kämpfte wie ein Mann…
»Ich
bekomme einfach nicht genug von ihr«, fuhr Leota fort. »Aber
wehe, Ihr verratet das Dannen! Er muß wirklich nicht alles
wissen, was er nicht versteht.«
Nein,
Mendrion verstand auch nicht. »Ihr… Ihr sagt, Ihr liebt
sie?« Es war nicht einmal eine schöne Frau, und viel zu
alt war sie noch dazu! Mendrion schüttelte sich.
Aber
Leota nickte. »Nicht so, wie Ihr denkt.« Mendrion atmete
erleichtert auf. »Sie ist so stark - sie läßt sich
nicht einschüchtern, von niemandem, nicht mal von einem Schwert.
Die Welt müßte untergehen, ehe sie ihre Familie im Stich
ließe.«
Ja,
wenn es das war! »Sie muß so stark sein, wenn sie hier
draußen überleben will«, beeilte er sich zu sagen.
Und diese Stärke hatte sie an ihre Söhne weitergegeben,
zumindest an die beiden, die sie nun suchten - ihr jüngster war
ein kleiner Junge von vielleicht acht Jahren, aus dem konnte einmal
alles werden - der älteste ein unangenehmer halbwüchsiger
Bursche, der bereit war, seinen Bruder für ein Bier oder mehrere
ans Messer zu liefern… Mendrion wußte, daß er mit den
Edriks dieser Welt gut zusammenarbeiten konnte. Aber menschlich war
auch ihm die Mutter lieber.
»Nur
- warum darf Dannen das nicht wissen?« fragte Mendrion, immer
bereit, wie es schien, zur falschen Zeit das falsche zu sagen.
Diesmal also gegenüber Leota.
»Weil
er nie gefragt hat, warum sie uns nicht mitgenommen hat!«
Leotas Ausbruch war kurz und zornig. »Weil er immer nur bereit
war, ihn zu hassen, nicht sie. Aber sie hat uns schließlich
allein gelassen!«
Mendrion
fragte nicht weiter nach. Da zumindest wußte er es besser. Aber
wenn er bei sich meinte, daß Dannen manchmal eine ebenso
verkrachte Existenz war wie Varyn, konnte er das eigentlich auch
gleich über Leota sagen.
»Heute
Nachmittag ist sie wieder da«, sagte er. »Dann können
wir es noch einmal versuchen, oder Ihr allein.« Er sprach von
einer anderen Mutter als Leota. Aber das war schon in Ordnung.
Zumindest als es gegen
Abend ging, hörte der Tag auf, ein vertaner Tag zu sein. Zwar
passierte nichts wirklich Bemerkenswertes, nichts, was den weiten Weg
und die lange Zeit gelohnt hätte, aber doch zumindest etwas, das
den Tag von seinen Vorgängern unterschied, und sicher auch von
seinen Nachfolgern. Endlich ergab sich für Mendrion und seine
Leute die Gelegenheit, mit dem Vater der Jungen zu sprechen. Auch
wenn Inhalt wie Umstand verbesserungswürdig waren…
»Packt Eure
Sachen und schert Euch aus diesem Tal!« sagte der Mann und
baute sich neben ihrem Tisch auf, als wäre er mindestens einen
Kopf größer und breiter als in Wirklichkeit. »Schert
Euch zurück zu Eurem König, oder zu Vigilander persönlich,
oder wer immer Euch auch schickt - aber vergeudet nicht Eure oder
unsere Zeit, oder Euren oder unseren Krieg!«
Es war das erste Mal,
daß Gavens Vater von sich aus das Wort an sie richtete - auch
wenn sie Abend für Abend in der gleichen Schankstube saßen,
ging doch immer eine unsichtbare Mauer durch den Raum und trennte die
Dorfmänner von den Königsleuten. Die einzige, die diese
Grenze in beide Richtungen zu überschreiten vermochte, war
Venna. Und sie war es auch, die nun eilig aufsprang, als hätte
der Mann sie bei etwas Unerlaubtem ertappt.
Wie auch immer man das
sehen mochte: Es stimmte zumindest, daß sie verdächtig nah
bei Dannen saß, und das, obwohl es ihre Aufgabe gewesen wäre,
auch die durstigen Schmiede und Eisengießer und Bergleute mit
Bier zu versorgen. Und auch wenn dieser Tamrik nur Gavens Vater war
und nicht ihr eigener, packte er sie doch recht grob und schob sie in
Richtung des Schanktisches, wo sie hingehörte.
Mendrion saß
Leota gegenüber, und er sah, wie ihre Augen schmal wurden.
»Behandelt Ihr eure eigenen Töchter auch so?« fragte
sie. Es klang wie eine Drohung, die bereit war, zur Kriegserklärung
heranzuwachsen.
Der Bergmann schnaubte.
»Sie hat hier nichts verloren, und das weiß sie auch.«
Leota erhob sich. »Mit
Verlaub - Venna saß als Gast an unserem Tisch, weil wir
sie zu uns gebeten hatten.«
»Wir?«
fragte der Mann zurück. »Oder meint Ihr nicht doch nur
Euren feinen Herrn Bruder?«
Mendrion,
an Dannens Stelle, hätte diesen Satz geflissentlich überhört.
Aber das war Dannens Art nicht. Oder zu den Dingen, die er in diesem
Dorf vermißte, gehörten zünftige
Wirtshausschlägereien. Oder er war einfach wütend.
Jedenfalls sagte er: »Solange ich sie nicht schwängere,
kann es Euch egal sein. Und selbst wenn, dann auch. Laßt das
Sache ihres Vaters sein - oder gibt es da irgendwas, das wir nicht
wissen sollen, und auch sonst niemand im Dorf?«
Mendrion
biß sich auf die Lippe und bereute, daß er Dannen hatte
aussprechen lassen. Wenn man sie jetzt aus dem Tal prügelte -
Tamrik
langte quer über den Tisch und verpaßte Dannen die
Ohrfeige, die er sich verdient hatte. Dabei schnaubte er. »Glaubt
nicht, daß wir nicht genau wissen, wer Ihr seid, Fürst
Dannen. Und glaubt nicht, daß Ihr Euch deswegen alles erlauben
dürft! Vergeßt nicht, wer wir hier sind. Ohne uns könnte
es Eure ganzen Kriege nicht geben.«
Doch
Dannen schlug nicht zurück und ließ, sehr zu Mendrions
Erleichterung, auch den Tisch stehen wo er war. Statt dessen grinste
er über das ganze Gesicht. »Ohne unsere ganzen Kriege
könnte es Euch nicht geben. Was soll Eure Kohle schmelzen, wenn
nicht das Erz zu Eisen für Schwerter? So viele Pflugscharen
werden im ganzen Land nicht gebraucht!« Er stand auf und
blickte herausfordernd auf den Mann hinunter, den er gut um
Haupteslänge überragte.
»Natürlich
nicht!« Der Bergmann machte einen Schritt rückwärts,
doch seine Stimme war nicht minder kämpferisch. »Wer
braucht noch Pflugscharen? Wer braucht noch Brot, wenn unsere Jugend
in Eurem Krieg stirbt? Ein Toter muß nicht mehr fressen!«
Diese ehrliche Heftigkeit überraschte Mendrion, gerade weil der
Mann doch wußte, wen er vor sich hatte.
Vielleicht
war es das Bier, das aus ihm sprach. Oder aus Dannen. Wären die
Beiden Mendrions Rekruten gewesen, er hätte die Streithammel
jetzt vor die Tür gesetzt und seine Ruhe gehabt. Aber das war
ihm nicht vergönnt. Dannen bleckte die Zähne.
»Wenn
Ihr Angst habt, die Doubladai sterben aus vor lauter Krieg, was stört
es Euch dann, wenn ich Venna ein Kind mache?«
Mendrion
- der schon einmal eine Diskussion mit Tamrik verloren hatte, und das
vor all seinen Männern und dem ganzen Dorf - mußte
zugeben, daß dieser Punkt an Dannen ging. Was die Lage nicht
wirklich verbesserte. Denn jetzt trat Leota neben ihren Bruder und
legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Laß
gut sein, Dannen«, sagte sie. »Die Entscheidung solltest
du immer noch Venna überlassen. Aber Ihr« - und nun wandte
sie sich an den Bergmann - »haltet Euch zurück. Und laßt
nicht an Venna aus, was damals mit Eurer Schwester passiert ist.«
Tamriks
Gesicht wechselte von rot zu weiß zu rot zu weiß. »Haltet
meine Schwester da raus«, sagte er dumpf. Offenbar waren seine
Trümpfe verspielt.
»So?«
sagte Leota. »Was müssen wir denn über sie wissen, um
sie da raushalten zu können?«
»Denn
seht Ihr«, fuhr Dannen fort, »wenn Ihr nicht langsam mal
das Maul aufmacht, was Eure Schwester und ihr Bankert angeht, und den
Mann, der ihr das Kind gemacht hat, haben wir keinen Grund, Euer
gastfreundliches Dorf wieder zu verlassen - und Venna freut sich
sicher, wenn wir bleiben.« Er setzte die Hände auf die
Hüften und grinste feist. »Warum setzt Ihr Euch nicht zu
uns und trinkt ein Bier auf Kosten Eures Königs?«
»So
bekommt Ihr mich nicht«, sagte Tamrik. »Ihr habt meinen
Großen oft genug abgefüllt, um es besser zu wissen. Und
wenn Ihr es genau wissen wollt - der Mann, dem wir unseren Varyn zu
verdanken haben, wäre in meinem Haus jederzeit ein willkommener
Gast, und er könnte von mir aus Venna schwängern, soviel
sie will. Aber Euresgleichen wollen wir hier nicht.«
Dannen
und Leota warfen sich einen kurzen Blick zu, dessen Bedeutung
Mendrion nichts anging und die er sich doch bei nahe denken konnte.
»Und
ein Bier auf den ganzen Ärger können wir Euch auch nicht
aufschwatzen?« fragte Dannen im Plauderton weiter.
»Höchstens
eine Maulschelle könnt ihr von mir erwarten«, knurrte
Tamrik. »Und haltet Euch von meinen Söhnen fern!«
»Wenn
Ihr uns dafür Eure Töchter vorbeischickt?« sagte
Dannen und bekam seine zweite Ohrfeige, diese jedoch von seiner
Schwester.
»Und
ich verbiete Euch«, sagte Tamrik, »jemals wieder auch nur
einen Fuß in mein Haus zu setzen und meine Frau zu belästigen.
Wir haben genug von Euch. Und was immer Ihr von Varyn wollt, Ihr
werdet ihn niemals bekommen. Nur über meine Leiche.«
»Fordert
uns nicht heraus«, sagte Leota mit leiser, rauher Stimme. »Wenn
Ihr Euch uns entgegenstellt, stellt Ihr Euch auch gegen unsere
Schwerter. Wir können sie vielleicht nicht schmieden - aber
dafür wissen wir, wie man sie führt.«
Es
waren gute letzte Worte für einen Abend, dem bis auf die
Wirtshausschlägerei kein Ärgernis fehlte. Mendrion sah noch
zu wie der Bergmann mit schweren Schritten die Schankstube verließ
und die Tür grob hinter sich zuwarf. Dann schüttelte er den
Kopf, leerte sein Bier und stand auf. »Ich denke, ihr braucht
mich nicht mehr«, sagte er. »Und wenn ihr euch prügeln
wollt, würde ich euch raten, das draußen vor der Tür
zu machen.«
Dann
ging er zu Bett, nicht ohne vorher noch laut zu seufzen und
Vigilander um Erlösung anzuflehen - von diesem Dorf, oder
zumindest von diesen Geschwistern.
nächste Tag brachte schlechtes Wetter in jeder Hinsicht - vom
Himmel bis zur Stimmung. Es goß in Strömen, und die Wolken
hingen so schwarz und tief, daß die Gipfel der Berge ganz und
gar in ihnen verschwanden und es zu dunkel war, um auch nur zu sagen,
wo sie aufhörten und wo der Regen anfing. Auch in der
Schankstube, hinter verschlossener Tür und verriegelten
Fensterläden, war das Rauschen immer noch lauter als jeder
Versuch, eine normale Unterhaltung zu führen.
Venna,
die ihnen das Frühstück brachte, kommentierte das Wetter
mit ungerührtem Schulterzucken. »Was soll's schon geben,
steht halt der Winter vor der Tür.«
»Regnet
es bei euch im Herbst immer so?« fragte Leota, sichtlich bemüht
um eine freundliche Konversation mit einer jungen Frau, der es
gekonnt gelang, Dannen nichts als ihren Rücken zuzuwenden, ohne
dabei seinen Blick auf ihren Hintern zu lenken.
Venna
zuckte nochmals die Schultern. »Daran machen wir fest, daß
Herbst ist. Wenn es anfängt zu schneien, nennen wir's Winter.
Aber so ist das nun mal. Bald tritt der Bach übers Ufer, und
dann sitzen wir hier und keiner kommt mehr rein ins Dorf oder raus
dem Dorf für zwei Wochen oder so.«
»Wann
wird es soweit sein?« Mendrion konnte weder diese Frage noch
seine Besorgnis zurückhalten, nicht zu dieser frühen Stunde
- sie saßen jetzt schon in dem Tal fest, aber vom Rest der Welt
abgeschnitten zu sein war dann noch eine Ecke schlimmer. Vor allem,
da Leota und Dannen ihrem Vater eine Nachricht geschickt hatten, daß
sie mehr Zeit brauchten und vor allem mehr Geld - wenn letzteres
nicht ankam, konnte das ärgerlich werden.
Venna
zuckte abermals die Schultern. »Was weiß ich, ich zähle
die Tage nicht, und zum Bach runter komm ich auch nie - paar Wochen,
denk ich mal. Aber übern Winter wollt ihr sowieso nicht hier
bleiben.« Und ihrem Tonfall war das auch nicht schade drum.
Hinter
ihrem Rücken schob Dannen seine sichtlich angebrannte Grütze
von sich und stand auf. »Wir sehen uns dann mal gegen Abend,
denke ich«, sagte er, mehr in den Raum hinein als zu einem
bestimmten Anwesenden und ganz sicher nicht zu Venna.
Leota
blickte auf. »Wo willst du denn hin?« fragte sie.
»Wohin
wohl?« Dannen deutete mit dem Kinn auf die Tür. »Glaubt
ihr, ich will hier mit euch versauern und würfeln? Ich geh
Bergwandern.«
»Bei
dem Regen?«
Leota zog verärgert die Brauen zusammen. »Du bist doch -«
Dannen
lachte. Es war sein erstes Lachen an diesem Tag - bis dahin hatte er
kaum mehr getan als grunzen und mißmutig und verkatert
dreinzublicken. »Meinst du, ich bin in Leben noch nie naß
geworden? Einem Kerl wie mir macht so ein bißchen Regen doch
nichts aus!« Fraglich, wen er damit beeindrucken wollte. Seine
Schwester vielleicht?
»Das
ist nicht ein bißchen Regen«, erwiderte Leota streng -
richtig, sie war die ältere der beiden und mußte dann auch
wohl die Rolle der Vernunft übernehmen. »Das ist kein
Wetter zum Wandern. Es ist gefährlich. Es kann einen Bergrutsch
geben.« Sie blickte zu Venna hin, als erwarte sie
Unterstützung, Warnungen oder hilfreiche Bauernweisheiten, doch
Venna hatte gerade entdeckt, daß einige Tische am hinteren Ende
der Schankstube dringend abgewischt werden mußten.
»Wenn
du mich aufhalten willst, mußt du schon mitkommen«, sagte
Dannen und griff nach seinem Mantel. »Und selbst dann wird es
dir nicht gelingen.« Er schnaubte. »Hast du schon mal
erlebt, daß einer von unserem Blut sich was hätte ausreden
lassen?« Er wartete nicht auf ihr Kopfschütteln. In den
Raum hinein und mehr zu Mendrion als zu irgend jemandem sonst sagte
er: »Haltet mir einen heißen Zuber bereit, wenn ich
wiederkomme.« Und dann war er draußen.
»Ich
schrubb dir sicher nicht den Rücken«, murmelte Mendrion zu
sich selbst und seiner Ziegenmilch, aber Leota hörte ihn
natürlich.
»Warum
habt Ihr ihn nicht zurückgehalten?«
Mendrion
legte den Kopf schief. »Warum sollte ich? Euer Bruder, seine
Dummheit - ich hab damit nichts zu schaffen. Warum habt Ihr ihn nicht
aufgehalten?«
Leota
zeigte etwas, das man fast für ein Lächeln halten konnte.
»Aus dem gleichen Grund wie ihr - um ihn los zu sein. Glaubt
Ihr, ich will den ganzen Tag über bei Regen in der Gaststube
hier festsitzen mit Venna am einen Ende und Dannen am anderen? Venna
kann hier nicht weg, und Dannen weiß das.«
Mendrion
atmete durch. »War gestern Abend noch was zwischen Dannen und
Venna?«
»Ha!«
Leota verzog das Gesicht. »Ich sag mal so - Venna ist nicht
taub. Und Dannen war gestern nicht gerade gut im Flüstern.«
»Ach,
das«, erwiderte Mendrion, als sei er von Dannen nichts anderes
gewöhnt, und leider war er das auch. »Ich nehme an,
entschuldigt hat er sich auch nicht?«
»Entschuldigt?«
Leota lachte. »Das Wort gäb es doch in diesem Land nicht,
wenn wir nicht fast die gleiche Sprache hätten wie unsere
Nachbarn. Das haben sie sicher in Landalon erfunden - für uns
gibt es sowas nicht. Ihr Männer kennt das Wort nicht, und wir
Frauen würden sowieso nicht drauf reinfallen.«
Mendrion
lachte. Es war das erste Mal, daß Leota so deutlich die Grenze
zog zwischen sich als Frau und ihm als Mann. Dann seufzte er. »Aber
ehrlich, was hat Venna erwartet? Doch sicher nicht, daß er sie
am Ende mitnimmt und heiratet.«
Fast
sah es aus, als wolle Leota aufspringen und ihm eine scheuern, aber
da flog hinter ihnen scheppernd ein Blechkrug an die Wand und ließ
sie herumfahren.
Da
stand Venna mit vor Zornesröte glühenden Wangen, und die
Hände hielt sie wohl nur deswegen zu Fäusten geballt, weil
alles andere in ihrer direkten Umgebung, womit sie hätte werfen
können, zerbrechlich war. »Als ob es mir um so was ginge!«
fauchte sie. »Ich hab immer gesagt, wenn ihr hier weggeht, komm
ich mit - aber doch nicht, um irgend so einen Kerl zu heiraten!«
Und dabei war es ihr sichtlich egal, ob Dannen nun rim Königssohn
oder doch nur irgendein Kerl war - Mann war Mann.
Leota
schüttelte den Kopf. »Komm, Venna, setz dich zu uns, trink
einen Schluck, reg dich ab, der Kerl verbringt heute den ganzen Tag
im Regen draußen, da ist er wohl bestraft genug.«
»Als
ob es mir darum ginge!« Venna schnaubte, schenkte sich aber
trotzdem einen Becher ein und kam zu ihnen an den Tisch. »Ist
doch immedr wieder das gleiche mit den Leuten - aber ich darf mich
nicht aufregen, oder was?« So, wie sie den Becher
hinunterstürzte, war keine Milch darin. »Solange ich
hierbleibe, bin ich doch immer nur die Dorfhure - als ob die was
darüber wüßten, ich hab mich schlau gemacht, eine
Hure bekommt wenigstens Geld dafür - als ob ich Lust hätte,
irgend jemand anderens Hure zu werden!« Ihre schwarzen Augen
irrten suchend über den Tisch, und als sie dort nicht fanden,
was sie wollten, stand Venna wieder auf und marschierte mit ihrem
Becher zurück zum Schanktisch, ohne dafür die Worte, die
aus ihrem Mund hinausprasselten, zu unterbrechen. »Ich will
doch nichts von Dannen, zumindest nicht mehr als er von mir - aber
wenn er das macht, ist es in Ordnung, und wenn ich das mache, bin ich
die Dorfhure und mache für jeden die Beine breit - das hätten
die wohl gerne, was? Ich such mir meine Männer immer noch selbst
aus. Als ob das mein Traum wäre, jeden Abend besoffen mit irgend
einem Kerl im Heu zu landen! Aber das läßt mein Vater mich
wenigstens tun, sonst darf ich ja nichts! Wenn hier Betrieb ist
abends, krieg ich keine Pause und nichts, ich komm nicht mal raus zum
Abort - aber immer tüchtig mit den Kerlen trinken, die bezahlen
das ja - das kotzt mich an, das könnt ihr mir glauben!«
Endlich nahm Venna sich die Zeit zum Luftholen und blieb wieder bei
Leota und Mendrion neben dem Tisch stehen. »Ihr müßt
nicht glauben, daß es mir nichts ausmacht, wenn die mich hier
Hure nennen«, sagte sie etwas ruhiger. »Die sagen, ich
treibe es mit jedem - aber was sagen sie über die, die es mit
mir treiben? Die sind doch genausolche Huren!« Sie blickte
Mendrion triumphierend an.
Der
fragte sich kurz, ob Leota wohl wußte, daß er selbst
schon mit Venna geschlafen hatte, als er damals mit seinen Männern
durch dieses Dorf gekommen war - aber ob sie sich das nun denken
konnte oder nicht, es war kein Grund für Mendrion zu erröten
oder sich zu schämen. Er hatte nichts mehr mit Venna
unternommen, seit Leota dabei war.
»Und
was willst du jetzt tun?« fragte Leota und bedeutete dem
Mädchen nochmals sich zu setzen.
»Ich
denk noch immer, daß ich mit euch gehen werde.« Jetzt war
der Zorn aus Vennas Stimme verschwunden und einem träumerischen
Klang gewichen. »Ich hab ja bis jetzt immer gedacht, nur Männer
kommen hier raus, wenn sie in den Krieg ziehen - und deswegen sag ich
euch ja auch, ihr seid schön blöd, wenn ihr hier auf den
Varyn wartet, der hat einfach zuviel Grips im Kopf, um hier
freiwillig wieder zurückzukommen - aber jetzt wo ich gesehen
hab, daß es auch Frauen gibt die kämpfen, geh ich mit euch
und werd auch so eine Schwertmaid.«
»Das
kannst du nicht«, unterbrach Leota sie rauh.
Venna
lachte. »Weil ich keine Jungfrau mehr bin? Das interessiert
doch keinen, das hat nichts mit dem Kämpfen zu tun -«
»Du
kannst es nicht«, sagte Leota nochmals, »und das hat
nichts damit zu tun, mit wem du dein Lager geteilt hast. Ich bin die
einzige Schwertmaid von ganz Doubladir. Vor mir gab es wohl mal eine
Tante, die hat sich das Wort ausgedacht. Aber ich habe mit dem
Schwert trainiert, seit ich ein kleines Mädchen war. Du bist
nicht schwächer als die Burschen hier im Dorf, du hast starke
Arme, sonst könntest du die ganzen schweren Krüge nie auf
einmal schleppen - aber stark allein reicht nicht. Du wirst kein
Kämpfer mehr, dafür bist du zu alt.«
Mendrion
verscheuchte alle Erinnerungen an Varyns erste Versuche mit dem
Schwert - er gruselte sich immer noch, wenn er daran denken mußte…
»Und
die Burschen?« fragte Venna erbost. »Die, die ihr aus den
anderen Dörfern für euren Krieg geholt habt?«
»Die
werden auch keine Kämpfer mehr«, sagte Leota mit
stechender Ehrlichkeit. »Aber bei Männern macht das nicht
soviel. Da ist es egal, wie gut die kämpfen, Hauptsache sie sind
viele. Aber wenn du als Frau in den Krieg ziehen willst, als
Kämpferin und nicht als Hure, hast du keine Wahl, als besser zu
sein als die ganzen Kerle. Und das wirst du nicht mehr.« Leota
seufzte. »Ich mag dich, Venna. Aber du bist eine Wirtstochter.
Die einzigen Berufe, in denen du es zu was bringen kannst, sind
Wirtin -«
»Und
Hure, ich weiß!« Venna trat gegen den Tisch und sprang
auf. »Warum geh ich nicht gleich und suche mir einen Strick?«
Leota
lächelte. »Weil du auf deine Weise immer noch ganz
zufrieden bist mit deinem Leben. Niemand hat dich gezwungen, die
Dorfhure zu werden, nicht mal dein Vater, möchte ich wetten.«
Mendrion
unterdrückte ein Grinsen. Es stimmte schon, Venna machte
durchaus einen vergnügten Eindruck, wenn sie mit ihm oder mit
Dannen herumturtelte. Und auch wenn sie sich nicht über jeden
Mann freuen mußte, der ihr ans Mieder und den Hintern grapschte
- solange sie sich aussuchen konnte, wen sie mit ins Bett nahm, mußte
sie keine Huren um ihr Geld beneiden. Und hier im Tal war sie besser
untergebracht als anderswo.
Venna
lachte dafür grimmig. »Nicht gezwungen ist gut! Wenn ich's
nicht geworden wär, hätte das Dorf irgendein anderes
Mädchen zur Hure erklärt, egal ob sie will oder nicht. Wißt
ihr, wer vor mit die Dorfhure gewesen ist?«
Leota
und Mendrion schüttelten die Köpfe, aber damit hatte Venna
auch wohl gerechnet, denn sie wartete nicht lang und redete weiter.
Vielleicht hätten sie sich viel Arbeit in diesem Dorf erspart,
wenn sie sich gleich die Schankmagd als unerschöpflich
gesprächige Informationsquelle geschnappt hätten und nicht
nur als Gespielin für Dannen!
»Vor
mir war's nämlich Varyns Mutter«, sagte Venna
triumphierend. »Sie ist gestorben, als ich noch klein war -
wer's dazwischen gemacht hat, weiß ich nicht, ich bin dann da
so reingerutscht - aber die Frau hatte wirklich einen üblen Ruf
hier, und dabei hat sie's längst nicht mit allen getrieben!
Die hat sich ihre Männer auch ausgesucht, und eben weil sie fast
alle hat abblitzen lassen, haben die anderen angefangen, sich das
Maul über sie zu zerreißen - der Schmied, den könnt
ihr mal fragen, der hätt sie sogar heiraten wollen, aber den
pack selbst ich mit der Kneifzange nicht an! Der Varyn hätt heut
nicht halbsoviele Feinde hier im Dorf, wenn der Schmied nicht solchen
Dreck über dem seine Mutter erzählt hätt…
Mendrion
zog sich dann doch lieber für eine Weile zurück, auf Leotas
Wink hin - zwischen zwei Frauen war jetzt wohl mehr an brauchbaren
Sachen aus Venna rauszuholen als wenn irgendsoein Kerl dabei saß,
und es reichte, wenn Leota die ganze Lebensgeschichte von Varyns
Mutter kannte. Er war doch beinahe froh, sich solange um die Pferde
zu kümmern, auch wenn es regnete und regnete, es halb nichts,
die Tiere mußten jeden Tag bewegt werden, und sie warten
ohnehin nach der langen Zeit hier schon in trauriger Verfassung.
Mendrion verfluchte das Wetter; es war immer noch nicht heller
geworden, der Himmel war vielmehr im Laufen des Morgens noch weiter
nach unten gerückt.
Schnell
war Mendrion naß bis auf die Haut, aber es gab hier keinen
Stallknecht, und alle Versuche, in der Dorfbevölkerung einen
geeigneten Burschen zu finden, waren gescheitert - und wozu lange
weitersuchen, wenn es auch einen Mendrion gab, der jeden Tag bewegt
werden, um nicht völlig aus der Form zu geraten? Er hatte
bestimmt schon soviel zugenommen wie Dannen ab, seit sie in diesem
Tal festsaßen. Inzwischen hatte er sich auch schon angewöhnt,
wie die Einheimischen nur 'Das Tal' oder 'Das Dorf' zu sagen,
als gäbe es keine anderen auf der Welt - und wer wußte,
vielleicht sprach er selbst längst den breiten Dialekt der
Dorfleute und hatte es nur noch nicht bemerkt?
Mendrion
ritt ein Pferd nach dem anderen durch den Regen und rieb es mit Stroh
trocken, bevor er selbst endlich wieder in die warme Stube treten
konnte und sich schütteln wie ein aufgeweichter Hund. Er ließ
sich von Venna einen Schnaps geben - es war zwar immer noch erst kurz
vor Mittag, wenn man das bei dem Wetter überhaupt abschätzen
konnte - aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an, und Mendrion
war völlig durchgefroren. Erst nachdem er sich selbst
trockengerubbelt und frische Kleider angezogen hatte, gesellte er
sich wieder zu Leota, die noch an der gleichen Stelle saß wie
zuvor, jetzt ohne Venna, und ein Schreibzeug vor sich hatte.
Sie
blickte auf. »Puh«, sagte sie. »Wenn diese Frauen
erstmal anfangen zu reden…«
»Aber
Ihr habt genug -« Mendrion sah eine Menge Zeichen auf dem
Pergament, das sie da gerade bearbeitete.
Leota
nickte. »Ich habe eine Menge erfahren, sagen wir mal so.«
Mendrion
schüttelte sich. Ihm war immer noch durch und durch kalt, und es
war gut, daß Dannen jetzt nicht da war, der hätte ihn nur
zu noch einem Schnaps ermutigt. »Das Wetter ist wirklich
jämmerlich«, sagte er. »Und es wird immer noch
dunkler dabei.«
»Den
Regen hör ich ja«, erwiderte Leota wenig einladend und
wandte sich wieder ihrer Schreibarbeit zu. »Und dunkel ist es
hier drin auch.«
Mendrion
fragte nicht, ob das Schreiben nicht Zeit hätte für später
und sie nicht lieber würfeln wollte oder kartenspielen. Er
kannte sie zwar jetzt deutlich besser als zuvor, aber sie war ihm
immer noch viel ferner als Dannen und legte Wert darauf. Blieb also
doch wieder nur das gepflegt-verkrampfte Gespräch. »Macht
Ihr Euch keine Sorgen um Euren Bruder, daß er bei dem Wetter
irgendwo draußen auf dem Berg unterwegs ist?«
Das
Gute, oder das Schlechte, bei Vigilanders Familie war - man merkte
immer sofort, wenn man etwas falsches gesagt hatte. Leota ließ
ihre Feder fallen und blickte Mendrion zornig an. »Die Frage
ist nicht Euer Ernst, oder?«
Abwehrend
hob Mendrion die Hände. »Ihr wirktet doch vorhin schon ein
bißchen besorgt -«
»Haltet
Euren Mund!« rief Leota schroff. »Mein Vater und drei
meiner Brüder kämpfen im Krieg, ich habe seit Wochen keine
Nachricht von ihnen, und sie können jeden Tag sterben oder
längst tot sein - und ich soll mit Gedanken, Sorgen machen um
den einen Dummkopf, der nicht auf sich selbst aufpassen kann?«
Der
Krieg. Am Anfang hatten sie noch kaum ein anderes Thema gekannt. Aber
jetzt war er so fern, daß selbst der Hauptmann Mendrion nicht
mehr wußte, was er sagen sollte. »Oh«, brachte er
nur hervor.
Und
zu mehr kam er auch nicht.
Ein
lautes Krachen erschütterte die Schankstube - die Bänke
bebten, der Tisch zitterte, Leotas Tintenfaß rutsche wie von
selbst in Richtung der Tischkante, und auf den Borden an der Wand
tanzten die Zinnkrüge und Teller wie beim heftigsten aller
Donnerschläge, daß die Formen der Welt vor dem Auge
verschwommen. Doch es war kein Donnerschlag, es war lauter und näher
und länger, viel länger, es fülte Mendrions ganzen
Kopf und Körper aus und wollte kein Ende mehr nehmen. Ein
Krachen, daß einem das Herz davon stehenblieb; ein Krachen, daß
das Herz eines Toten wieder anfing zu schlagen vor lauter Schreck.
Dann
kam Venna aus dem Hinterzimmer in die Schankstube gestürzt, doch
ihre Bewegungen, ihre rudernden Arme als sie fiel, waren für
Mendrion so seltsam langsam und verzerrt, daß sie erst in
seinem Verstand ankamen, als Venna längst am Boden lag.
Dann,
für einen Augenblick, herrschte Stille.
Dann
begannen sie alle zu schreien.
»Was
war das?« schrie Leota und sprang auf, so heftig, daß sie
gegen den Tisch stieß und das Tintenfaß hinterhersprang
und auf dem Boden mit schwarzem Schleier davonrollte.
»Der
Blitz schlägt ein! Der Blitz schlägt ein!« schrie
Venna und barg, flach auf dem Boden liegend, ihren Kopf unter
gekreuzten Armen. Mendrion erinnerte sich nicht, aufgestanden zu
sein, doch er mußte es wohl, denn er war plötzlich bei ihr
und half ihr hoch. Auch er schrie, gleichzeitig mit den anderen und
doch ein jeder für sich.
»Raus
hier!« schrie er. »Das Haus stürzt ein!«
Das
Krachen hallte immer noch in seinem Kopf wieder, so laut und
deutlich, daß er es genau benennen konnte - es war so dicht
über ihm, es war so nah, der Dachstuhl krachte in sich zusammen,
sie mußten raus, raus, raus -
Dann
krachte es wieder.
Diesmal
war es anders, ein anderes Krachen, beinhe etwas zäher,
verhaltener, zaghafter, ferner, es nahm Anlauf wie mit einem Seufzen
der ganzen Welt - oder verlor Mendrion den Verstand? Oder verlor er
nur das Gehör? Sein Kopf raste, seine Kehle puliserte, es war
gleich. Mit jeder Hand packte Mendrion eine Frau beim Arm,
Wirtstochter, Königstochter, es war gleich, sie mußten nur
raus, raus, raus, bevor das Wirtshaus sie alle mit sich und in sich
und unter sich vergrub.
Mit
Kopf und Schulter zuvorderst warf sich Mendrion gegen die Tür,
hinaus ins Freie, in den Regen, in Sicherheit - und dann war da
dieses Grollen, ein tiefes, dunkles, langes Grollen, und es war der
Moment, in dem Mendrions Herz stehenblieb.
»Das
ist nicht unser Dach!« schrie Venna, aber tief in seinem
Inneren wußte Mendrion das längst, schon seit dem ersten
Krachen. Es war nicht dieses Dach oder irgendein anderes Dach, oder
sonst ein von Menschenhand geschaffenes Gebäude oder Gebilde. Es
waren die Berge. Die Berge brachen zusammen.
Mendrion
ließ die Frauen los. Seine Beine gaben unter ihm nach, doch er
fing sich, fiel nicht hin, stürzte nur vorwärts. Er mußte
in Bewegung bleiben, rennen, schneller sein als die Angst. Er war ein
Hauptmann des Königs. Ein Vorbild für seine Männer,
auch wenn gerade keine Männer von ihm da waren - egal, alles
egal. Angst war nicht für Mendrion. Mendrion wünschte sich,
daß auch die Angst das wußte -
Das
Grollen schwoll an, der Boden bebte unter seinen Füßen,
daß Mendrion meinte, der Grund würde unter ihm aufreißen,
und schwoll an, und schwoll weiter an, doch das erleichternde Krachen
blieb aus - das nächste konnte von überall kommen, oben,
unten - ob die Berge auf das Dorf stürzten oder das Dorf in den
Abgrund, niemand konnte es sagen, nur die Engel wußten es, oder
die Abgründigen.
»Zur
Grube, schnell! Das ist die Grube!«
Es
waren noch andere Menschen draußen, sie kamen aus allen
Häusern, aus der Schmiede, aus der Eisengießerei, sie
rannten zum Bergwerk, und Mendrion rannte mit ihnen, weil er mußte,
weil er nicht anders konnte, weil er froh war, ein Ziel zu haben, und
weil es tröstlich war zu wissen, woher das Grollen kam, daß
es nur ein Berg war und nicht der Abgrund unter dem Dorf.
Er
rannte blindlings geradeaus, durch den Regen, mit den anderen - er
rannte nicht vor, er rannte nur mit, es war nicht sein Tal, die anden
kannten den Weg besser. Er rannte nicht mit, um zu helfen, er rannte
nur, um zu rennen. Es krachte noch einmal, während er rannte,
aber solange er in Bewegung war, erschreckte es ihn nicht mehr. Nur
rennen, mit der Menge, wie in der Schlacht, und sein Körper
handelte von selbst, und sein Kopf mußte nicht mehr denken. Der
Berg brüllte, und sie rannten hin.
Mendrion
war nicht der erste, der am Bergwerk ankam, und nicht der letzte -
Leota kam ein paar Schritte hinter ihm - aber offenbar war Mendrion
von allen Anwesenden der einzige, der es nicht dabei beließ,
entgeistert die Unglücksstelle anzustarren. Das war ein
Schicksalsschlag, aber keine Katastrophe, und ein Dutzend Männer
standen da, bereit zum Zupacken - was warteten die noch?
Drei
Stollen hatte das Bergwerk, die sich in die Seiten des Bergs
hineinfraßen, aber sie lagen so weit auseinander, daß
jetzt auch nur einen von ihnen eingestürtzt war - er führte
ein Stück weit geradeaus, aber dann, wo er im Dunkel hätte
verschwinden müssen, war Schluß. Dicke Felsbrocken,
geborstene Balken, die früher einmal die Decke getragen hatten -
nun wurden sie nicht mehr gebraucht, die Decke lag unten.
»Ist
jemand verschüttet?« rief Mendrion - eine wichtige Frage,
denn wenn sich alle rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten, dann
konnten sie mit den Räumarbeiten warten, bis der Regen aufhörte.
Aber wenn jemand verschüttet war… Zumindest sah man keine
Körperteile unter dem Schutt…
»Jemand?«
fragte ein anderer zurück. »Alle! Sie sind da alle noch
drin!«
Mendrion
schwang sich auf einen Felsvorsprung - er brauchte eine Anhöhe,
um den Überblick zu bekommen, und wenn es nicht von einem
Pferderücken aus ging, dann mußte eben der nächste
Felsklotz dafür herhalten. Gavens Vater war nirgendwo
auszumachen - das hieß also - »Tamrik ist da drin?«
rief Mendrion und war froh, daß er sich den Namen inzwischen
gemerkt hatte. »Worauf wartet ihr dann noch?« Und worauf
wartete er?
»Tamrik
- und die Kinder.« Das war ein Murmeln in der Menge.
Mendrion
schluckte. Die Kinder - das jüngste war wie alt? Sieben Jahre,
acht? Er verstand die Starre, die über die Menschen gekommen
war, aber gerade wenn es um Kinder ging, machte sie noch weniger
Sinn.
»Katka!«
rief Leota. »Weiß Katka es schon? Ich kann schnell
rennen, ich sag es ihr, sie muß es…« Ihre Stimme
erstarb. Mendrion mußte die Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht
sehen, um die in den anderen Gesichtern zu verstehen. Etwas zog
seinen Blick zur Seite, den Weg entlang, den Hang hinunter, dorthin,
wo das kleine Haus lag, wo sie vor einem Tag noch alle drei gesessen
hatten… Und dann zurück zu dem Loch im Berg, hinter dem sich
die Steinbrocken auftürmten. Die Zeit stand still, als Mendrion
von seinem Felsbrocken sprang.
Noch
war nichts verloren. Noch konnten sie alle retten. Er
konnte alle retten. Er war nicht
gelähmt wie die anderen. Er kannte die Bergmannsfamilie nicht,
oder kaum, oder zu wenig, um sich um sie zu sorgen - aber wenn er sie
rettete, wenn er auch nur einen von ihnen rettete, mit seinen eigenen
Händen, dann hatte er gewonnen, das ganze Dorf und die Herzen
einer störrischen Familie. Mendrion dachte und wußte und
haßte und verachtete sich gleichzeitig für seine Ruhe. Ein
königlicher Hauptmann mußte den Tod nicht fürchten.
Außer seinen eigenen.
Dann
war er am Stolleneingang. »Packt mit an!« rief er. »Wir
können sie da immer noch rausholen - worauf wartet ihr?«
Vielleicht
dachten die Dorfleute, daß Mendrion nicht wußte, was
Arbeit war, aber das stimmte nicht - er hatte Hornhaut an den Händen
wie jeder von ihnen, und mit diesen Händen packte er jetzt zu.
Keiner dieser Steinbrocken war zu groß zum Heben für einen
Mann mit Kraft in den Armen, und Mendrion packte den nächsten
besten Freiliegenden - man mußte kein Bergmann sein, um zu
wissen, daß man nichts mitten aus einem Steinhaufen rausziehen
sollte. Mendrion wußte, was er tat.
»Stellt
euch in einer Reihe auf!« rief er den Leuten zu. »Wer
keine Kraft hat, aus dem Weg, die starken Männer her zu mir,
hier, in eine Reihe! Ich reiche die Steine an, jeder reicht sie an
seinen Nebenmann weiter, der letzte türmt sie da hinten auf,
verstanden?«
Die
Männer rührten sich nicht, oder wenn, dann nur um ihre
Köpfe nach links und rechts zu wenden und einander anzublicken.
Einzig Leota stellte sich neben den Tunneleingang, bereit, den ersten
Steinbrocken von Mendrion anzunehmen.
Der
Brocken wog schwer in Mendrions Händen, zerrte an seinen
kampfgestählten Oberarmen, doch Mendrion hielt ihn, seine Ruhe
ein Gemisch aus Unsicherheit, Ärger und Argwohn. Warum packte
niemand mit an?
»Was
ist?« fuhr Leota die Leute an. »Ihr könnt die da
doch nicht drin krepieren lassen!« Sie hielt Mendrion ihre
Hände hin und funkelte ihn so lange böse an, bis er ihr den
Stein gab - wollte sie jetzt ihn
lächerlich machen oder doch nur die Umstehenden, die
Versteinerten, die Gaffer -
»Da
ist eine ganze Familie verschüttet!« Mendrion fing an zu
schwitzen, dabei lag die Last in jetzt in Leotas Händen. »Ein
Mann, seine Frau, drei Kinder -«
»Vier!«
verbesserte Leota ihn, und Mendrion, dem das Blut der Scham ins
Gesicht schoß, drehte sich schnell zur Seite und packte den
nächsten Gesteinsbrocken. Er fühlte ein Stechen in der
Brust, Wut auf sich selbst: Der Fehler hätte ihm nicht
unterlaufen dürfen; er wußte vielleicht nicht die Namen
aller Kinder, aber es waren zwei Mädchen und zwei Jungen, so
schwer konnte das doch nicht sein! Als er sich zu Leota umwandte,
waren ihre Augen gerötet. Sie weinte nicht, aber es ging ihr
nahe, viel näher als Mendrion. Und ihre Hände waren leer.
»Es
ist zu gefährlich«, sagte ein älterer Mann ruhig und
trat auf sie zu. »Kommt da weg, ihr zwei. Es hat viermal
gekracht - keine Chance, daß dort nicht alles eingestürzt
ist. Aber hier am Eingang kann immer noch alles runterkommen.«
»Und
die Menschen? Und die Kinder?« Mendrions Wut wuchs.
»Ihr
kennt den Berg nicht so gut wie wir. Wenn der Berg sie haben will,
dann gibt er sie nicht wieder her.«
Leota
schnaubte, vor Anstrengung oder Wut. »Zu wem betet ihr? Zu den
Engeln, oder zu einem verdammten Berg? Ich gebe nichts auf diesen
Berg! Aber ich geb was auf diese Familie, und ich will verdammt sein,
wenn ich sie kampflos aufgebe! Und ihr -« jetzt schrie sie die
Umstehenden an, »ihr solltet euch schämen! Ihr habt hier
eine großartige Familie von tapferen Menschen, die jeden Tag in
diesen Berg gehen, obwohl sie wissen, daß er sie umbringen
kann, nur damit ihr -«
Weiter
kam sie nicht. Der ältere Mann trat zu ihr hin und ohrfeigte
sie. »Sei still!« fuhr er sie an. »Ich bin selbst
Bergmann! Mein Sohn, mein Bruder, ich, wir sind gerade mit Glück
aus dem Weststollen rausgekommen, wir sind froh, daß wir noch
leben, und verdammt, ich kenn Tamrik selbst, seit er ein Junge war,
ich kannte seinen Vater vor ihm, und ich kenne diesen Berg - also sag
du uns nicht, was wir zu tun haben, Kriegsgör!«
Und
mit diesen Worten ließ er sie stehen, riß Mendrion
beiseite und prüfte dann mit geübtem Blick die
Stollendecke, bevor er sich selbst dem Einsturz näherte.
»Beiseite, Kinder!« Er winkte, und zwei andere Männer
- wohl der Sohn und der Bruder - kamen hinzu, ihre Gesichter grimmig.
Auch sie bewegten sich vorsichtig, hielten die Decke im Auge, die
jetzt jeder Stütze entbehrte. Mendrion ließ sie gewähren,
trat beiseite und gab sich damit zufrieden, in der zweiten Garde zu
kämpfen. Er hatte es wenigstens versucht. Er hatte getan was er
konnte, einen Anfang gemacht - was wollte er mehr?
Und
in diesem Moment begriff Mendrion, daß er wirklich mehr wollte.
Er wollte diese Familie retten.
»Hat
sich beruhigt«, sagte der Mann, welcher der Sohn sein mußte.
»Wir können es versuchen, vorsichtig.«
»Hm«,
sagte der Mann, den Mendrion für den Bruder hielt. »Und
ich fühle mich trotzdem, als würden wir hier ein Grab
aufreißen. Als wär es falsch, da noch etwas anzurühren
- aber wir sind es Tam schuldig.«
»Wie
ist das passiert?« fragte Mendrion, versuchte noch, es ganz
geschäftig klingen zu lassen, interessiert, nicht besorgt oder
gar verzweifelt.
»Wie
das passiert ist?« Der alte Mann zuckte die Schultern. »Frag
den Berg , frag die Engel, ich weiß es nicht. Mir ist es gleich
- ich will nur wissen, was aus Tam und den Kindern geworden ist.«
Mendrion
nickte. »Sagt was zu tun ist. Ich bin bereit.«
Er
hatte dicke Hornhaut an beiden Händen, doch jetzt war er bereit
zu schuften, bis das Blut fließen sollte.
Die
Frau fanden sie als erstes, diejenige Person, die nicht hätte
hier sein dürfen, die nicht hierher gehörte. Sie lag nahe
am Ausgang, Gesicht nach unten, die Arme schützend über den
Kopf gerissen, aber die Arme waren kein Schutz vor den
Gesteinsmassen. Sie brauchten drei Mann, um den größten
Brocken von ihr herunterzuheben, und als sie den Leichnam ins Freie
trugen, verriet sie nur ihr Kleid als die Mutter dieser Kinder. Ihr
Kleid, und die zerschmetterten Überreste des Korbs, in dem sie
ihrer Familie das Essen gebracht hatte.
Sie
legten sie vorne neben dem Eingang ab und hatten doch nicht einmal
ein Tuch, um ihren Körper vor dem Regen und den Blicken zu
schützen. Sie hätte nicht hier sein sollen. Aber vielleicht
war es besser so, besser für sie - der Tod war grausam und
schrecklich, aber er hatte sie nicht lange leiden lassen: Sie war
sofort tot, als der Einsturz sie traf. Und welche Frau, überhaupt
welcher Mensch,wollte einen solchen Schicksalsschlag überleben,
überstehen, und weiterleben müssen mit dem Wissen, was mit
ihrer Familie geschehen war? Am Ende war dieser Tod vielleicht
gnädig.
Mendrion
blickte Leota an und hätte sie am liebsten in den Arm genommen,
aber ihr Stand und ihr Stolz standen zwischen ihnen. »Ihr habt
genug getan, Leota«, sagte er leise. »Niemand nimmt nimmt
es Euch übel, wenn Ihr Euch jetzt zurückzieht.«
»Doch«,
antwortete sie. Sie blickte nicht ihn an, sondern die tote Frau,
deren geschundenen Leib der Regen dem grauen Gestein ähnlich
machte. »Ich
würde es mir übel nehmen.«
»Sie
leben nicht mehr«, sagte Mendrion. »Sie können
unmöglich noch leben. Und wenn ihr Anblick schlimm ist - das
nächste was kommt sind ihre Kinder. Seid Ihr auf den Anblick
gefaßt?«
Vier
Kinder, von denen das älteste schon ein Mann sein wollte und das
Jüngste selbst für die einfachsten Arbeiten eigentlich noch
zu klein war…
»Seid
Ihr es denn?« fragte Leota zurück und blickte noch immer
nicht auf, und so konnte sie nicht sehen, wie Mendrion den Kopf
schüttelte.
»Nein«,
sagte er tonlos. »Nein, bin ich nicht.«
Er
war bereit, in den Krieg zu ziehen. Er war bereit zu töten. Aber
das war etwas anders - Töten im Kampf. Männer, keine
Kinder, keine Frauen. Es starben auch Frauen und Kinder im Krieg, und
sie starben nicht weniger grausam als Katka; sie starben schrecklich,
langsam, qualvoll, aber nicht durch Mendrions Hand, und nicht, wenn
er dabei war - und vor allem war es noch nie geschehen. Mendrion war
noch nie im Krieg, und er hatte noch nie getötet. Er hatte Tote
gesehen, tote Männer, tote Greise, aber das war etwas anderes.
Wenn das hier wie der Krieg war - dann war Mendrion für den
Krieg nicht bereit. Noch nicht.
»Wenn
auch nur einer von ihnen noch lebt«, sagte Mendrion, dann ist
er das alles hier wert. Und wenn sie alle tot sind…« Er
sprach nicht weiter. Dann verdienten sie eine würdige
Beisetzung. Aber gab es etwas Würdevolleres für einen
Bergmann, als unter einem Berg begraben zu werden? Hatten sie es
nicht besser verdient, als ans Licht gezerrt zu werden, öffentlich
aufgebahrt, ausgestellt zu werden, daß jeder ihre toten Körper
anstarren konnte, selbst wenn es nur voll Trauer war?
Mendrion
schüttelte den Kopf. Dann zog er seine Joppe aus und breitete
sie über die tote Frau; zumindest ihren Kopf konnte er damit
bedecken. Es war nicht viel. Es war keine Hilfe, nicht für ihn
und nicht für die Frau - es war nur besser als nichts.
»He,
ihr zwei!« rief es aus dem Unglücksstollen. »Wir
brauchen euch nochmal! Wir haben hier die nächsten gefunden!«
Es
waren längst mehr als nur die drei Bergleute, Leota und
Mendrion, die versuchten, die Verschütteten zu bergen. An diesem
Tag ging niemand im Tal mehr seiner Arbeit nach, alle waren hier, die
Bauern, die Eisengießer, die Schmiede, die Frauen. Als Mendrion
mit Leota in den Stollen eilte, sah er noch aus dem Augenwinkel, wie
die Frauen sich der Toten annahmen, sie in eine Decke legten, um sie
dann gemeinsam zu ihrem Haus zu tragen. Katka sollte zuhause auf ihre
Familie warten dürfen. Als wäre sie noch am Leben. Oder
ihre Familie.
Die
nächsten zwei waren die beiden Jungen, Hand in Hand. Der Große
hatte noch versucht, mit dem Kleinen ins Freie zu rennen, als der
Berg zu beben begann. Und auch der Tod konnte ihre Hände nicht
lösen. Das mußten erst die Männer machen, die sie
hinaustrugen. Als sie den Kleinen davontrugen und dann die letzten
Brocken vom Großen hoben, um auch seinen Körper über
Schutt und Geröll hinauszuschleppen, wandte Mendrion seinen
Blick ab. Er hätte sich gewünscht, daß diese Hände
einander auch im Tod festhielten. Aber wenigstens waren die Brüder
gemeinsam gestorben. Es mußte schlimm für ein Kind sein,
dem Tod allein gegenüberzutreten.
Der
Große hieß Edrik. Ihn kannte Mendrion von allen
Familienmitgliedern am Besten - wenn man Varyn nicht mitzählte.
Ein Bursche, der gut in den Krieg gepaßt hätte, der sich
gut verstanden hätte mit Mendrions Rekruten - immer schnell
dabei, wenn es darum ging, sich ein Bier ausgeben zu lassen, sonst
nicht zu viel zu gebrauchen, aber er hätte einen brauchbaren
Fußsoldaten abgegeben. Sicher wäre er lieber im Krieg
gestorben als hier - er wollte fort aus diesem Tal, wie Varyn, wie
Gaven, wie alle. Ihm sollte es nicht mehr vergönnt sein…
Und
der Kleine. Mendrion kannte seinen Namen kaum - Harkon? Harman? Er
war nicht sicher. Dem Jungen war er nur einmal oder so begegnet - der
Kleine hatte ihn Onkel genannt und um Süßigkeiten
angebettelt, wie ein ganz normaler Bengel. Schwer zu sagen wie alt er
war - acht Jahre? Zehn? Die Kinder schienen hier kleiner als
anderswo. Sie mußten schon so früh schweres Gestein
schleppen, daß ihre ganze Kraft in ihre Arme ging, nicht in
ihre Größe. Man mußte sie nicht bedauern. Sie
kannten es nicht anders. Und wenn man ihren Vater sah… gesehen
hatte… konnten aus ihnen immer noch brauchbare Männer aus
ihnen werden. Aber aus diesem hier nicht mehr. Er war acht oder zehn
Jahre alt, zu jung, um auch nur aus dem Tal fortzuwollen. Und er war
tot.
Mendrion
war froh, als die Frauen auch den Jungen davontrugen. Die
Vorstellung, aus dem Stollen zu treten und auf dem Vorplatz stapelten
sich die Toten… Es gab Bilder, die wollte man ganz schnell wieder
vergessen und tat es doch sein Lebtag nicht. Mendrion fröstelte,
doch er vermißte seine Joppe nicht - auch wenn es draußen
immer noch regnete und drinnen ein kühler Zug herrschte.
Es
war dunkel. Sie konnten kaum sehen - was von Draußen noch an
Licht herein fiel, reichte nicht so weit, wie sie den Gang freigelegt
hatten. Die Männer holten Laternen. Sie mußten sehen
können, was sie taten, und vor allem sehen können, was die
Decke tat. Ein riesiger Riß klaffte dort, zog sich weit nach
oben, weit in den Berg hinein. Doch es grollte nicht mehr. Es war
still im Stollen, solange sie dort nicht schufteten. Totenstill.
Trotzdem
stand Mendrion still und lauschte, lauschte, lauschte. Jedes
Rascheln, jedes Kratzen konnte ein Lebenszeichen sein. Mendrion
lauschte, und rief, und lauschte. »Tamrik? Mädchen? Könnt
ihr uns hören? Keine Angst! Wir holen euch da raus!«
Er
wußte nicht, wieviel Zeit seit dem Unglück vergangen war -
die tiefen Wolken, die frühe Dunkelheit nahmen ihm das Gefühl
für die Zeit. Aber sie würden nicht aufgeben, und wenn es
Nacht wurde, und wenn es wieder Tag wurde und wieder Nacht - sie
würden weitermachen, Steinbrocken um Steinbrocken davontragen,
bis sie die fehlenden Bergleute gefunden hatten. Bergleute, das klang
gut. Viel besser als 'ein Vater und seine zwei kleinen Töchter'.
Bei Bergleuten war es nicht so schrecklich, wenn sie starben…
Aus
dem Stollen kam keine Antwort.
Sie
arbeiteten weiter, grimmig, wortlos, die Bergmänner mit Hacken,
um die größten Brocken zu verkleinern, an denen sie sonst
nicht vorbeikamen. Die anderen räumten das Gestein weg. Frauen
hielten Lampen. Aber auch wenn das ganze Dorf auf den Beinen war -
Hoffnung zeigte niemand mehr. Nicht mehr, nahdem jeder wußte,
wie schlimm die Frau und die beiden Jungen zugerichtet waren. Und so
verzweifelt sie auch alle schleppten, keiner von ihnen wollte
derjenige sein, der die nächste Leiche fand. Das erste tote
Mädchen.
Dann
fanden sie Tamrik.
Wie
seine Frau lag auch er mit dem Rücken zuoberst, aber anders als
sie hatte er nicht versucht, sich mit den Händen zu schützen
- er lag zusammengekauert, Arme und Beine angezogen, und als sie ihn
freigelegt hatten - hauptsächlich loses Gestein, aber sie mußten
eine mannshohe Steinplatte aus dem Weg räumen, um zu ihm
vorzudringen - wußten sie auch warum. Als sie Tamrik auf die
Seite rollten, um ihn bei den Armen zu packen und ins Freie zu
schleifen, wußten sie, daß sie noch einen weiteren Körper
gefunden hatten. Unter Tamriks Körper begraben, an ihn gepreßt
in einem letzten Versuch, es zu schützen, war das kleine
Mädchen. Unversehrt. Sie sah genauso aus, als ob sie nur
schlief. Ihr Vater hatte alles herabpasselnde Gestein mit seinem
Körper aufgehalten, auch als es ihn zu Boden drückte und
ihnen jeden Fluchtweg abschnitt. Ganz friedlich das bleiche Gesicht,
die schwarzen Haare grau vom Steinstaub. Kein Tropfen Blut war seine
Farben in diesen sanften, friedlichen Tod.
»Er
wollte sie doch beschützen«, sagte Leota bedrückt.
»Er hat sein Leben gegeben, um sie zu retten, wieso ist sie
dann…« Leotas Stimme erstarb. Den ganzen Tag lang hatte
niemand Leota weinen gesehen, aber in diesem Moment mußte sie
ihr Gesicht in den Händen bergen, damit es so blieb.
»Sie
ist erstickt«, hörte Mendrion sich sagen und wußte
nicht, warum er sich so sicher war. Er weinte nicht. Egal wie viele
tote Mädchen sie noch aus diesem Berg zogen - ein königlicher
Hauptmann durfte nicht weinen. Niemals. Tränen änderten
nichts. Auch Trauer nicht. Mendrion durfte Rache schwören. Aber
wie rächte man sich an einem Berg?
Vorsichtig
lösten sie das Kind aus den Armen seines Vaters - anders als bei
den Händen der beiden Jungen war es schwer, Tamrik wollte seinen
Griff nicht lösen, als wisse er, daß es für immer
war…
Tamriks
Hände verrieten einen Kampf. Die Gnade des schnellen Todes, die
seiner Frau und seinen Söhnen vergönnt war - sie hatte den
Vater übergangen. Die Fingernägel waren blutig
abgesplittert, Steinstaub hatte sich in die Wunden gesetzt und machte
die Finger zu unförmigen, glanzlosen Krallen, aber auch das
täuschte nicht darüber hinweg, daß dieser Mann
gekämpft hatte bis zum Schluß. Am Ende gab es kein
Entkommen, als das Gestein ihn und das Kind endgültig unter sich
begraben hatte, aber Tamrik war gestorben wie ein Mann. Es gab
niemanden, der sich darüber freuen würde - es war mehr Hohn
als Trost. Aber dennoch. Vielleicht konnten Gaven und Varyn eines
Tages stolz auf diesen Mann sein.
Tamrik
ließ nicht los. Es sah mehr so aus, als ob er seine Hände
noch einmal anspannte, fester hielt, als das Schicksal ihm längst
entrissen hatte - keine sichtbare Bewegung, doch Mendrion fühlte
es. Er beugte sich vor und legte eine Hand an den Hals des Mannes:
Dort war ein Puls - und konnte es auch eine Täuschung sein, ein
Zittern von Mendrions Hand, die längst kalt und taub war und
aufgerissen - es war ein Puls. »Er lebt noch!« schrie
Mendrion. »Tamrik lebt noch!«
»Er
lebt noch!« Der Ruf eilte von Kehle zu Kehle, hinaus ins Freie,
so wie sie sonst die Steinbrocken von Hand zu Hand reichten. Die
anderen Helfer eilten herbei, schoben Mendrion beiseite, als ob der
nur für die Toten da war und nicht für die Lebenden. »Tragt
ihn raus, hier drin können wir nichts sehen.«
Mendrion
kniff die Zähne zusammen, als sie den Bewußtlosen an Arm
und Bein packten und ins Freie schleppten - er wußte genug
übers Knocheneinrichten, um selbst die Finger davon zu lassen,
man konnte dabei mehr kaputtmachen als heile. Andererseits - der Mann
hatte schon stundenlang unter einem Haufen Schutt gelegen, und wenn
er sich dabei noch nicht den Rücken gebrochen hatte, würde
es jetzt auch nichts mehr passieren. Und selbst wenn - niemand konnte
mehr sagen, was zuerst passiert war und woher welche Wunde stammte,
und liegen lassen konnte man den Mann dort zwischen dem Geröll
auch nicht, es sei denn, man wünschte ihm den Tod.
Während
die anderen Helfer auch das kleine Mädchen davontrugen, nahm
Mendrion sich eine der zurückgebliebenen Laternen und machte
sich auf die Suche nach der letzten Vermißten. Das große
Mädchen mußte hier irgendwo sein - und sie das große
Mädchen zu nennen war ein Hohn und galt nur neben ihrer
Schwester. Mendrion wußte, sie war ein gutes Jahr älter
als Gaven und eines jünger als Varyn, aber im Vergleich zu dem
war sie viel, viel jünger, ein dürres Kind, das ebensogut
als Knabe durchgehen konnte - und sie mußte ganz in der Nähe
sein, Mendrion wußte es. So sehr der Vater auch versucht hatte,
das kleine Mädchen zu schützen, er hätte niemals seine
große Tochter im Stich gelassen. Ganz in der Nähe.
Vielleicht direkt vor seinen Augen - aber direkt vor seinen Augen
endete der Stollen in einem Einsturz, der Gang war an seiner engsten
Stelle bis unter den Rand mit Gestein zugetürmt - wenn das
Mädchen dahinter war, konnte sie noch leben. Aber wenn sie
darunter war, niemals.
Mendrion
ging in die Knie und leuchtete vor sich. Ein Bild verfolgte ihn,
Tamriks blutende, aufgesprungene Finger. Die hatte er sich nicht
zugezogen, nach dem das Gestein ihn begrub: Ab dem Moment hatten
seine Hände seine Tochter festgehalten. Aber vorher - vorher
hatte er versucht -
Mendrion
stellte die Laterne beinahe achtlos beiseite, und begann zu graben,
hektisch, mit bloßen Händen im Gestein zu wühlen, als
ginge es um Leben und Tod des wichtigsten Menschen der Welt. Die
Gefahr war egal. Daß er selbst der nächste sein konnte,
den das Gestein unter sich begrub, den die Decke erschlug, der
Abgrund verschlang. Daß er nie auch nur ein Wort mit dem
Mädchen gesprochen hatte, nicht ihren Namen kannte - er hatte
ihn gehört und wieder vergessen - alles war belanglos. Aber da
draußen lag ein Mann, ein verwunderter Mann. Vielleicht ein
sterbender Mann. Aber wenn dieser Mann jemals die Augen wieder
aufschlug, dann wollte Mendrion ihm sagen können: 'Komm auf
die Beine, deine Tochter lebt und braucht dich jetzt.'
Wild
bis an den Rand der Schmerzlosigkeit grub Mendrion seine Hände
in den Schutt, riß Gestein heraus und schleuderte es hinter
sich, wie ein Hund, der seinen Knochen vergrub. Die Geister der
Verstorbenen waren bei ihm und der Geist des Mannes, der noch leben
mußte. Sie erzählten ihm, was passiert war, wie es
passiert war, doch Mendrion hörte nicht zu, er wollte das alles
nicht wissen - er wollte dieses Mädchen finden, lebendig, und in
Sicherheit bringen.
Er
wußte nicht, wie lange er im Gestein wühlte. Er wußte
nicht, wo die anderen waren, ob sie sich um den Vater kümmerten
oder heimgegangen waren - es gab nur ihn und diese Steine. Und er
wußte, daß er der falsche Mann für diese Arbeit war;
er konnte Varyns Besessenheit nur imitieren, doch sie wohnte ihm
nicht inne, und sie füllte ihn nicht mit neuer Kraft. Trotzdem.
Varyn war nicht da, nur Mendrion, uns wenn er auch halb damit
rechnete, jeden Moment könne der Kohlenjunge hinter ihm
erscheinen wie ein schwarzer Engel vom Himmel herab, wütete und
wütete und wütete er weiter.
Varyn
kam nicht.
Und
dann fand Mendrion eine Hand.
Es
war eine kleine Hand, wie von einem Kind oder einem jungen Mädchen,
doch ohne jede Zartheit ragte sie zwischen dem Gestein hervor. Jede
Schwiele, jedes Fleckchen Hornhaut war hart unter Mendrions
schmerzenden, blutenden Fingern. Die Hand war kalt wie das Gestein,
das sie umgab, warm war nur Mendrions Blut daran. Kalt und starr.
Trotzdem hielt Mendrion sie vorsichtig, wie etwas Lebendiges,
Zerbrechliches, und tastete sich am Handrücken, am Daumenballen
entlang bis zum Handgelenk, bis er einen dünnen Arm zwischen den
Fingern hatte. Er konnte es nicht sehen. Es hätte ebensogut ein
Holzscheit sein mögen, kalt, starr, fest, ohne Regung, ohne
Puls, ohne Leben.
Mendrion
konnte nicht mehr. Zu spät fiel ihm ein, daß er kein
einziges Gebet gesprochen hatte, den ganzen Tag über nicht -
jetzt war es zu spät. Seine Kraft war am Ende - jenseits des
Endes. Er hatte das Mädchen finden wollen: Gefunden hatte er
sie. Mehr konnte er nicht tun, nicht für sie und nicht für
irgend jemanden sonst und nicht für sich selbst. Er konnte nur
sitzen und diese Hand halten und warten, worauf, das wußte er
nicht. Nur sitzen und halten und warten und im Grunde seines Herzens
den alten Bakonyn verfluchen, daß der ihn niemals gelehrt
hatte, den Tod fernzuhalten: Nicht von den eigenen Männern,
sondern auch von sich selbst.
Mendrion
saß und wartete für eine Ewigkeit, hörte nicht den
Regen rauschen und nicht den Berg atmen, nicht stöhnen und nicht
grollen - die Zeit stand still, bis die Männer ihn ins Freie
zerrten, ins Dunkel der Nacht, in die Sicherheit, während mit
einem letzten Seufzer der Gang hinter ihm zusammenbrach, zum fünften
Mal und endgültig. Sechs Seelen hatte er an diesem Tag geholt.
Und daß eine dieser Seelen noch in ihrem Körper steckte -
dem Berg konnte es egal sein.
Und
Mendrion auch.
In
dieser Nacht versuchte Mendrion sich zu betrinken, komplett und
stumpfsinnig, aber es gelang ihm nicht. Der Schnaps verschaffte ihm
einen dicken Kopf und eine schwere Zunge, doch je mehr die Welt vor
seinen Augen verschwamm, desto klarer wurden die Bilder hinter seiner
Stirn. Er hätte mit einer Spitzhacke auf seinen Schädel
eindreschen können, nicht einmal das hätte etwas geändert.
Alles was noch blieb war die Hoffnung, daß am anderen Morgen
dieser ganze verdammte Tag ausgelöscht sein konnte. Um dort
hinzukommen, trank Mendrion mit niegekannter Grimmigkeit. Er war
nicht der einzige.
Das
ganze Dorf war in der Wirtsstube versammelt, alt und jung, vom tauben
Tattergreis bis hin zum kleinsten Kind - die Krabbelkinder spielten
unter dem Tisch mit den Hunden und wußten nicht, um was es
ging, aber schon bei denen, die im Alter waren wie das tote Mädchen
- da, jetzt dachte er schon wieder daran! - begriffen, daß
etwas nicht stimmte. Aber niemand machte sich die Mühe, die
Ängstlichen zu trösten, niemand konnte sich selbst trösten,
und nirmand versuchte es auch nur - die meisten überließen
dem Alkohol den Versuch und waren dabei nicht erfolgreicher als
Mendrion. An einem anderen Abend hätte er sich vielleicht
gefreut, daß die unsichtbare Mauer in der Schankstube endlich
verschwunden war, aber selbst wenn es ihm sogar noch auffiel, freuen
konnte sich darüber wer lustig war; Mendrion war es jedenfalls
nicht.
»Der
Berg holt sich, was der Berg will«, murmelte ein alter Mann,
der bei Mendrion und Leota am Tisch saß - sie kannten seinen
Namen nicht, doch den mußten sie auch nicht kennen, um mit ihm
zu trinken. »Ist ja nicht das erste Mal, das sowas passiert,
sind schon so viele gute Männer im Berg geblieben, gute Männer
waren das.«
Mendrion
nickte nur wortlos - soviel wußte er schon, der Alte war ja
kaum stillzukriegen, und Mendrion sollte das recht sein, er mochte
selbst nichts mehr sagen. Trinken, nicht reden. Vielen ging es so.
Kaum zu glauben, daß es in einer vollen Schankstube so still
sein konnte! Niemand grölte, niemand brüllte, und die, die
sprachen, taten es mit sich selbst, so wie der alte Mann.
»Ein
guter Mann war das, Alrur, Tamriks Vater, der ist auch im Berg
geblieben, bis sie ihn mit den Füßen zuvorderst
rausgetrangen haben…«
Mendrion
wünschte sich, der alte Mann möge doch endlich sein
verdammtes Maul halten. Was verstand der schon? Das konnte man doch
nicht vergleichen, ob irgendwann mal zwei Mann oder drei verschüttet
wurden oder eine ganze Familie mit Frau und Kindern ausgelöscht
wurde, aus dem Leben gerissen in einem einzigen Augenblick!
Alsa.
Harkon. Noran. Edrik. Katka. Tamrik. Ihre Namen hatten sich in
Mendrions Kopf eingegraben, zusammen mit den Bildern ihrer toten
Körper. Alsas lebloses Gesicht, Harkons und Edriks Hände.
Ihre blutbesudelten Kleider. Ihre zerschmetterten Köpfe. Wer den
Krieg schmutzig nannte, hatte keine Ahnung. Keine Feinde konnten
einen Menschen so zurichten wie der Berg. Vier Kinder. Eine Frau. Ein
Mann. Den Mann hatte er von allen am härtesten getroffen. Er
lebte.
Mendrion
hatte Tamrik gesehen, kurz nachdem er selbst aus dem Berg heraus war.
Kaum verletzt, gebrochene Rippen vielleicht, ein tüchtiger
Schlag auf den Schädel, Quetschungen, nichts, woran er sterben
würde. Aber Mendrion hatte Tamriks Augen gesehen. Tamriks Augen
waren tot. Dieser Mann war zusammen mit seinen Kinder gestorben.
An
diesem Abend war er nicht mit im Wirtshaus. Er war in seinem Haus,
allein, bei seiner Frau und seinen Kindern. Er war allein, weil er es
so wollte- weil er es mußte. Mendrion verstand ihn. Die Leute
aus dem Dorf, die ihm helfen wollten, nicht. Die Frauen hatten seine
Wunden verbinden wollen - Schürfwunden, die würden auch von
selbst heilen - und sie hatten die Toten gewaschen, in ihren Betten
aufgebahrt und Laken über sie gebreitet. Es gab keine Totenmagd
in so einem kleinen Dorf, aber Schweigen gab es an diesem Tag genug.
Tamrik wollte keine Hilfe. Er wollte allein sein. So allein, wie es
ihm für den Rest seiner Zeit bevorstand. Seine ganze Familie…
Mendrion
konnte ihn verstehen und doch nicht. Seine eigene Familie war zu
klein, als daß er es begreifen konnte, und seine Eltern zu
lange tot und zu friedlich gestorben. Leota hatte Brüder. Leota
verstand.
»Raus!«
rief Tamrik mit aller Kraft, die ihm geblieben war - viel war es
nicht, und die Anstrengung war ihm anzumerken. »Alle! Raus aus
meinem Haus! Laßt mich allein!«
Und
sie gehorchten. Mendrion war dankbar darum. Er wußte nicht, was
er diesem Mann hätte sagen sollen - etwas 'Freut Euch doch,
daß Varyn und Gaven nicht dabei waren'? Was für ein
Trost sollte das sein? Wenn Varyn und Gaven jetzt auftauchen sollten,
an diesem Abend noch, dann hätten sie ihren Vater erlösen
können, vielleicht. So aber blieb ihm nichts als eine Familie
von Toten. Und Mendrion der Suff.
Es
war nur dieses eine Mal, entschuldigte er sich - bei wem? Bei sich
selbst? Bei Leota? Die stand keinem anderen nach an diesem Abend,
trank wie Mendrion, bitter und ohne eine Miene zu verziehen oder die
Zähne auseinanderzubringen - ob sie betrunken war oder nicht,
wußte nur sie allein, Mendrion wußte es nicht und wollte
es nicht wissen, es war egal, wie so vieles in dieser Nacht. Es gab
nur die Namen und Gesichter, die sich in ihm eingegraben hatten,
jetzt und für alle Zeit - und manchmal, wenn er vor die Tür
wankte, gab es auch noch den Regen, und die Berge, die über dem
Dorf thronten wie die mächtigsten aller Sieger.
Mendrion
trank weiter und wurde nicht betrunken, nicht so, wie er es sein
wollte - war es das, wie es Varyn erging? Mendrion kniff die Augen
zusammen und schüttelte sich widerwillig, auch an Varyn wollte
er nicht denken in dieser Nacht, wenn der doch wenigstens
heimgekommen wäre, wenn er wüßte, was geschehen war -
wie sollte Mendrion jemals Varyn erklären können, was
passiert war? Nein, Varyn sollte bleiben wo er war, die Abgründigen
konnten ihn haben, falls sie ihn noch nicht längst geholt
hatten…
Draußen
dämmerte schon der Morgen, oder es war schon Morgen, vielleicht,
als es heftig an die Wirtshaustür pochte und sie dann nach einem
Moment, als niemand aufstehen wollte, aufgerissen wurde. Doch es war
nicht Varyn, der wie erstarrt unter dem Türsturz stehenblieb. Es
war Dannen.
Einen
Augenblick lang stand er da, in der offenen Tür, die Hand noch
am Knauf, und sah sich um. Erstaunen leerte sein Gesicht, dann
schüttelte er den Kopf und trat ein, bahnte sich seinen Weg
durch den überfüllten Raum bis hin zu dem Tisch, an dem
Mendrion und Leota mehr schlecht als recht saßen. Die
Menschenmenge verblüffte ihn sichtlich, erst recht zu dieser
Stunde - einfältiger Narr, was wußte er schon? Nichts
wußte er!
Dannen
lachte, nicht mal übermäßig vergnügt und doch so
widerwärtig, daß es Mendrion fast hochkam. »Das wär
doch nicht nicht nötig gewesen« sagte er.
Mendrion
blickte auf. »Was?« Es hätte ein ganzer Satz werden
sollen, aber mehr wollte seine Zunge nicht, und es hatte zu reichen.
Dannen
machte eine Geste, die alle Menschen im Raum miteinschloß. »Na,
wenn ihr euch solche Sorgen um mich macht - ich sag doch, ich find
schon irgendwie wieder zurück -«
»Halt's
Maul, Dannen!« fuhr Leota ihn an und schaffte das bemerkenswert
gut, gemessen daran, daß sie gerade damit beschäftigt war,
sich wie Mendrion höchst undamenhaft zu betrinken. »Und
hau ab!«
Dannen
wehrte ab, jetzt mehr verärgert als belustigt. »He, ich
hab euch nicht gezwungen, euch meinetwegen die Nacht um die Ohren zu
hauen, und überhaupt -«
»Hat
nichts mit dir zu tun!« schnaubte Leota noch, und dann war sie
wieder still und Dannen erst einmal auch.
Sein
Gesicht verzog sich. »Ich seh's schon, ich bring dich erstmal
zu Bett, bevor ich was Trockenes anzuziehen finde.« Ohne zu
fragen, nahm er sich einen Becher, füllte ihn aus dem Krug, der
auf dem Tisch stand, und stürzte ihn runter, warum er
ausgerechnet das jetzt nötig hätte - am liebsten wäre
Mendrion jetzt aufgestanden und hätte ihm eine Faust vors Kinn
gegeben, doch er beherrschte sich: Er mochte zwar nach allen Regeln
der Kunst betrunken sein, doch er würde nicht sich selbst
vergessen, eh er das mit allem, was heute geschehen war, tat.
»Und
überhaupt«, redete Dannen weiter, und jetzt sah er
Mendrion an, »wenn du noch stehen und gehen kannst, wär
ich froh, du würdest eben mit mir nach draußen kommen, ich
hab da gerade was erlebt, das glaubt ihr mir nicht, wenn ihr's
nicht mit eigenen Augen erlebt.« Er goß sich nach, als
hätte er es eilig, den Rest der Versammlung einzuholen, noch eh
der Hahn krähte - was bald sein mußte.
»Was?«
fragte Mendrion nochmal, unwirscher als zuvor.
Dannen
wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und stellte
den Becher ab. Seine Augen waren unruhig. »Ich glaub«,
sagte er dann, legte nochmal die Hand an den Krug und schien es sich
dann doch anders zu überlegen, »ich hab gerade einen Geist
gesehen.«
Einen Geist?
Mendrion mußte fast lachen. Er selbst sah sechs Geister, schon
die ganze Nacht über - ein einziger Geist, da konnte Dannen doch
gleich einpacken! Sechs Geister, Alsa, Harkon, Noran, Edrik, Katka -
»Tamrik«,
sagte Dannen. »Ich hab Tamrik gesehen, glaube ich, da draußen
- der Bergmann, du weißt schon.«
»Ich
weiß«, knurrte Mendrion zurück - noch einen Tag
vorher hätte er diese Hilfestellung ja vielleicht noch brauchen
können, aber jetzt kannte er den Namen und würde ihn im
Leben nicht wieder vergessen. Trotzdem war er nun irgendwie
hellhörig. »Und?«
»Mich
hat echt das Gruseln gepackt«, sagte Dannen und schüttelte
sich. »Wirklich, du hättest ihn sehen müssen, sein
Gesicht - sowas hab ich noch nie gesehen, nicht an einem lebenden
Mann.«
»Tote
Augen.« Mendrion nickte. Also hatte auch Dannen Tamrik gesehen
- also hielt es Tamrik auch nicht mehr im Haus. Mendrion wollte es
ihm nicht verdenken. »Da draußen?« fragte er. Wenn
er das Sprechen in kleine mundgerechte Stücke aufteilte, ging es
noch ganz gut.
Dannen
nickte und blickte sich in alle Richtungen um, ohne Mendrion direkt
anzublicken. »Wenn ich nochmal sowas sehe, einen Mann mit
solchen Augen und einer Hacke am Gürtel - dann geh ich gleich
rennen. Aber das Schlimmste…« Dannen atmete durch - dabei
machte Mendrion das mit der Hacke schon Angst genug. »Der hatte
die Augen auf, vielleicht wandelt er ja im Schlaf - aber dann… er
hatte ein Kind auf dem Arm.«
»Ein
Kind?« Die Worte trafen Mendrion wie ein Tritt in die
Magengrube.
Dannen
nickte. »Eines von seinen Mädchen hatte er auf dem Arm,
das hat geschlafen - wirklich, es wär mir am liebsten, wenn du
-«
Weiter
kam er nicht. Mendrion sprang auf. Er kannte das Gefühl,
schlagartig ausgenüchtert zu werden, bis dahin nur aus den
Erzählungen anderer Männer, aber nun traf es ihn selbst wie
ein Eimer Eiswasser, der über sein Herz ausgeleert wurde. »Wo
war das?« Die Worte schossen schneller aus ihm heraus, als er
ihnen folgen konnte, aber er fühlte sich ganz klar, hellwach,
nicht einmal schwindelig. »Schnell, wo war das?«
Dannen
zischte durch die Zähne. »Na, du kommst ja doch ganz schön
schnell wieder auf die Beine -«
Mendrion
schüttelte den Kopf. »Red nicht. Raus hier. Wo war das?«
Er fühlte Angst, er fühlte Grauen, eine Vorahnung - ein
Wissen um etwas Schreckliches, beinahe schrecklicher als alles
andere, was an diesem Tag passiert war. Alles andere hätte
Mendrion nicht verhindern können. Aber dieses Grauen -
»Draußen,
wo's in die Berge geht«, sagte Dannen. »Ich bring dich
hin - da auf dem Weg war das, auf dem Weg zum Bergwerk von Tamriks
Haus aus - er war vom Haus weg unterwegs, nicht zurück, und das
mit der Kleinen auf dem Arm - ich meine, vielleicht ist da was
passiert, und die brauchen Hilfe?«
»Kein
vielleicht«, bellte Mendrion. »Und das Kind schläft
nicht.« Die Nüchternheit wütete wie ein Pflug in
seinen Innereien; er war ganz klar im Kopf, daß er glatt hätte
kotzen mögen. Laut rief er: »Los, alle die noch können,
raus zum Bergwerk!«
Und
dann, ohne noch lange und weitere Worte zu verlieren, stürmte er
vor die Tür, Dannen dicht auf seinen Fersen, und hinaus. Niemand
sonst folgte ihm. Die Leute waren zu stumpf, zu gelähmt, um den
Ruf überhaupt gehört zu haben. Nicht einmal Leota kam, und
darüber war Mendrion froh. Er fühlte das Blut in seinem
Kopf hämmern, aber die Angst war schlimmer, Angst, daß es
zu spät war, zu spät für alles, daß sie Tamrik
nicht mehr würden einholen können.
Tamrik,
eine Spitzhacke am Gürtel, sein jüngstes Kind tot auf dem
Arm, auf dem Weg zum Unglücksstollen - es war Dannens Bild,
Dannen allein durfte es nun und für alle Zeit heimsuchen, doch
Mendrion hatte zuviel gesehen an diesem Tag, und aus diesen Steinen
setzte sich Dannens Bild jetzt auch für ihn zusammen, als wäre
er selbst dabeigewesen.
»Warum
hast du ihn nicht aufgehalten?« hörte er sich selbst
brüllen.
»Warum
hätt ich gesollt?« schrie Dannen zurück. »Ich
hab ihn angesprochen, gefragt, ob er Hilfe braucht - er hat nicht
reagiert.« Dannen schnaufte ein Stück hinter Mendrion. Es
war kaum zu glauben, daß nach diesem harten Tag, nach Stunden
des Schleppens, Schüppens und Schuftens, Mendrion Dannen immer
noch abhängen sollte! Aber der jähe Schreck gab ihm Kraft
und drohte nur ganz verhalten an, daß Mendrion, sobald er sein
Ziel erreicht hatte, tot umfallen sollte.
»Was
ist denn«, jappste Dannen, »überhaupt los?«
Mendrion
erklärte nichts. Er konnte laufen, nicht reden. Das hatte alles
Zeit für später, wenn überhaupt - er war wütend
auf Dannen, brodelnd wütend, daß er sie an diesem Tag
völlig im Stich gelassen hatte, ihnen die ganzen Rettungs- und
Bergungsarbeiten überlassen, um sich selbst seinem Vergnügen
zu widmen, und auch wenn Dannen nicht aussah, als ob er großes
Vergnügen erlebt hatte, war das keine Entschuldigung. Egal.
Mendrion wollte nicht über Dannen nachdenken. Er wollte Tamrik
finden.
Eine
Lampe! Mendrion fluchte. Er hätte eine Lampe mitnehmen müssen!
Hier draußen war es zwar schon dämmerhell, aber wenn sie
in den Stollen reinmußten, würde es darin pechschwarz
sein.
»Jetzt
sag schon!« rief Dannen. »Glaubst du, er bringt sich um,
oder das Kind, oder wen, oder was?«
Mendrion
schüttelte nur den Kopf und hastete weiter, fiel fast hin, wich
knapp einem Baum aus, und lief weiter, bis er endlich den Ort
erreichte, der ihn noch lange in seinen Träumen heimsuchen
sollte: Die schwarze Öffnung des Todesstollens.
»Tamrik!«
schrie er. »Verdammt, komm raus!«
Aus
dem Stollen kam nichts zurück, noch nicht einmal Hall - mit dem
letzten Einsturz war zuviel runtergekommen, da war kaum noch Gang
übrig: Als sich Mendrions Augen ein wenig an das Dunkel gewöhnt
hatten, konnte er schon fast den Schuttberg erahnen, der bis unter
die Decke ragte. Tamrik sah er nicht.
»Wie
bist du so sicher, daß er hier ist?« fragte Dannen. »Mir
sah das mehr so aus, als ob er in den Seitenweg abgebogen ist, zu dem
alten Stollen links von hier.«
»Links?«
fragte Mendrion - sicher, es gab mehr als den Stollen hier, aber
keiner von den anderen bedeutete etwas, es mußte dieser hier
sein, was sollte Tamrik in einem der anderen wollen? Mendrion
schüttelte den Kopf. »Tamrik!« rief er nochmal.
»Also,
ich sehe und hör hier nichts«, erwiderte Dannen, und falls
er den Einsturz sehen konnte, ging er zumindest nicht darauf ein.
»Wenn es so wichtig ist, dann laß uns doch noch bei dem
Stollen schauen, den ich meine, in Ordnung?«
Mendrion
konnte nicht mehr antworten. Mit einer Hand stützte er sich an
der Felswand neben dem Eingang ab, seine Knie wurden weich, in seinem
Kopf drehte sich alles - das war nicht fair! Er mußte es bis
zu Tamrik schaffen, um den ging es doch, nicht um diesen verfluchten
Ort, Mendrion versuchte durchzuatmen, sich zusammenzureißen. Er
fühlte immer noch Angst, aber zusammen mit Enttäuschung und
Wut auf ihn selbst, das machte ihn fertig, lähmte ihn, statt ihn
vorwärtszupeitschen.
Und
dann hörte er ein Geräusch, irgendwo im Berg - wie ein
Schlag. Kein Brummen, kein Krachen, nicht der Berg selbst: Dieses
Geräusch war Menschenwerk, ein gleichmäßiges
Schlagen, eins, Pause, Pause, zwei, Pause, Pause, drei -
»Links
ist das, ist sag's doch!« rief Dannen. »Los, komm!«
Mendrion
mußte ihm glauben, aber er verstand nicht - warum dort, warum
nicht hier? Doch er lief mit, mehr schlecht als recht, hinter Dannen
her, den Weg hinunter. Im Laufen versuchte er noch den Kopf zu
schütteln, aber das war zuviel für ihn.
»Dieser
linke Stollen ist älter als die anderen«, sagte Dannen
noch, während er ihn verwärtszog, und Mendrion fragte gar
nicht, woher er das alles wußte, »der wird eigentlich gar
nicht mehr benutzt, und die Leute meinen, es spukt dort, manchmal
wird da nachts ein Licht gesehen, und jetzt - hörst du das?«
Mendrion
hörte, und wünschte sich, daß es wirklich nur ein
Geist war. Schlag, Pause, Pause, Mendrion zählte es nicht mehr.
Er sah Tamrik vor sich, wie Dannen ihn beschrieben hatte, Kind auf
dem Arm, dann sah er ihn in einem dunklen, leeren Stollen, die
Spitzhacke schwingend -
»Er
hebt ein Grab aus.« Mendrion wußte nicht, ob er das sagte
oder nur dachte, aber er wußte es. Ein Grab. Für das Kind,
das er nicht retten konnte. Und für sich. Wenn Mendrions Ohren
an diesem Tag eines gelernt hatten, dann, wie eine Spitzhacke auf
Stein klang - hell, laut. Der Stein antwortete dem Eisen. Das hier
war anders, Mendrion spürte es genau, obwohl es weit weg war -
leiser, dumpf, und es gab keine Antwort. Holz. Tamrik hieb auf die
Stützbalken ein. Mendrion wußte es, als ob er dabei war.
»Jetzt
reiß dich am Riemen!« rief Dannen - vielleicht sagte
Mendrions Gesicht, was sein Mund nicht oder nicht mehr vermochte.
»Ich höre ihn hauen, du hörst ihn - also sind wir
noch nicht zu spät.«
Der
Morgen kam mit zügigen Schritten, die Sonne kroch über die
Berge, und erst jetzt begriff Mendrion, daß der Regen vorüber
war, er wußte nicht seit wann. Das Hacken wurde lauter, aber es
war immer noch so gleichmäßig wie zuvor.
Zu
dem Stollen, von dem Dannen sprach, führte nur noch ein
Trampelpfad: Hier wurde schon so lange nicht mehr gearbeitet, daß
Mendrion noch nicht einmal von seiner Existenz wußte. Drei
Stollen, in denen gearbeitet wurde, und dieser hier, der vierte, der
Geisterstollen. Wenn Dannen sich hier auskannte, dann hatten seine
endlosen Wanderungen vielleicht doch etwas gebracht…
»Hier«,
sagte Dannen, »hier hab ich ihn langgehen sehen, und hörst
du, er ist ganz in der Nähe.« Er klang nicht mehr
ängstlich, gar nicht, er war zu ruhig, zu abwartend für
Mendrions Geschmack, aber es war wichtig, daß zumindest einer
von ihnen die Nerven behielt.
Der
Stolleneingang war halb zugewachsen mit hohem Gras, wo lang kein
Karren mehr gefahren war und nur noch zwei lange Furchen im Boden von
der schweren Last vergangener Zeit erzählten. Alles glänzte,
noch vom Regen, schon vom Tau, und immer noch hörten sie dieses
hackende Hämmern, vielleicht etwas langsamer als vorher,
kraftloser, aber immer noch stärker als alles, was Mendrion
jetzt noch fertig brachte. Er hastete, stolperte, stürzte zum
dunklen Eingang hin.
»Tamrik!«
schrie er. Das Geräusch erstarb für einen Moment und ging
dann wieder los. Im Stollen war es finster, doch Mendrion meinte,
dort eine Gestalt auszumachen, die sich bückte und krümmte
und streckte, nicht wie ein lebender Mensch, sondern ein sich
windender Geist. »Tamrik!« schrie Mendrion und warf sich
vorwärts, in die Schwärze hinein.
»Halt!«
brüllte Dannen, tausendmal lauter als Mendrion es noch konnte,
packte ihn, und riß ihn zurück. »Da gehst du nicht
rein!« Er warf Mendrion zu Boden, drückte ihn runter. »Das
ist -«
Das
Krachen schnitt ihm das Wort ab, lauter und schrecklicher als alle,
die Mendrion an diesem Tag gehört hatte, als wolle der ganze
Berg direkt vor seinen Augen in sich zusammenbrechen. Grober
Steinstaub flog Mendrion ins Gesicht, machte ihn blind, während
das Donnern in seinen Ohren weiterrollte, daß es schmerzte.
Lange
lag Mendrion auf dem Boden, unfähig sich zu regen,
niedergedrückt von Verzweiflung, auch lang nachdem Dannen ihn
längst wieder losgelassen hatte. Er konnte nichts tun, nicht
einmal fragen 'Warum?'. Er wußte warum, aber das war kein
Trost.
Irgendwann
zog Dannen ihn hoch, klopfte ihm mit der flachen Hand den Staub aus
dem Gesicht - es konnten auch Ohrfeigen sein, doch Mendrion spürte
es nicht mehr. Seine Ohren dröhnten noch immer.
Dannen
sagte nichts, schimpfte nicht, tröstete nicht, packte Mendrion
nur beim Nacken und drehte ihn mit dem Gesicht zur Wand neben dem
Eingang. Mendrion brauchte eine Weile, um das Zeichen zu erkennen,
verwaschene Kreide, kaum noch zu erkennen, und selbst dann bedeutete
es für Mendrion nichts.
»Er
hat es gewußt«, murmelte Dannen mit eingefrorener Miene.
»Er hat es an die Wand geschrieben.«
»Was?«
fragte Mendrion. Mehr schaffte er nicht. Sie hatten versagt. Er
hatte versagt. Dannen auch, aber Mendrion vor allem.
Dannen
atmete durch. »Gefahr.«
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