Auch auf dem Heimweg stahlen sie keine Pferde. Aber das war dann
schon alles, was der Heimweg mit dem Hinweg gemeinsam hatte,
leider. Gaven wünschte sich ein Pferd mehr denn je. Oder
wenigstens ein Maultier, oder einen dummen alten Esel - irgendwas.
Mit so einem Pferd hätte Varyn jemand anderes schinden
können. So war Gaven ihm hilflos ausgeliefert.
»Jetzt gib schon Ruhe«, knurrte Varyn. »Du hast
immer gesagt, du willst mit mir nach Hause, jetzt gehen wir nach
Hause - also, was willst du?«
»Gehen?« schnaufte Gaven. »Gehen nennst du
das?« Wenn das Gehen sein sollte, dann waren sie den ganzen
Hinweg über nur geschlichen. Aber was sie jetzt taten, oder
besser: WasVaryn tat, war Hetzen. Los mit der Morgendämmerung
und dann auf den Beinen, bis es Nacht wurde, quer durchs Land - was
brauchte man Straßen und Häuser? Varyn wollte nach
Südosten, auf dem direkten Weg, und Gaven konnte nur hoffen,
daß wenigstens die Richtung stimmte.
»Was weiß ich?« Varyn schüttelte unwirsch
den Kopf. »Langsamer dürfen wir nicht, uns läuft
die Zeit davon.« Davon, davon - von was? Es war wie
früher, wie alles, was Gaven haßte. Varyn bekam die
Zähne nicht auseinander. Dafür hatte Gaven keinen Grund
mehr, sich irgendwie zurückzuhalten.
»Dann kaufen wir eben ein Pferd, verdammt!«
schrie er. »Wofür haben wir das ganze Geld verdient? Wir
brauchen ein Pferd, klauen dürfen wir es nicht - dann gib das
verdammte Geld endlich aus und kauf ein Pferd davon!«
»Das bringt nichts.« Varyn schrie nicht, aber sein
heiseres Fauchen war zornig genug. »Erstmal, ein Pferd reicht
nicht, wir sind zu zweit. Und dann ist man zu Pferd auch nicht
schneller.«
»Sicher ist man zu Pferd schneller! Was meinst du, wie ein
Pferd rennen kann?«
Varyn lachte nur. »Rennen, aber nur ein kurzes Stück -
da renne selbst ich länger.« Als ob man von Varyn auf
irgend jemand anderen Rückschlüsse ziehen konnte!
»Und selbst wenn es zwischendurch mal rennt - ein Pferd
muß den halben Tag fressen. Pferde sind gut, um einen Karren
zu ziehen, und sonst nur was für Leute, die zu faul sind zum
Laufen.«
Varyn hatte keine Ahnung von Pferden, soviel stand fest. Er
wußte vielleicht über manche Sachen viel zu viel und
alles besser, aber von Pferden verstand er nichts, nicht mal halb
so viel wie Gaven. Immerhin war Gaven viele Tage lang mit einem
Fuhrmann gereist!
»Du mußt nicht reiten; wenn du nebenher rennen willst,
ist mir das Wurst.« Diesmal würde Gaven nicht aufgeben.
Diesmal nicht. »Aber ich kann auch nicht ewig rennen,
und ich will auch den halben Tag essen, und ich will ein
Pferd!« Ob Varyn wußte, daß Gaven so laut
brüllen konnte? Doch der beschleunigte nur seine Schritte.
Dabei hatte es Gaven auch so schnon schwer genug, mit ihm Schritt
zu halten!
»Was du willst, interessiert mich nicht«, sagte Varyn
im Gehen. »Das hier hat nichts damit zu tun, was irgendeiner
von uns will. Glaubst du, ich will das hier? Es geht nur
darum, was wir müssen, und sonst um nichts.«
»Müssen?« schrie Gaven. »Müssen? Wer
sagt, wir müssen? Sagen das deine drei Hexen? Oder sagst du
das? Mir hat es jedenfalls keiner gesagt, daß ich
irgendwas müssen muß!«
Varyn schüttelte den Kopf, und seine Worte wehten undeutlich
zu Gaven hinüber, soviel Vorsprung hatte der Bursche
inzwischen. »Ich weiß es, das reicht. Wenn wir
rechtzeitig kommen, ist es nicht zu spät, und dann mußt
du es niemals erfahren, und das ist das Beste. Für dich
zumindest.« Den Rest mußte Gaven sich zusammenreimen,
aber das gelang ihm ganz gut, denn letztlich sagte Varyn jeden Tag
immer das gleiche, wenn sie sich stritten. Und sie stritten
eigentlich nur. »Es reicht, wenn ich es gesehen habe.«
Oder: »Es reicht, wenn ich es weiß.« Oder etwas
in der Art. Es begann mit ‘es reicht’, und es reichte
Gaven.
»Ich hasse dich!« brüllte er. »Hörst du
das, Varyn? Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Gaven blieb
stehen. Keinen Schritt würde er mehr tun. Nicht mit Varyn.
Nicht mit diesem Varyn, zumindest. Er wollte den von früher
wiederhaben, von ganz früher oder wenigstens von vor Sharaz.
Den, dessen Bruder er war. Den, mit dem er reden konnte. »Ich
hasse dich!«
Er hoffte, daß Varyn irgendwann innehalten, stehenbleiben,
zurückgehen würde, doch der dachte nicht daran, ging
einfach weiter auf seinen viel zu langen Beinen geradeaus und
erwartete sicher, daß Gaven gleich hinterherrennen mochte,
doch da irrte er sich.
»Willst du wissen, warum ich dich hasse?« schrie Gaven
noch. »Weil du nichts gelernt hast, nichts!« Vergessen,
zumindest für Varyn, war die Abmachung, welche die Brüder
nach ihrem Wiedersehen getroffen hatten - daß Varyn immer
genau sagen sollte, was er sah, selbst wenn sie beide wußten,
daß es nur in seinem kopf passiert. Oder besser: Damit
sie es beide wußten. Jetzt zumindest glaubte Varyn wieder
felsenfest an seine Gesichter, und Gaven durfte seinerseits nicht
daran glauben, weil er sich keine Sorgen machen durfte, solange er
nicht wußte, weswegen - er konnte sich nur pauschal ums ganze
Tal, ums ganze Dorf, um seine ganze Familie sorgen, und das war
zuviel, das machte ihn fertig, so wie es Varyn fertigmachte. Aber
das war kein Grund, Gaven nichts zu erzählen! Denn nichts zu
wissen machte ihn ebenso fertig. Und auch das wußte Varyn gut
genug.
Gaven hockte sich hin, legte das Gesicht auf die Knie, und wartete
- so mußte er zumindest nicht zusehen, wie Varyn verschwand,
ohne sich auch nur einen Deut um ihn zu scheren. So konnte er auch
einmal durchatmen, verschnaufen, er hatte es nötig: Nicht vom
Laufen, denn so lange waren sie an diesem Tag noch nicht unterwegs,
sondern vom Herumbrüllen. Er hatte vergessen, wie anstrengend
es war, sich so laut zu streiten, aber diesmal mußte es sein,
und hier draußen gab es wenigstens niemanden, der dann
versuchen würde dazwischenzugehen, wie dieser verdammte
Hauptmann… Der Tag bei den Soldaten war so lange her, er
schien kaum mehr als ein dunkler wüster Traum, doch das hielt
Gaven nicht davon ab, zu bereuen. Er hätte bei der Truppe
bleiben sollen und Varyn allein nach Sharaz ziehen lassen. Oder
noch besser, von Anfang an daheim bleiben. Zuhause war es doch
immer am schönsten und am besten, auch wenn es noch ferner war
und noch länger her als die Soldaten. Zuhause wurde immer nur
schöner und schöner, je länger er weg war.
Vielleicht rannte Varyn deswegen so?
»Hey«, sagte Varyn neben ihm. »Tut mir leid.
Kommst du?«
Gaven blickte auf. Dann schüttelte er den Kopf. Die fünf
Schritte zurückzugehen war vielleicht für Varyns
Verhältnisse schon eine großartige Leistung, aber Gaven
genügte das nicht, und auch mit der Entschuldigung allein war
er nicht zufrieden.
»Komm schon«, sagte Varyn, sein Tonfall jetzt schon
schärfer. »Laß die Kindereien, für solche
Spiele fehlt uns jetzt wirklich die Zeit, und nein, ich werde dich
auch nicht tragen.«
Wenn das alles war? Gaven warf ihm das Heftigste an den Kopf, was
er jemals zu irgend jemandem gesagt hatte, und Varyn nannte es
Kinderei? Gaven schüttelte den Kopf nochmals. »Du hast
es eilig«, sagte er, so ruhig er es noch konnte - eigentlich
war ihm nach Heulen zumute. »Ich halte dich nur auf. Geh ohne
mich. Ich komme nach, den Weg finde ich schon, und wenn ich in
meinen eigenen Fußabdrücken zurücklaufen
muß.«
Varyn schnaubte. »Das kommt nicht in Frage! Ich lasse dich
nicht zurück, ganz sicher nicht - du bist mir nicht weniger
kostbar als jeder andere von unserer Familie.«
Doch die Worte berührten Gaven nicht - solange er nur
‘nicht weniger kostbar’ war, nach allem, was sie
zusammen erlebt hatten - dafür konnte und wollte Gaven sich
nichts kaufen. »Ich komme nicht mir, und wenn du schwarz
wirst«, sagte er fest. »Ich seh keinen Grund warum ich
sollte - und seit wir aus Sharaz raus sind, redest du ja nicht mehr
mit mir.«
Varyn fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, durch die Haare - sehr
hektisch; daß ihm die Zeit davon lief, glaubte er zumindest
in jedem Fall selbst. »Reden…«, murmelte er.
»Reden dauert zu lange, das ist Zeit, die wir nicht
haben.« Er rieb sich die Augen - schlief er überhaupt,
seit sie aus Sharaz raus waren? Er sah nicht danach aus, oder
zumindest nicht gut.
»Aber warum denn?« schrie Gaven abrupt und freute sich
fast, seinen Bruder zusammenzucken zu sehen. »Was ist es
denn, was passiert, wenn wir nicht bis übermorgen oder
vorgestern oder so da sind?«
Varyn schüttelte den Kopf, langsam - seine viel zu langen
Haare klatschten hin und her, als schrieen sie nach einer Schere,
welche die Jungen nicht hatten. »Ich weiß es
nicht«, sagte er dann. »Nicht genau, zumindest. Aber es
- es ist schrecklich.«
Gaven zog die Nase hoch. »Ja, schrecklich, ich
weiß«, sagte er und mußte ganz kaltblütig
klingen. »Alle sterben, ich weiß.«
Varyn starrte ihn an, so entsetzt und bleich, wie er den drei
Schwestern in die Kugel gestarrt hatte. »Aber - wenn
-«, stammelte er in abgehackten Silben.
»Weil du das immer siehst!« schleuderte ihm Gaven mit
verachtenswert schonungsloser Ehrlichkeit entgegen. »Du
siehst das seit Jahren, du hast sogar davon erzählt, und du
bist trotzdem von daheim weggelaufen, obwohl du das Ganze schon
gesehen hattest, damal schon. Und du hattest es trotzdem nie eilig,
wieder zurückzukommen. Warum also jetzt plötzlich?«
Und dann die eine Frage, auf die es ankam, jetzt wo Varyn
mürbe war. »Was haben die Sharaz-Schwestern dir
erzählt?«
Doch Varyn schüttelte nur den Kopf. »Nichts, es hat
nichts damit zu tun…«
»Sie haben dir nicht nichts erzählt!« Gaven
schnitt ihm das Wort ab. »Du hast mit ihnen gesprochen, und
als nächstes finden wir und draußen vor der Halde
wieder, und du sagst, wir müssen nach Hause, sofort - also,
was ist los?«
Varyn verzog das Gesicht. Er sah wirklich übel aus, so von
Nahem betrachtet. »Was sie mir gesagt haben… das hat
mich nicht interessiert. Das war den ganzen Weg nicht wert und den
ganzen Ärger, und es tut mir leid, daß ich dich dorthin
geschleift habe, oder daß ich jemals darauf reingefallen
bin.«
»Und?« fragte Gaven. Das waren jetzt zwar ganz nette
Eröffnungen, aber auch wenn die Reue echt war, hatte sie doch
nichts mit Gavens Frage zu tun, oder mit Varyns Problem.
Bevor er weitersprach, blickte Varyn sich gründlich nach allen
Seiten um wie einer, der verfolgt wird. Er hielt sicher nicht nach
Menschen ausschau, so blöd war er nicht - Menschen gab es hier
keine, nur blöde fremde Berge - sondern nach Vögeln: Am
Himmel, in den Bäumen… Vögel gab es hier, aber
keiner von ihnen war schwarz und weiß und fraß
Küken. »Ich glaube, das war eine Falle«, sagte
Varyn dann, »Er ging denen nicht darum, daß sie mir
unbedingt etwas sagen mußten - das was sie mir gesagt haben,
das war nur ein wirrer Blödsinn, das hätten sie mir
ebensogut zuhause sagen können. Nein, die wollten etwas ganz
anderes, die drei.«
»Und was?« fragte Gaven, neugieriger als er klingen
wollte; plötzlich war die ganze schöne Schärfe aus
seiner Stimme verschwunden.
»Sie wollten nur, daß ich nicht mehr im Tal bin.
Verstehst du, Gaven - sie kennen das Schicksal, sie sehen das, was
ich auch sehe, aber anders als ich verstehen sie die Sachen, und
sie wissen, wann die Dinge passieren werden. Darum haben sie
mich aus dem Tal geholt. Damit ich nicht da bin, wenn es
passiert.« Er rieb sich mit dem Arm über die Stirn und
redete weiter, wo er einmal damit angefangen hatte, und Gaven wagte
nicht, ihn zu unterbrechen, obwohl er Fragen hatte, viele Fragen.
Aber besser, Varyn redete von sich aus, als daß er wieder
nicht antworten wollte. »Der Abgrund, Gaven«, sagte er
fahrig. »Ich habe den Abgrund gesehen. Der Abgrund tut sich
auf und verschlingt das Tal, wie in Sharaz damals, nur alles auf
einmal, und es ist kein Engel da, und alle
sterben…«
In diesem Moment schiß Gaven auf alle Fragen. Er warf sich
Varyn um den Hals und drückte ihn, das war alles, was er jetzt
tun konnte und durfte. Aber es machte auch, daß Varyn
verstummte und in Gavens Armen hing wie ein totes Tier, ein schwer
atmendes totes Tier. »Darum«, sagte er nur noch.
Gaven ließ wieder los, machte einen Schritt
rückwärts und wischte sich verlegen die Hände an der
Hose ab. »Warum?« fragte er.
Varyn starrte ihn an wie von Sinnen. Die langen Haarsträhnen
hingen ihm dunkel vom Schweiß ins Gesicht, und dahinter
funkelten seine Augen voll wirrer Verzweiflung. »Warum
warum?«
»Warum wollen sie nicht, daß du im Tal bist, wenn es
passiert?«
Varyn zitterte. »Ich weiß es nicht, vielleicht wollen
sie mich retten, vielleicht bin ich bestimmt, dort zu sterben, so
wie alle da sterben, und sie wollen mich davor bewahren, ich
weiß es nicht, warum mich, ich will die Leute warnen, ich
will sie retten, wenn wir rechtzeitig ankommen, wenn es noch nicht
längst zu spät ist, ann führen wir sie aus dem Tal,
dann muß niemand sterben, nicht nur ich nicht, wenn es nur
nicht zu spät ist…«
»Es ist nicht zu spät!« entgegnete Gaven bestimmt.
Er schluckte seinen Zorn hinunter, den konnte er jetzt nicht
brauchen, nicht jetzt. Ob das Tal auf Rettung durch sie angewiesen
war, wußte er nicht, aber dieses zitternde bleiche
Geschöpf vor ihm war sein Bruder, und der hatte jetzt Gavens
Hilfe nötig. »Sprich mir nach: Es ist nicht zu
spät.«
Es war fraglich, ob Varyn ihn überhaupt hörte. »Ich
schlafe nicht mehr«, sagte er, ob zu Gaven oder sich selbst
oder den Bergen war egal. »Weil ich nicht mehr träumen
will, weil ich nicht will, daß sie in meinen Träumen
ist, sie hat mich verraten, sie hat meine Träume benutzt, ich
will sie nie wiedersehen im Leben und nicht danach, ich will nie
wieder träumen.« Wenigstens war er ihr nicht auch noch
dankbar für ihre Mühen, sein Leben zu retten! »Wenn
hier Gasthäuser wären, wenn hier überhaupt Menschen
wären, bei denen wir übernachten könnten, ich
würde wieder trinken und trinken bis es vorbei ist, es
zerreißt mich von innen heraus, aber ich hab es geschworen,
dann holt mich der Abgrund, aber der soll mich nicht haben, nicht
hier…«
Gaven ließ ihn reden und reden und fragte sich, was er da
angerichtet hatte; das war jetzt seine Schuld, was hatte er auch so
bohren müssen? Das hatte er jetzt davon, er und Varyn. Aber
auch, als Varyn endlich still war und sich schüttelte, kaltes
Wasser ins Gesicht spritzte und sie weitergingen, versuchte Gaven
nur, ihn aufzumuntern und bei Laune zu halten, irgendwie, auch wenn
ihm nicht danach war.
»Du schläfst heute Nacht«, sagte er,
»dafür werde ich sorgen, diesmal werd ich Wache halten,
jawohl, das werde ich, und wenn dann dein Dämmervogel kommen
sollte, schmeiß ich Steine, bis sie abhaut.« Und er
versprach auch, jede einzelne Elster, die sie unterwegs oder jemals
danach treffen sollten, mit Steinen zu schmeißen. Daß,
was ihm aber am meisten auf der Seele brannte, behielt er für
sich: Warum er nämlich dem Dämmervogel am liebsten jede
Feder einzeln ausgerissen hätte, schön langsam, damit es
auch wirklich weh tat.
Wenn die Schwestern wußten, was passieren würde, und
wenn Varyn Recht hatte - dann klangen sie ja regelrecht nett, und
man mußte sich nur wundern, warum sie sich vom ganzen Tal
ausgerechnet Varyn fürs Überleben ausgesucht hatten. Aber
das war nicht die Wahrheit, und nicht der Grund für Gavens
Zorn. Gaven war zornig auf die Schwestern, weil die Schwestern
zornig auf ihn waren: Daß er es wagte, Varyn zu begleiten.
Daß er es wagte, das Tal zu verlassen, wo er doch
bitteschön daheimzubleiben hatte, gefälligst daheim
bleiben und gefälligst sterben. Gaven haßte die drei
Schwestern, nicht wegen Varyn, sondern nur wegen seiner selbst.
Aber das sagte er nicht.
Und wenn sie es schafften und noch rechtzeitig kamen, mußte
Varyn es auch niemals erfahren. Wenn sie es denn
schafften…
Es mochte ebensogut schon zu
spät sein, wenn nicht sogar viel zu spät - sie beeilten
sich, um heimzukommen, aber sie hetzten nicht mehr. Hetzen konnte
man, wenn man nur drei Tage war war von Daheim und dann merkte,
daß man vergessen hatte, ein sauberes Hemd mitzunehmen: Aber
wer so lange unterwegs war wie Gaven und Varyn, wer Monate auf der
Straße und in den Feldern und zwischen den Bergen verbrachte,
der kam entweder rechtzeitig heim, um das Schlimmste zu verhindern,
oder aber nicht. Sie hatten es nicht in der Hand, und darum gab es
auch keinen Grund zum Grübeln oder Grämen oder lange
darüber Reden.
Am Ende war doch immer alles gutgegangen, und das würde es
auch hier, aber Gaven nahm sich trotzdem jeden Tag ein
bißchen Zeit zum Beten, wahlweise zum Engel des Schicksals,
weil der ja wohl noch am Ehesten etwas ausrichten konnte, oder zum
Engel der Rache, damit der sich den Engel des Schicksals
vorknöpfen konnte wenn nicht… Aber hauptsächlich
und insgeheim betete er zu wem auch immer, damit der verhinderte,
daß Varyn völlig durchdrehte, bis sie glücklich
wieder Zuhause waren. Denn ab und an wollte Gaven auch mal
schlafen, und dann mußten die Engel, am besten alle auf
einmal, auch die, die es nicht gab, auf Varyn aufpassen.
Aber wenigstens schlief Varyn wieder. Gaven wachte extra mitten in
der Nacht auf, um sich davon zu überzeugen, und legte sich
erst dann selbst wieder hin. Varyn schlief, das war schon einmal
was. Ob er dabei träumte, oder was, mochte er allein wissen,
sie sprachen jedenfalls nicht darüber. Aber der Weg von Sharaz
nach Hause war lang, viel zu lang um nicht zu schlafen, und auch
viel zu lang zum Grübeln und Sorgen. Grübeln machte sie
auch nicht schneller, und sorgen konnten sie sich um andere Dinge:
Daß es Herbst wurde, bis sie im Tal ankamen, und der
Fluß wieder Hochwasser bekam von all dem Regen und sie nicht
ins Dorf konnten - denn dann würde Varyn nicht warten wollen
und vorschlagen, daß sie statt dessen über die Berge
stiegen, auf dem direkten Wege… Und davon grauste es Gaven,
viel mehr als vor irgendwelchen namenlosen Abgründen. Schon
jetzt mußte er über viel zu viele Bergpässe
klettern - das war ein Grund, sich wirklich zu beeilen.
Sonst nichts. Und sie würden es schaffen. Sie mußten es
schaffen. Und wahrscheinlich lag Varyn mit seinen Gesichtern
völlig daneben. Er bildete sich einfach zu viel auf sich ein.
Gaven träumte auch manchmal schlimme Sachen, und noch nie war
etwas davon Wirklichkeit geworden. Nur weil Varyn sich an all seine
Träume erinnerte - dann hatte er einfach ein zu gutes
Gedächtnis. Oder weil er immer das Gleiche träumte - dann
war es eben um seine Vorstellungskraft nicht weit bestellt. Oder
weil er das Zeug träumte, während er wach war - aber das
tat er ja gar nicht mehr, seit er mit dem Saufen aufgehört
hatte, und wenn’s nur daran lag, daß es hier
draußen keinen Schnaps gab… Nein, kein Grund, sich
Sorgen zu machen. Nicht um irgendetwas, irgendjemand anderes als
Varyn.
Gaven tat sein Bestes, um sich davon zu überzeugen. Denn wenn
er selbst nicht daran glaubte, hatte er auch bei Varyn keine
Chance. Es gelang ihm so mittelmäßig. Immerhin.
Sie zählten die Tage nicht - zumindest Gaven zählte sie
nicht, weil es keinen Sinn machte: Dinge wurden vom Zählen
nicht mehr und nicht weniger, und dann brauchte man auch keine
guten Zahlen daran zu verschwenden - aber als die Umgebung von der
Landschaft zur Heimat wurde, freuten sie sich beide; von dort an
lohnte es, die Schritte zu zählen, denn mit jedem kam ihr Dorf
näher.
Die Heimat selbst begann schon viel früher und so weit vom Tal
weg, wie sie es sich nie hätten träumen lassen -
daß ihre Heimat so groß sein sollte! Heimat war der
erste Berg, dessen Form sie in der Ferne wiedererkannten; Heimat
war dieser bestimmte Geruch nach diesem bestimmten Kraut, dessen
Name Gaven nicht kannte und von dem er nicht einmal wußte,
wie es auch nur aussah, aber wo es wuchs, waren sie näher an
Zuhause; Heimat war, und das mehr als alles andere, der Fluß.
Er brauchte noch immer keinen Namen, damit sie ihn wiedererkannten;
sie sahen ihn und wußten, daß er es war; sie tranken
sein Wasser und wußten, es kam aus ihrem Tal; sie wuschen
ihre Gesichter und Füße darin und am liebsten gleich den
ganzen Rest, aber das Wasser war schon sehr kalt, und wo der
Fluß war, da waren auch Leute, vor denen mußten sie
sich nicht gleich nackt ausziehen.
Gaven kannte sogar den Namen des Ortes, bei dem sie auf den
Fluß trafen: Das war Fordal, wo er auf dem Hinweg vom Gespann
auf den Lastkahn umgestiegen war. Fordal war ein richtig
großer Ort, was das anging, mit einer Poststation, und hier
war die letzte Gelegenheit, wo sie ihre Vorräte noch einmal
auffrischen konnten… Und so zog Gaven den sich heftig
sträubenden Varyn zum Gasthaus hin.
»Wirklich, du mußt nichts trinken, von mir aus
mußt du noch nicht einmal was essen - aber wir sind bald da,
und ich will zumindest das letzte Stück reiten, und hier kann
man Pferde mieten, das weiß ich.« Gaven konnte viel und
schnell reden, wenn es drauf ankam, das war gut an Tagen wie
diesen, wo Varyn seine Zähne nicht gut auseinanderkriegen
wollte. »Stell dir doch mal vor, wie das aussieht, wenn wir
ins Dorf zurückkkommen, dreckig und stinkend und abgerissen -
und jetzt stell dir mal vor, wir kommen statt dessen angeritten,
auf richtigen Pferden, ganz hochherschaftlich wie der
königliche Hauptmann persönlich!«
»Ja, sicher!« Varyn grinste, immerhin. »Und der
Gestank kommt dann auch von den Pferden, oder was sollen die Leute
denken?« Er zog Gaven wieder von der Eingangstür weg,
hin zum Stall. Stall war auch in Ordnung. Schon mal die Pferde
aussuchen… »So, von mir aus guck dir die Pferde an,
und dann kaufst du uns was zum Beißen, und ich warte
solange hier drin auf dich.«
Gaven konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen.
»Wirklich, es ist langsam nicht mehr witzig! Kannst du keinen
Fuß mehr in eine Schankstube setzen, nicht mal für kurz,
ohne gleich -«
»Nein!« bellte Varyn. »Nein, kann ich nicht, in
Ordnung?«
Wirklich, der Junge machte keine halben Sachen. Früher, da
hatte er halb im Wirtshaus gewohnt, und jetzt bekam er schon
Schüttelfrost und Katzenjammer, wenn er auch nur ein
Wirtshausschild sah!
Gaven fragte nicht, wie das weitergehen sollte, wenn sie erst
einmal wieder im Dorf waren - es fiel ihm schwer, sich den Alltag
vorzustellen nach so vielen Reisen und Abenteuern! Sollten sie
wieder in einem Bett schlafen und zusammen mit den Geschwistern
arbeiten, als wäre nichts geschehen, als wären sie nie
fortgewesen? Und am Abend, würde Varyn dann lieber daheim
bleiben und mit den Kleinen spielen, statt mit den Männern zu
trinken? Und war dafür Gaven nicht selbst inzwischen alt genug
fürs Wirtshaus? Fragen über Fragen, nur an die Antworten
traute sich Gaven nicht so recht heran. Er erkannte seine Zukunft,
wenn sie ihn in den Hintern trat - vorher war sie ihm egal. Aber
diesmal wagte er es nicht einmal zu fragen, um nicht gleich mit
einer Gegenfrage antworten zu müssen: Was, wenn
nicht?
Gavens Knie begannen zu zittern, als er Varyn im Pferdestall
zurückließ und mit dem Geld in der Hand die Wirtsstube
betrat. Sie waren jetzt so nah an das Tal herangekommen - wenn dort
etwas geschehen war, hatte man hier davon gehört. Wirte
redeten gern, und am liebsten über das Unglück - und
Varyn, dieser feige Hund, schickte Gaven allein dort hinein, nur um
selbst nicht derjenige zu sein, dem mit rollenden Augen und weit
ausholenden Gesten vom Untergang der Heimat berichtet
wurde…
Gaven schluckte und trat ein. Wenn es geschehen war, dann war es
geschehen, daran änderte weder Varyn etwas noch ein Wirt.
Entweder es war, oder es war nicht, und besser, man hatte eine
Vorwarnung, als daß sie direkt in den Abgrund spazierten. Und
besser, Varyn war nicht dabei, wenn Gaven es erfuhr. Solange Varyn
dabei war, mußte Gaven immer stark spielen und Mut für
zwei aufsetzen. Aber in Wirklichkeit, wenn es um das Schicksal
seiner Heimat ging und seiner Familie, hatte Gaven keine Lust mehr
auf Mut. Er wollte auch Angst haben dürfen, und wenn es
passiert war, auch heulen. Es war völlig in Ordnung, daß
die Knie zitterten, hier wo Varyn es nicht sehen konnte. Nur
tragen, das sollten sie ihn noch, bis hin zum Wirt und wieder
zurück, und zurück ohne Zittern, weil eben doch alles in
Ordnung war… Gaven atmete tief durch, seine Hand um die
Münzen zur Faust geballt, und marschierte durch die
dämmrige, verräucherte Stube zum Schanktisch hin.
»Heda, Wirt!« sagte er mit einer Stimme, die gerade so
eben nicht zitterte. »Kann ich bei dir Proviant
bekommen?«
»Du kannst viel bekommen«, erwiderte der Wirt
mürrisch, »von mir aus auch ‘ne Tracht
Prügel.«
Gaven schüttelte den Kopf. Solche Sprüche war er
gewöhnt. »Keine Sorge, ich hab Geld.« Er legte
eine Silbermarkt auf die Theke und die Hand darüber - das war
nur zum Angucken für den Wirt, nicht zum Haben! »Ich
weiß nur noch nicht ganz, wieviel wir brauchen, wir sind zu
zweit, mein Bruder wartet draußen, hat sich nur was aufs Ohr
gelegt - wie lange brauchen wir denn noch ungefähr von hier
bis Elad Courblaka?« Er betonte den Namen mit ganz besonderem
Nachdruck, nicht nur, weil er ihn sonst nie benutzte - wenn dort
etwas geschehen war, würde der Wirt jetzt sofort darauf
anspringen, auch ohne daß Gaven Fragen stellen mußte,
mit denen er sich doch nur verdächtig machte, und er wollte
nichts von Varyns Gesichtern und Vorahnungen erzählen
müssen.
Doch der Wirt kratzte sich nur am Kopf, statt entsetzt mit den
Augen zu rollen. »Nach Courblaka? Hm… zu Fuß so
sechs, sieben Tage, würde ich sagen - ob euch da eine Mark
reicht zum Sattwerden, da bin ich mir nicht sicher.«
»Ich hab noch eine«, sagte Gaven schnell und
plötzlich vergnügt. Wenn der Wirt noch nicht bei diesem
Namen loslegte, dann war dort auch noch nichts passiert, und wenn
nichts passiert war, kamen sie rechtzeitig, und alles war in
Ordnung. Aber warum zitterte er dann?
»Elad Courblaka, sagst du?« fragte eine
Männerstimme hinter ihm.
Gaven fuhr herum, von einem Moment auf den anderen zu Stein
erstarrt. Er konnte nicht mehr denken, nicht mehr sehen, alles
drehte sich… Er konnte sich gerade noch an der Theke
abstützen, als seine Knie unter ihm nachgaben.
»Ja…«, würgte er hervor.
»Dann komm mal rüber«, sagte der Mann. Aber er
klang munter genug, daß Gaven dann doch noch mit
gefaßtem Herz zu ihm hin stolperte - und er klang…
vertraut. Gaven rieb sich die Augen, alles war voll schwarzer
Flecken, und einen Moment lang fühlte er sich wieder so wie an
dem Tag, als Varyn ihn verprügelt hatte; doch er fing sich
wieder, er war nicht Varyn! »Hennes?« fragte er dann
und wußte nicht mal, ob er sich jetzt den Fuhrmann nicht doch
nur einbildete. Aber da saß er, in der Ecke, Schlapphut neben
ihm, ganz so, wie Gaven ihn in Erinnerung hatte.
»So ist es«, sagte der Mann. »Und daß ich
dich nochmal wiedersehe, Junge! Als ich meiner Frau von dir
erzählt hab, dachte ich noch, du wärst längst
über alle Berge.«
»War ich auch«, erwiderte Gaven, und langsam legte sich
die blinde Angst wieder, mischte sich mit Dingen wie Freude,
daß Hennes sich noch an ihn erinnerte, oder daß der
endlich seine Familie wiedergesehen hatte. Gaven mochte nie lange
Angst haben. »Aber jetzt bin ich wieder auf dem
Heimweg.«
»Richtig, nach Courblaka, ich hab’s gehört.«
Der Fuhrmann nahm einn Schluck von seinem Bier und wischte sich den
Schaum aus dem Schnauzbart. »Deswegen hab ich doch gleich an
dich denken müssen, wie du’s gesagt hast.«
Gavens Herz hämmerte wie verrückte. »Und Courblaka,
bist du gerade auf dem Weg dorthin, oder warst du…« Er
wußte nicht, was er sich mehr wünschte, Nachrichten aus
der Heimat oder doch die Gelegenheit oder doch die Gelegenheit,
noch mal mit dem Fuhrmann zu reisen. Eigentlich lieber ersteres.
Hennes kam so langsam voran - Varyn würde noch verrückt
werden dabei. Oder noch verrückter…
Hennes schüttelte den Kopf. »Schön
wär’s, ich würd dich auch glatt nochmal mitnehmen,
heim ist es doch immer am schönsten.« Als ob der Mann
Ahnung hatte! Gaven wäre ihm am liebsten ins Wort gefallen,
doch er verkniff es sich. »Nein, ich komme gerade von da, hab
meine Fuhre dem Fluß übergeben, und jetzt sitz ich hier
und warte.«
»Warte? Worauf?« fragte Gaven und merkte sofort,
daß es die falsche Frage war: Wie es den Leuten im Tal ging,
seiner Familie, das war tausend mal tausendmal
wichtiger!«
Hennes lachte. »Neue Ladung Erz. Kommt mit dem Kahn an, ich
bring sie euch vor die Haustür, also, Askir von der
Gießerei natürlich. Jetzt hat sie sich verspätet,
aber mir ist das ganz lieb, da kann ich mich erholen, ich hatte
einen Unfall vor ein paar Tagen -«
»Was ist passiert?« schoß es aus Gaven heraus,
und obwohl er wußte, daß es jetzt auch nichts mehr
änderte, hängte er im Kopf noch ein Halbdutzend
Stoßgebete daran - Jetzt kam es! Jetzt sagte er es!
Doch der Fuhrmann lachte weiter, rutschte ein Stück vom Tisch
weg und zeigte Gaven einen dick mit Bandagen umwickelten Fuß.
»Ich hab’s geschafft und bin mir doch glatt mit dem
Fuß meinem Dicken untern Huf gekommen, aber mit Wucht! Hab zu
spät was dran machen lassen, das hab ich jetzt davon, kann
erstmal nur humpeln und hüpfen!«
Wieder atmete Gaven auf. »Dann freu dich über die Pause,
und darüber, daß du hinterher nur Erz zu fahren hast,
das ist nicht so schwer wie Eisen, da kannst du fahren statt
laufen.« Er freute sich, daß er das noch so gut
wußte.
Doch Hennes schüttelte den Kopf. »Da wird der Karren
höher beladen und ich lauf trotzdem. Aber das wird schon
wieder… Was ist, bleibst du auf ein kleines Bier und einen
Teller Eintopf?«
»Kann nicht«, antwortete Gaven. »Mein Bruder
wartet draußen auf mich, ich soll ja nur Proviant
holen.« Gaven stellte sich vor, wie Varyn mit Schaum vor dem
Mund vor dem Wirtshaus hin und her lief und sich nicht hineinwagte,
um selbst zu sehen, was Gaven da so lange trieb. Schnell stellte
er, ganz unverfänglich, die entscheidende Frage. Dann hatte er
das zumindest hinter sich: »Sag mal, Hennes, als du bei uns
im Tal warst… war da… war da alles in Ordnung?«
Das Herz klopfte ihm zum Hals raus, daß Gaven würgen und
schlucken mußte, doch er brachte sie raus, die Frage.
Und endlich, endlich, endlich konnter er nun Gewißheit haben:
»Das will ich doch wohl meinen!« sagte der Fuhrmann.
»Wie immer emsig wie die Bienen, eure Leute, ich hab kaum
alles aufladen können, soviel hatten die geschafft! Und auch
sonst - da war richtig war los, das halbe Gasthaus belegt, alle
Zimmer, aber mir soll’s recht sein, der Schlafsaal reicht mir
völlig…«
Gaven hörte ihn nicht mehr. Das Blut rauschte in seinen Ohren,
vor Freude, weil er lebte, weil alle lebten, weil alles in Ordnung
war im Tal -
»He, Junge! Willst du nun Proviant, oder willst du
nicht?« rief ihn der Wirt vom Schanktisch aus an, und Gaven
hüpfte hin, leichtherzig und leichtfüßig, gab dem
Wirt, was er auch an Geld hatte, selbst wenn es zuviel war, den
Rest sollte der behalten; er winkte Hennes noch einen letzten
Gruß zu und stürmte hinaus, daß er beinahe das
Bündel mit Dörrfleisch, Zwieback und Trockenobst
hätte liegen lassen, aber selbst das wäre ihm jetzt egal
gewesen.
»Varyn!« rief er. »He, Varyn!« Daß
ihn jetzt jeder da drinnen noch hören konnte bei der
Lautstärke, auch das machte ihm jetzt nichts mehr aus.
»Ich hab Nachricht aus dem Tal! Alles ist in Ordnung! Allen
geht es gut, besser denn eh und je. Wir haben es geschafft! Wir
kommen nicht zu spät!«
Doch sie kamen zu spät.
An dem Tag, als sie das Tal
erreichten, regnete es zumindest nicht mehr, anders als am Tag
davor, an dem sie der Himmel beinahe von der Straße
gespült hätte. Ja, natürlich wollten sie sauber und
gewaschen sein, wenn sie nach Hause kamen - aber sie wollten es
doch selbst in der Hand haben, wann und wie das geschah! Nein, das
war wirklich ein Dreckswetter, und dann auch noch der Donner
dabei… Ein richtig heftiges Gewitter war es, das da irgendwo
hinter den Bergen tobte, und während Gaven sich noch freute,
daß es nicht direkt über ihnen war, zuckte Varyn bei
jedem Donnerschlag zusammen, als hätte ihn gerade selbst der
Blitz getroffen. Am Ende gaben sie ihre Zuflucht unter einem Baum
auf, denn naß waren sie so oder so, und gingen durch den
Regen weiter, und das war eine gute Entscheidung: Denn sonst
hätten sie dort warten können, bis sie schwarz waren, das
Wetter hörte und hörte nicht auf. Sicher, sie hatten
unterwegs so manchen Regentag gehabt, aber der Regen der Heimat war
eine Sache für sich, da konnte kein anderes Unwetter
mitstinken. Sie waren bald zuhause, und diese Freude würde
sich Gaven durch nichts vermiesen lassen, auch nicht von so ein
paar Eimern Wasser. Jetzt mußte er nur noch versuchen, auf
den letzten paar Meilen Varyn wieder aufzubauen.
»Jetzt hör schon auf zu zittern, es donnert doch
längst nicht mehr!« konnte er sagen, mit einem Lachen
auf den Lippen. Oder, ganz sensationslüstern: »Hast du
das gemerkt? Der Boden hat richtig gebebt, das hat irgendwo
eingeschlagen, sag ich dir!«
Aber es dauerte bis zum anderen Tag, um Varyn wieder auf ein
erträgliches Maß zu beruhigen. Dann schüttelte er
sich nur, als sei nichts gewesen.
»Wenigstens habe ich heute Nacht nicht geträumt«,
murmelte er - er murmelte oft, Gaven hatte gelernt, wann man ihm
dann zuhören mußte und wann nicht. »Noch so ein
Traum, nach dem Gewitter gestern…«
Gaven nickte nur. »Von mir aus kannst du heute ruhig
weiterbibbern - aber nicht mit mir, das versprech ich dir -
ich komme heute nach Hause.« Und das würde er
auch, keinen Zweifel. Diese Gegend kannte er gut genug. Hier war er
zu Fuß langgelaufen, noch bevor er Hennes traf. Sie waren so
nah am Dorf, jetzt mußten sie es auch erreichen, und wenn sie
die ganze Nacht durch laufen sollten!
Varyn seufzte und nickte. »Ja, wenn wir es endlich hinter uns
haben…« Er sprach nicht weiter. Er mußte es
nicht.
Sie gingen wortlos weiter, und die Vorfreude beschleunigte ihre
Schritte - das Tal rief sie, und ohne daß Varyn noch hetzen
mußte, wurden sie schneller und schneller, bis sie fast in
einen munteren Trab verfielen. Gaven grinste, er versuchte, Varyn
zu überholen; wenn er vor Varyn im Dorf ankam, war das nur
gerecht, er war ja auch erst nach ihm fortgegangen. Schneller sein
als Varyn, und wenn der zehnmal die längeren Beine hatte. Und
- weil Gaven doch heutzutage ja nichts mehr ohne Hintergedanken
machen konnte - war es immer gut, wenn man Varyn zu etwas
anstacheln konnte, und wenn es ein Wettlauf war. Wettlaufen war gut
gegen Sorgen - beides gleichzeitig ging nicht.
Doch Varyn hatte offensichtlich jeder Sinn für Anstand und
Gerechtigkeit verloren - er holte nicht nur hinter Gaven auf, was
er ja gern durfte, sondern packte ihn von hinten und riß ihn
zur Seite.
»He, was soll -«, versuchte Gaven noch zu protestieren,
da brüllte es hinter ihnen laut und fremd: »Den Weg
frei!«
Und während Varyn noch einen zappelnden Gaven davon abhielt,
in den Fluß zu fallen, so weit vom Weg hatte er ihn
weggezerrt, da preschte von hinten ein Reiter an und an ihnen
vorbei, in vollem Galopp und als ob die Straße ihm ganz
allein gehörte. Sie blickten ihm nach, kopfschüttelnd,
und sahen dann nur noch die hastigen Hufabdrücke im immer noch
vom Vortagsregen aufgeweichten Wegschlamm. Dann blickten sie
einander an, immer noch kopfschüttelnd.
»Mach zumindest den Mund wieder zu«, sagte Varyn
dann.
»Ja, aber - hast du das gesehen?« fragte Gaven - ja,
das war eine dämliche Frage, aber dieser Reiter war so
schnell, fast zu schnell für ein menschliches Auge - und oh,
was für ein Pferd!
Varyn nickte und rieb sich mit der Hand übers Kinn - oder
meinte er damit, daß Gavens Mund immer noch offen stand?
»Der hatte es eilig«, sagte Gaven. »Also, eiliger
als wir kann der es ja nichr gehabt haben, darf er auch gar nicht,
aber - ich sag doch, wir hätten ein Pferd
gebraucht!«
»Still!« sagte Varyn leise. Und dann: »Das macht
mir Sorgen.«
Diesmal hielt Gaven den Mund geschlossen und blickte ihn nur
fragend an.
»Was hat der hier zu suchen?« fragte Varyn. »Hier
ist doch nichts, bis auf unser Dorf - und warum ist irgendwer
außer uns so wild darauf, dort anzukommen?«
Gaven zuckte die Schultern. »Wenn wir ihn im Dorf treffen,
können wir ihn ja fragen.« Und sich das Pferd aus der
Nähe ansehen, aber da wußte Gaven es jetzt besser, als
das noch zu sagen.
Varyn nickte. »Gehen wir weiter«, sagte er.
Aber danach war es anders. Die Leichtigkeit war verschwunden aus
ihren Schritten, und auch wenn sie nicht darüber sprachen, die
Sorgen waren wieder da. Gaven und Varyn waren zu wachsam - blickten
sich nach den Seiten um, nach hinten, ob dort noch weitere Reiter
folgten, schwarzgekleidet wie der erste, und zum ersten Mal seit
Tagen hielt Gaven wieder Ausschau nach Elstern. Und auch wenn
nichts mehr passierte in den Stunden, bis sie das Tal erreichten -
die Vorfreude war dahin, einer übervorsichtigen Spannung
gewichen, die Varyn ganz im Griff hatte und dabei auch auf Gaven
übersprang, so gegenwärtig war sie.
Und dann hatten sie das Tal erreicht, fast - da war die
Flußbiegung, dort drüben lag der alte Kahn, halb mit
Wasser vollgelaufen, dort links wichen die Berge zur Seite hin
auseinander und machten Platz für das großartigste
Stück Welt, das jemals erschaffen wurde, nur merkte man das
nicht, solange man einmal dort war - und Varyn blieb stehen wie
festgewachsen, legte wieder einer Hand an seinen Mund und kniff die
Augen zusammen.
»Was ist?« fragte Gaven flüsternd.
Varyn schüttelte den Kopf. »Hörst du das
nicht?«
Gaven lauschte, erst so, dann mit geschlossenen Augen, dann mit
angehaltener Luft - er hörte den Fluß, und den Wind im
Gestrüpp, aber das hörte er die ganze Zeit schon, und das
konnte Varyn ja wohl kaum meinen… »Nein«, sagte
er dann. »Ich höre nichts.«
»Eben«, sagte Varyn tonlos. »Ich höre auch
nichts.«
Gaven brauchte einen Moment, um ihn zu verstehen, und haßte
sich dafür ab dem Moment, wo er es dann doch tat. Die
Geräusche des Tals. Das Hämmern der Schmiede. Das
Schnaufen des Blasebalgs, das Fauchen des Feuers der
Gießerei. Und, nicht zuletzt und vor allem, das Hauen im
Berg, das man auch sonst nur dann erahnen konnte, wenn man mit
einer Hacke in der Hand aufwuchs und das doch immer anwesend war,
anwesend sein mußte. Nichts davon war zu hören. Aus dem
Tal schlug ihnen nur Stille entgegen, Stille, wo eigentlich Leben
sein sollte.
»Der Reiter«, flüsterte Gaven noch. Und dann
rannten sie.
Sie rannten nicht lang, und nicht weit. Je näher sie dem Dorf
kamen, desto mehr spürten sie etwas Fremdes, etwas Falsches,
Böses, das sie nicht näherkommen ließ, sich wie
Blei in ihre Knochen setzte und sie lähmte, Schritt für
Schritt. Selbst Gaven fühlte es genau. Und er wußte, was
es war: Die Angst. Sie mußten rennen, um sie zu besiegen,
aber genau das konnten sie nicht, solange die Angst sie festhielt.
Wegrennen, vielleicht. Aber weiterrennen? Niemals.
Am Ende schlichen sie vorwärts, leise, langsam, in der
Dämmerung, im Schutze des Berges auf der einen und der
Böschung auf der anderen Seite, erreichten sie das Dorf wie
einen Feind, an den man sich anpirscht. Aber es war noch da.
Es war noch da, jedes einzelne Haus lag noch da, wo sie es
zurückgelassen hatten. Der Abgrund hatte das Tal nicht
verschlungen. Rauch stieg aus manchen Häusern auf - aus dem
Wirtshaus, nicht aus der Schmiede, nicht aus den Schloten der
Gießerei… Gaven lachte. Oder besser, er wollte lachen,
doch die Angst ließ ihn nicht - nicht, bevor er sie
abgeschüttelt hatte. Und das würde er jetzt tun.
»Ich weiß, was los ist«, flüsterte er heiser
in die erstickende Stille hinein. Varyn blickte ihn zur zweifelnd
an, ganz kurz nur, dann blinzelte er und starrte wieder auf das
Dorf, das vor ihnen lag, als fürchte er, es könne
verschwinden, wenn er es nur eine Sekunde lang aus den Augen
ließ.
»Das Erz ist alle«, sagte Gaven, jetzt schon etwas
sicherer. »Der Gießerei ist das Erz ausgegangen und
dann der Schmiede das Eisen - nicht wahr, der Fuhrmann hat mir
erzählt, daß die nächste Ladung sich
verspätet, und so sieht das dann hier am Ende aus. Niemand hat
mehr Arbeit ohne Erz.«
Er hoffte, daß das stimmte - er konnte sich an keinen Tag in
seinem Leben erinnern, an dem die Feuer im Dorf erloschen
wären, an dem die Essen geschwiegen und die Blasebälge
still gestanden hätten - aber es waren Kriegszeiten, da wurde
mehr gebraucht, da fiel vielleicht mal eine ganze Lieferung an den
Feind, und sicher merkte man dann einen Engpaß auch
schneller.
»Und warum hören wir dann das Bergwerk nicht?«
fragte Varyn leise und mit solcher Sicherheit, als ob das
Hämmern sonst ohrenbetäubend das Dorf beherrschte.
»Onkel würde sich schämen nicht zu arbeiten, Erz
ist keine Entschuldigung für einen Kohlenhauer.«
Gaven zuckte die Schultern. »Wer weiß, sie sitzen alle
im Wirtshaus und halten Kriegsrat - Mutter wird es wissen. Und wenn
sie nicht im Berg sind und nicht beim Bier, treffen wir sie alle
daheim.« Er wollte nicht länger schleichen und
zögern. Er hatte Angst und freute sich zugleich, er wollte sie
alle wiedersehen, beide Eltern, alle Geschwister, die beiden
großen, die beiden kleinen… Gaven mußte jetzt
etwas entscheiden, was Varyn nicht konnte: Er packte ihn bei der
Hand und sagte: »Wir gehen jetzt nach Hause. Bevor wir irgend
etwas anderes tun, wir gehen nach Hause. Nicht ins Wirtshaus und
nicht in den Toten Mann und auch sonst nirgendwo hin. Mutter macht
uns eine heiße Suppe, wir waschen uns endlich, und dann
suchen wir Vater und die anderen, sauber und so, daß niemand
im Dorf sich unser schämen muß.« Er zog die Nase
hoch. »Aber erstmal, so wie wir jetzt sind, reicht es, wenn
Mutter uns sieht.«
Dann marschierte er los, zu ihrem Haus, und schleifte Varyn einfach
hinter sich her. Sie rannten nicht und sie riefen nicht, sie
schlichen mehr als daß sie stapften, und Gaven redete sich
ein, daß alles in Ordnung war, daß sie keine Angst
hatten, daß sie ihre Mutter nur überraschen wollten,
damit sie nur einen rechten Schreck bekam vor Freude, daß
ihre beiden Jungen wieder da waren -
Gaven wußte, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung
war. Hinter den Fenstern des Hauses leuchtete Licht, doch es kam
kein Rauch aus dem Kamin, und es war falsch, Licht ohne Leben. Sie
wurden erwartet, von jemandem, von etwas, falsch und fremd - Gaven
spürte es, kaum daß sie das Haus am Wegende vor sich
liegen sahen, und er mußte sich zwingen zu jedem weiteren
Schritt, er wollte rennen und rennen, aus dem Tal hinaus und den
Fluß entlang, einfach nur weg und niemals wissen, was
geschehen war, damit in seinem Kopf, in seinem Herz noch alles in
Ordnung sein konnte. Er packte Varyns Hand und Varyn packte seine,
und dieser Schmerz war das einzige, was noch richtig war. Sie
rannten nicht weg, weil keiner mehr den Mut hatte, umzukehren, und
weil immer der eine den nächsten Schritt vorwärts machte
in dem Moment, in dem der eine doch wegrennen wollte.
Und so kamen sie, endlich, an ihrem Haus an. Doch es war nicht mehr
ihr Haus. Es war niemandens Haus mehr.
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