Fünfzehntes Kapitel

Auch auf dem Heimweg stahlen sie keine Pferde. Aber das war dann schon alles, was der Heimweg mit dem Hinweg gemeinsam hatte, leider. Gaven wünschte sich ein Pferd mehr denn je. Oder wenigstens ein Maultier, oder einen dummen alten Esel - irgendwas. Mit so einem Pferd hätte Varyn jemand anderes schinden können. So war Gaven ihm hilflos ausgeliefert.
»Jetzt gib schon Ruhe«, knurrte Varyn. »Du hast immer gesagt, du willst mit mir nach Hause, jetzt gehen wir nach Hause - also, was willst du?«
»Gehen?« schnaufte Gaven. »Gehen nennst du das?« Wenn das Gehen sein sollte, dann waren sie den ganzen Hinweg über nur geschlichen. Aber was sie jetzt taten, oder besser: WasVaryn tat, war Hetzen. Los mit der Morgendämmerung und dann auf den Beinen, bis es Nacht wurde, quer durchs Land - was brauchte man Straßen und Häuser? Varyn wollte nach Südosten, auf dem direkten Weg, und Gaven konnte nur hoffen, daß wenigstens die Richtung stimmte.
»Was weiß ich?« Varyn schüttelte unwirsch den Kopf. »Langsamer dürfen wir nicht, uns läuft die Zeit davon.« Davon, davon - von was? Es war wie früher, wie alles, was Gaven haßte. Varyn bekam die Zähne nicht auseinander. Dafür hatte Gaven keinen Grund mehr, sich irgendwie zurückzuhalten.
»Dann kaufen wir eben ein Pferd, verdammt!« schrie er. »Wofür haben wir das ganze Geld verdient? Wir brauchen ein Pferd, klauen dürfen wir es nicht - dann gib das verdammte Geld endlich aus und kauf ein Pferd davon!«
»Das bringt nichts.« Varyn schrie nicht, aber sein heiseres Fauchen war zornig genug. »Erstmal, ein Pferd reicht nicht, wir sind zu zweit. Und dann ist man zu Pferd auch nicht schneller.«
»Sicher ist man zu Pferd schneller! Was meinst du, wie ein Pferd rennen kann?«
Varyn lachte nur. »Rennen, aber nur ein kurzes Stück - da renne selbst ich länger.« Als ob man von Varyn auf irgend jemand anderen Rückschlüsse ziehen konnte! »Und selbst wenn es zwischendurch mal rennt - ein Pferd muß den halben Tag fressen. Pferde sind gut, um einen Karren zu ziehen, und sonst nur was für Leute, die zu faul sind zum Laufen.«
Varyn hatte keine Ahnung von Pferden, soviel stand fest. Er wußte vielleicht über manche Sachen viel zu viel und alles besser, aber von Pferden verstand er nichts, nicht mal halb so viel wie Gaven. Immerhin war Gaven viele Tage lang mit einem Fuhrmann gereist!
»Du mußt nicht reiten; wenn du nebenher rennen willst, ist mir das Wurst.« Diesmal würde Gaven nicht aufgeben. Diesmal nicht. »Aber ich kann auch nicht ewig rennen, und ich will auch den halben Tag essen, und ich will ein Pferd!« Ob Varyn wußte, daß Gaven so laut brüllen konnte? Doch der beschleunigte nur seine Schritte. Dabei hatte es Gaven auch so schnon schwer genug, mit ihm Schritt zu halten!
»Was du willst, interessiert mich nicht«, sagte Varyn im Gehen. »Das hier hat nichts damit zu tun, was irgendeiner von uns will. Glaubst du, ich will das hier? Es geht nur darum, was wir müssen, und sonst um nichts.«
»Müssen?« schrie Gaven. »Müssen? Wer sagt, wir müssen? Sagen das deine drei Hexen? Oder sagst du das? Mir hat es jedenfalls keiner gesagt, daß ich irgendwas müssen muß!«
Varyn schüttelte den Kopf, und seine Worte wehten undeutlich zu Gaven hinüber, soviel Vorsprung hatte der Bursche inzwischen. »Ich weiß es, das reicht. Wenn wir rechtzeitig kommen, ist es nicht zu spät, und dann mußt du es niemals erfahren, und das ist das Beste. Für dich zumindest.« Den Rest mußte Gaven sich zusammenreimen, aber das gelang ihm ganz gut, denn letztlich sagte Varyn jeden Tag immer das gleiche, wenn sie sich stritten. Und sie stritten eigentlich nur. »Es reicht, wenn ich es gesehen habe.« Oder: »Es reicht, wenn ich es weiß.« Oder etwas in der Art. Es begann mit ‘es reicht’, und es reichte Gaven.
»Ich hasse dich!« brüllte er. »Hörst du das, Varyn? Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Gaven blieb stehen. Keinen Schritt würde er mehr tun. Nicht mit Varyn. Nicht mit diesem Varyn, zumindest. Er wollte den von früher wiederhaben, von ganz früher oder wenigstens von vor Sharaz. Den, dessen Bruder er war. Den, mit dem er reden konnte. »Ich hasse dich!«
Er hoffte, daß Varyn irgendwann innehalten, stehenbleiben, zurückgehen würde, doch der dachte nicht daran, ging einfach weiter auf seinen viel zu langen Beinen geradeaus und erwartete sicher, daß Gaven gleich hinterherrennen mochte, doch da irrte er sich.
»Willst du wissen, warum ich dich hasse?« schrie Gaven noch. »Weil du nichts gelernt hast, nichts!« Vergessen, zumindest für Varyn, war die Abmachung, welche die Brüder nach ihrem Wiedersehen getroffen hatten - daß Varyn immer genau sagen sollte, was er sah, selbst wenn sie beide wußten, daß es nur in seinem kopf passiert. Oder besser: Damit sie es beide wußten. Jetzt zumindest glaubte Varyn wieder felsenfest an seine Gesichter, und Gaven durfte seinerseits nicht daran glauben, weil er sich keine Sorgen machen durfte, solange er nicht wußte, weswegen - er konnte sich nur pauschal ums ganze Tal, ums ganze Dorf, um seine ganze Familie sorgen, und das war zuviel, das machte ihn fertig, so wie es Varyn fertigmachte. Aber das war kein Grund, Gaven nichts zu erzählen! Denn nichts zu wissen machte ihn ebenso fertig. Und auch das wußte Varyn gut genug.
Gaven hockte sich hin, legte das Gesicht auf die Knie, und wartete - so mußte er zumindest nicht zusehen, wie Varyn verschwand, ohne sich auch nur einen Deut um ihn zu scheren. So konnte er auch einmal durchatmen, verschnaufen, er hatte es nötig: Nicht vom Laufen, denn so lange waren sie an diesem Tag noch nicht unterwegs, sondern vom Herumbrüllen. Er hatte vergessen, wie anstrengend es war, sich so laut zu streiten, aber diesmal mußte es sein, und hier draußen gab es wenigstens niemanden, der dann versuchen würde dazwischenzugehen, wie dieser verdammte Hauptmann… Der Tag bei den Soldaten war so lange her, er schien kaum mehr als ein dunkler wüster Traum, doch das hielt Gaven nicht davon ab, zu bereuen. Er hätte bei der Truppe bleiben sollen und Varyn allein nach Sharaz ziehen lassen. Oder noch besser, von Anfang an daheim bleiben. Zuhause war es doch immer am schönsten und am besten, auch wenn es noch ferner war und noch länger her als die Soldaten. Zuhause wurde immer nur schöner und schöner, je länger er weg war. Vielleicht rannte Varyn deswegen so?
»Hey«, sagte Varyn neben ihm. »Tut mir leid. Kommst du?«
Gaven blickte auf. Dann schüttelte er den Kopf. Die fünf Schritte zurückzugehen war vielleicht für Varyns Verhältnisse schon eine großartige Leistung, aber Gaven genügte das nicht, und auch mit der Entschuldigung allein war er nicht zufrieden.
»Komm schon«, sagte Varyn, sein Tonfall jetzt schon schärfer. »Laß die Kindereien, für solche Spiele fehlt uns jetzt wirklich die Zeit, und nein, ich werde dich auch nicht tragen.«
Wenn das alles war? Gaven warf ihm das Heftigste an den Kopf, was er jemals zu irgend jemandem gesagt hatte, und Varyn nannte es Kinderei? Gaven schüttelte den Kopf nochmals. »Du hast es eilig«, sagte er, so ruhig er es noch konnte - eigentlich war ihm nach Heulen zumute. »Ich halte dich nur auf. Geh ohne mich. Ich komme nach, den Weg finde ich schon, und wenn ich in meinen eigenen Fußabdrücken zurücklaufen muß.«
Varyn schnaubte. »Das kommt nicht in Frage! Ich lasse dich nicht zurück, ganz sicher nicht - du bist mir nicht weniger kostbar als jeder andere von unserer Familie.«
Doch die Worte berührten Gaven nicht - solange er nur ‘nicht weniger kostbar’ war, nach allem, was sie zusammen erlebt hatten - dafür konnte und wollte Gaven sich nichts kaufen. »Ich komme nicht mir, und wenn du schwarz wirst«, sagte er fest. »Ich seh keinen Grund warum ich sollte - und seit wir aus Sharaz raus sind, redest du ja nicht mehr mit mir.«
Varyn fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, durch die Haare - sehr hektisch; daß ihm die Zeit davon lief, glaubte er zumindest in jedem Fall selbst. »Reden…«, murmelte er. »Reden dauert zu lange, das ist Zeit, die wir nicht haben.« Er rieb sich die Augen - schlief er überhaupt, seit sie aus Sharaz raus waren? Er sah nicht danach aus, oder zumindest nicht gut.
»Aber warum denn?« schrie Gaven abrupt und freute sich fast, seinen Bruder zusammenzucken zu sehen. »Was ist es denn, was passiert, wenn wir nicht bis übermorgen oder vorgestern oder so da sind?«
Varyn schüttelte den Kopf, langsam - seine viel zu langen Haare klatschten hin und her, als schrieen sie nach einer Schere, welche die Jungen nicht hatten. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Nicht genau, zumindest. Aber es - es ist schrecklich.«
Gaven zog die Nase hoch. »Ja, schrecklich, ich weiß«, sagte er und mußte ganz kaltblütig klingen. »Alle sterben, ich weiß.«
Varyn starrte ihn an, so entsetzt und bleich, wie er den drei Schwestern in die Kugel gestarrt hatte. »Aber - wenn -«, stammelte er in abgehackten Silben.
»Weil du das immer siehst!« schleuderte ihm Gaven mit verachtenswert schonungsloser Ehrlichkeit entgegen. »Du siehst das seit Jahren, du hast sogar davon erzählt, und du bist trotzdem von daheim weggelaufen, obwohl du das Ganze schon gesehen hattest, damal schon. Und du hattest es trotzdem nie eilig, wieder zurückzukommen. Warum also jetzt plötzlich?« Und dann die eine Frage, auf die es ankam, jetzt wo Varyn mürbe war. »Was haben die Sharaz-Schwestern dir erzählt?«
Doch Varyn schüttelte nur den Kopf. »Nichts, es hat nichts damit zu tun…«
»Sie haben dir nicht nichts erzählt!« Gaven schnitt ihm das Wort ab. »Du hast mit ihnen gesprochen, und als nächstes finden wir und draußen vor der Halde wieder, und du sagst, wir müssen nach Hause, sofort - also, was ist los?«
Varyn verzog das Gesicht. Er sah wirklich übel aus, so von Nahem betrachtet. »Was sie mir gesagt haben… das hat mich nicht interessiert. Das war den ganzen Weg nicht wert und den ganzen Ärger, und es tut mir leid, daß ich dich dorthin geschleift habe, oder daß ich jemals darauf reingefallen bin.«
»Und?« fragte Gaven. Das waren jetzt zwar ganz nette Eröffnungen, aber auch wenn die Reue echt war, hatte sie doch nichts mit Gavens Frage zu tun, oder mit Varyns Problem.
Bevor er weitersprach, blickte Varyn sich gründlich nach allen Seiten um wie einer, der verfolgt wird. Er hielt sicher nicht nach Menschen ausschau, so blöd war er nicht - Menschen gab es hier keine, nur blöde fremde Berge - sondern nach Vögeln: Am Himmel, in den Bäumen… Vögel gab es hier, aber keiner von ihnen war schwarz und weiß und fraß Küken. »Ich glaube, das war eine Falle«, sagte Varyn dann, »Er ging denen nicht darum, daß sie mir unbedingt etwas sagen mußten - das was sie mir gesagt haben, das war nur ein wirrer Blödsinn, das hätten sie mir ebensogut zuhause sagen können. Nein, die wollten etwas ganz anderes, die drei.«
»Und was?« fragte Gaven, neugieriger als er klingen wollte; plötzlich war die ganze schöne Schärfe aus seiner Stimme verschwunden.
»Sie wollten nur, daß ich nicht mehr im Tal bin. Verstehst du, Gaven - sie kennen das Schicksal, sie sehen das, was ich auch sehe, aber anders als ich verstehen sie die Sachen, und sie wissen, wann die Dinge passieren werden. Darum haben sie mich aus dem Tal geholt. Damit ich nicht da bin, wenn es passiert.« Er rieb sich mit dem Arm über die Stirn und redete weiter, wo er einmal damit angefangen hatte, und Gaven wagte nicht, ihn zu unterbrechen, obwohl er Fragen hatte, viele Fragen. Aber besser, Varyn redete von sich aus, als daß er wieder nicht antworten wollte. »Der Abgrund, Gaven«, sagte er fahrig. »Ich habe den Abgrund gesehen. Der Abgrund tut sich auf und verschlingt das Tal, wie in Sharaz damals, nur alles auf einmal, und es ist kein Engel da, und alle sterben…«
In diesem Moment schiß Gaven auf alle Fragen. Er warf sich Varyn um den Hals und drückte ihn, das war alles, was er jetzt tun konnte und durfte. Aber es machte auch, daß Varyn verstummte und in Gavens Armen hing wie ein totes Tier, ein schwer atmendes totes Tier. »Darum«, sagte er nur noch.
Gaven ließ wieder los, machte einen Schritt rückwärts und wischte sich verlegen die Hände an der Hose ab. »Warum?« fragte er.
Varyn starrte ihn an wie von Sinnen. Die langen Haarsträhnen hingen ihm dunkel vom Schweiß ins Gesicht, und dahinter funkelten seine Augen voll wirrer Verzweiflung. »Warum warum?«
»Warum wollen sie nicht, daß du im Tal bist, wenn es passiert?«
Varyn zitterte. »Ich weiß es nicht, vielleicht wollen sie mich retten, vielleicht bin ich bestimmt, dort zu sterben, so wie alle da sterben, und sie wollen mich davor bewahren, ich weiß es nicht, warum mich, ich will die Leute warnen, ich will sie retten, wenn wir rechtzeitig ankommen, wenn es noch nicht längst zu spät ist, ann führen wir sie aus dem Tal, dann muß niemand sterben, nicht nur ich nicht, wenn es nur nicht zu spät ist…«
»Es ist nicht zu spät!« entgegnete Gaven bestimmt. Er schluckte seinen Zorn hinunter, den konnte er jetzt nicht brauchen, nicht jetzt. Ob das Tal auf Rettung durch sie angewiesen war, wußte er nicht, aber dieses zitternde bleiche Geschöpf vor ihm war sein Bruder, und der hatte jetzt Gavens Hilfe nötig. »Sprich mir nach: Es ist nicht zu spät.«
Es war fraglich, ob Varyn ihn überhaupt hörte. »Ich schlafe nicht mehr«, sagte er, ob zu Gaven oder sich selbst oder den Bergen war egal. »Weil ich nicht mehr träumen will, weil ich nicht will, daß sie in meinen Träumen ist, sie hat mich verraten, sie hat meine Träume benutzt, ich will sie nie wiedersehen im Leben und nicht danach, ich will nie wieder träumen.« Wenigstens war er ihr nicht auch noch dankbar für ihre Mühen, sein Leben zu retten! »Wenn hier Gasthäuser wären, wenn hier überhaupt Menschen wären, bei denen wir übernachten könnten, ich würde wieder trinken und trinken bis es vorbei ist, es zerreißt mich von innen heraus, aber ich hab es geschworen, dann holt mich der Abgrund, aber der soll mich nicht haben, nicht hier…«
Gaven ließ ihn reden und reden und fragte sich, was er da angerichtet hatte; das war jetzt seine Schuld, was hatte er auch so bohren müssen? Das hatte er jetzt davon, er und Varyn. Aber auch, als Varyn endlich still war und sich schüttelte, kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und sie weitergingen, versuchte Gaven nur, ihn aufzumuntern und bei Laune zu halten, irgendwie, auch wenn ihm nicht danach war.
»Du schläfst heute Nacht«, sagte er, »dafür werde ich sorgen, diesmal werd ich Wache halten, jawohl, das werde ich, und wenn dann dein Dämmervogel kommen sollte, schmeiß ich Steine, bis sie abhaut.« Und er versprach auch, jede einzelne Elster, die sie unterwegs oder jemals danach treffen sollten, mit Steinen zu schmeißen. Daß, was ihm aber am meisten auf der Seele brannte, behielt er für sich: Warum er nämlich dem Dämmervogel am liebsten jede Feder einzeln ausgerissen hätte, schön langsam, damit es auch wirklich weh tat.
Wenn die Schwestern wußten, was passieren würde, und wenn Varyn Recht hatte - dann klangen sie ja regelrecht nett, und man mußte sich nur wundern, warum sie sich vom ganzen Tal ausgerechnet Varyn fürs Überleben ausgesucht hatten. Aber das war nicht die Wahrheit, und nicht der Grund für Gavens Zorn. Gaven war zornig auf die Schwestern, weil die Schwestern zornig auf ihn waren: Daß er es wagte, Varyn zu begleiten. Daß er es wagte, das Tal zu verlassen, wo er doch bitteschön daheimzubleiben hatte, gefälligst daheim bleiben und gefälligst sterben. Gaven haßte die drei Schwestern, nicht wegen Varyn, sondern nur wegen seiner selbst. Aber das sagte er nicht.
Und wenn sie es schafften und noch rechtzeitig kamen, mußte Varyn es auch niemals erfahren. Wenn sie es denn schafften…

Es mochte ebensogut schon zu spät sein, wenn nicht sogar viel zu spät - sie beeilten sich, um heimzukommen, aber sie hetzten nicht mehr. Hetzen konnte man, wenn man nur drei Tage war war von Daheim und dann merkte, daß man vergessen hatte, ein sauberes Hemd mitzunehmen: Aber wer so lange unterwegs war wie Gaven und Varyn, wer Monate auf der Straße und in den Feldern und zwischen den Bergen verbrachte, der kam entweder rechtzeitig heim, um das Schlimmste zu verhindern, oder aber nicht. Sie hatten es nicht in der Hand, und darum gab es auch keinen Grund zum Grübeln oder Grämen oder lange darüber Reden.
Am Ende war doch immer alles gutgegangen, und das würde es auch hier, aber Gaven nahm sich trotzdem jeden Tag ein bißchen Zeit zum Beten, wahlweise zum Engel des Schicksals, weil der ja wohl noch am Ehesten etwas ausrichten konnte, oder zum Engel der Rache, damit der sich den Engel des Schicksals vorknöpfen konnte wenn nicht… Aber hauptsächlich und insgeheim betete er zu wem auch immer, damit der verhinderte, daß Varyn völlig durchdrehte, bis sie glücklich wieder Zuhause waren. Denn ab und an wollte Gaven auch mal schlafen, und dann mußten die Engel, am besten alle auf einmal, auch die, die es nicht gab, auf Varyn aufpassen.
Aber wenigstens schlief Varyn wieder. Gaven wachte extra mitten in der Nacht auf, um sich davon zu überzeugen, und legte sich erst dann selbst wieder hin. Varyn schlief, das war schon einmal was. Ob er dabei träumte, oder was, mochte er allein wissen, sie sprachen jedenfalls nicht darüber. Aber der Weg von Sharaz nach Hause war lang, viel zu lang um nicht zu schlafen, und auch viel zu lang zum Grübeln und Sorgen. Grübeln machte sie auch nicht schneller, und sorgen konnten sie sich um andere Dinge: Daß es Herbst wurde, bis sie im Tal ankamen, und der Fluß wieder Hochwasser bekam von all dem Regen und sie nicht ins Dorf konnten - denn dann würde Varyn nicht warten wollen und vorschlagen, daß sie statt dessen über die Berge stiegen, auf dem direkten Wege… Und davon grauste es Gaven, viel mehr als vor irgendwelchen namenlosen Abgründen. Schon jetzt mußte er über viel zu viele Bergpässe klettern - das war ein Grund, sich wirklich zu beeilen.
Sonst nichts. Und sie würden es schaffen. Sie mußten es schaffen. Und wahrscheinlich lag Varyn mit seinen Gesichtern völlig daneben. Er bildete sich einfach zu viel auf sich ein. Gaven träumte auch manchmal schlimme Sachen, und noch nie war etwas davon Wirklichkeit geworden. Nur weil Varyn sich an all seine Träume erinnerte - dann hatte er einfach ein zu gutes Gedächtnis. Oder weil er immer das Gleiche träumte - dann war es eben um seine Vorstellungskraft nicht weit bestellt. Oder weil er das Zeug träumte, während er wach war - aber das tat er ja gar nicht mehr, seit er mit dem Saufen aufgehört hatte, und wenn’s nur daran lag, daß es hier draußen keinen Schnaps gab… Nein, kein Grund, sich Sorgen zu machen. Nicht um irgendetwas, irgendjemand anderes als Varyn.
Gaven tat sein Bestes, um sich davon zu überzeugen. Denn wenn er selbst nicht daran glaubte, hatte er auch bei Varyn keine Chance. Es gelang ihm so mittelmäßig. Immerhin.
Sie zählten die Tage nicht - zumindest Gaven zählte sie nicht, weil es keinen Sinn machte: Dinge wurden vom Zählen nicht mehr und nicht weniger, und dann brauchte man auch keine guten Zahlen daran zu verschwenden - aber als die Umgebung von der Landschaft zur Heimat wurde, freuten sie sich beide; von dort an lohnte es, die Schritte zu zählen, denn mit jedem kam ihr Dorf näher.
Die Heimat selbst begann schon viel früher und so weit vom Tal weg, wie sie es sich nie hätten träumen lassen - daß ihre Heimat so groß sein sollte! Heimat war der erste Berg, dessen Form sie in der Ferne wiedererkannten; Heimat war dieser bestimmte Geruch nach diesem bestimmten Kraut, dessen Name Gaven nicht kannte und von dem er nicht einmal wußte, wie es auch nur aussah, aber wo es wuchs, waren sie näher an Zuhause; Heimat war, und das mehr als alles andere, der Fluß. Er brauchte noch immer keinen Namen, damit sie ihn wiedererkannten; sie sahen ihn und wußten, daß er es war; sie tranken sein Wasser und wußten, es kam aus ihrem Tal; sie wuschen ihre Gesichter und Füße darin und am liebsten gleich den ganzen Rest, aber das Wasser war schon sehr kalt, und wo der Fluß war, da waren auch Leute, vor denen mußten sie sich nicht gleich nackt ausziehen.
Gaven kannte sogar den Namen des Ortes, bei dem sie auf den Fluß trafen: Das war Fordal, wo er auf dem Hinweg vom Gespann auf den Lastkahn umgestiegen war. Fordal war ein richtig großer Ort, was das anging, mit einer Poststation, und hier war die letzte Gelegenheit, wo sie ihre Vorräte noch einmal auffrischen konnten… Und so zog Gaven den sich heftig sträubenden Varyn zum Gasthaus hin.
»Wirklich, du mußt nichts trinken, von mir aus mußt du noch nicht einmal was essen - aber wir sind bald da, und ich will zumindest das letzte Stück reiten, und hier kann man Pferde mieten, das weiß ich.« Gaven konnte viel und schnell reden, wenn es drauf ankam, das war gut an Tagen wie diesen, wo Varyn seine Zähne nicht gut auseinanderkriegen wollte. »Stell dir doch mal vor, wie das aussieht, wenn wir ins Dorf zurückkkommen, dreckig und stinkend und abgerissen - und jetzt stell dir mal vor, wir kommen statt dessen angeritten, auf richtigen Pferden, ganz hochherschaftlich wie der königliche Hauptmann persönlich!«
»Ja, sicher!« Varyn grinste, immerhin. »Und der Gestank kommt dann auch von den Pferden, oder was sollen die Leute denken?« Er zog Gaven wieder von der Eingangstür weg, hin zum Stall. Stall war auch in Ordnung. Schon mal die Pferde aussuchen… »So, von mir aus guck dir die Pferde an, und dann kaufst du uns was zum Beißen, und ich warte solange hier drin auf dich.«
Gaven konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. »Wirklich, es ist langsam nicht mehr witzig! Kannst du keinen Fuß mehr in eine Schankstube setzen, nicht mal für kurz, ohne gleich -«
»Nein!« bellte Varyn. »Nein, kann ich nicht, in Ordnung?«
Wirklich, der Junge machte keine halben Sachen. Früher, da hatte er halb im Wirtshaus gewohnt, und jetzt bekam er schon Schüttelfrost und Katzenjammer, wenn er auch nur ein Wirtshausschild sah!
Gaven fragte nicht, wie das weitergehen sollte, wenn sie erst einmal wieder im Dorf waren - es fiel ihm schwer, sich den Alltag vorzustellen nach so vielen Reisen und Abenteuern! Sollten sie wieder in einem Bett schlafen und zusammen mit den Geschwistern arbeiten, als wäre nichts geschehen, als wären sie nie fortgewesen? Und am Abend, würde Varyn dann lieber daheim bleiben und mit den Kleinen spielen, statt mit den Männern zu trinken? Und war dafür Gaven nicht selbst inzwischen alt genug fürs Wirtshaus? Fragen über Fragen, nur an die Antworten traute sich Gaven nicht so recht heran. Er erkannte seine Zukunft, wenn sie ihn in den Hintern trat - vorher war sie ihm egal. Aber diesmal wagte er es nicht einmal zu fragen, um nicht gleich mit einer Gegenfrage antworten zu müssen: Was, wenn nicht?
Gavens Knie begannen zu zittern, als er Varyn im Pferdestall zurückließ und mit dem Geld in der Hand die Wirtsstube betrat. Sie waren jetzt so nah an das Tal herangekommen - wenn dort etwas geschehen war, hatte man hier davon gehört. Wirte redeten gern, und am liebsten über das Unglück - und Varyn, dieser feige Hund, schickte Gaven allein dort hinein, nur um selbst nicht derjenige zu sein, dem mit rollenden Augen und weit ausholenden Gesten vom Untergang der Heimat berichtet wurde…
Gaven schluckte und trat ein. Wenn es geschehen war, dann war es geschehen, daran änderte weder Varyn etwas noch ein Wirt. Entweder es war, oder es war nicht, und besser, man hatte eine Vorwarnung, als daß sie direkt in den Abgrund spazierten. Und besser, Varyn war nicht dabei, wenn Gaven es erfuhr. Solange Varyn dabei war, mußte Gaven immer stark spielen und Mut für zwei aufsetzen. Aber in Wirklichkeit, wenn es um das Schicksal seiner Heimat ging und seiner Familie, hatte Gaven keine Lust mehr auf Mut. Er wollte auch Angst haben dürfen, und wenn es passiert war, auch heulen. Es war völlig in Ordnung, daß die Knie zitterten, hier wo Varyn es nicht sehen konnte. Nur tragen, das sollten sie ihn noch, bis hin zum Wirt und wieder zurück, und zurück ohne Zittern, weil eben doch alles in Ordnung war… Gaven atmete tief durch, seine Hand um die Münzen zur Faust geballt, und marschierte durch die dämmrige, verräucherte Stube zum Schanktisch hin.
»Heda, Wirt!« sagte er mit einer Stimme, die gerade so eben nicht zitterte. »Kann ich bei dir Proviant bekommen?«
»Du kannst viel bekommen«, erwiderte der Wirt mürrisch, »von mir aus auch ‘ne Tracht Prügel.«
Gaven schüttelte den Kopf. Solche Sprüche war er gewöhnt. »Keine Sorge, ich hab Geld.« Er legte eine Silbermarkt auf die Theke und die Hand darüber - das war nur zum Angucken für den Wirt, nicht zum Haben! »Ich weiß nur noch nicht ganz, wieviel wir brauchen, wir sind zu zweit, mein Bruder wartet draußen, hat sich nur was aufs Ohr gelegt - wie lange brauchen wir denn noch ungefähr von hier bis Elad Courblaka?« Er betonte den Namen mit ganz besonderem Nachdruck, nicht nur, weil er ihn sonst nie benutzte - wenn dort etwas geschehen war, würde der Wirt jetzt sofort darauf anspringen, auch ohne daß Gaven Fragen stellen mußte, mit denen er sich doch nur verdächtig machte, und er wollte nichts von Varyns Gesichtern und Vorahnungen erzählen müssen.
Doch der Wirt kratzte sich nur am Kopf, statt entsetzt mit den Augen zu rollen. »Nach Courblaka? Hm… zu Fuß so sechs, sieben Tage, würde ich sagen - ob euch da eine Mark reicht zum Sattwerden, da bin ich mir nicht sicher.«
»Ich hab noch eine«, sagte Gaven schnell und plötzlich vergnügt. Wenn der Wirt noch nicht bei diesem Namen loslegte, dann war dort auch noch nichts passiert, und wenn nichts passiert war, kamen sie rechtzeitig, und alles war in Ordnung. Aber warum zitterte er dann?
»Elad Courblaka, sagst du?« fragte eine Männerstimme hinter ihm.
Gaven fuhr herum, von einem Moment auf den anderen zu Stein erstarrt. Er konnte nicht mehr denken, nicht mehr sehen, alles drehte sich… Er konnte sich gerade noch an der Theke abstützen, als seine Knie unter ihm nachgaben. »Ja…«, würgte er hervor.
»Dann komm mal rüber«, sagte der Mann. Aber er klang munter genug, daß Gaven dann doch noch mit gefaßtem Herz zu ihm hin stolperte - und er klang… vertraut. Gaven rieb sich die Augen, alles war voll schwarzer Flecken, und einen Moment lang fühlte er sich wieder so wie an dem Tag, als Varyn ihn verprügelt hatte; doch er fing sich wieder, er war nicht Varyn! »Hennes?« fragte er dann und wußte nicht mal, ob er sich jetzt den Fuhrmann nicht doch nur einbildete. Aber da saß er, in der Ecke, Schlapphut neben ihm, ganz so, wie Gaven ihn in Erinnerung hatte.
»So ist es«, sagte der Mann. »Und daß ich dich nochmal wiedersehe, Junge! Als ich meiner Frau von dir erzählt hab, dachte ich noch, du wärst längst über alle Berge.«
»War ich auch«, erwiderte Gaven, und langsam legte sich die blinde Angst wieder, mischte sich mit Dingen wie Freude, daß Hennes sich noch an ihn erinnerte, oder daß der endlich seine Familie wiedergesehen hatte. Gaven mochte nie lange Angst haben. »Aber jetzt bin ich wieder auf dem Heimweg.«
»Richtig, nach Courblaka, ich hab’s gehört.« Der Fuhrmann nahm einn Schluck von seinem Bier und wischte sich den Schaum aus dem Schnauzbart. »Deswegen hab ich doch gleich an dich denken müssen, wie du’s gesagt hast.«
Gavens Herz hämmerte wie verrückte. »Und Courblaka, bist du gerade auf dem Weg dorthin, oder warst du…« Er wußte nicht, was er sich mehr wünschte, Nachrichten aus der Heimat oder doch die Gelegenheit oder doch die Gelegenheit, noch mal mit dem Fuhrmann zu reisen. Eigentlich lieber ersteres. Hennes kam so langsam voran - Varyn würde noch verrückt werden dabei. Oder noch verrückter…
Hennes schüttelte den Kopf. »Schön wär’s, ich würd dich auch glatt nochmal mitnehmen, heim ist es doch immer am schönsten.« Als ob der Mann Ahnung hatte! Gaven wäre ihm am liebsten ins Wort gefallen, doch er verkniff es sich. »Nein, ich komme gerade von da, hab meine Fuhre dem Fluß übergeben, und jetzt sitz ich hier und warte.«
»Warte? Worauf?« fragte Gaven und merkte sofort, daß es die falsche Frage war: Wie es den Leuten im Tal ging, seiner Familie, das war tausend mal tausendmal wichtiger!«
Hennes lachte. »Neue Ladung Erz. Kommt mit dem Kahn an, ich bring sie euch vor die Haustür, also, Askir von der Gießerei natürlich. Jetzt hat sie sich verspätet, aber mir ist das ganz lieb, da kann ich mich erholen, ich hatte einen Unfall vor ein paar Tagen -«
»Was ist passiert?« schoß es aus Gaven heraus, und obwohl er wußte, daß es jetzt auch nichts mehr änderte, hängte er im Kopf noch ein Halbdutzend Stoßgebete daran - Jetzt kam es! Jetzt sagte er es!
Doch der Fuhrmann lachte weiter, rutschte ein Stück vom Tisch weg und zeigte Gaven einen dick mit Bandagen umwickelten Fuß. »Ich hab’s geschafft und bin mir doch glatt mit dem Fuß meinem Dicken untern Huf gekommen, aber mit Wucht! Hab zu spät was dran machen lassen, das hab ich jetzt davon, kann erstmal nur humpeln und hüpfen!«
Wieder atmete Gaven auf. »Dann freu dich über die Pause, und darüber, daß du hinterher nur Erz zu fahren hast, das ist nicht so schwer wie Eisen, da kannst du fahren statt laufen.« Er freute sich, daß er das noch so gut wußte.
Doch Hennes schüttelte den Kopf. »Da wird der Karren höher beladen und ich lauf trotzdem. Aber das wird schon wieder… Was ist, bleibst du auf ein kleines Bier und einen Teller Eintopf?«
»Kann nicht«, antwortete Gaven. »Mein Bruder wartet draußen auf mich, ich soll ja nur Proviant holen.« Gaven stellte sich vor, wie Varyn mit Schaum vor dem Mund vor dem Wirtshaus hin und her lief und sich nicht hineinwagte, um selbst zu sehen, was Gaven da so lange trieb. Schnell stellte er, ganz unverfänglich, die entscheidende Frage. Dann hatte er das zumindest hinter sich: »Sag mal, Hennes, als du bei uns im Tal warst… war da… war da alles in Ordnung?« Das Herz klopfte ihm zum Hals raus, daß Gaven würgen und schlucken mußte, doch er brachte sie raus, die Frage.
Und endlich, endlich, endlich konnter er nun Gewißheit haben: »Das will ich doch wohl meinen!« sagte der Fuhrmann. »Wie immer emsig wie die Bienen, eure Leute, ich hab kaum alles aufladen können, soviel hatten die geschafft! Und auch sonst - da war richtig war los, das halbe Gasthaus belegt, alle Zimmer, aber mir soll’s recht sein, der Schlafsaal reicht mir völlig…«
Gaven hörte ihn nicht mehr. Das Blut rauschte in seinen Ohren, vor Freude, weil er lebte, weil alle lebten, weil alles in Ordnung war im Tal -
»He, Junge! Willst du nun Proviant, oder willst du nicht?« rief ihn der Wirt vom Schanktisch aus an, und Gaven hüpfte hin, leichtherzig und leichtfüßig, gab dem Wirt, was er auch an Geld hatte, selbst wenn es zuviel war, den Rest sollte der behalten; er winkte Hennes noch einen letzten Gruß zu und stürmte hinaus, daß er beinahe das Bündel mit Dörrfleisch, Zwieback und Trockenobst hätte liegen lassen, aber selbst das wäre ihm jetzt egal gewesen.
»Varyn!« rief er. »He, Varyn!« Daß ihn jetzt jeder da drinnen noch hören konnte bei der Lautstärke, auch das machte ihm jetzt nichts mehr aus. »Ich hab Nachricht aus dem Tal! Alles ist in Ordnung! Allen geht es gut, besser denn eh und je. Wir haben es geschafft! Wir kommen nicht zu spät!«
Doch sie kamen zu spät.

An dem Tag, als sie das Tal erreichten, regnete es zumindest nicht mehr, anders als am Tag davor, an dem sie der Himmel beinahe von der Straße gespült hätte. Ja, natürlich wollten sie sauber und gewaschen sein, wenn sie nach Hause kamen - aber sie wollten es doch selbst in der Hand haben, wann und wie das geschah! Nein, das war wirklich ein Dreckswetter, und dann auch noch der Donner dabei… Ein richtig heftiges Gewitter war es, das da irgendwo hinter den Bergen tobte, und während Gaven sich noch freute, daß es nicht direkt über ihnen war, zuckte Varyn bei jedem Donnerschlag zusammen, als hätte ihn gerade selbst der Blitz getroffen. Am Ende gaben sie ihre Zuflucht unter einem Baum auf, denn naß waren sie so oder so, und gingen durch den Regen weiter, und das war eine gute Entscheidung: Denn sonst hätten sie dort warten können, bis sie schwarz waren, das Wetter hörte und hörte nicht auf. Sicher, sie hatten unterwegs so manchen Regentag gehabt, aber der Regen der Heimat war eine Sache für sich, da konnte kein anderes Unwetter mitstinken. Sie waren bald zuhause, und diese Freude würde sich Gaven durch nichts vermiesen lassen, auch nicht von so ein paar Eimern Wasser. Jetzt mußte er nur noch versuchen, auf den letzten paar Meilen Varyn wieder aufzubauen.
»Jetzt hör schon auf zu zittern, es donnert doch längst nicht mehr!« konnte er sagen, mit einem Lachen auf den Lippen. Oder, ganz sensationslüstern: »Hast du das gemerkt? Der Boden hat richtig gebebt, das hat irgendwo eingeschlagen, sag ich dir!«
Aber es dauerte bis zum anderen Tag, um Varyn wieder auf ein erträgliches Maß zu beruhigen. Dann schüttelte er sich nur, als sei nichts gewesen.
»Wenigstens habe ich heute Nacht nicht geträumt«, murmelte er - er murmelte oft, Gaven hatte gelernt, wann man ihm dann zuhören mußte und wann nicht. »Noch so ein Traum, nach dem Gewitter gestern…«
Gaven nickte nur. »Von mir aus kannst du heute ruhig weiterbibbern - aber nicht mit mir, das versprech ich dir - ich komme heute nach Hause.« Und das würde er auch, keinen Zweifel. Diese Gegend kannte er gut genug. Hier war er zu Fuß langgelaufen, noch bevor er Hennes traf. Sie waren so nah am Dorf, jetzt mußten sie es auch erreichen, und wenn sie die ganze Nacht durch laufen sollten!
Varyn seufzte und nickte. »Ja, wenn wir es endlich hinter uns haben…« Er sprach nicht weiter. Er mußte es nicht.
Sie gingen wortlos weiter, und die Vorfreude beschleunigte ihre Schritte - das Tal rief sie, und ohne daß Varyn noch hetzen mußte, wurden sie schneller und schneller, bis sie fast in einen munteren Trab verfielen. Gaven grinste, er versuchte, Varyn zu überholen; wenn er vor Varyn im Dorf ankam, war das nur gerecht, er war ja auch erst nach ihm fortgegangen. Schneller sein als Varyn, und wenn der zehnmal die längeren Beine hatte. Und - weil Gaven doch heutzutage ja nichts mehr ohne Hintergedanken machen konnte - war es immer gut, wenn man Varyn zu etwas anstacheln konnte, und wenn es ein Wettlauf war. Wettlaufen war gut gegen Sorgen - beides gleichzeitig ging nicht.
Doch Varyn hatte offensichtlich jeder Sinn für Anstand und Gerechtigkeit verloren - er holte nicht nur hinter Gaven auf, was er ja gern durfte, sondern packte ihn von hinten und riß ihn zur Seite.
»He, was soll -«, versuchte Gaven noch zu protestieren, da brüllte es hinter ihnen laut und fremd: »Den Weg frei!«
Und während Varyn noch einen zappelnden Gaven davon abhielt, in den Fluß zu fallen, so weit vom Weg hatte er ihn weggezerrt, da preschte von hinten ein Reiter an und an ihnen vorbei, in vollem Galopp und als ob die Straße ihm ganz allein gehörte. Sie blickten ihm nach, kopfschüttelnd, und sahen dann nur noch die hastigen Hufabdrücke im immer noch vom Vortagsregen aufgeweichten Wegschlamm. Dann blickten sie einander an, immer noch kopfschüttelnd.
»Mach zumindest den Mund wieder zu«, sagte Varyn dann.
»Ja, aber - hast du das gesehen?« fragte Gaven - ja, das war eine dämliche Frage, aber dieser Reiter war so schnell, fast zu schnell für ein menschliches Auge - und oh, was für ein Pferd!
Varyn nickte und rieb sich mit der Hand übers Kinn - oder meinte er damit, daß Gavens Mund immer noch offen stand?
»Der hatte es eilig«, sagte Gaven. »Also, eiliger als wir kann der es ja nichr gehabt haben, darf er auch gar nicht, aber - ich sag doch, wir hätten ein Pferd gebraucht!«
»Still!« sagte Varyn leise. Und dann: »Das macht mir Sorgen.«
Diesmal hielt Gaven den Mund geschlossen und blickte ihn nur fragend an.
»Was hat der hier zu suchen?« fragte Varyn. »Hier ist doch nichts, bis auf unser Dorf - und warum ist irgendwer außer uns so wild darauf, dort anzukommen?«
Gaven zuckte die Schultern. »Wenn wir ihn im Dorf treffen, können wir ihn ja fragen.« Und sich das Pferd aus der Nähe ansehen, aber da wußte Gaven es jetzt besser, als das noch zu sagen.
Varyn nickte. »Gehen wir weiter«, sagte er.
Aber danach war es anders. Die Leichtigkeit war verschwunden aus ihren Schritten, und auch wenn sie nicht darüber sprachen, die Sorgen waren wieder da. Gaven und Varyn waren zu wachsam - blickten sich nach den Seiten um, nach hinten, ob dort noch weitere Reiter folgten, schwarzgekleidet wie der erste, und zum ersten Mal seit Tagen hielt Gaven wieder Ausschau nach Elstern. Und auch wenn nichts mehr passierte in den Stunden, bis sie das Tal erreichten - die Vorfreude war dahin, einer übervorsichtigen Spannung gewichen, die Varyn ganz im Griff hatte und dabei auch auf Gaven übersprang, so gegenwärtig war sie.
Und dann hatten sie das Tal erreicht, fast - da war die Flußbiegung, dort drüben lag der alte Kahn, halb mit Wasser vollgelaufen, dort links wichen die Berge zur Seite hin auseinander und machten Platz für das großartigste Stück Welt, das jemals erschaffen wurde, nur merkte man das nicht, solange man einmal dort war - und Varyn blieb stehen wie festgewachsen, legte wieder einer Hand an seinen Mund und kniff die Augen zusammen.
»Was ist?« fragte Gaven flüsternd.
Varyn schüttelte den Kopf. »Hörst du das nicht?«
Gaven lauschte, erst so, dann mit geschlossenen Augen, dann mit angehaltener Luft - er hörte den Fluß, und den Wind im Gestrüpp, aber das hörte er die ganze Zeit schon, und das konnte Varyn ja wohl kaum meinen… »Nein«, sagte er dann. »Ich höre nichts.«
»Eben«, sagte Varyn tonlos. »Ich höre auch nichts.«
Gaven brauchte einen Moment, um ihn zu verstehen, und haßte sich dafür ab dem Moment, wo er es dann doch tat. Die Geräusche des Tals. Das Hämmern der Schmiede. Das Schnaufen des Blasebalgs, das Fauchen des Feuers der Gießerei. Und, nicht zuletzt und vor allem, das Hauen im Berg, das man auch sonst nur dann erahnen konnte, wenn man mit einer Hacke in der Hand aufwuchs und das doch immer anwesend war, anwesend sein mußte. Nichts davon war zu hören. Aus dem Tal schlug ihnen nur Stille entgegen, Stille, wo eigentlich Leben sein sollte.
»Der Reiter«, flüsterte Gaven noch. Und dann rannten sie.
Sie rannten nicht lang, und nicht weit. Je näher sie dem Dorf kamen, desto mehr spürten sie etwas Fremdes, etwas Falsches, Böses, das sie nicht näherkommen ließ, sich wie Blei in ihre Knochen setzte und sie lähmte, Schritt für Schritt. Selbst Gaven fühlte es genau. Und er wußte, was es war: Die Angst. Sie mußten rennen, um sie zu besiegen, aber genau das konnten sie nicht, solange die Angst sie festhielt. Wegrennen, vielleicht. Aber weiterrennen? Niemals.
Am Ende schlichen sie vorwärts, leise, langsam, in der Dämmerung, im Schutze des Berges auf der einen und der Böschung auf der anderen Seite, erreichten sie das Dorf wie einen Feind, an den man sich anpirscht. Aber es war noch da.
Es war noch da, jedes einzelne Haus lag noch da, wo sie es zurückgelassen hatten. Der Abgrund hatte das Tal nicht verschlungen. Rauch stieg aus manchen Häusern auf - aus dem Wirtshaus, nicht aus der Schmiede, nicht aus den Schloten der Gießerei… Gaven lachte. Oder besser, er wollte lachen, doch die Angst ließ ihn nicht - nicht, bevor er sie abgeschüttelt hatte. Und das würde er jetzt tun.
»Ich weiß, was los ist«, flüsterte er heiser in die erstickende Stille hinein. Varyn blickte ihn zur zweifelnd an, ganz kurz nur, dann blinzelte er und starrte wieder auf das Dorf, das vor ihnen lag, als fürchte er, es könne verschwinden, wenn er es nur eine Sekunde lang aus den Augen ließ.
»Das Erz ist alle«, sagte Gaven, jetzt schon etwas sicherer. »Der Gießerei ist das Erz ausgegangen und dann der Schmiede das Eisen - nicht wahr, der Fuhrmann hat mir erzählt, daß die nächste Ladung sich verspätet, und so sieht das dann hier am Ende aus. Niemand hat mehr Arbeit ohne Erz.«
Er hoffte, daß das stimmte - er konnte sich an keinen Tag in seinem Leben erinnern, an dem die Feuer im Dorf erloschen wären, an dem die Essen geschwiegen und die Blasebälge still gestanden hätten - aber es waren Kriegszeiten, da wurde mehr gebraucht, da fiel vielleicht mal eine ganze Lieferung an den Feind, und sicher merkte man dann einen Engpaß auch schneller.
»Und warum hören wir dann das Bergwerk nicht?« fragte Varyn leise und mit solcher Sicherheit, als ob das Hämmern sonst ohrenbetäubend das Dorf beherrschte. »Onkel würde sich schämen nicht zu arbeiten, Erz ist keine Entschuldigung für einen Kohlenhauer.«
Gaven zuckte die Schultern. »Wer weiß, sie sitzen alle im Wirtshaus und halten Kriegsrat - Mutter wird es wissen. Und wenn sie nicht im Berg sind und nicht beim Bier, treffen wir sie alle daheim.« Er wollte nicht länger schleichen und zögern. Er hatte Angst und freute sich zugleich, er wollte sie alle wiedersehen, beide Eltern, alle Geschwister, die beiden großen, die beiden kleinen… Gaven mußte jetzt etwas entscheiden, was Varyn nicht konnte: Er packte ihn bei der Hand und sagte: »Wir gehen jetzt nach Hause. Bevor wir irgend etwas anderes tun, wir gehen nach Hause. Nicht ins Wirtshaus und nicht in den Toten Mann und auch sonst nirgendwo hin. Mutter macht uns eine heiße Suppe, wir waschen uns endlich, und dann suchen wir Vater und die anderen, sauber und so, daß niemand im Dorf sich unser schämen muß.« Er zog die Nase hoch. »Aber erstmal, so wie wir jetzt sind, reicht es, wenn Mutter uns sieht.«
Dann marschierte er los, zu ihrem Haus, und schleifte Varyn einfach hinter sich her. Sie rannten nicht und sie riefen nicht, sie schlichen mehr als daß sie stapften, und Gaven redete sich ein, daß alles in Ordnung war, daß sie keine Angst hatten, daß sie ihre Mutter nur überraschen wollten, damit sie nur einen rechten Schreck bekam vor Freude, daß ihre beiden Jungen wieder da waren -
Gaven wußte, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Hinter den Fenstern des Hauses leuchtete Licht, doch es kam kein Rauch aus dem Kamin, und es war falsch, Licht ohne Leben. Sie wurden erwartet, von jemandem, von etwas, falsch und fremd - Gaven spürte es, kaum daß sie das Haus am Wegende vor sich liegen sahen, und er mußte sich zwingen zu jedem weiteren Schritt, er wollte rennen und rennen, aus dem Tal hinaus und den Fluß entlang, einfach nur weg und niemals wissen, was geschehen war, damit in seinem Kopf, in seinem Herz noch alles in Ordnung sein konnte. Er packte Varyns Hand und Varyn packte seine, und dieser Schmerz war das einzige, was noch richtig war. Sie rannten nicht weg, weil keiner mehr den Mut hatte, umzukehren, und weil immer der eine den nächsten Schritt vorwärts machte in dem Moment, in dem der eine doch wegrennen wollte.
Und so kamen sie, endlich, an ihrem Haus an. Doch es war nicht mehr ihr Haus. Es war niemandens Haus mehr.

Nächstes Kapitel