Die Schwäne traf keine Schuld, aber Alexander wäre es
lieber gewesen, wenn doch. Er haßte die Aufgabe, die vor ihm
lag; er haßte sich dafür, daß er sie
ausführen mußte, und er hatte Angst. Es war nicht nur
wegen Halans Frevel - davon wußten nur vier Personen, und
keiner von ihnen würde etwas verraten - sondern, weil er nie
die Gelegenheit gehabt hatte, sich auf das hier vorzubereiten. Er
hatte noch nie auch nur einen einzigen Schwan getötet, und nun
blieb ihm nur bis zum Sonnenuntergang Zeit, jeden einzelnen von
ihnen umzubringen. In den vergangenen Wochen, seit es klar war,
daß Koris nicht überleben würde, hatte Alexander an
anderen Vögeln geübt, einer Gans den Hals umgedreht, um
zu wissen, wie es war, aber es war nicht das Gleiche. Gänse
waren nicht heilig.
Alexander wußte, daß er beobachtet wurde, daß
hinter jeder Fensteröffnung ein Gesicht auf ihn wartete, als
er in den Hof trat. In einem engen Pferch zusammengetrieben,
warteten die Schwäne auf ihn. Zumindest mußte er sie
nicht mehr fangen - aber es waren so viele! Alexanders Angst wuchs
weiter, füllte ihn aus, daß er sich fast nicht mehr
rühren konnte. Wer auch nur einen einzigen Schwan tötete,
der war verdammt für immer und verdiente zu sterben. Seltsam,
daß dieses Gesetz plötzlich für ihn nicht mehr
gelten sollte!
Die Schwäne sahen ihn kommen. Sie beobachteten ihn mit einer
seltsamen Ruhe, als wüßten sie genau, was er tun
würde.
Was tat er hier? Dachte um die Dinge herum und zitterte, wie der
verdammte Halan! Würde er als nächstes auch noch in
Tränen ausbrechen? Alexander lachte auf, und es klang gut.
Keine Spur von Angst. Niemand konnte mehr wissen, was er
fühlte, außer ihm selbst. Er war der Letzte mit dieser
Gabe. Er war mächtig. Er handelte durch himmlisches Recht.
Alexander stieg in den Pferch und schnappte sich den erstbesten
Schwan, der ihn böse anfauchte. Der Schwan war schwer, viel
schwerer als die Gans damals, die man sich unter den Arm klemmen
konnte. Alexander brauchte beide Hände, um das Tier zu
bändigen und zu halten, und in die Vögel kam unruhige
Bewegung. Die Schwäne waren heilig, aber sie waren auch
böse. Plötzlich begriff Alexander, daß die Angst,
die er fühlte, nicht seine eigene war, sondern ihre, die Angst
von sechzehn Tieren vor dem Tod. Alexander konnte ihnen nur seine
Wut entgegensetzen, seine Wut, die immer dann hochschäumte,
wenn er in Gefahr lief, von den Gefühlen anderer
überwältigt zu werden. Wut war gut, und Alexander
kämpfte nicht gegen sie an. Jetzt war sie das Beste, was ihm
passieren konnte.
Er ließ den Vogel fallen, und in dem Moment, als das Tier
noch zu benommen war, um irgend etwas anderes zu machen, packte er
den glatten weißen Hals mit beiden Händen und brach ihn.
Die kurzen, glatten Federn fühlten sich fast wie Haut an.
Alexander konnte fühlten, wie in der Kehle des Schwans der
Todesschrei aufstieg, und riß, bevor er den höckerigen
Schnabel erreichen konnte, den kleinen Kopf hart nach hinten. Dann
wünschte er sich, es nicht getan zu haben. Vielleicht
hätte ein Schrei das gräßliche Geräusch
brechender Knochen übertönt. Alexander fühlte den
Tod des Schwans, und es war kaum weniger schrecklich als Koris Tod,
den er am Morgen gefühlt hatte.
Die Wut, die ihn im nächsten Moment überkam, war so
unglaublich, daß Alexander zugleich auflachte und aufschrie.
Er fühlte die Göttlichkeit. Er fühlte sich
groß, stark und wütend. Die Schwäne griffen ihn an.
Es war ihre Wut, nicht seine. Sechzehn - nein, nur noch
fünfzehn - Schwäne in Wut und Panik fielen über ihn
her. Es war ihnen egal, ob er durch himmlisches Recht handelte. Sie
würden ihn umbringen, bevor er sie umbringen konnte.
Alexander wünschte sich ein Schwert, aber hier stand er,
allein und mit bloßen Händen, wie das Gesetz es
vorschrieb, geschützt nur durch eine leichte
Lederrüstung, die den Schnäbeln kaum lange standhalten
würde.
Zwei weitere Vögel waren tot, bevor es dem ersten gelang,
eine Wunde in Alexanders ungeschützte Hand zu schlagen. Es tat
weh, aber es ließ seine Wut noch weiter wachsen, und mit ihr
die Kraft. Dies war eine Prüfung. Die Schwäne waren
heilig. Indem er sie erschlug, mußte Alexander beweisen,
daß er heiliger war als sie, daß in ihm das Blut des
Elomaran Korisander noch stark genug floß, um sein Anrecht
auf den Thron und die Krone zu begründen.
Aber alle Erklärungen und Entschuldigungen waren jetzt an der
falschen Stelle. Alexander war nicht hier zum Denken, sondern zum
Töten. Er stieß ein lautes, schreiendes Gelächter
aus und stürzte sich hinein in die weiße, tobende
Masse.
Als die Sonne unterging, kam das Gesinde aus dem Haus, um die
Leichname einzusammeln. Sie berührten die toten Körper
vorsichtig, ehrfürchtig, nahmen sie nicht kopfüber bei
den Füßen, sondern trugen sie auf den Armen, immer nur
einen auf einmal, wie tote Kinder. Einige von ihnen weinten, und
noch einige mehr würden weinen, wenn es darum ging, den
Schwänen die Schwungfedern auszureißen, damit die
Totenmagd daraus das Grabgewand für den König
knüpfen konnte. Nur die älteren von ihnen hatten, und das
auch erst einmal im Leben, jemals soviel niedergemetzelte
Heiligkeit auf einem Haufen gesehen. Die Luft war angefüllt
von gemurmelten Gebeten für die unsterblichen Seelen der
Vögel.
In einer dämmrigen Ecke des Parks übergab sich
Alexander. Er wußte, daß er nun auch Menschen
töten konnte.
Erst nachdem es völlig dunkel geworden war, ging Alexander
zurück zum Schloß. Er wählte einen der seitlichen
Eingänge, bei dem er nicht die große Halle durchqueren
mußte, und hoffte, daß er auf dem Weg in seine
Zimmerflucht niemandem begegnete. Er blickte nicht an sich
hinunter, nicht auf seine schmutzigen, zerrissenen Kleider, nicht
auf seine zerschundenen Hände, von denen er wußte,
daß sie noch immer bluteten. Angekommen, ließ er sich
rücklings auf sein Bett fallen und starrte an die Decke. Jetzt
lief ihm das Blut nicht mehr in die Augen, sondern seitlich an
seiner Stirn hinunter, in seine Haare, die klebrig waren von
Schweiß, und auf das Kopfkissen. Er hatte nur getan, was
seine Pflicht war.
Erst als die Türe aufging, fiel ihm ein, daß er
vergessen hatte, sie abzusperren. Er hob den Kopf. Es gab
eigentlich niemanden, über dessen Erscheinen er sich im Moment
gefreut hätte. Für Halan würde es, nach dem Streit
vom Vormittag, ein Triumph sein, ihn jetzt so zu sehen; ein Diener
hätte überall herumerzählt, was für ein
schwaches Bild der zukünftige König macht, und
Aralee… Seine Mutter war eigentlich die letzte Person, die
Alexander jetzt sehen wollte. Koris hätte ihn verstanden, als
einziger. Aber Koris war tot.
Alexander zwang ein Lächeln in sein Gesicht. Es schmerzte;
die Haut spannte von geronnenem Blut, oder frischverkrustete Wunden
rissen wieder auf - aber er brachte es fertig.
»Ah, Mutter, es tut gut, dich zu sehen.« Reden war
noch nie so anstrengend gewesen.
Sie setzte sich an seine Seite und stellte ein kleines Tablett ab,
das sie mitgebracht hatte. Zwei kleine Krüge standen darauf,
und in einen tauchte sie nun ein Tuch, mit dem sie ihm sanft
über das Gesicht strich. Die Flüssigkeit brannte in
seinen Wunden und erinnerte Alexander an das stinkende Öl, mit
dem die Totenmagd seinen Bruder gesalbt hatte. Mit einem Aufschrei,
den er noch im selben Moment bereute, versuchte Alexander
auszuweichen und seine Mutter wegzustoßen, aber ihm fehlte
die Kraft, auch nur die Arme zu heben.
»Ruhig«, sagte sie. »Es ist nur Wasser. Tut es
sehr weh?«
»Nein«, flüsterte Alexander. »Ich bin ein
Engelsgeborener. Wir fühlen keine Schmerzen.« Die
Schmerzen waren so schlimm, daß er nicht einmal sagen konnte,
wo sie herkamen.
Aralee wußte, daß er log, aber sie sagte nichts. Sie
war traurig und besorgt. Er sog ihre Gefühle auf, versuchte
darin einzutauchen, weil es ihm half, die Schmerzen zu ignorieren.
Jetzt hätte er Halans Gleichgültigkeit brauchen
können, aber was Halan an echten Gefühlen fehlte, glich
der mit Weinerlichkeit aus. Alexander atmete tief durch, als Aralee
zum zweiten Mal begann, seine Wunden auszuwaschen. Keine
Schmerzen.
»Ich werde dir eine Salbe holen«, sagte sie
schließlich. »Dann können die Wunden schneller
heilen.« Sie strich ihm über das Haar. Es war gut
gemeint, aber Alexander sträubte sich bei der Geste. Er war
kein kleines Kind mehr, das hingefallen war. Und früher hatte
sich Aralee auch nie so um ihn gekümmert. Trotzdem verbarg er
seinen Unwillen. Sie hatte Koris gepflegt, und er war unter ihren
Händen gestorben. Jetzt brauchte sie jemanden, der sich
schnell erholte.
»Es geht schon«, murmelte er. »Danke.«
Seine Mutter nickte. Sie war müde. Hatte sie in den letzten
Tagen überhaupt geschlafen, als es mit Koris langsam zu Ende
ging und sie nicht von seiner Seite wich? Sollte sie nicht besser
selbst in ihrem Bett liegen und sich pflegen lassen? Alexander
schüttelte kaum merklich den Kopf. Er hatte an diesem Tag
zuviel getötet, um sich noch um andere sorgen zu können,
und um sich selbst sorgen wollte er sich nicht. Vielleicht
wäre Schlaf gut gewesen, aber als er, nur kurz, die Augen
schloß, kamen die Schwäne zurück.
Mit dem lauwarmen Wasser wusch Aralee sanft seine Hände, aber
davon wurden die Schmerzen nur wieder schlimmer. Aus den
Augenwinkeln sah Alexander ihr zu, zu Teilnahmslosigkeit
verdammt.
Das Wasser, das Aralee aus dem Tuch zurück in den Krug wrang,
hatte eine häßliche Farbe, nicht rot wie Blut, sondern
schmutzigbraun. Alexander hielt seine Hände so, daß er
sie nicht sehen mußte. Sie waren entstellt. Wie konnte ein
Engelsgeborener entstellte Hände haben?
»Paß auf«, sagte Aralee. »Jetzt wird es
gleich ein wenig brennen.« Sie tauchte das Tuch in den
zweiten Krug und berührte wieder sein Gesicht damit. Diesmal
fühlte es sich an, als sei es mit flüssigem Feuer
getränkt. Alexander fauchte auf, und in seinen Ohren klang es
wie die Schwäne. Feuer fraß sich tief in sein
Fleisch.
»Was ist das?« keuchte er mühsam.
»Nur Wein«, sagte Aralee. »Um die tiefen Wunden
auszubrennen.«
Alexander schloß die Augen. Das Gefühl von Flammen auf
seiner Haut ließ langsam nach, und eine nicht unangenehme
Wärme betäubte den Schmerz. Mit vorsichtigen, ruckartigen
Bewegungen gelang es Alexander, sich am Kopfteil seines Bettes ein
wenig aufzusetzen. Er fühlte, wie seine Wunden noch weiter
aufrissen, aber er biß die Zähne zusammen und zwang
sich, nicht noch einmal zu schreien.
»Gib mir den Krug!« stieß er dann hervor.
Aralee blickte ihn zögerlich an, verständnisvoll, aber
unwillig.
»Gib ihn mir«, sagte Alexander noch einmal, diesmal
mit festerer Stimme.
»Ich glaube nicht, daß du jetzt -«
»Das ist ein Befehl!«
Seine Mutter blickte ihm in die Augen, und er ließ zu,
daß sie erkannte, wo seine wahren Wunden lagen. Er sah sein
Spiegelbild in ihren Augen, sah zum ersten Mal sein geschwollenes,
blutiges, zerschundenes Gesicht, darin zwei tiefe, dunkelblaue
Seen, auf deren Grund die Schwäne schwammen. »Du
sagtest, es brennt sie aus«, murmelte er.
Mit der einen Hand stützte Aralee seinen Hinterkopf ab, mit
der anderen half sie ihm trinken, hielt den Krug für ihn, denn
seine Hände waren dazu nicht mehr in der Lage. Sie goß
ihm den Wein in den Mund, behutsam, so daß er selbst
entscheiden konnte, wieviel er trank, aber er wollte alles, so oder
so. Der Wein hatte den seltsamen Geschmack von etwas, in das
zweimal ein Wundlappen eingetaucht war, aber das war egal. Nur der
Anblick eines winziges Stückes Schwanenflaum, das direkt vor
seinen Augen auf der schwarzroten Oberfläche schwamm,
ließ sein Schlucken einen Moment lang innehalten. Aralee nahm
den Krug von seinem Gesicht. Er schüttelte den Kopf. Sie
seufzte und führte den Krug zurück an seine
geöffneten Lippen.
Gierig trank Alexander, bis die letzten Tropfen auf dem Weg zu
seinem Mund versiegten. Dann ließ er sich zurücksinken.
Seine Augen suchten die seiner Mutter und fanden sie auch.
»Geht es jetzt besser?« fragte Aralee. Alexander
merkte, daß sie versuchte, Gefühle vor ihm zu verbergen,
aber er bohrte nicht weiter, sondern ließ sie gewähren.
Nichts anderes versuchte er selbst.
»Nein«, sagte er. »Das war nicht genug.«
Sein Mund klebte und fühlte sich trockener an als zuvor. Der
Durst war größer geworden. Alexander überlegte, wie
er seiner Mutter verständlich machen sollte, daß er das
Bedürfnis hatte, sich bis zu einem Punkt der vollkommenen
Stumpfsinnigkeit zu betrinken, bis die Schwäne aufhörten,
durch seinen Kopf zu flattern. Aber dann beschloß er,
daß sie das nichts anging. Wenn er Leuten Befehle gab,
mußten diese befolgt werden, so einfach war das. »Geh
und bring mir mehr.«
Er fühlt ein kurzes Aufwallen von Wut, dann Enttäuschung
und Müdigkeit. Aber Aralee war selbst schuld. Er hatte sie
nicht gebeten zu kommen.
»Soll ich dir auch etwas zu essen bringen?« fragte
sie.
Alexander verriet ihr nicht, daß sein Magen bis auf den Wein
vollkommen leer war und bereits leicht rumorte, und schüttelte
den Kopf.
Aralee sagte nichts mehr und verließ den Raum.
Alexander versuchte, sich ein wenig bequemer hinzulegen, und fuhr
damit fort, die Schatten an der Decke zu beobachten. Seine Wunden
waren ihm jetzt gleichgültig, aber unter seinen Händen
fühlte er immer noch die kurzen Federn der Schwanenhälse.
Er wünschte, in dem Krug wäre mehr Wein gewesen, genug,
um ihn schlafen zu lassen. Ob es den Königen vor ihm ebenso
ergangen war? Oder war er schon zu schwach? Warum konnte er nicht
einfach stolz sein, daß er gesiegt hatte? Die Schwäne
mochten heilig sein, aber er war heiliger!
Alexander fühlte, wie ein neuer Schmerz in ihm aufstieg,
einer, der von innen kam, aus den tiefsten Tiefen seiner Seele. Mit
ihm kam Übelkeit. Er fühlte sich krank, benommen und
unglücklich, doch als die Tür wieder aufging, blickte er
hoch. Wenn Aralee den Wein brachte, konnte er endlich Vergessen
finden, obwohl sein Verstand ihn warnte, daß er sich an
diesem Tag schon einmal übergeben hatte. Das war
nebensächlich.
Aber es war nicht Aralee. Es war Halan, und er brachte keinen
Wein. Er stand in der Tür, unschlüssig für einen
Moment, dann, ohne direkt zum Bett hinüberzusehen, ging er hin
zu der Öllampe an der Wand und löschte sie aus.
Dunkelheit erstickte die Schatten und hüllte das ganze Zimmer
ein.
»Danke«, sagte Alexander. Mehr fiel ihm dazu nicht
ein. Er fühlte sich schäbig, nicht wegen der
Schwäne, sondern weil er seinen Neffen am Vormittag so
schlecht behandelt hatte. Aber dann begriff er, daß Halan es
jetzt auf diese Reaktion anlegte, daß er ihn jetzt so
zurückhaltend und zuvorkommend behandelte, damit der Kontrast
deutlich wurde. Diesen Triumph würde Alexander ihm nicht
gönnen.
»Komm her«, sagte er. »Sieh mich an!«
»Ich möchte nicht«, antwortete Halan.
»Doch. Sieh mich an. Sieh in mein Gesicht. In meine
Augen.« Er hob die rechte Hand. Selbst in dieser Dunkelheit,
in die nur etwas Licht aus dem Gang einfiel, konnte man erkennen,
wie zerfetzt sie war. Aber das war Alexander jetzt egal. Er
fühlte sie nicht einmal. »Schau mich an. Ich blute.
Meine Schönheit ist zerstört, vielleicht für immer.
Aber ich bin immer noch von Korisanders Blute, immer noch eine
Generation über dir, und immer noch stärker. Sieh mich
an!« Das Schreien machte Alexander schwindelig, aber es war
gut. Es gab ihm Kraft.
Halan antwortete nicht. Er setzte sich nur zu Alexander auf die
Bettkante, drehte ihm den Rücken zu und schaute an die
Wand.
»Was willst du eigentlich?« fragte Alexander
schließlich. »Schickt dich meine Mutter?«
»Nein«, sagte Halan. »Ich habe ein Problem,
über das ich mit dir reden wollte.«
»Du hast ein Problem?« höhnte Alexander.
»Du hast ein Problem?«
Von Halan gingen keinerlei Gefühle aus, als er ruhig
antwortete: »Im Moment habe ich sogar zwei.« Er drehte
sich um und schaute Alexander direkt an. »Du bist betrunken.
Möchtest du, daß ich gehe?«
»Nein«, sagte Alexander. »Im Moment nicht. Du
kannst bleiben.«
»Ich möchte aber eigentlich nicht.« Halan drehte
sich wieder zur Wand. »Zum einen will ich dich so nicht
sehen, und zum anderen kannst du mir jetzt ohnehin nicht
helfen.«
»Was ist es denn?« fragte Alexander ungehalten.
Vielleicht war Halans Art, Probleme dort zu finden, wo
überhaupt keine waren, genau das, was er brauchte, um sich
abzulenken. »Und hör auf, mir zu unterstellen, ich
wäre zu betrunken, um dich zu verstehen. Sonst fange ich an,
ernsthaft beleidigt zu sein.«
Sein Magen grummelte etwas lauter. Alexander hoffte, daß
Halan es nicht gehört hatte. Seinen Ohren entging zu
wenig.
»Ich bin dein Chronist«, antwortete Halan. »Nur
für den Tod meines Vaters wäre ich nicht
zurückgekehrt. Aber als dein Chronist muß ich in deiner
Nähe sein.« Er seufzte. »Ich muß alles, was
du tust, aufschreiben, wahrheitsgemäß, für die
Nachwelt. Aber wenn ich das aufschreibe, was ich heute Nachmittag
beobachtet habe…« Er sprach nicht weiter.
Alexander schluckte mehrmals. Einen Moment lang wurde ihm wirklich
schlecht. »Was glaubst du beobachtet zu
haben?«
»Alles«, sagte Halan. »Du hast getobt wie ein
Wahnsinniger. Du hast auf die Schwäne eingeschlagen,
eingetreten, ihnen die Flügel gebrochen, und du hattest
Vergnügen daran!«
Alexander setzte sich ruckartig auf, was definitiv ein Fehler war,
aber sein mußte. »Raus!« rief er.
»Sofort!«
»Nein«, sagte Halan. »Jetzt rede ich. Ich habe
dich gesehen. Ich weiß auch, daß es dir hinterher leid
getan hat, es wahrscheinlich immer noch tut, sonst würdest du
jetzt nicht so hier liegen und dir von deiner Mutter Wein holen
lassen. Ich habe auch gesehen, daß du nur um dein Leben
gekämpft hast, daß sechzehn ausgewachsene Schwäne
dich sonst umgebracht hätten. Ich sage nicht, daß du
dich falsch verhalten hast, und wenn du dich jetzt betrinkst, ist
das deine Sache, und ich will dir nicht reinreden. Ich glaube
nicht, daß mir an deiner Stelle etwas anderes eingefallen
wäre. Aber ich weiß, daß ich es so nicht
aufschreiben kann.«
Alexander starrte ihn an. Sein Kopf schwirrte. »Ich habe nur
getan, was ich tun mußte. Schreib was du willst.« Was
wollte Halan andeuten - daß er seine Aufgabe nicht richtig
erfüllt, daß Alexander Schande über sein Blut
gebracht hatte? Das mußte er gerade sagen, Halan, der sich in
einer Ecke zusammenrollte und heulte, wenn ihm etwas nicht
paßte!
»Ich habe die alten Chroniken gelesen, und ich könnte
sie dir auch zeigen, wenn sie noch da wären.«
Ausgerechnet jetzt, wo es nur noch um die dummen Bücher ging,
wurde Halans Stimme anklagend. »Keiner der alten Könige
ist so von den Schwänen zerhackt worden wie du heute.«
»Doch«, sagte Aralee, die mit ihrem Tablett in der
Tür stand. »Deinen Bruder hat es damals fast genauso
schlimm erwischt, Anders. So sind die Schwäne. Warum ist es
hier so dunkel?«
Halan stand auf, ging zu ihr hin und nahm ihr das Tablett aus den
Händen. »Das stimmt nicht«, sagte er. »Er
war nicht verletzt.«
Seltsame Gefühle prasselten auf Alexander ein, und er
wußte auf einmal nicht mehr, wie er es kontrollieren konnte.
Aralee war vorsichtig, versuchte etwas zu verbergen, aber von Halan
ging eine solche Welle von starken Empfindungen aus, daß
Alexander sie nicht mehr bestimmen konnte - nur Liebe konnte so
heftig sein, oder sehr starke Abneigung. Alexander blieb die Luft
weg. Noch nie war viel Liebe zwischen Halan und Aralee, aber dies
mußte Haß sein, blanker Haß.
»Du kannst es nicht wissen«, sage Aralee, und nun war
Kälte in ihrer Stimme. »Du warst zu klein.«
»Ich war sechs Jahre alt« erwiderte Halan. »Ich
bin von Korisanders Blute - ich kann nicht vergessen. Ich
weiß, daß mein Vater nicht verletzt war, und ich
weiß, wie seine Augen ausgesehen haben. Es hat ihm wehgetan,
die Schwäne töten zu müssen, aber sie haben ihn
nicht angegriffen. Und wenn ich mich daran erinnere, werden sich
auch andere daran erinnern. In drei Tagen wird mein Vater
beigesetzt, in fünf Tagen wird Anders gekrönt, und dann
werden alle seine Wunden sehen können.« Er stellte das
Tablett auf der Bettkante ab, hob den Krug hoch und roch daran.
Dann blickte er zu Aralee hinüber und nickte schweigend.
»Hör auf zu reden«, verlangte Alexander.
»Gib es mir.«
Halan zögerte. Er würde wohl nie etwas tun, ohne vorher
stundenlang abzuwägen. Aralee, deren Augen lange brauchten, um
sich an die Dunkelheit im Zimmer zu gewöhnen, ging vorsichtig
zum Bett hinüber, nahm den Krug wieder an sich und setzte sich
zu Alexander. Wieder stützte sie seinen Kopf ab und half ihm
trinken, aber diesmal schüttete sie den Wein in seinen Mund,
hielt zwar zwischendurch inne, um ihn schlucken und atmen zu
lassen, aber ließ ihm keine Wahl. Nicht, daß Alexander
etwas anderes gewollt hätte.
»Vorsicht«, sagte Halan. »Er muß gleich
brechen.«
»Es war seine eigene Entscheidung. Wenn es ihm
hilft…«
Alexander war amüsiert, wie sehr sich die beiden um ihn
sorgten. Sie mußten erst noch lernen, daß er kein Kind
mehr war. Es machte Spaß, ihnen zuzusehen, während eine
wohltuende Wärme ihn langsam einhüllte. Der Wein
schmeckte gut, nicht mehr wie Abwaschwasser. Er war warm, leicht
gewürzt, einfach herrlich. Alexander fühlte sich
herrlich. Auch sein Magen gab Ruhe, tauchte in die Wärme
ab… Wieder nahm Aralee einen leeren Krug von seinen Lippen,
aber diesmal schrie Alexander nicht nach mehr. Er war genau da, wo
er sein wollte. Er lachte leise, schloß die Augen und
räkelte sich.
»Und?« hörte er Halans Stimme von irgendwo.
»Bist du nun zufrieden?«
Er wollte schon nicken, als Aralee sagte: »Es wird ihm
helfen.« Er nickte trotzdem. Woher sollte Aralee wissen, ob
Halan nicht ihn gemeint hatte?
»Ich sage dir jetzt, was du schreiben kannst«, sagte
Alexander. Es stimmte nicht, daß man vom Wein eine schwere
Zunge bekam. Er fühlte sich leichter als vorher, auch seine
Zunge war leicht, und er hatte noch nie zuvor so genau
gewußt, was er sagen wollte. »Schreib: Als Alexander
hinaustrat zu den Schwänen - du hast etwas zu schreiben dabei,
hast du? Als Alexander hinaustrat zu den Schwänen, da standen
sie geduldig und warteten, reglos und lautlos, daß er kam und
ihrem Leben ein Ende bereitete, und sie ehrten seine Heiligkeit,
indem sie glücklich waren, von ihm berührt zu werden.
Doch als nun Alexander sein Werk vollbracht hatte und all die
Schwäne in ihrer weißen Heiligkeit tot vor sich liegen
sah, da dauerte ihn seine Tat, und Kummer machte sich in seinem
Herzen breit. Und er ging hin zum See, wo die spitzen Steine waren,
und er nahm sie und zerschlug sich Gesicht und Hände, damit
sein Blut das der Schwäne von ihm waschen konnte, und indem er
reute, ließ er alle Welt an seiner Heiligkeit teilhaben.
Schreib das auf!«
Halan antwortete nicht. Vielleicht hatte Alexander zu schnell
diktiert. Er fing noch einmal von vorne an, diesmal langsamer. Aber
jetzt kam es ihm vor, als ob etwas nicht in Ordnung war. Er brach
ab. Wo war Halan überhaupt? Alexander konnte nichts mehr von
ihm spüren, und von Aralee auch nicht. Wo waren sie? Wie
konnten sie ihn hier allein lassen, ohne sich zu verabschieden?
Obwohl er so bequem lag, zwang sich Alexander, den Kopf zu heben
und aufzublicken. Das Zimmer veränderte sich um ihn herum. Die
Decke kam auf ihn herunter und stieg wieder auf, während sich
zwei Schatten von ihr lösten und auf ihn hinabschwebten. Wie
gebannt starrte Alexander in die Augen eines Elomaran. Einer von
Korisanders Söhnen war gestorben, und nun stieg der Engel
selbst zur Erde hinab, um seiner Familie in dieser schweren Zeit
beizustehen. Alexander lächelte in die tiefen blauen Augen
hinein und fühlte, wie er in ihnen versank. Alles würde
gut werden.
»Was hast du ihm in den Wein gemischt?«
»Er wird gleich schlafen. Es ist besser so.«
»Aber er ist nicht mehr er selbst.«
»Das wäre er jetzt ohnehin nicht mehr, mit all dem
Wein. So wird ihm zumindest nicht übel. Es geht ihm schon
besser.«
»Hast du meinen Vater auch so vergiftet?«
»Ich habe niemanden vergiftet.«
»Hast du meinen Vater geliebt?«
»Nicht jeder hat ihn so gehaßt wie du.«
»Hat er dich geliebt?«
»Ich verbiete dir solche Fragen!«
»Für die Chroniken: Habt ihr euch geliebt?«
»Verlaß dieses Zimmer!«
»Nicht bevor ich sehe, daß er wirklich nur
schläft.«
Die zusammenhanglosen Worte verloren völlig ihre Bedeutung,
lösen sich auf in ein Gewirr aus Lauten. Alexander schwamm
durch ein großes Blau.
Er versank.
Die Schwäne traf keine Schuld, aber in den schwarzen Augen,
die ihn argwöhnisch musterten, lag etwas Anklagendes, als ob
es sie nur seinetwegen heute sterben mußten. Plötzlich
verunsichert, drehte sich Alexander zu dem Elomaran hinter ihm um.
Korisander nickte ihm lächelnd zu. Alexander blickte in das
vertraute Gesicht seiner Bruders und spürte, wie sein Mut
wuchs.
»Aber was muß ich jetzt tun?« fragte er.
Der Elomaran reichte ihm einen schlanken Dolch, der wie ein
Schwanenhals geschwungen war. »Nimm dies hier«, sagte
er mit einer Stimme, die wie eine Glocke in Alexanders Herz
erklang, wie ein Gong. »Stoß ihn direkt in die
Herzen.«
Alexander nahm den Dolch, vorsichtig, um sich nicht zu verletzen.
Die Schwäne beobachteten ihn, aber keiner von ihnen wich aus,
als sich ihnen ihr Mörder näherte. Mit sicherer Hand
stieß Alexander die Waffe in die Brust des ersten Schwanes.
Der Vogel stieß einen hohen, klagenden Laut aus und starb.
Ein leuchtendroter Schwall Blutes schoß aus der Wunde, lief
über Alexanders Hände und hinterließ einen Streifen
verbrannter Haut, deren Schmerz Alexander die Tränen in die
Augen trieb. Schon war Korisander neben ihm, einen Kelch in
Händen, und fing das Schwanenblut darin auf. Dann reichte er
das randvolle Gefäß an seinen sterblichen Erben
weiter.
»Und nun trink!«
Alexander nahm den Kelch, und ohne zu zögern trank er das
warme, süße Blut. Er fühlte, wie neue Kraft durch
seine Kehle rann, ihn mit Leben füllte, und er begriff,
daß er noch nie zuvor wirklich gelebt hatte.
Endlich wollte er den Kelch an Korisander zurückreichen, aber
dieser schüttelte das Haupt. »Behalte ihn. Du wirst ihn
brauchen.«
Alexander drehte sich zu den Schwänen um und erkannte,
daß es Hunderte waren, Tausende, die ihn beobachteten und zu
lächeln schienen. Ein Meer von Schwänen wogte vor ihm auf
und ab. Der Dolch lag warm in seiner Hand. Alexander erinnerte sich
seiner Aufgabe, trat auf den nächsten Vogel zu und stach ihn
nieder, fing das Blut auf und trank es. Diesmal war es dunkler, und
weniger süß. Die Schwäne schauten ihm
ungerührt zu.
»Warum fliegen sie nicht fort?« fragte Alexander den
Elomaran, »Oder greifen mich an?«
»Sie erkennen, daß du von meinem Blut bist«,
lächelte Korisander. »Wärest du zu schwach,
würden sie dich in Stücke hacken. Aber nun beeile dich.
Du hast nur noch Zeit, bis die Sonne untergeht.«
Er zeigte hinauf zum Elomar, wo die Sonne schon gefährlich
tief stand. Alexander tötete den nächsten Schwan mit
einem Dolch, der immer wärmer wurde, und trank, tötete
und trank, bis das Blut, das er schluckte, vollkommen schwarz war
und bitter wie der Tod selbst, und die Klinge des geschwungenen
Dolches erst rot, dann weiß glühte und in seinen
Händen zu leben begann.
Mit jedem Schluck fühlte sich Alexander mehr und mehr mit
dieser eigentümlichen Kraft angefüllt, bis er glaubte,
bersten zu müssen, aber es waren immer noch genauso viele
Schwäne wie am Anfang, wurden einfach nicht weniger. Das Blut
an seinen Lippen war so schwarz und so zäh wie Teer.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte er. »Es
sind so viele! Ich habe keine Kraft.«
»Ich habe dir meine Kraft gegeben«, erwiderte der
Elomaran.
»Aber ich ertrage sie nicht!« schrie Alexander.
Er drehte sich um, wollte fortlaufen, doch Korisander versperrte
ihm den Weg, die mächtigen weißen Schwingen
unüberwindbar nach den Seiten ausgebreitet.
»Denk an deine Aufgabe!« mahnte er. Hinter Alexanders
Rücken kamen die Schwäne langsam und bedrohlich immer
näher.
Weinend tötete Alexander den nächsten, und mit dem neuen
Blut wurde der Kelch in seiner Hand so schwer, daß er ihn
nicht mehr heben konnte; er entglitt seinen Fingern und rollte
über den Boden, vergoß seinen blutigen Inhalt zu einer
stetig anschwellenden Lache.
»Ich sehe dich«, sagte Korisander. »Du bist zu
schwach.«
Auf seinen Wink hin erhoben sich die Schwäne, um sich auf
Alexander zu stürzen, und nun würden sie ihn umbringen.
Der Dolch brannte und wand sich um seinen Arm, die Spitze zeigte
direkt auf sein Herz. Alexander schrie. Der Elomaran lachte mit dem
Gesicht des toten Königs.
Alexander packte den Dolch, riß ihn herum und stieß
zu, dort wo das Herz des Engels liegen mußte. Nachtschwarzes
Blut schoß in den Kelch, der nun plötzlich wieder in
Alexanders Händen war.
Während die untersterblichen Augen des Elomaran brachen und
weiß wurden, trank Alexander das heiße, himmlische
Blut. Mit jedem Schluck, den er nahm, wichen die Schwäne
weiter vor ihm zurück. Er fühlte, wie ihm kräftige
weiße Flügel aus den Schultern wuchsen und eine Krone
aus seinem Schädel. Zu seinen Füßen lag klein,
lächerlich klein die Gestalt des toten Elomaran. Alexander
stieß ein triumphierendes Gelächter aus, und die Welt um
ihn herum erbebte, lachte mit ihm, hatte Teil an seinem Jubel.
Doch dann merkte Alexander, daß er nicht das ganze Blut des
Engels getrunken hatte, daß ein Schluck im Kelch
zurückgeblieben war. Glücklich, zitternd vor
Erwartungsfreude, trank er. Aber dieser letzte Schluck brachte
nicht Kraft - sondern Erkenntnis.
Alexander sah in die toten Augen des Engels, der sein Bruder war,
und in seiner Seele fühlte er die Schmerzen eines
Unterblichen, der sterben mußte. Er sah seine Schwingen, und
er erkannte, daß sie nur aus kahlen Knochen bestanden; er
fühlte seine Krone, und auch sie war nichts als schartige,
gesplitterte Knochen. Sein Gewand war von Blut getränkt, und
Blut hörte nicht auf, aus seinem Mund zu quellen, lief
über sein Kinn und färbte die Welt um ihn schwarz.
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