Als wäre nichts geschehen, ließen Lydas geübte,
ruhige Finger die Schwanenfedern zu neuem Leben erwachen. Auch
Lydas Augen waren auf die Arbeit gerichtet, doch sie sahen nicht
hin. Ihr Blick war nach innen gewandt, auf ihre Gedanken. Stille
soll eure Köpfe füllen und eure Herzen und eure Seelen,
auf daß ihr nicht die Heiligkeit des Todes durch kalte Worte
entweiht.
Lydas Lippen schwiegen wieder, füllten das kleine Zimmer mit
etwas, das zumindest den Anschein von Stille erweckte, während
in Lydas Inneren ein Kampf tobte. Sie hatte das Schweigen verletzt.
Sie hatte gesprochen, geschrieen sogar, als sie schweigen
mußte. Vielleicht, so versuchte sie sich zu sagen, hatte sie
so einen Menschen gerettet, vielleicht sogar drei. Aber sie glaubte
es nicht. Kein Gesetz verbot ausdrücklich, die Augen eines
toten Engelsgeborenen zu öffnen und hineinzublicken, zumindest
keines in diesem Land. Aber nicht nur der Stille Codex, auch die
weltlichen Gesetze verboten einer Totenmagd, zwischen dem Tod des
alten und der Krönung des neuen Königs auch nur einen
Laut von sich zu geben. Dieses Gesetz hatte sie gebrochen. Es gab
keine Entschuldigung. Vielleicht - sie versuchte sich einzureden,
daß es nur ein vielleicht war - hatte sie die ganze
Familie ins Unglück gestürzt.
Lyda wollte keine Schuldgefühle zulassen, bis sie mit ihrer
Arbeit fertig war. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, bis das
Grabgewand für den König fertig sein mußte, zwei
Tage nur noch, und zwei Nächte, in denen sie nicht schlafen,
sondern arbeiten würde. Die Federn lagen, in kleine Haufen
aufgeteilt, vor ihr auf dem Boden, nach Größe geordnet.
Das Muster war bekannt; seit Jahrhunderten wurden die
engelsgeborenen Könige in diesen Gewändern bestattet, und
ebenso lange hüteten die Totenmägde die Kunst des
Federnknüpfens. Auch wenn kaum eine Totenmagd jemals auch nur
in die Nähe eines Königs kam, hätte doch eine jede
von ihnen das gekonnt, was Lyda nun tat. Hätte jede andere
auch geschrieen?
Wieder drängte sich Lyda dieses Bild auf, das sie versuchte,
aus ihrem Kopf zu verbannen: Das große, leere Auge des toten
Königs. Wer in die Augen eines toten Engelsgeborenen blickte,
wer sich darin verlor, der verlor seinen Verstand… Lyda
fröstelte. Ihre Hände begannen zu zittern, und einen
Moment lang mußte sie die Arbeit hinlegen. Auch sie hatte in
dieses Auge gesehen, lange genug, daß es sich in ihrem
Gedächtnis festsetzen, sie heimsuchen konnte… Stille!
Sie hatte die Stille gebrochen! Lyda preßte sich die
Hände vor das Gesicht, als könne dies ein zerstörtes
Schweigen zurückbringen, als könne sie ein
undurchdringliches Hindernis zwischen ihre Augen und das Bild
schieben.
Aber die vertraute Wärme ihrer Hände brachte keinen
Frieden für Lyda. Diese Hände mußten ihre Arbeit
verrichten, durften nicht zittern, mußten Federn mit
kräftigen Fäden aneinander knüpfen, bis etwas neues
daraus erwuchs, ein Gewand wie Flügel.
Mit grimmiger Konzentration starrte Lyda auf ihr Werk. Die Federn
waren alles, was jetzt zählte, nur die Federn. Schwanenfedern.
Einst hatten sie heiligen Vögeln gehört. Sie hatten
besondere Ehrfurcht verdient und besondere Ehrfurcht erfahren.
Kleine Hautfetzen klebten an ihren Schäften, waren
hängengeblieben, als zaghafte, unsichere Hände die toten
Vögel rupften.
Lyda bezweifelte nicht, daß die Frauen des Hofes geübt
darin waren, ein Huhn, eine Ente oder eine Gans zu rupfen. Doch
einem toten Schwan die Federn auszureißen war etwas anderes.
Plötzlich kam eine Ehrfurcht auf, die Lyda fast befremdlich
erschien, eine Angst, den Schwänen nach ihrem Tod noch
Schmerzen zuzufügen oder auch nur eine der kostbaren Federn zu
beschädigen. Lyda, der nur drei Tage blieben für die
Herstellung des komplizierten Flügelgewandes, mußte
untätig zusehen, wie dicke, robuste Küchenfrauen mit
verweinten Augen zaghaft an den Federn zupften, bis diese sich
endlich lösten - ein Verfahren, das jedem Vogel sicherlich
mehr Schmerzen zugefügt hätte als schnelles, sicheres
Ausreißen. Aber Lyda nahm diese Frauen in ihrer Trauer ernst.
Auch wenn sie über keinen der toten Schwäne auch nur eine
Träne vergießen würde, respektierte sie es, wenn
andere es taten. Sie würde niemals Trauer belächeln.
Für Lyda waren die toten Schwäne nicht heiliger als
jeder andere tote Vogel, oder, besser gesagt, jeder andere tote
Vogel nicht weniger heilig als ein Schwan. Es machte auch keinen
Unterschied, ob ein toter Mann in seinem Bett nun auf einen Engel
zurückging oder ein ganz gewöhnlicher Mensch war, solange
es eine Familie gab, die um ihn trauerte, und eine Totenmagd, die
an seiner Seite schwieg.
Aber diese Totenmagd hatte nicht geschwiegen, und nun klebte Blut
an den Federn, das Blut eines Jungen und das Blut eines Engels
zugleich. Lyda wußte, daß es ihre Schuld war. Das Auge
wurde geöffnet, das Schweigen gebrochen, und die Schwäne
stellten sich gegen den Engelsgeborenen… Warum belastete sie
sich damit? Warum gab sie nicht die Schuld dem Sohn des
Königs, diesem verstörten jungen Mann, er alles
ausgelöst hatte? Lyda schüttelte den Kopf und arbeitete
verbissen weiter.
Langsam begann das Gebilde unter ihren Händen Form
anzunehmen, wie ein mächtiger Flügel auszusehen, als
plötzlich die Tür aufging. Das harte Geräusch, als
ihre Unterkante über den Steinboden schrappte, zerstörte
die Stille, die Lyda um sich herum erschaffen hatte, und ließ
sie aufblicken. Ab und zu kamen Dienerinnen und stellten ihr einen
Krug Wasser und etwas zu essen ihn. Sie störten nicht. Diener
konnten ihre Arbeit nahezu so still verrichten wie Totenmägde.
Doch diesmal stand das Essen noch unberührt vor Lyda; ihr
fehlte der Appetit, etwas zu sich zu nehmen, und sogar zu einem
gelegentlichen Schluck Wasser mußte sie sich zwingen.
Und es war kein Diener, der in der Tür stand. Verwirrt
blickte Lyda auf einen jungen Mann, den sie nicht erwartet hatte,
in ein kaltes, leeres, maskenhaftes Gesicht. Sie hatte es schon
Hunderte von Male gesehen, auf den alten Gemälden, welche die
endlosen Gänge und Flure säumten, aber dies war ein
lebender Mensch, oder zumindest etwas, das nahe heran kam. Seit der
Zeit, als der leibhaftige Sohn des Elomaran Korisander König
war, vor mehr als tausend Jahren, bemühten sich seine
Nachfahren, dem Engel zu gleichen, verbargen ihre Züge unter
muschelweißer Schminke, die kein Alter zuließ und
keinen Ausdruck.
Seit mehr als zehn Jahren lebte Lyda nun schon als Totenmagd am
Hofe, hatte schweigend alte Dienerinnen und Knechte, kleine Kinder
und kranke Männer gewaschen, hatte der Hebamme zugenickt, wenn
eine Frau im Kindbett starb, aber in all der Zeit war sie der
königlichen Familie nur durch diese gemalten, ewig huldvoll
lächelnden Ahnen begegnet. Es lebten Hunderte von Leuten am
Hof, und nur durch drei von ihnen floß das Blut von
Korisander, dem Engel der Weisheit. Nun blieben nur noch zwei von
ihnen übrig: Alexander, junger Bruder des Königs und
nächster in der Thronfolge, und Harold, der Sohn des
Verstorbenen. Beide hatte Lyda am Totenbett kennengelernt, aber
diesen Engelsgeborenen, der in der geöffneten Tür stand,
hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Lyda war verwirrt. Ihre Finger verhaspelten sich. Wer war dieser
Mann? Warum sagte er nichts, rührte sich nicht? Er schien sie
zu beobachten. Was wollte er von ihr? Sie zwang sich, seinen Blick
zu erwidern, während sie selbst reglos saß. Zwei Statuen
starrten einander an.
Angst war fremd für Lyda. Alle Angst ließ sich
zurückführen auf die eine, die Angst vor dem Tod. Es
verging kaum eine Woche in Lydas Leben, in dem sie ihm nicht
begegnete, und er hatte längst seinen Schrecken für sie
verloren, wenn es so etwas überhaupt jemals gegeben hatte.
Ebensooft, wie sich in den Armen der Hebamme ein Augenpaar
öffnete, schloß sich eines unter Lydas Händen. Tod
und Geburt waren wie Himmel und Abgrund, gleich starke Teile des
Lebens, an entgegengesetzten Enden, wenn auch oft nur wenig Zeit
zwischen ihnen lag. Lyda fürchtete nicht den Tod, und nicht
die Toten.
Sie fühlte Angst.
Der Engelsgeborene sprach. »Ich möchte dich nicht von
der Arbeit abhalten. Wenn du wünschst, daß ich gehe, gib
mir ein Zeichen.«
Lyda rührte sich nicht, aber ihre Anspannung ließ nach.
Nun wußte sie endlich, wer da vor ihr stand.
Gestern hatte sie Harold zum ersten Mal gesehen, aber wenn dieses
kalte, leere Gesicht auch nur wenig Ähnlichkeit mit dem
verheulten jungen Mann vom Vortag hatte, wußte Lyda doch,
daß diese Stimme zu ihm gehören mußte. Sie war
leise, leidenschaftslos, melodisch, aber nur auf den Klang der
Wörter bedacht, nicht auf ihren Inhalt. Es war die Stimme
eines Mannes, der um jeden Preis vermied, etwas zu empfinden. Er
tat ihr leid.
Aber in seinen Augen lag ruhiger Verstand. Vielleicht wäre er
jetzt wahnsinnig, wenn Lyda nicht geschrieen hätte. Vielleicht
hatte sie ihn tatsächlich gerettet. Sie mußte
plötzlich lächeln.
Es entging ihm nicht.
»Ich habe ein paar Fragen an dich, aber ich werde sie so
stellen, daß es genügt, wenn du nickst oder den Kopf
schüttelst. Ich weiß, daß du schweigen
mußt.«
Lyda wandte ihren Blick ab, sah wieder auf die Federn. Vielleicht
war dies eine versteckte Anklage - die Stimme verriet nichts davon.
Sicherlich kursierten am Hof Geschichten und Gerüchte
über alle Mitglieder der königlichen Familie, doch Lyda
gab nichts darum. Sie wollte sich selbst ein Bild von den Menschen
machen, wenn nicht von den Lebenden, dann von den Toten. Nun
wünschte sie sich, vielleicht das ein oder andere Mal dem
Geschwätz gelauscht zu haben. Harold war jemand, den sie nicht
einordnen konnte.
»Bitte, hab keine Angst vor mir. Ich bin nicht hier, um dir
Vorwürfe zu machen. Ich bin der Chronist meines Onkels, und es
ist wichtig, daß ich alles für die Nachgeborenen
festhalte. Aber es ist noch wichtiger, daß kein schlechtes
Licht auf unsere Familie fällt. Ich bin ein Gelehrter. Ich
hasse Lügen. Aber ich werde mit keinem Wort erwähnen,
daß du aufgeschrieen hast.« Selbst jetzt lag kein
Vorwurf in seiner Stimme. »Nur für mich, als Gelehrten,
muß ich wissen, warum du es getan hast. Du hast das Auge
meines Vater gesehen, nicht wahr?«
Hastig nickte Lyda. Ihre Finger hatten zu ihrer Aufgabe
zurückgefunden, arbeiteten wieder, als ob nichts sei.
»Hast du schon einmal in die Augen eines Engelsgeborenen
geblickt?« Wieder nickte Lyda. »Eines toten
Engelsgeborenen?«
Lyda erstarrte. Das Auge war wieder vor ihr. Langsam gelang es
ihr, den Kopf zu schütteln. Aber da prasselten schon weitere
Fragen auf sie ein, zu schnell, als daß Lyda sie hätte
beantworten können.
»Kannst du in den Augen der Toten lesen? Kannst du sehen,
woran sie gestorben sind? Hast du geschrieen, weil du gesehen hast,
daß er umgebracht wurde? Weil Aralee ihn umgebracht hat? Hat
sie ihn vergiftet?«
Daß sie sich nicht rührte, schien ihn nicht zu
stören. Vielleicht glaubte er auch, darin seine Antwort finden
zu können; vielleicht ging es ihm nur darum, die Fragen
überhaupt zu stellen.
Als sie merkte, daß er sie immer noch beobachtete, sah sie
auf. Sein Blick verlangte keine Antworten, er verlangte, daß
sie nickte, daß sie das bestätigte, was für ihn
längst fest stand. Lyda nickte nicht.
Er schaute sie erwartungsvoll an, schob seinen Kopf ein wenig vor,
nickte kaum merklich. In seinem Gesicht stand kein Zeichen von
Ungeduld - wie lange würde er warten, bis sie sich
rührte? Gern hätte sie ihm gesagt, daß er gehen
sollte, ihn mit abwehrender Handbewegung verscheucht. Aber er war
keine Fliege, er war ein Königssohn, und sie war nur eine
Totenmagd. Sie wollte nicht unhöflich gegen ihn sein.
»Ist mein Vater vergiftet worden?« fragte er noch
einmal.
Lyda zuckte die Schultern und senkte den Blick wieder. Sie
wußte es nicht, und es war auch nicht ihre Aufgabe, es
herauszufinden. Es änderte nichts daran, daß er
König tot war. Warum konnte Harold es nicht auf sich beruhen
lassen? War dieses beharrliche Fragen ein Anzeichen dafür,
daß er am Ende doch wahnsinnig wurde?
Lyda versuchte, ihn zu ignorieren, sich wieder in Stille
einzuhüllen und weiterzuarbeiten. Wenn er ihr dabei zusehen
wollte, bitte. Solange sie von lebenden Augen angestarrt
wurde, konnte sie es noch aushalten…
Kurz darauf war ihr, als hätte sie ein Geräusch
gehört wie eine Tür auf Steinboden, und als sie
irgendwann ihren Blick wieder hob, war der Engelsgeborene fort. Nur
die Tür stand einen Spaltbreit offen.
Nie wieder würden sich die Augen des Königs öffnen.
Niemals wieder würde seine Stimme zwischen diesen Wänden
widerhallen, würde seine Hand etwas berühren, würde
er leben.
Der König war nicht alt gewesen: Ein Mann in der Blüte
seiner Jahre, Mitte vierzig, hätte gut und gerne noch
fünfzehn Sommer lang leben können. Aber auch das Blut
eines Engels konnte ein schwaches Herz nicht stärken, es nicht
länger schlagen machen. Nun war er also tot, und zurück
blieben, in einem Hofstaat von Hunderten, nur drei, um ihn zu
vermissen: Eine Frau, ein Mann und ein Junge… Lyda
beobachtete sie genau. In den letzten beiden Tagen, in den
schlaflosen Nächten, hatte sie lieber über Harold
seltsamen Besuch nachgedacht und seine Anschuldigungen gegen
Aralee, als über das, was im Sterbezimmer vorgefallen war,
über das geöffnete Auge. Jetzt versuchte sie
abzuschätzen: Sah so eine Mörderin aus? Oder einer, der
seinen Verstand verloren hatte? Die Frau, nur wenig älter als
Lyda selbst, war die Stiefmutter des Königs, die Spätfrau
seines längst verstorbenen Vaters. Sie hatte den Kranken
während seiner letzten Tage gepflegt, aufopfernd wie eine
Ehefrau… oder seinen Tod besiegelt. Lyda bemühte sich,
nicht in ihr Gesicht zu blicken, aus Angst, das einmal gesäte
Mißtrauen könne aus ihren Augen sprechen.
Es war nicht an ihr, über Mörder zu richten, Schuld von
Unschuld zu unterscheiden. Sie war für die Toten da; ihnen zu
dienen, hatte sie ihr Leben verschrieben. Nicht den Lebenden.
Die Stimmung zwischen Harold und Aralee erschien angespannt, aber
es lag keine offene Feindschaft in der Luft. Die Beisetzung des
Körpers nahm aller Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch, und
Harold war zu intelligent, um seine Vorwürfe ohne jeden Beweis
vor all den Trauergästen offen vorzubringen.
Sie waren alle in der großen Halle versammelt: Der Tote,
aufgebahrt auf grauem Tuch in der Mitte des Saals, und Lyda und
seine Familie direkt bei ihm. Die großen Steinschalen, in
denen zwei Tage lang die Knochen der Schwäne gebrannt hatten,
rauchten nun nicht mehr, sondern standen als Barrieren da, welche
die hohen Trauergäste - die Grafen und ihre Familien - auf der
einen Seite von den Massen des Gesindes auf der anderen trennten.
Sie waren, wie auch Lyda selbst, bloße Kulissen bei dieser
Zeremonie. Alle Augen lagen auf den beiden jungen Engelsgeborenen.
Beide waren bis an den Rand der Unerkenntlichkeit geschminkt, nur
ihre Augen leuchteten als echt in ihren Gesichtern, wie Engel, die
Engelsmasken trugen.
Ungeschminkt, wie Lyda sie das erste Mal gesehen hatte, trugen sie
zwar eine starke Familienähnlichkeit, aber Harolds Gesicht war
schmaler, verschlossener und erwachsener, während Alexander
zwar die gleichen kühlen, unerbittlichen Lippen und steilen
Wangenknochen hatte, aber auch Impulsivität und Jugend
ausstrahlte - ein junges Mädchen hätte ihn sicher als den
hübscheren der beiden bezeichnet. Nun konnte man sie nur noch
an ihren unterschiedlichen Haarlängen unterscheiden. Alexander
war derjenige, dessen Haar kurz und glatt wie ein blauschwarz
glänzender Helm um seinen Kopf anlag. Vor seiner Brust hing
das silberne Medaillon des Thronfolgers. Lyda bemerkte, daß
der Junge außerdem, anders als sein Neffe, Handschuhe trug,
die nicht Teil des rituellen grauen Trauergewandes waren, sondern
sicher die Wunden verbergen sollten, welche die Schwäne ihm im
Todeskampf geschlagen hatten. Es waren Wunden, die niemand sehen
durfte, und um Lydas Herz wurde es klamm. Fast war es ihr, als
wende der König seinen Kopf zu ihr und blicke sie mit seinen
toten Augen an. Fröstelnd trat sie einen Schritt
zurück.
Dies nahm Harold als Zeichen dafür, daß es nun am ihm
war, seine persönlichen Abschiedworte an seinen Vater zu
richten. Er sprach leise, als er zu der Bahre hintrat, aber Lyda
kam nicht umhin zu hören, was er sprach.
»Du hast mir meine Bücher weggenommen, du hast meine
Mutter hingerichtet. Jetzt bist du tot, und du wirst mir niemals
sagen, warum du es getan hast. Sie werden dich in das Loch werfen,
und ich werde dich nie wieder sehen. Ich weiß, daß sie
dich vergiftet hat, aber du wirst dein Geheimnis mit in den Nilomar
nehmen, und ich werde niemals Beweise haben.«
Er flüsterte nicht, versuchte nicht, seine Worte vor Aralee
zu verbergen. Sie sagte nichts, erstarrte nur, zitterte einen
Moment lang und war dann wieder vollkommen ruhig. Doch Lyda sah
auch, wie der Thronfolger versteifte, wie sich seine behandschuhten
Hände zu sicherlich schmerzhaften Fäusten krampften, wie
aus einer geraden Körperhaltung eine sehr gerade wurde.
Alexander sah aus, als hielte er gerade mühsam beherrscht
einen Wutausbruch zurück. Doch alle waren sich der besonderen
Situation bewußt, des traurigen Anlasses, und der vielen
Gäste. Harold trat wieder zurück.
»Nun bist du am Zuge, Großmutter«, sagte er.
Unter allen anderen Umständen hätten die Worte freundlich
geklungen.
Aralee trat tief durch, dann tat sie wie geheißen.
»Fahr wohl«, murmelte sie, »und mögen die
Elomaran dich beschützen.«
Das war es, was Leute normalerweise dann zum Abschied sagten, wenn
sie eine Person nicht gekannt hatten oder sonst nichts zu sagen
wußten. Aber welchen Wunsch gab man auch einem Mann mit, den
man selbst vergiftet hatte?
Nun, als letzter, wie es sich gehörte, war Alexander an der
Reihe, denn seine Worte wogen am schwersten und durften aus den
Ohren des Toten von nichts verdrängt werden. Kurz kam Lyda in
den Sinn, daß Harold als Engelsgeborener nach Aralee
hätte sprechen müssen, aber nun war es bereits geschehen
und konnte nicht umgekehrt werden, und sicherlich gab es
Schlimmeres. Die Schritte des Jungen, als er sich seinem toten
Bruder näherte, waren zögerlicher, als seine ansonsten
selbstbewußte Haltung vermuten ließ, und gaben
Aufschluß darüber, wie es hinter der Maske aussehen
mochte. Alexander beugte sich tief über den Toten, und dann,
als seine Lippen nahe genug waren für einen letzten Kuß,
bewegte er sie, als würde er flüstern. Doch Lyda
erkannte, daß er nichts sagte, nur stumm die Worte formte,
vielleicht sogar nur den Mund auf und zu klappte, um für die
Außenstehenden die Illusion eines Abschiedsgrußes zu
erzeugen. Was er seinem Bruder mitzuteilen hatte, war privater
Natur und nicht für lebende Ohren bestimmt, auch nicht
für die Ohren einer Totenmagd.
Als er geendet hatte, legte Lyda legte das Tuch über dem
Toten zusammen und nähte es mit schnellen, geübten
Stichen zu. Nun war der König in nichts mehr von jedem anderen
toten Mann zu unterscheiden, nur noch ein ungefähr
menschenförmiges graues Bündel. Nichts war mehr zu sehen
von dem prachtvollen weißen Federgewand, von den
mächtigen Engelsschwingen, die den toten Erben eines Elomaran
nun für alle Ewigkeit umschließen würden wie in
einem tiefen, geborgenen Schlaf. Doch sie fühlte seinen Blick
immer noch, fühlte die Augen durch das Tuch hindurch auf ihr
ruhen. Einen Moment später war das Gefühl verschwunden.
Jetzt lag nur noch ein gesichtsloser Toter vor ihr.
Lyda gab das Zeichen. Vier kräftige Knechte traten vor und
hoben die Bahre, und mit ihr das Bündel, das einmal über
das Land regiert hatte, auf ihre Schultern. Ein Engelsgeborener wog
nicht schwerer als jeder andere tote Mann. Lyda ging voraus, die
beiden lebenden Korisanderskinder links und rechts der Bahre, und
dahinter folgten erst Aralee, dann, in einigem Abstand, die Grafen,
dann, mit noch etwas mehr Abstand, die Dienerschaft. Es war eine
große, schweigende Prozession, die hinaus in den Hof trat und
langsam hinwanderte zu der Spalte, die ein direktes Tor zum Nilomar
darstellte, jenem bodenlosen Loch in der Erde, in dem alle Toten
des Hofes versenkt wurden, schon lange, bevor Lyda hierher gekommen
war, schon seit Jahrhunderten.
Draußen griff das Wetter die Spannung auf, die innerhalb der
Familie herrschte. Die Luft war unerträglich schwül und
drückend, und finstere, teils nahezu schwarze, teils
gräulichgelbe Wolken hingen so dicht und tief, daß es
fast schon so schien, als hüllten sie auch die Turmspitzen des
Schlosses ein. Doch dies waren nicht die Vorboten von Unheil. Mit
Erleichterung stellte Lyda fest, daß zumindest hier alles so
war, wie es sollte. Der Himmel trauerte, denn einer vom Blute der
Engel würde diese Welt nun für immer verlassen. Wenn
Korisander seine graue, stofferne Hülle durchbrach, um in
einem fernen Land, in einer fernen Zeit, neu zu leben, würden
aus dem künstlichen Gewand mächtige, weiße
Flügel gewachsen sein. Doch für diese Welt war der
König für immer verloren, und darum trug der Elomar
Trauer. Er sollte heute noch, als einziger, vielleicht, für
ihn weinen.
Normalerweise war der Abgrund mit zwei schweren Steinplatten
verschlossen, damit die Unterwelt von der Oberwelt getrennt war.
Doch nun waren beide Platten aus ihrer Verankerung gehoben, mit
tödlicher Ruhe wartete der Nilomar auf ein neues Opfer. Ein
kühler Windhauch schlug Lyda entgegen, aber daran war sie
gewöhnt. So oft war sie schon diesen Weg geschritten, hatte
sich diesem Schlund genähert, daß sie sich nicht mehr
von ihm einschüchtern ließ. Jetzt brachte die kühle
Luft eine erfrischende Auflockerung der Spannung. Man mußte
den Nilomar nicht fürchten, er war auch nur ein Teil der Welt,
der Untere Abgrund.
Auf den Steinplatten stellten die Träger die Bahre ab, und
zwei andere, welche die langen Seile mitgebracht hatten, machten
sich daran, sie um den Leichnam zu legen, damit man ihn in die
Tiefe hinablassen konnte.
Die Trauergäste verharrten in respektvollem Abstand, sei es
vor dem toten Engelsgeborenen und seiner Familie, sei es vor dem
gähnenden Loch. Die beiden jungen Männer dagegen traten
nahe an den Abgrund heran. Harold rückte immer näher,
beugte sich vor, als käme er gar nicht auf die Idee, daß
auch Lebende in den Abgrund stürzen konnte. Lyda beobachtete
ihn, doch sie würde nicht einschreiten. Diesmal würde sie
nicht von ihrer wahren, ihrer einzigen Aufgabe, abweichen.
Alexander trat einen Schritt zurück, verschränkte die
Arme vor der Brust, als wolle er allen zeigen, daß er mit
diesem Treiben nichts zu schaffen hatte. Er blickte zu seiner
Mutter hinüber, die nickte und ein wenig verständnisvoll
lächelte. Im nächsten Moment verengten sich seine Augen,
er sprang vor, packte den fasziniert in die Tiefe starrenden Harold
bei der Schulter und riß ihn zurück. Einem ahnungslosen
Zuschauer mochte die ganze Gefahr und die Wut, die dahintersteckte,
entgehen. Wer nicht die Blicke gesehen hatte, das Leuchten in
Harolds Augen, sah nur, wie der zukünftige König seinen
Neffen beherzt aus einer Gefahr rettete. Er hörte nicht, wie
Alexander zischte: »Beim nächsten Mal stoße ich
dich hinein, dann wirst du zumindest nie wieder so etwas
machen.«
Harolds Schultern sackten zusammen, als Alexander ihn
losließ. Er murmelte etwas tonlos Entschuldigendes. Die
Knechte hatten endlich ihre Seile so befestigt, daß sie zwar
fest und sicher saßen, sich aber auch schnell wieder
lösen würden. Und endlich standen nun auch die
Gefäße mit der Asche draußen, links und rechts
neben dem Abgrund. Sie waren steinern, schwerer als der Tote
selbst, aber es gab genug kräftige Männer am Hofe, um
auch das schwerste Gefäß zu schleppen.
Irgendwo in der Ferne rollte Donner, leise und langanhaltend, als
sie den toten König an den Abgrund trugen und langsam
begannen, ihn hinabzulassen, vier Männer, zwei auf jeder
Seite, ein jeder mit einem Seilende in Händen.
Mit einem Schritt zur Seite schob sich Harold wieder näher an
Alexander heran. In der schattigen Luft wirkten die beiden
plötzlich kleiner, und verloren, und je tiefer die Männer
den Toten in die Erde hinab ließen, desto kleiner wurde
Alexander. Jetzt war er auf einmal nur noch ein Junge von sechzehn
Jahren, der seinen Bruder verloren hatte und allein
zurückblieb. Er blickte nicht zum Abgrund hin, und nicht zu
seiner Mutter, die in zwei Schritt Entfernung stand, sondern zu
Boden. Lyda wäre gern zu ihm hingegangen, hätte ihm Trost
gespendet, aber sie wußte, und nicht erst durch Harolds
Worte, wie sehr die Engelsgeborenen auf ihre Würde bedacht
waren, und sich trösten zu lassen, war ein Zeichen von Trauer,
und Trauer war ein Zeichen von Schwäche. Alexander brauchte
Lydas Hilfe, und er sollte sie auch bekommen, aber erst, wenn die
Zeremonie vorüber war und es keine Zuschauer mehr gab.
Die Knechte hielten nun die hintersten Enden der Seile. Tiefer
konnten sie den König nicht in den Boden hineinlassen, aber
bevor sie endgültig losließen, verharrten sie noch einen
Moment. Lyda sah noch einmal zu den beiden Engelsgeborenen
hinüber, sah, wie Harold eine Hand auf Alexanders Schulter
legte, sah, wie der Junge erstaunt aufblickte und zu lächeln
begann. Auch Lyda lächelte kurz, erleichtert.
Dann gab sie den Knechten das Zeichen. Zwei von ihnen ließen
das Seil los, die beiden anderen begannen nach einem Moment der
Reglosigkeit, die Seile langsam wieder einzuholen, sie
aufzuwickeln, während der tote König hinabstürzte in
die endlosen Tiefen des Nilomar. Er allein mochte wissen, wohin ihn
seine Reise nun führen mochte.
Lyda nahm ein Tuch aus einfachem grauen Stoff und ging zu dem
ersten der beiden Steintöpfe hinüber. Aus den Federn der
getöteten Schwäne hatte sie ein Grabgewand geknüpft,
das Fleisch würden die Trauernden heute essen müssen,
nachdem man es zwei Tage lang in den Eiskellern gelagert hatte -
und hier waren nun die Knochen: Grauweiße Asche und die
verkohlten, aber noch grob erkennbaren Überreste von etwas,
das einmal Gelenke, Köpfe und Schnäbel gewesen war. Der
feine weiße Staub fühlte sich immer noch warm an und
blieb an Lydas Händen kleben, als sie den Inhalt der Schale
auf das Tuch schob. Die Anwesenden mochten für die Seele des
Königs beten, aber Lyda betete dafür, daß der
drohende Regen noch so lange ausharrte, bis sie zumindest diesen
Teil des Rituals hinter sich gebracht hatte. Es wäre ein zu
schlechtes Zeichen gewesen, wenn sich diese Asche plötzlich in
schmutziggrauen Schlamm verwandelt hätte…
Sie schlug das Tuch mit der Asche zu einem Bündel zusammen
und hob es hoch, so daß alle es sehen konnten. Diese Asche
war so leicht, daß Lyda sich einen Moment lang wunderte, aber
sie ließ sich nichts anmerken, trat an den Abgrund heran,
dessen undurchdringliche schwarze Tiefe sie einen Moment lang
schwindelig machte, und löste dann das Tuch, behielt nur einen
Zipfel in der Hand zurück. Die Asche fiel nicht nach unten -
zwar die größeren Überreste, doch die Asche selbst
schien in der Luft zu verharren, wurde vom Wind, der aus dem
Nilomar emporschlug, ein wenig empor getragen, bevor sie langsam,
tanzend, nach unten zu gleiten begann. Nichts konnte dem Sog des
Abgrunds, seiner dunklen Anziehung, lange wiederstehen. Dennoch
hatte Lyda ein Kribbeln in der Nase und den Geschmack von Asche auf
ihrer Zunge, als sie zurücktrat und zu der zweiten Schale
ging, um den Rest der Asche dem toten König nachzuschicken.
Sie schluckte mehrmals, aber der Geschmack blieb. Also stimmte es,
was man sich erzählte: Daß auch der Obere Abgrund, der
Elomar, alles anzog, daß manches nach unten gerissen wurde,
aber anderes auch nach oben schweben würde, nicht nur die
unsichtbare Seele, sondern auch tote Asche. Und das wiederum
bedeutete - wenn der Elomar seinen Anteil an der Asche bekommen
konnte - dann bekam auch der Nilomar seinen Anteil an der Seele.
Nur ein klein wenig, so wie auch nur ein paar Staubkörner von
der Asche nach oben geschwebt waren, und dennoch…
Lyda fröstelte, und nicht nur, weil es langsam kühler
wurde. Plötzlich war der Tod auch für Lyda etwas, das man
fürchten konnte.
Sie schob die Asche auf das Tuch, achtete darauf, daß nichts
in der Schale zurückblieb, und wiederholte das Ritual, diesmal
mit klammen Fingern, die zittern wollten. Alexander trat zu ihr
hin, den Blick starr auf ihre Hände gerichtet. Lyda zwang sich
zur Ruhe. Er konnte nicht wissen, was sie gesehen hatte, nichts von
ihrer Angst.
Als die Asche langsam nach unten rieselte, hielt Lyda eine Hand
darunter und fing etwas von dem grauen Staub auf, als habe sie ein
Lebtag lang nichts anderes gemacht, und in diesem Moment gab es
auch wirklich nichts anderes. Dann nickte sie dem Thronfolger zu.
Er nahm das Medaillon ab und öffnete es mit ungeschickten
Fingern. Als Lyda die Asche sorgfältig in den kleinen Hohlraum
schob, sah sie, daß der Junge bereits etwas in die andere
Hälfte des Amuletts gesteckt hatte: Eine Strähne
schwarzen Haares, vielleicht - ganz sicher sogar - ein Andenken an
seinen Bruder. Es freute sie. Alexander bedeckte es schnell mit der
Hand, klappte den Anhänger zusammen und hängte ihn sich
wieder um. Dann drehte er sich weg und ging mit eiligen, langen
Schritten zum Schloß zurück, ohne noch einmal zum
Abgrund hinüberzusehen. Die anderen folgten ihm hastig. Innen
wartete ein Mahl aus gebratenem Schwanenfleisch.
Nur Lyda blieb zurück, und zwei Männer, um die
Steinplatten wieder über den Abgrund zu schieben. Lautlos fiel
der erste Regen und wusch die Asche von ihren Händen.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2000 - 2015 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.
Kommentare und Diskussionen zu diesem Kapitel
Kommentar verfassen