! Die Chroniken der Elomaran - Engelsschatten: Drittes Kapitel

Drittes Kapitel

Wer von Korisanders Blute war, der konnte niemals etwas vergessen. Manchmal fragte sich Halan, ob das vielleicht nur behauptet wurde, weil es so gut zum Engel der Weisheit paßte. Engel des Wissens… Aber wenn es einmal wirklich gestimmt hatte, dann war auch diese Gabe schwächer geworden mit jeder Generation, in der die Engelsgeborenen gezwungen waren, ihr Blut mit dem der Menschen zu mischen. Halan hatte kaum Erinnerung an seine früheste Kindheit; das erste, was er noch genau wußte, war, wie Aralee an den Hof kam: Ein hübsches junges Mädchen, selbst kaum mehr als ein Kind, das einem alten Mann einen Sohn gebären sollte. Halan erinnerte sich an Streit, an die Einwände seines Vaters - Sie ist zu jung, was ist, wenn sie bei der Geburt stirbt, und das Kind mit ihr? - Das Kind wird nicht sterben. - Welches Kind? Sie ist doch selbst noch eins! - Halan erinnerte sich an Aralee, die in der Mitte der Halle stand, und an seinen Vater und Großvater, die sie mit langsamen Schritten umrundeten und kritisch musterten. Hübsch ist sie ja, aber glaubst du, sie ist auch wirklich gescheit? Aralees zaghaftes Lächeln erlischt, sie beißt die Lippen zusammen und starrte erst zu Boden, dann Halans Vater in die Augen: Zumindest bin ich gescheit genug, um zu wissen, daß ich mehr bin als ein Stück Vieh. Dreht sich um. Geht. Sie ist ein zorniges Kind. Du solltest meinen Bruder Iriander nennen. - Schweig! Du verdienst deinen Namen nicht. Dein Blut ist zu verwässert. Du weißt nur, was sie fühlt. Ich weiß, was sie denkt. Sie ist gescheit genug. Und darüber hinaus ist es egal. Sie ist nur ein Mensch. Alles was sie tun wird ist, unser Blut zu verwässern. Aber ich brauche einen Erben. Ich werde ihn Alexander nennen. - Alexander? Warum? - Weil ich es will. Und jetzt entferne endlich das Kind. Ich kann seinen Anblick nicht ertragen. Er läßt mich die Zukunft fürchten. Wenn es das ist, was aus unserem Blut wird… Halan erinnerte sich, wie sein Vater ihn fortschickte, zurück in die Bibliothek. Nimm die rote Chronik und lies weiter. Ich werde dich heute Abend abfragen. Halan nickte und schlich davon. Er war vier Jahre alt.
Er war fünf, als Anders geboren wurde, sechs, als der alte König starb, und nun einundzwanzig. Dazwischen lagen endlose Stunden in der Bibliothek, endlose Bände der alten Chronik, und der Tod seiner Mutter. Aralee starb nicht - nicht bei der Geburt und nicht danach, sondern blieb, geisterte wie ein braunhaariger Schatten durch die privaten Räume der Engelsgeborenen, bis sie schließlich die Seite des Königs fand und nicht mehr von ihr wich. Halan lernte, sie zu beobachten, aber nicht, sie zu verstehen. Er wollte es auch nicht. Er verstand seine Bücher, darauf kam es an. Weisheit. Korisanders Blut verwässerte, aber zumindest seine Weisheit sollte der Familie erhalten bleiben. Halan lebte mit dem Wissen, weniger zu sein als der kleine Anders, aber er war derjenige, der die Bücher las.
Warum waren sie nun verschwunden? Als Halan zurückkehrte und die Bibliothek leer fand, gab er die Schuld seinem Vater. Aber im Grunde seines Herzens wußte er, daß es nicht stimmte. Niemand von Korisanders Blute konnte einem Buch etwas zuleide tun. Es mußte Aralee sein, die dahinter steckte, Aralee, die den König vergiftet hatte. Sie führte Böses im Schilde, aber Halan würde sie beobachten. Noch einmal ließ er sich nicht fortschicken. Sie hatte sich verraten. Das Schlafgift in Anders’ Wein hatte sie verraten. Sie sollte wissen, daß Halan es wußte. Er würde sie nicht bestrafen. Aber wenn sie noch einmal versuchen sollte, Anders etwas zuleide zu tun…
In den Tagen, die auf den Tod seines Vaters folgten, schlich Halan durch das Schloß, als sei er ein Fremder. Eigentlich stimmte das sogar. An so vielen Orten war er nie gewesen - nur in einem Trakt fühlte er sich wirklich sicher, dort, wo seine Zimmer waren und die Bibliothek. Den Rest erkundete er mit kleinen Schritten, machte sich mit einem Gang vertraut, ehe er ihn betrat. Vielleicht, so hoffte er, würde hinter einer dieser Türen ein vertrautes Reich auf ihn warten, Regale voller Bücher, das gesammelte Wissen der Welt. Vielleicht würde er auch Aralees geheimes Labor finden, die Küche, in der sie ihr Gift braute…
Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn herumfahren.
»Du gehst zu weit«, sagte Anders. »Hör auf damit.«
»Du weißt nicht, was ich suche«, erwiderte Halan.
»Ich kann es mir denken. Laß es sein.«
Halan war daran gewöhnt, daß Anders ihm Befehle gab, aber seit dem Tod des Königs kamen sie noch häufiger, und härter.
»Du hättest sterben können« , sagte er, nicht als Rechtfertigung für sein Herumschleichen, auch nicht wie ein Vorwurf, sondern damit kein Schweigen zwischen ihnen stand. »Sie wollte dich nicht vergiften, aber du hättest sterben können.« Instinktiv fuhr er zurück, um einem Schlag auszuweichen, der nicht kam.
Anders lachte nur. »Ich sterbe nicht. Ich kann doch nicht zulassen, daß du die Krone bekommst! Ich habe eine Verantwortung für mein Volk zu tragen.«
Halan konnte nicht sagen, ob dieses Lachen echt war. Aber Schreien war echt gewesen in jener Nacht, die auf den Tod seines Vaters folgte, Anders Schreien, das Halan aus dem Schlaf riß und in das Zimmer seines Onkels stürmen ließ, wo Anders, dem Ersticken nahe, sich schreiend erbrach… Wenn der Junge keinen Alptraum gehabt hätte, der ihn wach werden ließ, wäre er jetzt tot. Aber es half nichts, ihn noch einmal daran zu erinnern.
»Wir werden das nie wieder erwähnen«, sagte Anders leise. »Und wenn ich nur ein Wort davon in der Chronik lese, lasse ich dich wegen Verrates hinrichten.«
Halan schüttelte den Kopf. Diese Chronik wurde bereits eine Fälschung, und wie viele von den alten mochten es ebenfalls sein? In die Nachwelt sollte Anders als kluger, mutiger und würdevoller König eingehen, seinen Vorfahren ebenbürtig, nicht als das schwache, verletzte, verängstigte Kind, das Halan im Schutz der Dunkelheit in sein eigenes Bett hinabgetragen hatte.
Anders lächelte wieder. Die Wunden in seinem Gesicht schlossen sich langsam, sie waren weniger tief als die an den Händen, die Aralee verbunden hatte. »Ich brauche deine Hilfe -« Das waren seltsame Worte aus einem Mund wie seinem. »Ich weiß nicht, was ich morgen anziehen soll.«
Morgen. Die Krönung. Die Engelskrone, die Krone der Weisheit, der seit tausend Jahren gehütete Schatz, auf dem Haupt eines neuen Königs. Alexander von Korisanders Blute… Halan erinnerte sich an die Krönung seines Vaters, hätte jedes Wort der Zeremonie aus dem Gedächtnis aufsagen können. Aber es war nicht seine Krönung. Ihm fiel kein Text zu, nur die Rolle eines Beobachters, eines Chronisten. Die Bekleidung - natürlich war sie vorgeschrieben. Halan überlegte kurz. Dann nickte er. »Komm mit.«
In der Kleiderkammer seines Vaters roch es nach Lavendel und Zedernholz. Hier war Halan noch nie gewesen, selbst das angrenzende Schlafzimmer hatte er nicht betreten, bis er dort den toten König sehen mußte.
Ehrfürchtig wanderten Anders’ Augen über die langen Reihen von Gewändern, die sich weit in den fensterlosen Raum hineinzogen, bis sie im hintersten Dunkel zu verschwinden drohten. Vorsichtiger, sanfter als Halan ihn je hatte einen Menschen berühren sehen, faßte er einen schweren, goldbestickten Brokatstoff an, blickte traurig auf seine Handschuhe, die er nicht auszuziehen wagte, dann senkte er den Kopf und strich mit dem Gesicht über den Ärmel des Gewandes. Als er wieder aufblickte, lächelte er. Den Hauch von weißem Puder, den er auf dem Stoff zurückgelassen hatte, schien er nicht zu bemerken. Halan hoffte, daß es sich abbürsten ließ.
»Das hier gefällt mir. Das will ich haben.«
Halan schüttelte den Kopf. »Du wirst das alles haben, wenn du erst gekrönt bist. Aber was du morgen tragen mußt, ist… « Er ließ den Blick über die Kleider wandern, gewöhnte seine Augen vorsichtig an das schummrige Licht, »- das hier.«
Es hing sehr weit hinten - der König hatte es nach seiner Krönung nie wieder getragen, und das lag nun schon fünfzehn Jahre zurück. Ein langes Brokatgewand, dunkelblau, der untere Teil bestickt mit kleinen silbernen Sternen, auf den Schultern zwei Schwäne, welche ihre Hälse die Ärmel hinunter neigten.
Anders starrte das Kunstwerk voll Abscheu an. »Schwäne!« schrie er. »Ich hasse Schwäne! Ich werde das nicht tragen!«
»Aber du -«, begann Halan zaghaft.
Anders riß ihm das Gewand aus den Händen und warf es in eine Ecke. »Ich hasse Schwäne!« rief er. »Ich hasse sie!«
Halan sprang zu dem Haufen kostbaren Stoffes hinüber, wollte ihn aufheben. »Das ist das Krönungsgewand! Es ist Hunderte von Jahren alt!«
Anders schoß auf ihn zu, warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn, so daß Halan mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Es gelang ihm gerade noch, sich im Fallen über das Gewand zu werfen, es mit seinem Körper zu schützen. Im nächsten Moment war Anders über ihm, schlagend, tretend. Halan wehrte sich nicht, hätte es nicht einmal getan, wenn er gewußt hätte, wie. Dem Gewand durfte nichts passieren, das war das wichtigste, darauf kam es an. Er duckte sich gegen die Wand, preßte sich dagegen, während er versuchte, das Gewand unter sich zu verbergen. Anders schrie und tobte und prügelte auf ihn ein. Es kam Halan nicht in den Sinn, daß Anders ihn verletze konnte - nur das Gewand konnte in Stücke gehen. Schmerz explodierte in Halans Kopf, als Anders ihn mit dem Gesicht gegen die Wand hieb.
Mit seltsamer Geistesgegenwart, die er nicht zu kontrollieren vermochte, registrierte Halan, daß seine Nase gebrochen war, und drehte den Kopf beiseite, damit das Krönungsgewand keine Blutflecken bekam. Er hörte sich wimmern. Anders hielt immer noch eine Hand in Halans Haar verkrallt, riß seinen Kopf daran nach hinten.
»Alexander!« schrie eine Frau. »Halan! Hört sofort auf!«
Beide erkannten Aralees Stimme im selben Moment, und Anders’ Hand wurde plötzlich schlaff, glitt an Halans Nacken und Rücken hinunter. Halan kämpfte gegen ein Aufschluchzen an, hielt einen Arm vor sein Gesicht, damit Aralee das Blut nicht sah.
Aralee zerrte Anders auf die Füße, starrte ihn einen Moment lang wutentbrannt an, ohrfeigte ihn. »Holt mir eine Schüssel Wasser und ein Tuch!« befahl sie, und Halan hörte, wie sich eilige Schritte entfernten, begriff, daß sie nicht allein gekommen war, sondern in Begleitung zweier Dienerinnen.
Aralee beugte sich über ihn, schob seinen schützenden Arm unwirsch beiseite. »Laß mich das sehen!«
Halan schloß die Augen, vor Scham, und weil sein Kopf so weh tat. Im nächsten Moment erfüllte ihn ein zweiter silberner Blitz des Schmerzes. Er schrie auf. Das Licht umfing ihn.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Fußboden. Aralee betupfte sein Gesicht mit einem feuchten Lappen. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich mußte deine Nase richten. Sie soll doch nicht krumm zusammenwachsen!«
Halan merkte, daß er durch den Mund atmete, fühlte, wie Blut und Spucke einen blasigen Schaum um seinen Mund herum bildete.
Aralee wischte es fort. »Nein, rühr dich nicht! Ich frage dich nicht, ob du Schmerzen hast. Du würdest mich auch nur anlügen. Du bist nicht besser als er.«
Halan folgte ihrem Blick zur Seite mit verdrehten Augäpfeln und sah, halb in einen ausgefransten Schatten eingehüllt, Anders, der mit umschlungenen Beinen auf der Fensterbank saß und nach draußen starrte. Er versuchte, etwas zu sagen. Es blubberte. Gegen Aralees Widerstand, die versuchte, ihn am Boden zu halten, hob er den Kopf, setzte sich auf. Sein Kopf tat weh. Denken tat weh. Aber es würde gleich vorbeigehen. Umherirrend, suchten seine Augen den dunkelblauen Stoff.
»Das Gewand«, stammelte er. »Die Krönung…«
»Es hat einen Riß«, sagte Aralee.
Schatten stürzten auf Halan zu. Einen Moment lang fürchtete er, den Kampf noch einmal zu verlieren, aber er zwang seinem Körper seinen Willen auf. Er stand auf. Außer seiner Nase war nichts gebrochen, und ein heißes Bad würde gegen die Prellungen helfen. Er schluckte. »Ich werde es flicken«, sagte er.
»Du wirst ins Bett gehen«, befahl Aralee. »Nichts anderes.«
»Aber das Gewand…«
»Du würdest es nur in Stücke reißen. Ich kümmere mich darum.«
Ein plötzlicher Schwindel - nein, er kam nicht plötzlich, aber Halan hatte versucht, ihn zu ignorieren - zwang ihn, sich an der Wand hinter ihm abzustützen und nach Luft zu schnappen.
Aralee blickte zu ihm hinüber, aber sie ließ ihm seine Würde, versuchte nicht, ihn zu halten. »Geht es?« fragte sie nur.
»Hast du meinen Vater vergiftet?« fragte Halan. Vielleicht würde sie gestehen, wenn sie sich überrumpelt fühlte.
Sie lächelte matt. »Ich weiß, daß du das glaubst. Ich kann dich auch nicht vom Gegenteil überzeugen, wenn ich sage, daß ich es nicht getan habe. Ich will dir nichts Böses.«
In diesem Moment glaubte er ihr. Plötzlich begriff er, daß sie ihm gerade das Leben gerettet hatte, daß Anders in seiner blinden Wut ihn umgebracht hätte.
»Ich könnte dir etwas gegen die Schmerzen geben«, fuhr Aralee fort. »Etwas, das dich ruhig schlafen läßt. Aber du würdest es nicht nehmen wollen, nicht wahr?«
Halan antwortete nicht. Er wußte nicht mehr, ob man auf Fragen wie diese nicken oder den Kopf schütteln sollte. Beides erschien ihm im Moment schmerzhaft.
Aralee nickte ihm zu. »Geh zu Bett. Und jetzt zu dir, Alexander.« Sie dehnte den Namen, zerlegte ihn beim Sprechen in seine Buchstaben. »Ich will von dir hören, was das zu bedeuten hat.«
Anders rührte sich nicht, blickte weiter aus dem Fenster.
»Du hast Gäste, um die du dich kümmern mußt. Als Gastgeber hast du Verpflichtungen. Warum hast du Halan verprügelt?«
Abrupt drehte Anders sich zum Raum hin. Seine Augen glänzten seltsam fiebrig. Eine Hand lag in seinem Schoß, der andere Arm hing lose an seiner Seite. Dunkelrote Flecken tränkten die Handschuhe, schienen, als Halan sie bemerkte, langsam größer zu werden. Sie kamen von innen. »Ist euch aufgefallen«, fragte Anders ruhig, »daß es im Schloß von Schwänen nur so wimmelt? Meine sogenannten Gäste halten sie in ihren Zimmern verborgen, aber ich weiß, daß sie da sind.«
Natürlich waren die Schwäne in den Zimmern, in großen Weidenkörben. Es war Gesetz, daß die adligen Gäste dem neuen König zur Krönung Schwäne schenkten, damit der Hof eine neue Herde heiliger Vögel bekam. Aber die meisten Gäste waren schon zur Beisetzung gekommen, und so hielten sie die Schwäne auf ihren Zimmern. Halan hätte nicht gedacht, daß heilige Vögel einen derartigen Gestank verbreiten konnten. Trotzdem verstand er Anders’ Reaktion nicht.
»Das ganze Schloß ist voller Schwäne«, sagte Anders noch einmal, und dann schrie er: »Ich hasse sie! Ich hasse sie alle!«
»Und darum kannst du dich auch nicht bei Halan entschuldigen«, sagte Aralee und nickte ihm mitleidig zu. »Du wirst dich auch schlafen legen. Glaubst du, wenn du dich fingerdick schminkst, sehe ich die Ringe unter deinen Augen nicht? Ich werde den Gästen sagen, daß sie heute ohne dich auskommen müssen. Geht auf eure Zimmer. Alle beide.«
Halan hatte sie noch nie derart befehlsgewohnt herumkommandieren hören. Sie war erwachsen geworden seit jenem Tag in der Halle, damals vor siebzehn Jahren. Unterschätzen durfte man sie nicht.
»Nein«, sagte Anders, ließ sich langsam von der Fensterbank gleiten und ging zum Bett hinüber, das seit dem Tod des Königs verwaist inmitten des Raumes stand. »Ich bleibe hier. Das ist ab jetzt mein Zimmer. Veranlaßt, daß mir frische Decken gebracht werden.« Mit zwei Schritten war er bei Halan, hielt ihm die Hand hin. »Es tut mir leid, daß ich dich verprügelt habe. Dich trifft keine Schuld.«
»Wirst du das Gewand tragen?« fragte Halan.
Anders nickte. »Ich tue, was ich muß.«
Seine Hand verharrte in der Luft. Halan wagte nicht, sie anzurühren, aus Angst, das Blut noch tiefer in den Stoff hineinzutreiben. An einigen Stellen wurden die Flecken schon braun. »Es steht nirgendwo, daß du keine Handschuhe tragen darfst«, sagte er.
»Diese Hände werden nie wieder ohne sein«, erwiderte Anders.
Dann ging er zurück zum Fenster.

Halans Kopf schmerzte noch immer am anderen Tag, dem Tag der Krönung. Er vermied es, sein Gesicht zu berühren, und sehen wollte er es auch nicht - erst jetzt, nach einer in unruhigem Schlaf verbrechten Nacht, begriff er, was es hieß, eine gebrochene Nase zu haben. Selbst wenn der Knochen wieder zusammenwuchs, würde man es für alle Zeit sehen können. Halan hatte nie die Schönheit von Anders besessen, schon immer war zuviel Menschlichkeit in seinem Gesicht, aber mit einer gebrochenen Nase…
Noch nie hatte es einen Engelsgeborenen mit einer krummen Nase gegeben. Egal, wie stark er sich auch schminken mochte, man würde es sehen können. Alle würden es sehen können.
Anders klopfte, bevor er eintrat. Unter seinem Hausmantel sah noch der Rand seines Nachthemdes hervor. »Ich wollte fragen, ob es dir wieder besser geht«, sagte er leise. »Nein, du mußt nicht sagen. Ich kann es selbst fühlen, vergiß das nicht.«
Seine Stimme zitterte. Er war nervös. Seine Augen wanderten unruhig hin und her. »Ich bin zur Untätigkeit verdammt. Ich kann mich noch nicht einmal anziehen - meine Mutter versucht noch immer, das Gewand zu flicken. Kann ich dir irgendwie helfen?«
Er ging zu Halans Spiegelkommode hinüber, warf einen Blick in das Glas und klappte den Spiegel dann zusammen, so daß man nur noch die bemalten Rückseiten der Flügel sah. Endlich konnte sich Halan wieder frei in seinem Zimmer bewegen.
»Jetzt setz dich hin«, sagte Anders. Er nahm die Bürste, und mit schnellen Bewegungen kämmte er Halans glattes schwarzes Haar. Halan hielt die Luft an - vor Erstaunen, und weil ihn schon seit Jahren niemand mehr gekämmt hatte - seit dem Tod seiner Mutter hatte er das immer selbst getan. Sein Leibdiener wollte es, aber Halan ließ sich nicht berühren. Doch jetzt tat es Anders, und so gekonnt, daß es nicht ziepte, als ob der Junge langjährige Erfahrung darin hatte. Endlich legte er die Bürste beiseite, zog die Schublade mit den Tiegeln auf und begann, Halan zu schminken.
»Man sieht es nicht, wirklich nicht«, beteuerte er, aber Halan glaubte ihm nicht. Sie wußten es besser, alle beide.
»Danke«, flüsterte Halan. Anders’ Verhalten irritierte ihn mehr, als daß es ihn freute, aber im Grunde seines Herzens begriff er, daß sein Onkel da gerade etwas sehr Nettes machte, das ihn große Überwindung kostete.
Später, als Aralee das Gewand brachte - der Riß war nicht mehr zu sehen, aber Halan wußte, daß er da war - tat Halan sein Bestes, um seinerseits Anders zu schminken. Für die Krönung wurde etwas Besonderes gebraucht, das Gesicht eines wahren Engels. Anders sah bezaubernd aus, aber Halan wußte, daß noch etwas fehlte. Endlich fand er es, in der Kommode seines Vaters: Einen feinen, glänzenden Puder, schimmernd wie Silberstaub und Regenbogen, und das war es auch, Silber und zerstoßenes Perlmutt. Dunkelblau und Silber waren die Farben für die Krönung, und schwarz, wie Anders’ Haar, und weiß, wie die Krone, die sich um Mitternacht auf dieses Haupt herabsenken würde.
Niemand hatte jemals herausfinden können, woraus sie gemacht war - nicht aus Gold und nicht aus Silber, und doch aus einem edlen Metall, denn sie glänzte und wurde niemals stumpf, blieb so weiß wie frischgefallener Schnee und so schön, wie es auf der ganzen Welt keine zweite gab. Aber es gab auch keine zweite Krone, die ein Engel seinem Kind geschenkt hatte.
Im Laufe des Tages kamen noch mehr Gäste, jene, die zu weit entfernt lebten, um schon zur Beisetzung da zu sein. Zwei andere Länder, Doubladir und Indiradin, hatten Delegationen geschickt, Spione, die herausfinden sollten, ob der neue König der Format seines Bruders haben würde. Obwohl es Anders’ Aufgabe war, sie zu empfangen, und Aralees, ihnen Zimmer zuzuweisen, mußte auch Halan sie begrüßen oder doch zumindest anwesend sein, Würde ausstrahlen und lächeln. Er bemühte sich, schweigend im Hintergrund zu stehen. Seine aufgemalte Maske verbarg ihn nicht wie sonst. Er hatte das Gefühl, daß alle ihn anstarrten, und er haßte es. In Gedanken zählte er die Namen der Gäste auf, die ihrer Familien, und ihre Verdienste in den letzten Jahrhunderten, damit auch wirklich alles in der Chronik stehen konnte.
Anders hielt sich gut, ließ sich nichts von seiner Unruhe anmerken- niemand außer Halan fielen seine angespannten Nackenmuskeln auf - und schaffte es, auch den ausländischen Botschaftern mit Höflichkeit zu begegnen. Obwohl die einzelnen Häuser der Engelsgeborenen untereinander spinnefeind waren, blieb Gastrecht doch Gastrecht, und die Pflicht, ihnen Speis, Trank und ein Bett zu bieten, wenn sie kamen, um an einer Krönung teilzunehmen. Es war keine Frage von eingeladen oder nicht - wenn ein neuer Engelsgeborener gekrönte wurde, hatte jeder andere ein Recht zu erscheinen.
Doch sogar Anders zuckte zusammen, als Fanfaren im Hof ertönten. Sie wurden begleitet von Trommelwirbeln, einem Dutzend Reiter und einer sechsspännigen Kutsche. Wer so reiste, war nicht bloß ein Botschafter seines Landes. Noch bevor der Herold zu Wort kommen konnte, wußte Halan, daß gleich ein weiterer Engelsgeborener die Halle betreten würde: Die Farben und das Wappen sprachen eine deutliche Farbe, wenn auch eine, die Halan alles andere als gerne hörte.
»Kniet nieder vor dem Engel der Stärke, Lorimander von Lorimanders Blute, Prinz von Loringaril!«
Während sich um ihn herum jene Gäste, die sich gerade eben nach der Huldigung Anders’ wieder erhoben hatten, pflichtbewußt zu Boden warfen und Halan sich bemühte, noch etwas weiser und würdevoller auszusehen, fragte er sich, wer der hohe Gast wohl sein mochte. Jeder einzelne männliche Nachkomme Lorimanders trug auch seinen Namen und - bis auf den König - war ein Prinz. Und alle, ausnahmslos alle, waren schwachsinnig. Eigentlich war es egal, wer von ihnen zur Krönung kam.
Flankiert von einem Berater, zwei jungen Frauen und einem Diener, glitt das Zerrbild eines Engels in Korisanders Hallen. Alles, was einen Elomaran an Schönheit auszeichnete, war hier grotesk und mißtönend. Die großen Augen, so hellblau und leer wie ein Sommerhimmel, standen weit vor, unter einer steilen, ebenfalls vorgewölbten Stirn. Der Mund war so klein, daß es aussah, als schürze er ständig die Lippen zum Kuß, das Kinn war schmal und spitz - daß dieser blasse, blondlockige Vogel sich engelsgeboren nennen durfte, erfüllte Halan mit Schauern, wie schon zu den beiden anderen Gelegenheiten in seinem Leben, zu denen er auf Lorimanderskinder getroffen war. Mit Ekel erinnerte er sich eines wasserköpfigen Mannes, der versuchte, ihm mit unförmigen Händen den Kopf zu tätscheln. Doch er sah auch, wie ein Lächeln in Anders’ Gesicht trat, das echter war als alle, die er an diesem Tag zur Schau getragen hatte. Halan konnte es nicht nachvollziehen.
Lorimander starrte seinen Gastgeber an. Dann sagte er mit einer Stimme, die kehlige Unbeholfenheit erwarten ließ, doch glockenhell, wirklich engelsgleich, war: »Er soll auch knien!«
Anders’ Lächeln wurde breiter, als der Berater ruhig sagte: »Hoheit, diese beiden sind Engelsgeborene wie Ihr. Sie müssen nicht knien.«
Halan kannte dieser Stimme, doch er konnte sie nicht einordnen, und als er versuchte, das Gesicht des Mannes in seinem Gedächtnis wiederzufinden, wurden die Kopfschmerzen stärker. Es war allseits bekannt, daß die Berater von Lorimanders Erben weitaus gefährlicher waren als die Engelsgeborenen, die kaum mehr als Mitleid verdienten in ihrer Hilflosigkeit. Im Kronrat steckte der Verstand, welcher der königlichen Familie selbst fehlte, und Halan ging davon aus, daß es sich bei diesem Mann um einen fähigen Spion handelte.
»Sie sind schwach! Sie sollen auch knien!«
Einen Moment lang fürchtete Halan, diese Beleidigung würde Andres wütend machen, aber der Junge strahlte nur um so mehr, als er seine Arme ausbreitete, auf den neuen Gast zutrat und sagte: »Es erfüllt mich mit größter Freude, einen Abkömmling des Engels der Dummheit in meinem Haus begrüßen zu dürfen.« Er sprach Elomond, die alte Sprache, die nur von den Engelsgeborenen an ihre Kinder weitergegeben durfte. Es hieß, daß die Engel untereinander selbst so redeten, aber Lorimander starrte Anders nur verwirrt an. Er hatte offenbar kein Wort verstanden.
Anders ließ die Arme sinken, doch die Freude verschwand nicht aus seinen Augen, und er fuhr damit fort, seinen Spott mit dem Prinzen zu treiben. »Sagt, sind die Frauen an Eurer Seite Eure Schwestern, oder warum erlaubt man Euch, mit ihnen ins Bett zu gehen? Das tut ihr doch, nicht wahr?«
Halan bemühte sich, nicht in die blassen Augen zu blicken. Seit Jahren kämpfte er gegen den Niedergang von Korisanders Blut, versuchte seine eigene Schwäche zu verbergen, und hier stand dieser Mann, vom Blute der Engel wie er, und trieb durch seine bloße Existenz Schindluder mit dem Erbe der Elomaran. Dieses bleiche, leere, seelenlose Gesicht - war es das, wo sie alle enden sollten?
Lieber versuchte Halan sich zu erinnern, woher er diesen Berater kannte, aber immer, wenn er zu dem kleinen, dunkelhäutigen Mann hinübersah, fingen sich seine Augen an diesem Niedergang der Engelsgeborenen. Es stimmte, daß Lorimanders Blut in seinen Erben stark floß, stärker als in Korisanders Kindern das Blut ihres Ahnen, doch um welchen Preis? Halan fröstelte. Er mußte diesen Raum verlassen. Mochte Anders Vergnügen an diesem Anblick finden und sich überlegen fühlen - Halan ertrug es nicht länger. Er ging zu Aralee hinüber, die gerade dabei war, eine Handvoll Dienerinnen anzuweisen.
»Aralee«, sagte er. »Wärst du so gut, unseren neuen Gästen etwas von deinem Wein zu bringen?«
Aralee blickte ihn spöttisch an. »Wünschst du, daß ich Gift mische?« fragte sie leise und war verschwunden, bevor er darauf antworten konnte. Er wollte ihr schon nachgehen, sie zur Rede stellen, als er plötzlich merkte, daß Lorimanders Berater neben ihm stand.
»Entschuldigt bitte untertänigst, daß ich es mir erlaube, Euch anzusprechen… aber Ihr seid Harold, der Neffe des Königs?« Seine Stimme zischte beim Sprechen, und er stieß leicht mit der Zunge gegen die Vorderzähne. Sein Akzent war anders als der von Loringaril. Halan wußte, daß er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Kleine dunkle Augen und eine gekrümmte Nase… Normalerweise betrachtete Halan gewöhnliche Sterbliche nicht so genau; er wußte, daß dies eine Schwäche von ihm war, die nichts mit seinem Blut zu tun hatte. Ein Gesicht, daß er sich einmal eingeprägt hatte, konnte er nicht wieder vergessen… Er hielt sich lieber den Kopf frei, trennte die wichtigen Dinge von den unwichtigen. Er schüttelte leicht das Haupt. Jetzt war er es, der lächeln mußte.
»Nein. Ich bin der Sohn des Königs. Neffe werde ich erst um Mitternacht. Wer seid Ihr, daß Ihr das Wort an mich richtet?«
Der Mann verneigte sich tief. »Ember von Valon, Herr. Ich bin der persönliche Berater des Prinzen Lorimander.«
»Ich bin sicher, Ihr seid ihm eine große Hilfe«, erwiderte Halan, »und erweiß, was er an Euch hat.«
Ember zischte durch die Zähne. Sein Name war Halan fremd, aber er mußte nicht echt sein. Halan folgte seinem Blick hinüber zu Lorimander, der jetzt mit seinen mitgebrachten Frauen flüsterte. Hofdamen waren es keine - derart herausgeputzt und geschminkt… »Wie auch immer, ich rate Euch, haltet Euren Onkel zurück. Er mag jung und unbeherrscht sein, aber wenn wir auch seine Worte nicht verstehen mögen, ist uns doch klar, daß er versucht, uns zu verhöhnen. Und er verhöhnt die Falschen.«
Halan bemühte sich um ein liebenswürdiges Lächeln. »Euer schwachsinniger Herr mag solcher Zurechtweisung bedürfen - aber wenn Ihr meint, einen Engelsgeborenen von Korisanders Blute noch am Tag seiner Krönung kritisieren zu müssen, dann bringt zumindest die Stärke auf, es ihm selbst zu sagen. Und jetzt entschuldigt mich. Nehmt Wein. Wir werden uns bei der Krönung wiedersehen.«
Halans Davoneilen war eine Flucht. Er wußte, daß Ember die ganze Zeit über scharf auf Halans gebrochene Nase gestarrt hatte. Dies war kein dummer Mann. Wenn er die Zeichen erkannte, die losen Enden zusammenfügte… Halan floh den nächsten Gang entlang.
Bis zum Sonnenuntergang, bis zum Beginn der Krönungszeremonie, blieben noch mehr als drei Stunden. Zeit genug, um sich auf seinem Zimmer einzuschließen, wo ihn niemand mehr sehen würde.
Augen in seinem Nacken folgten ihm.

Fast bis zur Decke reichte der große weiße Engel, hoch wie sechs Männer, Arme und Flügel schützend ausgebreitet. Vor ihm, auf einem Podest aus Alabaster, stand der Thron. Wer darauf saß, der schaute durch die Augen des Engels, und der Engel schaute durch seine. Der Thron selbst war aus glänzendem schwarzen Holz, mit silbernen Ornamenten beschlagen, und so groß, daß zwei Männer nebeneinander auf seiner Sitzfläche hätten Platz nehmen können. Und doch hatte Halans Vater, wenn er darauf saß, immer nur um so größer gewirkt, und dessen Vater… sein Großvater war in Halans Erinnerung ohnehin von riesenhafter Gestalt. Aber Anders war noch nicht ausgewachsen; er war ein wenig kleiner als sein Bruder oder Halan. Konnte er auf dem Thron sitzen, ohne verloren zu erscheinen? Sie würden es sehen. Bevor die Krone auf seinem Haupt ruhte, war es Anders verboten, auch nur einen Fuß auf die schneeweißen Stufen zu setzen.
Bis auf Halan, dem als Engelsgeborenen zumindest ein Stuhl zustand, mußten die Gäste stehen. Nur Lorimander hatte auf einen an ebenbürtiger Stelle plazierten Stuhl bestanden - genaugenommen war es natürlich Ember, der diese Verhandlungen führte - und ihn auch bekommen. Neben ihm, auf dem Boden, räkelten sich seine beiden Begleiterinnen. Die eine hatte ihren Kopf in den Schoß des Prinzen gebettet, die andere rieb sich an seinen Beinen. Sie mochten in Anders’ Alter sein. Halan betrachtete das Treiben mit einer Mischung aus Abscheu und Schadenfreude. Er kannte sich gut genug mit den Sitten Loringarils aus, um zu wissen, daß es Lorimanders Erben untersagt war, außerhalb ihrer eigenen Familie zu heiraten, damit das Blut nicht weiter verwässerte. Wenn es diesem Lorimander gestattet war, mit Frauen herumzutollen, die ganz eindeutig keine Engelsgeborenen waren, so bedeutete es, daß er mit den Jahren zwar erwachsen geworden war, jedoch nicht zum Mann. Einen kurzen Moment lang bedauerte Halan die beiden Frauen. Aber sie verhielten sich nicht so, als ob sie ihr Los beklagenswert fanden.
Dann ertönte ein lautes Klopfen von der Tür. Der Richter trat in die Mitte des Saals und rief: »Wer ist es, der Einlaß begehrt in die Halle der Engel?«
»Alexander von Korisanders Blute«, tönte es zurück.
Zwei Diener öffneten langsam die mächtigen Türflügel, und da stand Alexander, strahlend schön in seinem prächtigen Gewand, dem man nicht ansah, daß es eben noch geflickt worden war.
»Warum begehrst du Einlaß, Alexander von Korisanders Blute?«
»Ich begehre, was mein ist. Mein ist die Halle, mein ist das Blut, mein ist das himmlische Recht. In mir ist der Engel, durch mich spricht der Engel, der Krone zu dienen, ist meine Pflicht.«
»Wie willst du der Krone dienen, Alexander von Korisanders Blute?« fragte der Richter.
»Sie auf meinem Haupte tragen, damit ihre Weisheit meine Gedanken durchziehe, aus meinen Worten und Taten spreche.« Anders trat ein, durchquerte die Halle mit langsamen Schritten, bis er vor dem Richter stehenblieb, doch seine Augen waren nach oben gerichtet, hinauf zu dem steinernen Gesicht.
»Aus deinen Worten spricht Hochmut, Alexander von Korisanders Blute. Knie vor mir, und erweise dich würdig!«
»Wie kann ich hochmütig sein, wenn ich höher bin als ihr alle? Wie kann ich würdig sein, wenn ich vor dir knien soll? Ich bin der Himmel, in mir ist der Himmel, der Himmel neigt niemals sein Haupt vor der Welt.«
Anders Stimme ertönte klar, laut und voller Stolz. Die Worte waren vorgegeben, doch Halan wurde das Gefühl nicht los, daß selbst wenn nicht, Anders in jedem Fall einen ähnlichen Text gewählt hätte. Mangelndes Selbstvertrauen hatte ihm noch nie jemand vorwerfen können.
»So gibt es niemanden, vor dem du kniest, Alexander von Korisanders Blute? So soll sich nicht dein Haupt neigen, um die Krone zu empfangen?«

Die Krönung. gemalt von Maja Ilisch

»Ich knie vor dem Elomaran Korisander, dem Engel der Weisheit, ihm, der mich erschaffen, mich gezeugt hat.«
Mit diesen Worten ließ sich Anders vor der untersten Stufe auf die Knie fallen und neigte den Kopf so weit nach unten, daß die Spitzen seiner Haare den Boden berührten. Die Zuschauer klatschten und jubelten, bis auf den Prinzen von Loringaril und seine Begleiter. Nur Ember bewegte mit aufgesetztem Lächeln seine Handflächen gegeneinander.
Anders hob den Kopf und rief auf Elomond: »Korisander, Vater meiner Väter, Ahn meiner Ahnen, vor dir liege ich hier im Staub, flehe dich an, mich anzuerkennen als deinen Sohn, den Sohn deiner Söhne und deinen Erben. Laß mich würdig sein, deine Krone zu tragen, doch strafe mich, wenn ich zu schwach bin!«
Alle blickten hinauf zum Lächeln des Engels, als erwarteten sie ein Zeichen. Zwar hatte niemand außer Halan die alten Worte verstanden, doch ihr Sinn war allen klar, nicht nur durch das Flehen in Anders’ Stimme und seine unterwürfigen Gesten. Doch der Stein regte sich nicht.
Nach einem Moment des Wartens und stillen Betens - Halan betete und hoffte, daß viele andere ihm gleich taten - hob der Richter wieder die Stimme im für alle verständlichen Koristai.
»So erhebe dich nun, Alexander von Korisanders Blute! Schau nach vorne auf dein Volk, und schau zurück auf deine Geschichte!«
Anders drehte sich um, doch ohne aufzustehen. In immer noch ehrfürchtiger Haltung blickte er auf seinen Hofstaat, auf seine Grafen, auf sein Gesinde. »Nicht mit Hochmut will ich mein Volk strafen, sondern ihm dienen mit Weisheit und Liebe!« rief er.
Diese Worten standen in keinem Codex, und vielleicht gerade deswegen wirkten sie besonders echt, verfehlten ihre Wirkung nicht. Anders, der die Gefühle der Menschen in seiner Umgebung auffing, lächelte befreiter als zuvor, während eine Welle der Zuneigung ihm entgegenschlug. In diesem Moment tat er Halan leid. Wenn er mit Absicht die Worte veränderte, hieß dies, daß trotz allen Jubelns sein Volkes ihn nicht liebte. Schon Halans Vater hatte seine Gabe genutzt, um im entscheidenden Moment das Richtige, oder zumindest das Gewünschte, zu sagen. Offenbar hatte er seinen Bruder gut unterwiesen.
Wieder wurden die Türen des Saals geöffnet. Diesmal traten die Musiker ein, Geigen, Flöten und eine Trommel, und nahmen ihre Plätze ein. Es folgten die Tänzer in Masken. Halan fragte sich, wer sie ausgewählt hatte - Aralee vielleicht, oder noch der alte König auf seinem Sterbebett? Denn unter diesen Masken steckten Kinder, der Größe nach keines älter als zehn oder zwölf Jahre. Sie stellten sich in der Mitte der Halle auf, eifrig bemüht nur ja keine Fehler zu machen, und doch ein wenig unsicher auf ihren kleinen Fußspitzen.
Halan suchte Aralee, versuchte, ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen - warum Kinder? - doch wenn sie auch lächelte, waren ihre Augen angespannt nach vorne gerichtet, ruhten auf ihrem Sohn. Halan beobachtete Anders, versuchte seine Reaktion abzuschätzen - es war nichts zu erahnen. Entweder wußte der Junge schon länger, was ihn erwartete, oder er war nicht aus der Fassung zu bringen.
Wie gelähmt in ihren gezierten Positionen wackelten die kleinen Mädchen, bis endlich die Musik einsetze und sie sich rühren durften, zeigen, daß sie, wenn nicht perfekt, dann doch mit kindlicher Anmut, tanzen konnten. Ihre Gesichter waren hinter papierenen Masken verborgen, doch ihre Körper sprachen eine deutliche Sprache, von Aufregung, Anstrengung und Stolz. Es war eine alte Geschichte, die sie tanzten, und eine wohlbekannte:
Wie die Menschen, von ihren verräterischen Göttern verlassen, einsam und unglücklich ihre Leben in einer trostlosen Welt fristeten. Wie die acht Elomaran dies voller Bestürzung sahen und erkannten daß sie, um die Welt und die Menschheit zu retten, eingreifen mußten. Sie stiegen hinab aus ihren Wolken, und die Menschen fielen vor ihnen zu Boden und wollten sie anbeten wie ihre Götter. Doch jeder Elomaran wählte einen unter ihnen aus, faßte ihn bei den Händen, und was sich dann den Zuschauern bot, war ein derart putziges Spiel, daß sogar Halan lächeln mußte: Während die Engelskinder mit auf ihren Rücken auf und ab wippenden Pappflügeln mit den Menschenkindern tanzten, schlich sich hinter jedes Paar eine von den kleinen Tänzerinnen, die bis dahin am Rand gewartet hatten, und mit einem Trommelschlag schlüpften sie zwischen den Beiden der Menschen hindurch und waren geboren. Die Zuschauer lachten und spendeten Beifall, und Halan begriff, warum man Kinder gewählt hatte: Nicht, weil derjenige, den es hier zu krönen galt, selbst noch kaum mehr war als ein halbes Kind, sondern weil nur sie in ihrer Unschuld diesen Paarungsakt darstellen konnten, ohne ins Lächerliche oder Obszöne abzugleiten. Die Kinder wußten noch nicht, was Würde war, und niemand verlangte sie von ihnen, doch sie waren mit einer großen Ernsthaftigkeit bei der Sache, die Halan gefiel. Auch nahm man es ihnen nicht übel, wenn sie sich als Engelsgeborene oder gar Elomaran ausgaben. Allen war klar, daß es sich nur um ein Spiel handelte, sogar in den Augen Lorimanders, dessen Geist nicht älter war als die Tänzer, stand Verstehen. Die beiden Frauen an seiner Seite schienen sich prächtig zu amüsieren. Nur Embers Augen waren mißtrauisch zusammengekniffen, als suchten sie in dieser Darbietung eine erneute Verhöhnung seines Herren.
Die Elomaran hielten plötzlich Geschenke in den Händen, die sie ihren Kindern überreichten: Ein Buch, ein Horn, ein Schwert, eine Glocke, einen Dolch, ein Szepter - und die Krone der Weisheit, alles kunstvoll aus Papier gefaltet. Nur die wunderschöne Perle, welche Alexander, der Engel des Meeres, seinem Sohn überreichte, hatte wenig Ähnlichkeit mit ihrem Vorbild und sah mehr wie ein Würfel aus - aber das störte niemanden. Die Elomaran verabschiedeten sich und flogen davon, daß hieß, sie stellten sich am Rand auf, um forthin das Geschehen zu beobachten. Die Engelsgeborenen hielten ihre Geschenke hoch, so daß alle sie sehen konnten, und die Menschen - eben noch ihre Eltern, jetzt wieder Sinnbild für die Menschheit im Allgemeinen - huldigten ihnen, verehrten sie als göttlich und machten sie zu ihren Königen.
Doch dann setzte das Kind, welches den Sohn Korisanders darstellte, die papierene Krone auf seinen Kopf, und alle anderen Engelsgeborenen verneigten sich vor ihm, zeigten, daß er der höchste unter ihnen war und ihrer aller König. Ember von Valon sprang vor, sein Gesicht wütend. »Das reicht!« rief er. »Beendet das Spiel! Niemand verspottet derart den Sohn des Engels der Stärke!«
Die Musik brach ab. Einige Kinder tanzten weiter, andere hielten mitten in der Bewegung inne. Halans Blick hastete durch den Saal, suchte die Botschafter von Indiradin und Doubladir, versuchte, ihre Reaktionen abzuschätzen. Wenn niemand Ember zurückhielt, würden sie sich vielleicht seinem Protest anschließen und die Zeremonie zerstören, doch Höflichkeit und Etikette verboten es, einen ausländischen Gesandten einfach vor die Tür zu setzen. Halan zögerte nicht. Er sprang auf, klatschte, jubelte, und während Aralee, die Grafen, die Gäste und der Hofstaat in den Beifall einfielen, lief er zu dem kleinen Mädchen hin, das seine Krone verwirrt in Händen hielt und zitterte, als ob es jeden Moment zu weinen anfangen wolle, und hob es hoch, trug es unter aller Augen zu Anders hin.
Anders nahm nicht das Kind, wohl aber die Krone, setzte sie auf den Kopf des Mädchens zurück und drückte dann der Kleinen einen Kuß auf die maskierte Stirn. Das Kind erstarrte, sah sich zwischen zwei echten Engelsgeborenen und wußte nicht, was es tun sollte. Seine Augen irrten umher, erfaßten das immer noch klatschende Publikum, das den wütenden Ember zurückgedrängt hatte und übertönte, sah seine Mittänzer, die ihre erste Lähmung überwunden hatten und endlich daran dachten, sich zu verbeugen, sah die Türen des Saals, die wieder fest verschlossen waren. Auch ohne Gefühle lesen zu können, wußte Halan, daß dieses Kind niemals im Leben größere Angst ausgestanden hatte, und daß er daran Schuld war. Die Augen hinter der Maske waren weit aufgerissen, groß, dunkel und erstaunlich klug für ein Kind, überhaupt für einen gewöhnlichen Menschen. Niemand konnte ihr zur Hilfe kommen - das hätte bedeutet, sich gegen einen Engelsgeborenen zu stellen. Halan machte einen Schritt zurück, um nicht länger zwischen dem Kind und Tür zu stehen, die nun wieder geöffnet wurde, um den Musikern und Tänzern freien Abzug zu ermöglichen. Das Kind sah hin und her. Es wurde nicht mehr festgehalten - aber hieß das, daß es einfach so wieder gehen durfte? Aufmunternd nickte Halan dem Mädchen zu. Er wußte zu wenig über Kinder, hatte zu geringe Erfahrung mit ihnen, als daß er wußte, was jetzt zu tun war. Sein Versuch, die Situation zu retten, war zu einer Falle geworden, wenn auch nicht für Anders oder ihn selbst.
Die Kleine sah ihn an, und plötzlich hellten sich ihre Augen auf, als hätte sie verstanden. Sie nahm ihre Krone ab, drückte sie Anders auf den Kopf, drehte sich um und rannte weg.
Halan und Anders blickten ihr nach, während das Publikum offenbar unsicher zwischen verlegenem Schweigen und vergnügten Lachen abwägte, je nachdem, ob man den Vorfall für beabsichtigt oder ungeplant hielt. Anders mußte auf jeden Fall den Eltern des Kindes ein Dankschreiben zukommen lassen - oder noch besser etwas Geld, für den Fall, daß sie nicht lesen konnten. Halans Hände kribbelten und erinnerten ihn daran, daß er gerade, obwohl es ihm eigentlich verboten war, einen gewöhnlichen Menschen berührt hatte. Er hoffte, daß niemand sich etwas dabei dachte. Noch war nichts verloren. Sie konnten das Mädchen mit einer höfischen Stellung betrauen, eine Zofe daraus machen, oder etwas in der Art. Dann konnten sie es so darstellen, als sei die Kleine auserwählt…
Als Halan so weit war, daß er Pläne machte, Anders mit dem Kind zu verheiraten, in ein paar Jahren vielleicht, schließlich hatte er es geküßt - riß Anders ihn mit einem unauffälligem Schlag gegen den Arm aus den Gedanken und bedeutete ihm mit einer Bewegung seines Kinnes, sich - sofort - wieder auf seinen Platz zu begeben. Halan beeilte sich. Es war immerhin Anders’ Krönung, und Halan hatte nichts, wirklich nichts vor den Stufen verloren.
Anders hob die Arme. »Ich habe die Vergangenheit gesehen«, rief er, und sofort brach der letzte Applaus ab, hingen die Gäste wieder an seinen Lippen, »und in diesen Kindern sehe ich die Zukunft.«
Der Richter trat vor ihn hin. »Deine Vorfahren haben dich als rechtmäßigen Erben anerkannt, Alexander von Korisanders Blute. Verharre nun in Geduld, und empfange aus meinen Händen, was dir zusteht: Korisanders Krone, die Krone der Weisheit.«
Er drehte sich um und schritt zur Tür hin. Anders legte die rechte Hand vor seine Brust, die linke auf den Rücken, und neigte sich wieder zu Boden, um in dieser Haltung zu verharren, bis der Richter mit der Krone zurückkehrte.
Erst, als der Richter den Saal schon fast verlassen hatte, erhob sich Halan, um ihn zu begleiten - am liebsten wäre er bei Anders geblieben, aber die Krone wartete in einem verschlossenen Raum, den nach dem Gesetz nur ein Engelsgeborener öffnen durfte. Doch als er versuchte, würdevoll und zugleich schnell zur Tür zu kommen, erhob sich auch Lorimander mit seinen Begleitern, und das nahmen offenbar alle anderen als Zeichen, ihm zu folgen, und so zogen sie als eine erwartungsvolle Prozession durch das Schloß. Halan wußte, daß dies ein gutes Zeichen war - es bedeutete, daß seine Untertanen den neuen König akzeptierten und ihm als Gemeinschaft die Krone bringen würden, Ausdruck ihrer Liebe und Bewunderung. Er unterdrückte seine Nervosität und zog den eisernen Schlüssel hervor, dessen gezackter Bart den Raum aufsperren sollte, in dem die Krone seit dem Tod des Königs sicher hinter einer dicken Holztür verwahrt wurde. Einen Moment lang hatte er Angst, im letzten Moment könne das Schicksal mit einem schlechten Zeichen zuschlagen, könne die Tür oder das Schloß klemmen. Er hielt die Luft an, als er unter wachsamen Augen den Schlüssel drehte und die Tür ohne Klemmen, ohne Quietschen, aufsprang. Dann erstarrte er, und schnappte nach Luft, und mit ihm alle anderen.
Dort ruhte, auf einem Klotz aus Alabaster, ein dunkelblaues Samtkissen, wie das Krönungsgewand sternenbestickt. Zwei kleine Wandlampen erhellten das fensterlose Kämmerchen. Sonst gab es nichts zu sehen.
Die Krone war verschwunden.

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