Wer von Korisanders Blute war, der konnte niemals etwas vergessen.
Manchmal fragte sich Halan, ob das vielleicht nur behauptet wurde,
weil es so gut zum Engel der Weisheit paßte. Engel des
Wissens… Aber wenn es einmal wirklich gestimmt hatte, dann
war auch diese Gabe schwächer geworden mit jeder Generation,
in der die Engelsgeborenen gezwungen waren, ihr Blut mit dem der
Menschen zu mischen. Halan hatte kaum Erinnerung an seine
früheste Kindheit; das erste, was er noch genau wußte,
war, wie Aralee an den Hof kam: Ein hübsches junges
Mädchen, selbst kaum mehr als ein Kind, das einem alten Mann
einen Sohn gebären sollte. Halan erinnerte sich an Streit, an
die Einwände seines Vaters - Sie ist zu jung, was ist, wenn
sie bei der Geburt stirbt, und das Kind mit ihr? - Das Kind
wird nicht sterben. - Welches Kind? Sie ist doch selbst noch
eins! - Halan erinnerte sich an Aralee, die in der Mitte der
Halle stand, und an seinen Vater und Großvater, die sie mit
langsamen Schritten umrundeten und kritisch musterten.
Hübsch ist sie ja, aber glaubst du, sie ist auch wirklich
gescheit? Aralees zaghaftes Lächeln erlischt, sie
beißt die Lippen zusammen und starrte erst zu Boden, dann
Halans Vater in die Augen: Zumindest bin ich gescheit genug, um
zu wissen, daß ich mehr bin als ein Stück Vieh.
Dreht sich um. Geht. Sie ist ein zorniges Kind. Du solltest
meinen Bruder Iriander nennen. - Schweig! Du verdienst
deinen Namen nicht. Dein Blut ist zu verwässert. Du
weißt nur, was sie fühlt. Ich weiß, was sie
denkt. Sie ist gescheit genug. Und darüber hinaus
ist es egal. Sie ist nur ein Mensch. Alles was sie tun wird ist,
unser Blut zu verwässern. Aber ich brauche einen Erben. Ich
werde ihn Alexander nennen. - Alexander? Warum? -
Weil ich es will. Und jetzt entferne endlich das Kind. Ich kann
seinen Anblick nicht ertragen. Er läßt mich die Zukunft
fürchten. Wenn es das ist, was aus unserem Blut
wird… Halan erinnerte sich, wie sein Vater ihn
fortschickte, zurück in die Bibliothek. Nimm die rote
Chronik und lies weiter. Ich werde dich heute Abend abfragen.
Halan nickte und schlich davon. Er war vier Jahre alt.
Er war fünf, als Anders geboren wurde, sechs, als der alte
König starb, und nun einundzwanzig. Dazwischen lagen endlose
Stunden in der Bibliothek, endlose Bände der alten Chronik,
und der Tod seiner Mutter. Aralee starb nicht - nicht bei der
Geburt und nicht danach, sondern blieb, geisterte wie ein
braunhaariger Schatten durch die privaten Räume der
Engelsgeborenen, bis sie schließlich die Seite des
Königs fand und nicht mehr von ihr wich. Halan lernte, sie zu
beobachten, aber nicht, sie zu verstehen. Er wollte es auch nicht.
Er verstand seine Bücher, darauf kam es an. Weisheit.
Korisanders Blut verwässerte, aber zumindest seine Weisheit
sollte der Familie erhalten bleiben. Halan lebte mit dem Wissen,
weniger zu sein als der kleine Anders, aber er war derjenige, der
die Bücher las.
Warum waren sie nun verschwunden? Als Halan zurückkehrte und
die Bibliothek leer fand, gab er die Schuld seinem Vater. Aber im
Grunde seines Herzens wußte er, daß es nicht stimmte.
Niemand von Korisanders Blute konnte einem Buch etwas zuleide tun.
Es mußte Aralee sein, die dahinter steckte, Aralee, die den
König vergiftet hatte. Sie führte Böses im Schilde,
aber Halan würde sie beobachten. Noch einmal ließ er
sich nicht fortschicken. Sie hatte sich verraten. Das Schlafgift in
Anders’ Wein hatte sie verraten. Sie sollte wissen, daß
Halan es wußte. Er würde sie nicht bestrafen. Aber wenn
sie noch einmal versuchen sollte, Anders etwas zuleide zu
tun…
In den Tagen, die auf den Tod seines Vaters folgten, schlich Halan
durch das Schloß, als sei er ein Fremder. Eigentlich stimmte
das sogar. An so vielen Orten war er nie gewesen - nur in einem
Trakt fühlte er sich wirklich sicher, dort, wo seine Zimmer
waren und die Bibliothek. Den Rest erkundete er mit kleinen
Schritten, machte sich mit einem Gang vertraut, ehe er ihn betrat.
Vielleicht, so hoffte er, würde hinter einer dieser Türen
ein vertrautes Reich auf ihn warten, Regale voller Bücher, das
gesammelte Wissen der Welt. Vielleicht würde er auch Aralees
geheimes Labor finden, die Küche, in der sie ihr Gift
braute…
Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn herumfahren.
»Du gehst zu weit«, sagte Anders. »Hör auf
damit.«
»Du weißt nicht, was ich suche«, erwiderte
Halan.
»Ich kann es mir denken. Laß es sein.«
Halan war daran gewöhnt, daß Anders ihm Befehle gab,
aber seit dem Tod des Königs kamen sie noch häufiger, und
härter.
»Du hättest sterben können« , sagte er,
nicht als Rechtfertigung für sein Herumschleichen, auch nicht
wie ein Vorwurf, sondern damit kein Schweigen zwischen ihnen stand.
»Sie wollte dich nicht vergiften, aber du hättest
sterben können.« Instinktiv fuhr er zurück, um
einem Schlag auszuweichen, der nicht kam.
Anders lachte nur. »Ich sterbe nicht. Ich kann doch nicht
zulassen, daß du die Krone bekommst! Ich habe eine
Verantwortung für mein Volk zu tragen.«
Halan konnte nicht sagen, ob dieses Lachen echt war. Aber Schreien
war echt gewesen in jener Nacht, die auf den Tod seines Vaters
folgte, Anders Schreien, das Halan aus dem Schlaf riß und in
das Zimmer seines Onkels stürmen ließ, wo Anders, dem
Ersticken nahe, sich schreiend erbrach… Wenn der Junge
keinen Alptraum gehabt hätte, der ihn wach werden ließ,
wäre er jetzt tot. Aber es half nichts, ihn noch einmal daran
zu erinnern.
»Wir werden das nie wieder erwähnen«,
sagte Anders leise. »Und wenn ich nur ein Wort davon in der
Chronik lese, lasse ich dich wegen Verrates hinrichten.«
Halan schüttelte den Kopf. Diese Chronik wurde bereits eine
Fälschung, und wie viele von den alten mochten es ebenfalls
sein? In die Nachwelt sollte Anders als kluger, mutiger und
würdevoller König eingehen, seinen Vorfahren
ebenbürtig, nicht als das schwache, verletzte,
verängstigte Kind, das Halan im Schutz der Dunkelheit in sein
eigenes Bett hinabgetragen hatte.
Anders lächelte wieder. Die Wunden in seinem Gesicht
schlossen sich langsam, sie waren weniger tief als die an den
Händen, die Aralee verbunden hatte. »Ich brauche deine
Hilfe -« Das waren seltsame Worte aus einem Mund wie seinem.
»Ich weiß nicht, was ich morgen anziehen soll.«
Morgen. Die Krönung. Die Engelskrone, die Krone der Weisheit,
der seit tausend Jahren gehütete Schatz, auf dem Haupt eines
neuen Königs. Alexander von Korisanders Blute… Halan
erinnerte sich an die Krönung seines Vaters, hätte jedes
Wort der Zeremonie aus dem Gedächtnis aufsagen können.
Aber es war nicht seine Krönung. Ihm fiel kein Text zu, nur
die Rolle eines Beobachters, eines Chronisten. Die Bekleidung -
natürlich war sie vorgeschrieben. Halan überlegte kurz.
Dann nickte er. »Komm mit.«
In der Kleiderkammer seines Vaters roch es nach Lavendel und
Zedernholz. Hier war Halan noch nie gewesen, selbst das angrenzende
Schlafzimmer hatte er nicht betreten, bis er dort den toten
König sehen mußte.
Ehrfürchtig wanderten Anders’ Augen über die
langen Reihen von Gewändern, die sich weit in den fensterlosen
Raum hineinzogen, bis sie im hintersten Dunkel zu verschwinden
drohten. Vorsichtiger, sanfter als Halan ihn je hatte einen
Menschen berühren sehen, faßte er einen schweren,
goldbestickten Brokatstoff an, blickte traurig auf seine
Handschuhe, die er nicht auszuziehen wagte, dann senkte er den Kopf
und strich mit dem Gesicht über den Ärmel des Gewandes.
Als er wieder aufblickte, lächelte er. Den Hauch von
weißem Puder, den er auf dem Stoff zurückgelassen hatte,
schien er nicht zu bemerken. Halan hoffte, daß es sich
abbürsten ließ.
»Das hier gefällt mir. Das will ich haben.«
Halan schüttelte den Kopf. »Du wirst das alles haben,
wenn du erst gekrönt bist. Aber was du morgen tragen
mußt, ist… « Er ließ den Blick über
die Kleider wandern, gewöhnte seine Augen vorsichtig an das
schummrige Licht, »- das hier.«
Es hing sehr weit hinten - der König hatte es nach seiner
Krönung nie wieder getragen, und das lag nun schon
fünfzehn Jahre zurück. Ein langes Brokatgewand,
dunkelblau, der untere Teil bestickt mit kleinen silbernen Sternen,
auf den Schultern zwei Schwäne, welche ihre Hälse die
Ärmel hinunter neigten.
Anders starrte das Kunstwerk voll Abscheu an.
»Schwäne!« schrie er. »Ich hasse
Schwäne! Ich werde das nicht tragen!«
»Aber du -«, begann Halan zaghaft.
Anders riß ihm das Gewand aus den Händen und warf es in
eine Ecke. »Ich hasse Schwäne!« rief er.
»Ich hasse sie!«
Halan sprang zu dem Haufen kostbaren Stoffes hinüber, wollte
ihn aufheben. »Das ist das Krönungsgewand! Es ist
Hunderte von Jahren alt!«
Anders schoß auf ihn zu, warf sich mit seinem ganzen Gewicht
gegen ihn, so daß Halan mit dem Kopf gegen die Wand schlug.
Es gelang ihm gerade noch, sich im Fallen über das Gewand zu
werfen, es mit seinem Körper zu schützen. Im
nächsten Moment war Anders über ihm, schlagend, tretend.
Halan wehrte sich nicht, hätte es nicht einmal getan, wenn er
gewußt hätte, wie. Dem Gewand durfte nichts passieren,
das war das wichtigste, darauf kam es an. Er duckte sich gegen die
Wand, preßte sich dagegen, während er versuchte, das
Gewand unter sich zu verbergen. Anders schrie und tobte und
prügelte auf ihn ein. Es kam Halan nicht in den Sinn,
daß Anders ihn verletze konnte - nur das Gewand konnte in
Stücke gehen. Schmerz explodierte in Halans Kopf, als Anders
ihn mit dem Gesicht gegen die Wand hieb.
Mit seltsamer Geistesgegenwart, die er nicht zu kontrollieren
vermochte, registrierte Halan, daß seine Nase gebrochen war,
und drehte den Kopf beiseite, damit das Krönungsgewand keine
Blutflecken bekam. Er hörte sich wimmern. Anders hielt immer
noch eine Hand in Halans Haar verkrallt, riß seinen Kopf
daran nach hinten.
»Alexander!« schrie eine Frau. »Halan! Hört
sofort auf!«
Beide erkannten Aralees Stimme im selben Moment, und Anders’
Hand wurde plötzlich schlaff, glitt an Halans Nacken und
Rücken hinunter. Halan kämpfte gegen ein Aufschluchzen
an, hielt einen Arm vor sein Gesicht, damit Aralee das Blut nicht
sah.
Aralee zerrte Anders auf die Füße, starrte ihn einen
Moment lang wutentbrannt an, ohrfeigte ihn. »Holt mir eine
Schüssel Wasser und ein Tuch!« befahl sie, und Halan
hörte, wie sich eilige Schritte entfernten, begriff, daß
sie nicht allein gekommen war, sondern in Begleitung zweier
Dienerinnen.
Aralee beugte sich über ihn, schob seinen schützenden
Arm unwirsch beiseite. »Laß mich das sehen!«
Halan schloß die Augen, vor Scham, und weil sein Kopf so weh
tat. Im nächsten Moment erfüllte ihn ein zweiter
silberner Blitz des Schmerzes. Er schrie auf. Das Licht umfing
ihn.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Fußboden. Aralee
betupfte sein Gesicht mit einem feuchten Lappen. »Es tut mir
leid«, sagte sie leise. »Ich mußte deine Nase
richten. Sie soll doch nicht krumm zusammenwachsen!«
Halan merkte, daß er durch den Mund atmete, fühlte, wie
Blut und Spucke einen blasigen Schaum um seinen Mund herum bildete.
Aralee wischte es fort. »Nein, rühr dich nicht! Ich
frage dich nicht, ob du Schmerzen hast. Du würdest mich auch
nur anlügen. Du bist nicht besser als er.«
Halan folgte ihrem Blick zur Seite mit verdrehten Augäpfeln
und sah, halb in einen ausgefransten Schatten eingehüllt,
Anders, der mit umschlungenen Beinen auf der Fensterbank saß
und nach draußen starrte. Er versuchte, etwas zu sagen. Es
blubberte. Gegen Aralees Widerstand, die versuchte, ihn am Boden zu
halten, hob er den Kopf, setzte sich auf. Sein Kopf tat weh. Denken
tat weh. Aber es würde gleich vorbeigehen. Umherirrend,
suchten seine Augen den dunkelblauen Stoff.
»Das Gewand«, stammelte er. »Die
Krönung…«
»Es hat einen Riß«, sagte Aralee.
Schatten stürzten auf Halan zu. Einen Moment lang
fürchtete er, den Kampf noch einmal zu verlieren, aber er
zwang seinem Körper seinen Willen auf. Er stand auf.
Außer seiner Nase war nichts gebrochen, und ein heißes
Bad würde gegen die Prellungen helfen. Er schluckte.
»Ich werde es flicken«, sagte er.
»Du wirst ins Bett gehen«, befahl Aralee.
»Nichts anderes.«
»Aber das Gewand…«
»Du würdest es nur in Stücke reißen. Ich
kümmere mich darum.«
Ein plötzlicher Schwindel - nein, er kam nicht
plötzlich, aber Halan hatte versucht, ihn zu ignorieren -
zwang ihn, sich an der Wand hinter ihm abzustützen und nach
Luft zu schnappen.
Aralee blickte zu ihm hinüber, aber sie ließ ihm seine
Würde, versuchte nicht, ihn zu halten. »Geht es?«
fragte sie nur.
»Hast du meinen Vater vergiftet?« fragte Halan.
Vielleicht würde sie gestehen, wenn sie sich überrumpelt
fühlte.
Sie lächelte matt. »Ich weiß, daß du das
glaubst. Ich kann dich auch nicht vom Gegenteil überzeugen,
wenn ich sage, daß ich es nicht getan habe. Ich will dir
nichts Böses.«
In diesem Moment glaubte er ihr. Plötzlich begriff er,
daß sie ihm gerade das Leben gerettet hatte, daß Anders
in seiner blinden Wut ihn umgebracht hätte.
»Ich könnte dir etwas gegen die Schmerzen geben«,
fuhr Aralee fort. »Etwas, das dich ruhig schlafen
läßt. Aber du würdest es nicht nehmen wollen, nicht
wahr?«
Halan antwortete nicht. Er wußte nicht mehr, ob man auf
Fragen wie diese nicken oder den Kopf schütteln sollte. Beides
erschien ihm im Moment schmerzhaft.
Aralee nickte ihm zu. »Geh zu Bett. Und jetzt zu dir,
Alexander.« Sie dehnte den Namen, zerlegte ihn beim
Sprechen in seine Buchstaben. »Ich will von dir hören,
was das zu bedeuten hat.«
Anders rührte sich nicht, blickte weiter aus dem Fenster.
»Du hast Gäste, um die du dich kümmern mußt.
Als Gastgeber hast du Verpflichtungen. Warum hast du Halan
verprügelt?«
Abrupt drehte Anders sich zum Raum hin. Seine Augen glänzten
seltsam fiebrig. Eine Hand lag in seinem Schoß, der andere
Arm hing lose an seiner Seite. Dunkelrote Flecken tränkten die
Handschuhe, schienen, als Halan sie bemerkte, langsam
größer zu werden. Sie kamen von innen. »Ist euch
aufgefallen«, fragte Anders ruhig, »daß es im
Schloß von Schwänen nur so wimmelt? Meine sogenannten
Gäste halten sie in ihren Zimmern verborgen, aber ich
weiß, daß sie da sind.«
Natürlich waren die Schwäne in den Zimmern, in
großen Weidenkörben. Es war Gesetz, daß die
adligen Gäste dem neuen König zur Krönung
Schwäne schenkten, damit der Hof eine neue Herde heiliger
Vögel bekam. Aber die meisten Gäste waren schon zur
Beisetzung gekommen, und so hielten sie die Schwäne auf ihren
Zimmern. Halan hätte nicht gedacht, daß heilige
Vögel einen derartigen Gestank verbreiten konnten. Trotzdem
verstand er Anders’ Reaktion nicht.
»Das ganze Schloß ist voller Schwäne«,
sagte Anders noch einmal, und dann schrie er: »Ich hasse sie!
Ich hasse sie alle!«
»Und darum kannst du dich auch nicht bei Halan
entschuldigen«, sagte Aralee und nickte ihm mitleidig zu.
»Du wirst dich auch schlafen legen. Glaubst du, wenn du dich
fingerdick schminkst, sehe ich die Ringe unter deinen Augen nicht?
Ich werde den Gästen sagen, daß sie heute ohne dich
auskommen müssen. Geht auf eure Zimmer. Alle beide.«
Halan hatte sie noch nie derart befehlsgewohnt herumkommandieren
hören. Sie war erwachsen geworden seit jenem Tag in der Halle,
damals vor siebzehn Jahren. Unterschätzen durfte man sie
nicht.
»Nein«, sagte Anders, ließ sich langsam von der
Fensterbank gleiten und ging zum Bett hinüber, das seit dem
Tod des Königs verwaist inmitten des Raumes stand. »Ich
bleibe hier. Das ist ab jetzt mein Zimmer. Veranlaßt,
daß mir frische Decken gebracht werden.« Mit zwei
Schritten war er bei Halan, hielt ihm die Hand hin. »Es tut
mir leid, daß ich dich verprügelt habe. Dich trifft
keine Schuld.«
»Wirst du das Gewand tragen?« fragte Halan.
Anders nickte. »Ich tue, was ich muß.«
Seine Hand verharrte in der Luft. Halan wagte nicht, sie
anzurühren, aus Angst, das Blut noch tiefer in den Stoff
hineinzutreiben. An einigen Stellen wurden die Flecken schon braun.
»Es steht nirgendwo, daß du keine Handschuhe tragen
darfst«, sagte er.
»Diese Hände werden nie wieder ohne sein«,
erwiderte Anders.
Dann ging er zurück zum Fenster.
Halans Kopf schmerzte noch immer am anderen Tag, dem Tag der
Krönung. Er vermied es, sein Gesicht zu berühren, und
sehen wollte er es auch nicht - erst jetzt, nach einer in unruhigem
Schlaf verbrechten Nacht, begriff er, was es hieß, eine
gebrochene Nase zu haben. Selbst wenn der Knochen wieder
zusammenwuchs, würde man es für alle Zeit sehen
können. Halan hatte nie die Schönheit von Anders
besessen, schon immer war zuviel Menschlichkeit in seinem Gesicht,
aber mit einer gebrochenen Nase…
Noch nie hatte es einen Engelsgeborenen mit einer krummen Nase
gegeben. Egal, wie stark er sich auch schminken mochte, man
würde es sehen können. Alle würden es sehen
können.
Anders klopfte, bevor er eintrat. Unter seinem Hausmantel sah noch
der Rand seines Nachthemdes hervor. »Ich wollte fragen, ob es
dir wieder besser geht«, sagte er leise. »Nein, du
mußt nicht sagen. Ich kann es selbst fühlen,
vergiß das nicht.«
Seine Stimme zitterte. Er war nervös. Seine Augen wanderten
unruhig hin und her. »Ich bin zur Untätigkeit verdammt.
Ich kann mich noch nicht einmal anziehen - meine Mutter versucht
noch immer, das Gewand zu flicken. Kann ich dir irgendwie
helfen?«
Er ging zu Halans Spiegelkommode hinüber, warf einen Blick in
das Glas und klappte den Spiegel dann zusammen, so daß man
nur noch die bemalten Rückseiten der Flügel sah. Endlich
konnte sich Halan wieder frei in seinem Zimmer bewegen.
»Jetzt setz dich hin«, sagte Anders. Er nahm die
Bürste, und mit schnellen Bewegungen kämmte er Halans
glattes schwarzes Haar. Halan hielt die Luft an - vor Erstaunen,
und weil ihn schon seit Jahren niemand mehr gekämmt hatte -
seit dem Tod seiner Mutter hatte er das immer selbst getan. Sein
Leibdiener wollte es, aber Halan ließ sich nicht
berühren. Doch jetzt tat es Anders, und so gekonnt, daß
es nicht ziepte, als ob der Junge langjährige Erfahrung darin
hatte. Endlich legte er die Bürste beiseite, zog die Schublade
mit den Tiegeln auf und begann, Halan zu schminken.
»Man sieht es nicht, wirklich nicht«, beteuerte er,
aber Halan glaubte ihm nicht. Sie wußten es besser, alle
beide.
»Danke«, flüsterte Halan. Anders’ Verhalten
irritierte ihn mehr, als daß es ihn freute, aber im Grunde
seines Herzens begriff er, daß sein Onkel da gerade etwas
sehr Nettes machte, das ihn große Überwindung
kostete.
Später, als Aralee das Gewand brachte - der Riß war
nicht mehr zu sehen, aber Halan wußte, daß er da war -
tat Halan sein Bestes, um seinerseits Anders zu schminken. Für
die Krönung wurde etwas Besonderes gebraucht, das Gesicht
eines wahren Engels. Anders sah bezaubernd aus, aber Halan
wußte, daß noch etwas fehlte. Endlich fand er es, in
der Kommode seines Vaters: Einen feinen, glänzenden Puder,
schimmernd wie Silberstaub und Regenbogen, und das war es auch,
Silber und zerstoßenes Perlmutt. Dunkelblau und Silber waren
die Farben für die Krönung, und schwarz, wie
Anders’ Haar, und weiß, wie die Krone, die sich um
Mitternacht auf dieses Haupt herabsenken würde.
Niemand hatte jemals herausfinden können, woraus sie gemacht
war - nicht aus Gold und nicht aus Silber, und doch aus einem edlen
Metall, denn sie glänzte und wurde niemals stumpf, blieb so
weiß wie frischgefallener Schnee und so schön, wie es
auf der ganzen Welt keine zweite gab. Aber es gab auch keine zweite
Krone, die ein Engel seinem Kind geschenkt hatte.
Im Laufe des Tages kamen noch mehr Gäste, jene, die zu weit
entfernt lebten, um schon zur Beisetzung da zu sein. Zwei andere
Länder, Doubladir und Indiradin, hatten Delegationen
geschickt, Spione, die herausfinden sollten, ob der neue König
der Format seines Bruders haben würde. Obwohl es Anders’
Aufgabe war, sie zu empfangen, und Aralees, ihnen Zimmer
zuzuweisen, mußte auch Halan sie begrüßen oder
doch zumindest anwesend sein, Würde ausstrahlen und
lächeln. Er bemühte sich, schweigend im Hintergrund zu
stehen. Seine aufgemalte Maske verbarg ihn nicht wie sonst. Er
hatte das Gefühl, daß alle ihn anstarrten, und er
haßte es. In Gedanken zählte er die Namen der Gäste
auf, die ihrer Familien, und ihre Verdienste in den letzten
Jahrhunderten, damit auch wirklich alles in der Chronik stehen
konnte.
Anders hielt sich gut, ließ sich nichts von seiner Unruhe
anmerken- niemand außer Halan fielen seine angespannten
Nackenmuskeln auf - und schaffte es, auch den ausländischen
Botschaftern mit Höflichkeit zu begegnen. Obwohl die einzelnen
Häuser der Engelsgeborenen untereinander spinnefeind waren,
blieb Gastrecht doch Gastrecht, und die Pflicht, ihnen Speis, Trank
und ein Bett zu bieten, wenn sie kamen, um an einer Krönung
teilzunehmen. Es war keine Frage von eingeladen oder nicht - wenn
ein neuer Engelsgeborener gekrönte wurde, hatte jeder andere
ein Recht zu erscheinen.
Doch sogar Anders zuckte zusammen, als Fanfaren im Hof
ertönten. Sie wurden begleitet von Trommelwirbeln, einem
Dutzend Reiter und einer sechsspännigen Kutsche. Wer so
reiste, war nicht bloß ein Botschafter seines Landes. Noch
bevor der Herold zu Wort kommen konnte, wußte Halan,
daß gleich ein weiterer Engelsgeborener die Halle betreten
würde: Die Farben und das Wappen sprachen eine deutliche
Farbe, wenn auch eine, die Halan alles andere als gerne
hörte.
»Kniet nieder vor dem Engel der Stärke, Lorimander von
Lorimanders Blute, Prinz von Loringaril!«
Während sich um ihn herum jene Gäste, die sich gerade
eben nach der Huldigung Anders’ wieder erhoben hatten,
pflichtbewußt zu Boden warfen und Halan sich bemühte,
noch etwas weiser und würdevoller auszusehen, fragte er sich,
wer der hohe Gast wohl sein mochte. Jeder einzelne männliche
Nachkomme Lorimanders trug auch seinen Namen und - bis auf den
König - war ein Prinz. Und alle, ausnahmslos alle, waren
schwachsinnig. Eigentlich war es egal, wer von ihnen zur
Krönung kam.
Flankiert von einem Berater, zwei jungen Frauen und einem Diener,
glitt das Zerrbild eines Engels in Korisanders Hallen. Alles, was
einen Elomaran an Schönheit auszeichnete, war hier grotesk und
mißtönend. Die großen Augen, so hellblau und leer
wie ein Sommerhimmel, standen weit vor, unter einer steilen,
ebenfalls vorgewölbten Stirn. Der Mund war so klein, daß
es aussah, als schürze er ständig die Lippen zum
Kuß, das Kinn war schmal und spitz - daß dieser blasse,
blondlockige Vogel sich engelsgeboren nennen durfte, erfüllte
Halan mit Schauern, wie schon zu den beiden anderen Gelegenheiten
in seinem Leben, zu denen er auf Lorimanderskinder getroffen war.
Mit Ekel erinnerte er sich eines wasserköpfigen Mannes, der
versuchte, ihm mit unförmigen Händen den Kopf zu
tätscheln. Doch er sah auch, wie ein Lächeln in
Anders’ Gesicht trat, das echter war als alle, die er an
diesem Tag zur Schau getragen hatte. Halan konnte es nicht
nachvollziehen.
Lorimander starrte seinen Gastgeber an. Dann sagte er mit einer
Stimme, die kehlige Unbeholfenheit erwarten ließ, doch
glockenhell, wirklich engelsgleich, war: »Er soll auch
knien!«
Anders’ Lächeln wurde breiter, als der Berater ruhig
sagte: »Hoheit, diese beiden sind Engelsgeborene wie Ihr. Sie
müssen nicht knien.«
Halan kannte dieser Stimme, doch er konnte sie nicht einordnen,
und als er versuchte, das Gesicht des Mannes in seinem
Gedächtnis wiederzufinden, wurden die Kopfschmerzen
stärker. Es war allseits bekannt, daß die Berater von
Lorimanders Erben weitaus gefährlicher waren als die
Engelsgeborenen, die kaum mehr als Mitleid verdienten in ihrer
Hilflosigkeit. Im Kronrat steckte der Verstand, welcher der
königlichen Familie selbst fehlte, und Halan ging davon aus,
daß es sich bei diesem Mann um einen fähigen Spion
handelte.
»Sie sind schwach! Sie sollen auch knien!«
Einen Moment lang fürchtete Halan, diese Beleidigung
würde Andres wütend machen, aber der Junge strahlte nur
um so mehr, als er seine Arme ausbreitete, auf den neuen Gast
zutrat und sagte: »Es erfüllt mich mit
größter Freude, einen Abkömmling des Engels der
Dummheit in meinem Haus begrüßen zu dürfen.«
Er sprach Elomond, die alte Sprache, die nur von den
Engelsgeborenen an ihre Kinder weitergegeben durfte. Es hieß,
daß die Engel untereinander selbst so redeten, aber
Lorimander starrte Anders nur verwirrt an. Er hatte offenbar kein
Wort verstanden.
Anders ließ die Arme sinken, doch die Freude verschwand
nicht aus seinen Augen, und er fuhr damit fort, seinen Spott mit
dem Prinzen zu treiben. »Sagt, sind die Frauen an Eurer Seite
Eure Schwestern, oder warum erlaubt man Euch, mit ihnen ins Bett zu
gehen? Das tut ihr doch, nicht wahr?«
Halan bemühte sich, nicht in die blassen Augen zu blicken.
Seit Jahren kämpfte er gegen den Niedergang von Korisanders
Blut, versuchte seine eigene Schwäche zu verbergen, und hier
stand dieser Mann, vom Blute der Engel wie er, und trieb durch
seine bloße Existenz Schindluder mit dem Erbe der Elomaran.
Dieses bleiche, leere, seelenlose Gesicht - war es das, wo sie alle
enden sollten?
Lieber versuchte Halan sich zu erinnern, woher er diesen Berater
kannte, aber immer, wenn er zu dem kleinen, dunkelhäutigen
Mann hinübersah, fingen sich seine Augen an diesem Niedergang
der Engelsgeborenen. Es stimmte, daß Lorimanders Blut in
seinen Erben stark floß, stärker als in Korisanders
Kindern das Blut ihres Ahnen, doch um welchen Preis? Halan
fröstelte. Er mußte diesen Raum verlassen. Mochte Anders
Vergnügen an diesem Anblick finden und sich überlegen
fühlen - Halan ertrug es nicht länger. Er ging zu Aralee
hinüber, die gerade dabei war, eine Handvoll Dienerinnen
anzuweisen.
»Aralee«, sagte er. »Wärst du so gut,
unseren neuen Gästen etwas von deinem Wein zu bringen?«
Aralee blickte ihn spöttisch an. »Wünschst du,
daß ich Gift mische?« fragte sie leise und war
verschwunden, bevor er darauf antworten konnte. Er wollte ihr schon
nachgehen, sie zur Rede stellen, als er plötzlich merkte,
daß Lorimanders Berater neben ihm stand.
»Entschuldigt bitte untertänigst, daß ich es mir
erlaube, Euch anzusprechen… aber Ihr seid Harold, der Neffe
des Königs?« Seine Stimme zischte beim Sprechen, und er
stieß leicht mit der Zunge gegen die Vorderzähne. Sein
Akzent war anders als der von Loringaril. Halan wußte,
daß er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Kleine dunkle
Augen und eine gekrümmte Nase… Normalerweise
betrachtete Halan gewöhnliche Sterbliche nicht so genau; er
wußte, daß dies eine Schwäche von ihm war, die
nichts mit seinem Blut zu tun hatte. Ein Gesicht, daß er sich
einmal eingeprägt hatte, konnte er nicht wieder
vergessen… Er hielt sich lieber den Kopf frei, trennte die
wichtigen Dinge von den unwichtigen. Er schüttelte leicht das
Haupt. Jetzt war er es, der lächeln mußte.
»Nein. Ich bin der Sohn des Königs. Neffe werde
ich erst um Mitternacht. Wer seid Ihr, daß Ihr das Wort an
mich richtet?«
Der Mann verneigte sich tief. »Ember von Valon, Herr. Ich
bin der persönliche Berater des Prinzen Lorimander.«
»Ich bin sicher, Ihr seid ihm eine große Hilfe«,
erwiderte Halan, »und erweiß, was er an Euch
hat.«
Ember zischte durch die Zähne. Sein Name war Halan fremd,
aber er mußte nicht echt sein. Halan folgte seinem Blick
hinüber zu Lorimander, der jetzt mit seinen mitgebrachten
Frauen flüsterte. Hofdamen waren es keine - derart
herausgeputzt und geschminkt… »Wie auch immer, ich
rate Euch, haltet Euren Onkel zurück. Er mag jung und
unbeherrscht sein, aber wenn wir auch seine Worte nicht verstehen
mögen, ist uns doch klar, daß er versucht, uns zu
verhöhnen. Und er verhöhnt die Falschen.«
Halan bemühte sich um ein liebenswürdiges Lächeln.
»Euer schwachsinniger Herr mag solcher Zurechtweisung
bedürfen - aber wenn Ihr meint, einen Engelsgeborenen von
Korisanders Blute noch am Tag seiner Krönung kritisieren zu
müssen, dann bringt zumindest die Stärke auf, es ihm
selbst zu sagen. Und jetzt entschuldigt mich. Nehmt Wein. Wir
werden uns bei der Krönung wiedersehen.«
Halans Davoneilen war eine Flucht. Er wußte, daß Ember
die ganze Zeit über scharf auf Halans gebrochene Nase gestarrt
hatte. Dies war kein dummer Mann. Wenn er die Zeichen erkannte, die
losen Enden zusammenfügte… Halan floh den nächsten
Gang entlang.
Bis zum Sonnenuntergang, bis zum Beginn der
Krönungszeremonie, blieben noch mehr als drei Stunden. Zeit
genug, um sich auf seinem Zimmer einzuschließen, wo ihn
niemand mehr sehen würde.
Augen in seinem Nacken folgten ihm.
Fast bis zur Decke reichte der große weiße Engel, hoch
wie sechs Männer, Arme und Flügel schützend
ausgebreitet. Vor ihm, auf einem Podest aus Alabaster, stand der
Thron. Wer darauf saß, der schaute durch die Augen des
Engels, und der Engel schaute durch seine. Der Thron selbst war aus
glänzendem schwarzen Holz, mit silbernen Ornamenten
beschlagen, und so groß, daß zwei Männer
nebeneinander auf seiner Sitzfläche hätten Platz nehmen
können. Und doch hatte Halans Vater, wenn er darauf saß,
immer nur um so größer gewirkt, und dessen Vater…
sein Großvater war in Halans Erinnerung ohnehin von
riesenhafter Gestalt. Aber Anders war noch nicht ausgewachsen; er
war ein wenig kleiner als sein Bruder oder Halan. Konnte er auf dem
Thron sitzen, ohne verloren zu erscheinen? Sie würden es
sehen. Bevor die Krone auf seinem Haupt ruhte, war es Anders
verboten, auch nur einen Fuß auf die schneeweißen
Stufen zu setzen.
Bis auf Halan, dem als Engelsgeborenen zumindest ein Stuhl
zustand, mußten die Gäste stehen. Nur Lorimander hatte
auf einen an ebenbürtiger Stelle plazierten Stuhl bestanden -
genaugenommen war es natürlich Ember, der diese Verhandlungen
führte - und ihn auch bekommen. Neben ihm, auf dem Boden,
räkelten sich seine beiden Begleiterinnen. Die eine hatte
ihren Kopf in den Schoß des Prinzen gebettet, die andere rieb
sich an seinen Beinen. Sie mochten in Anders’ Alter sein.
Halan betrachtete das Treiben mit einer Mischung aus Abscheu und
Schadenfreude. Er kannte sich gut genug mit den Sitten Loringarils
aus, um zu wissen, daß es Lorimanders Erben untersagt war,
außerhalb ihrer eigenen Familie zu heiraten, damit das Blut
nicht weiter verwässerte. Wenn es diesem Lorimander gestattet
war, mit Frauen herumzutollen, die ganz eindeutig keine
Engelsgeborenen waren, so bedeutete es, daß er mit den Jahren
zwar erwachsen geworden war, jedoch nicht zum Mann. Einen kurzen
Moment lang bedauerte Halan die beiden Frauen. Aber sie verhielten
sich nicht so, als ob sie ihr Los beklagenswert fanden.
Dann ertönte ein lautes Klopfen von der Tür. Der Richter
trat in die Mitte des Saals und rief: »Wer ist es, der
Einlaß begehrt in die Halle der Engel?«
»Alexander von Korisanders Blute«, tönte es
zurück.
Zwei Diener öffneten langsam die mächtigen
Türflügel, und da stand Alexander, strahlend schön
in seinem prächtigen Gewand, dem man nicht ansah, daß es
eben noch geflickt worden war.
»Warum begehrst du Einlaß, Alexander von Korisanders
Blute?«
»Ich begehre, was mein ist. Mein ist die Halle, mein ist das
Blut, mein ist das himmlische Recht. In mir ist der Engel, durch
mich spricht der Engel, der Krone zu dienen, ist meine
Pflicht.«
»Wie willst du der Krone dienen, Alexander von Korisanders
Blute?« fragte der Richter.
»Sie auf meinem Haupte tragen, damit ihre Weisheit meine
Gedanken durchziehe, aus meinen Worten und Taten spreche.«
Anders trat ein, durchquerte die Halle mit langsamen Schritten, bis
er vor dem Richter stehenblieb, doch seine Augen waren nach oben
gerichtet, hinauf zu dem steinernen Gesicht.
»Aus deinen Worten spricht Hochmut, Alexander von
Korisanders Blute. Knie vor mir, und erweise dich
würdig!«
»Wie kann ich hochmütig sein, wenn ich höher bin
als ihr alle? Wie kann ich würdig sein, wenn ich vor dir knien
soll? Ich bin der Himmel, in mir ist der Himmel, der Himmel neigt
niemals sein Haupt vor der Welt.«
Anders Stimme ertönte klar, laut und voller Stolz. Die Worte
waren vorgegeben, doch Halan wurde das Gefühl nicht los,
daß selbst wenn nicht, Anders in jedem Fall einen
ähnlichen Text gewählt hätte. Mangelndes
Selbstvertrauen hatte ihm noch nie jemand vorwerfen
können.
»So gibt es niemanden, vor dem du kniest, Alexander von
Korisanders Blute? So soll sich nicht dein Haupt neigen, um die
Krone zu empfangen?«
»Ich knie vor dem Elomaran Korisander, dem Engel der
Weisheit, ihm, der mich erschaffen, mich gezeugt hat.«
Mit diesen Worten ließ sich Anders vor der untersten Stufe
auf die Knie fallen und neigte den Kopf so weit nach unten,
daß die Spitzen seiner Haare den Boden berührten. Die
Zuschauer klatschten und jubelten, bis auf den Prinzen von
Loringaril und seine Begleiter. Nur Ember bewegte mit aufgesetztem
Lächeln seine Handflächen gegeneinander.
Anders hob den Kopf und rief auf Elomond: »Korisander, Vater
meiner Väter, Ahn meiner Ahnen, vor dir liege ich hier im
Staub, flehe dich an, mich anzuerkennen als deinen Sohn, den Sohn
deiner Söhne und deinen Erben. Laß mich würdig
sein, deine Krone zu tragen, doch strafe mich, wenn ich zu schwach
bin!«
Alle blickten hinauf zum Lächeln des Engels, als erwarteten
sie ein Zeichen. Zwar hatte niemand außer Halan die alten
Worte verstanden, doch ihr Sinn war allen klar, nicht nur durch das
Flehen in Anders’ Stimme und seine unterwürfigen Gesten.
Doch der Stein regte sich nicht.
Nach einem Moment des Wartens und stillen Betens - Halan betete
und hoffte, daß viele andere ihm gleich taten - hob der
Richter wieder die Stimme im für alle verständlichen
Koristai.
»So erhebe dich nun, Alexander von Korisanders Blute! Schau
nach vorne auf dein Volk, und schau zurück auf deine
Geschichte!«
Anders drehte sich um, doch ohne aufzustehen. In immer noch
ehrfürchtiger Haltung blickte er auf seinen Hofstaat, auf
seine Grafen, auf sein Gesinde. »Nicht mit Hochmut will ich
mein Volk strafen, sondern ihm dienen mit Weisheit und
Liebe!« rief er.
Diese Worten standen in keinem Codex, und vielleicht gerade
deswegen wirkten sie besonders echt, verfehlten ihre Wirkung nicht.
Anders, der die Gefühle der Menschen in seiner Umgebung
auffing, lächelte befreiter als zuvor, während eine Welle
der Zuneigung ihm entgegenschlug. In diesem Moment tat er Halan
leid. Wenn er mit Absicht die Worte veränderte, hieß
dies, daß trotz allen Jubelns sein Volkes ihn nicht liebte.
Schon Halans Vater hatte seine Gabe genutzt, um im entscheidenden
Moment das Richtige, oder zumindest das Gewünschte, zu sagen.
Offenbar hatte er seinen Bruder gut unterwiesen.
Wieder wurden die Türen des Saals geöffnet. Diesmal
traten die Musiker ein, Geigen, Flöten und eine Trommel, und
nahmen ihre Plätze ein. Es folgten die Tänzer in Masken.
Halan fragte sich, wer sie ausgewählt hatte - Aralee
vielleicht, oder noch der alte König auf seinem Sterbebett?
Denn unter diesen Masken steckten Kinder, der Größe nach
keines älter als zehn oder zwölf Jahre. Sie stellten sich
in der Mitte der Halle auf, eifrig bemüht nur ja keine Fehler
zu machen, und doch ein wenig unsicher auf ihren kleinen
Fußspitzen.
Halan suchte Aralee, versuchte, ihr einen fragenden Blick
zuzuwerfen - warum Kinder? - doch wenn sie auch
lächelte, waren ihre Augen angespannt nach vorne gerichtet,
ruhten auf ihrem Sohn. Halan beobachtete Anders, versuchte seine
Reaktion abzuschätzen - es war nichts zu erahnen. Entweder
wußte der Junge schon länger, was ihn erwartete, oder er
war nicht aus der Fassung zu bringen.
Wie gelähmt in ihren gezierten Positionen wackelten die
kleinen Mädchen, bis endlich die Musik einsetze und sie sich
rühren durften, zeigen, daß sie, wenn nicht perfekt,
dann doch mit kindlicher Anmut, tanzen konnten. Ihre Gesichter
waren hinter papierenen Masken verborgen, doch ihre Körper
sprachen eine deutliche Sprache, von Aufregung, Anstrengung und
Stolz. Es war eine alte Geschichte, die sie tanzten, und eine
wohlbekannte:
Wie die Menschen, von ihren verräterischen Göttern
verlassen, einsam und unglücklich ihre Leben in einer
trostlosen Welt fristeten. Wie die acht Elomaran dies voller
Bestürzung sahen und erkannten daß sie, um die Welt und
die Menschheit zu retten, eingreifen mußten. Sie stiegen
hinab aus ihren Wolken, und die Menschen fielen vor ihnen zu Boden
und wollten sie anbeten wie ihre Götter. Doch jeder Elomaran
wählte einen unter ihnen aus, faßte ihn bei den
Händen, und was sich dann den Zuschauern bot, war ein derart
putziges Spiel, daß sogar Halan lächeln mußte:
Während die Engelskinder mit auf ihren Rücken auf und ab
wippenden Pappflügeln mit den Menschenkindern tanzten, schlich
sich hinter jedes Paar eine von den kleinen Tänzerinnen, die
bis dahin am Rand gewartet hatten, und mit einem Trommelschlag
schlüpften sie zwischen den Beiden der Menschen hindurch und
waren geboren. Die Zuschauer lachten und spendeten Beifall, und
Halan begriff, warum man Kinder gewählt hatte: Nicht, weil
derjenige, den es hier zu krönen galt, selbst noch kaum mehr
war als ein halbes Kind, sondern weil nur sie in ihrer Unschuld
diesen Paarungsakt darstellen konnten, ohne ins Lächerliche
oder Obszöne abzugleiten. Die Kinder wußten noch nicht,
was Würde war, und niemand verlangte sie von ihnen, doch sie
waren mit einer großen Ernsthaftigkeit bei der Sache, die
Halan gefiel. Auch nahm man es ihnen nicht übel, wenn sie sich
als Engelsgeborene oder gar Elomaran ausgaben. Allen war klar,
daß es sich nur um ein Spiel handelte, sogar in den Augen
Lorimanders, dessen Geist nicht älter war als die Tänzer,
stand Verstehen. Die beiden Frauen an seiner Seite schienen sich
prächtig zu amüsieren. Nur Embers Augen waren
mißtrauisch zusammengekniffen, als suchten sie in dieser
Darbietung eine erneute Verhöhnung seines Herren.
Die Elomaran hielten plötzlich Geschenke in den Händen,
die sie ihren Kindern überreichten: Ein Buch, ein Horn, ein
Schwert, eine Glocke, einen Dolch, ein Szepter - und die Krone der
Weisheit, alles kunstvoll aus Papier gefaltet. Nur die
wunderschöne Perle, welche Alexander, der Engel des Meeres,
seinem Sohn überreichte, hatte wenig Ähnlichkeit mit
ihrem Vorbild und sah mehr wie ein Würfel aus - aber das
störte niemanden. Die Elomaran verabschiedeten sich und flogen
davon, daß hieß, sie stellten sich am Rand auf, um
forthin das Geschehen zu beobachten. Die Engelsgeborenen hielten
ihre Geschenke hoch, so daß alle sie sehen konnten, und die
Menschen - eben noch ihre Eltern, jetzt wieder Sinnbild für
die Menschheit im Allgemeinen - huldigten ihnen, verehrten sie als
göttlich und machten sie zu ihren Königen.
Doch dann setzte das Kind, welches den Sohn Korisanders
darstellte, die papierene Krone auf seinen Kopf, und alle anderen
Engelsgeborenen verneigten sich vor ihm, zeigten, daß er der
höchste unter ihnen war und ihrer aller König. Ember von
Valon sprang vor, sein Gesicht wütend. »Das
reicht!« rief er. »Beendet das Spiel! Niemand
verspottet derart den Sohn des Engels der Stärke!«
Die Musik brach ab. Einige Kinder tanzten weiter, andere hielten
mitten in der Bewegung inne. Halans Blick hastete durch den Saal,
suchte die Botschafter von Indiradin und Doubladir, versuchte, ihre
Reaktionen abzuschätzen. Wenn niemand Ember zurückhielt,
würden sie sich vielleicht seinem Protest anschließen
und die Zeremonie zerstören, doch Höflichkeit und
Etikette verboten es, einen ausländischen Gesandten einfach
vor die Tür zu setzen. Halan zögerte nicht. Er sprang
auf, klatschte, jubelte, und während Aralee, die Grafen, die
Gäste und der Hofstaat in den Beifall einfielen, lief er zu
dem kleinen Mädchen hin, das seine Krone verwirrt in
Händen hielt und zitterte, als ob es jeden Moment zu weinen
anfangen wolle, und hob es hoch, trug es unter aller Augen zu
Anders hin.
Anders nahm nicht das Kind, wohl aber die Krone, setzte sie auf
den Kopf des Mädchens zurück und drückte dann der
Kleinen einen Kuß auf die maskierte Stirn. Das Kind
erstarrte, sah sich zwischen zwei echten Engelsgeborenen und
wußte nicht, was es tun sollte. Seine Augen irrten umher,
erfaßten das immer noch klatschende Publikum, das den
wütenden Ember zurückgedrängt hatte und
übertönte, sah seine Mittänzer, die ihre erste
Lähmung überwunden hatten und endlich daran dachten, sich
zu verbeugen, sah die Türen des Saals, die wieder fest
verschlossen waren. Auch ohne Gefühle lesen zu können,
wußte Halan, daß dieses Kind niemals im Leben
größere Angst ausgestanden hatte, und daß er daran
Schuld war. Die Augen hinter der Maske waren weit aufgerissen,
groß, dunkel und erstaunlich klug für ein Kind,
überhaupt für einen gewöhnlichen Menschen. Niemand
konnte ihr zur Hilfe kommen - das hätte bedeutet, sich gegen
einen Engelsgeborenen zu stellen. Halan machte einen Schritt
zurück, um nicht länger zwischen dem Kind und Tür zu
stehen, die nun wieder geöffnet wurde, um den Musikern und
Tänzern freien Abzug zu ermöglichen. Das Kind sah hin und
her. Es wurde nicht mehr festgehalten - aber hieß das,
daß es einfach so wieder gehen durfte? Aufmunternd nickte
Halan dem Mädchen zu. Er wußte zu wenig über
Kinder, hatte zu geringe Erfahrung mit ihnen, als daß er
wußte, was jetzt zu tun war. Sein Versuch, die Situation zu
retten, war zu einer Falle geworden, wenn auch nicht für
Anders oder ihn selbst.
Die Kleine sah ihn an, und plötzlich hellten sich ihre Augen
auf, als hätte sie verstanden. Sie nahm ihre Krone ab,
drückte sie Anders auf den Kopf, drehte sich um und rannte
weg.
Halan und Anders blickten ihr nach, während das Publikum
offenbar unsicher zwischen verlegenem Schweigen und vergnügten
Lachen abwägte, je nachdem, ob man den Vorfall für
beabsichtigt oder ungeplant hielt. Anders mußte auf jeden
Fall den Eltern des Kindes ein Dankschreiben zukommen lassen - oder
noch besser etwas Geld, für den Fall, daß sie nicht
lesen konnten. Halans Hände kribbelten und erinnerten ihn
daran, daß er gerade, obwohl es ihm eigentlich verboten war,
einen gewöhnlichen Menschen berührt hatte. Er hoffte,
daß niemand sich etwas dabei dachte. Noch war nichts
verloren. Sie konnten das Mädchen mit einer höfischen
Stellung betrauen, eine Zofe daraus machen, oder etwas in der Art.
Dann konnten sie es so darstellen, als sei die Kleine
auserwählt…
Als Halan so weit war, daß er Pläne machte, Anders mit
dem Kind zu verheiraten, in ein paar Jahren vielleicht,
schließlich hatte er es geküßt - riß Anders
ihn mit einem unauffälligem Schlag gegen den Arm aus den
Gedanken und bedeutete ihm mit einer Bewegung seines Kinnes, sich -
sofort - wieder auf seinen Platz zu begeben. Halan beeilte
sich. Es war immerhin Anders’ Krönung, und Halan hatte
nichts, wirklich nichts vor den Stufen verloren.
Anders hob die Arme. »Ich habe die Vergangenheit
gesehen«, rief er, und sofort brach der letzte Applaus ab,
hingen die Gäste wieder an seinen Lippen, »und in diesen
Kindern sehe ich die Zukunft.«
Der Richter trat vor ihn hin. »Deine Vorfahren haben dich
als rechtmäßigen Erben anerkannt, Alexander von
Korisanders Blute. Verharre nun in Geduld, und empfange aus meinen
Händen, was dir zusteht: Korisanders Krone, die Krone der
Weisheit.«
Er drehte sich um und schritt zur Tür hin. Anders legte die
rechte Hand vor seine Brust, die linke auf den Rücken, und
neigte sich wieder zu Boden, um in dieser Haltung zu verharren, bis
der Richter mit der Krone zurückkehrte.
Erst, als der Richter den Saal schon fast verlassen hatte, erhob
sich Halan, um ihn zu begleiten - am liebsten wäre er bei
Anders geblieben, aber die Krone wartete in einem verschlossenen
Raum, den nach dem Gesetz nur ein Engelsgeborener öffnen
durfte. Doch als er versuchte, würdevoll und zugleich schnell
zur Tür zu kommen, erhob sich auch Lorimander mit seinen
Begleitern, und das nahmen offenbar alle anderen als Zeichen, ihm
zu folgen, und so zogen sie als eine erwartungsvolle Prozession
durch das Schloß. Halan wußte, daß dies ein gutes
Zeichen war - es bedeutete, daß seine Untertanen den neuen
König akzeptierten und ihm als Gemeinschaft die Krone bringen
würden, Ausdruck ihrer Liebe und Bewunderung. Er
unterdrückte seine Nervosität und zog den eisernen
Schlüssel hervor, dessen gezackter Bart den Raum aufsperren
sollte, in dem die Krone seit dem Tod des Königs sicher hinter
einer dicken Holztür verwahrt wurde. Einen Moment lang hatte
er Angst, im letzten Moment könne das Schicksal mit einem
schlechten Zeichen zuschlagen, könne die Tür oder das
Schloß klemmen. Er hielt die Luft an, als er unter wachsamen
Augen den Schlüssel drehte und die Tür ohne Klemmen, ohne
Quietschen, aufsprang. Dann erstarrte er, und schnappte nach Luft,
und mit ihm alle anderen.
Dort ruhte, auf einem Klotz aus Alabaster, ein dunkelblaues
Samtkissen, wie das Krönungsgewand sternenbestickt. Zwei
kleine Wandlampen erhellten das fensterlose Kämmerchen. Sonst
gab es nichts zu sehen.
Die Krone war verschwunden.
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