Von dem harten Steinboden schmerzten Alexanders Knie, und seine
Füße waren schon ganz taub geworden. Er wußte
nicht, seit wann er hier schon kniete, nur daß es lang war,
viel zu lang. Er war allein. Niemand kam, um ihn zu krönen,
und niemand kam, um ihm zu sagen, was da nicht stimmte. Alexander
rührte sich nicht, verharrte in seiner unbequemen Haltung.
Dies mußte eine weitere Prüfung sein. Ein König,
noch dazu einer von Korisanders Blut, brauchte Geduld. Gleich
würden die Türen aufgehen, würde ihm der Richter
feierlich die Krone bringen…
Alexanders Finger hielten das silberne Medaillon umklammert. Es
sollte ihn an die Schwäne erinnern, an seine Pflichten und
Verantwortung, aber er dachte an Koris. Warum mußte sein
Bruder so früh gehen, ihn hier allein lassen? Ein Engel war in
die silberne Oberfläche eingraviert, aber alles, was Alexander
durch den Stoff seiner Handschuhe hindurch fühlen konnte, war
eine Unebenheit im Metall. Alexander liebte diese Handschuhe. Sie
gaben ihm Schutz und Sicherheit, dämpften alle Eindrücke,
die von außen auf ihn einprasselten, auf ein
erträgliches Maß… Er beneidete Koris in seiner
undurchdringlichen Stoffhülle. Aber Koris hatte mit seinen
Gaben auch nie ein Problem gehabt, sie immer nur genützt, um
Stärke daraus zu ziehen und die Schwächen seiner Gegner
auszuloten… Warum kam niemand? Wie lange wollten sie ihn
noch prüfen? In Alexanders Innerem kam Wut auf. Er
wußte, wer dahintersteckte, wer da versuchte, ihn zu reizen,
zu demütigen: Halan. Halan, der Rache nehmen wollte für
die Schläge, für das zerstörte Gewand, seine
gebrochene Nase. Alexander widerstand dem Impuls, aufzuspringen,
zur Tür zu stürmen, Halan zu suchen und ihn
anzubrüllen. Der Zorn blieb, wuchs. Vielleicht half beten?
Als er Korisander anrief, um seine Hilfe, seinen Beistand flehte,
wußte Alexander nicht, welchen er da eigentlich meinte:
Seinen Bruder oder den Engel. Aber irgendwie waren sie für ihn
immer eins gewesen: Groß, schön, mächtig und
unerreichbar fern. Niemals ferner als jetzt.
Das schwere Gewand drohte ihn zu Boden zu ziehen. Die
Schwäne, diese gräßlichen, silbernen Schwäne,
wanden ihre Hälse um seine Arme, wie der geschwungene Dolch in
seinem Traum. Alexander wünschte sich, das alles vergessen zu
können, den Traum, die Schwäne, die Krönung; kein
Engelsgeborener mehr sein zu müssen, sondern ein
gewöhnlicher Mensch. Von ihm aus konnte die Krone haben wer
mochte, Halan, Aralee, irgendwer. Er wollte sie nicht mehr. Und
wenn er einfach verschwand? Und wenn er einfach wegging, alles
zurückließ? Alles was ihn hier im Schloß hielt,
waren die verdammten Rituale und Gesetze, und sein dreimal
verdammtes Pflichtgefühl. Aber wenn er jetzt einfach aufstand
und davonging - wer sollte ihn daran hindern?
Alexander stand nicht auf. Er verlagerte nur sein Gewicht von
einem Knie auf das andere. Er hielt das Medaillon umklammert und
blickte zu Boden, wie er es die ganze Zeit über getan hatte.
Die Tür ging auf.
Das erste, was Alexander entgegenschlug, war Schadenfreude, und
das ließ ihn erschrocken hochblicken. Die Tür stand
einen Spaltweit offen, kein Richter war zu sehen, kein Halan, keine
Krone. Nur der kleine, schmierige Berater des schwachsinnigen
Lorimanders.
»Prinz Alexander… wenn Ihr mich fragt, braucht Ihr
nicht mehr länger zu warten. Es ist etwas geschehen, daß
den Verlauf der heutigen Nacht ein wenig… verändern
wird.«
Alexander starrte ihn an. »Was?« fragte er nur.
»Nun… gewissermaßen wurdet Ihr ja bereits
gekrönt… von diesem reizenden kleinen Ding… Ihr
solltet Euch damit zufrieden geben… es scheint, daß
euch nicht mehr zusteht als eine Krone aus Papier.«
Alexanders Puls raste, hämmerte in seinen Ohren. Das
gehörte zur Prüfung, versuchte er sich einzureden. Nur
zur Prüfung. Er mußte ruhig bleiben.
»Was heißt das?« fragte er und zwang sich zu
Boden. Dieser Mann war ihm zuwider, aber man durfte ihm nichts
tun.
»Oh… ich hätte nicht gedacht, daß Ihr
derart begriffsstutzig seid, Alexander von Korisanders Blute, Erbe
des Engels der Weisheit, um Euch noch als solchen zu
bezeichnen… Wie es aussieht, hat sich Euer Ahn
zurückgeholt, was sein ist… Eure Krone ist jedenfalls
nicht mehr da.«
»Nein!« schrie Alexander. Als er hochsprang, um sich
auf den Mann zu stürzen, spürte er einen kurzen,
beißenden Schmerz im Nacken, der ihn im letzten Augenblick
innehalten ließ. Von seiner verkrampften rechten Faust hingen
die losen Enden einer zerrissenen Kette herab. Er mußte seine
Finger einen Moment lang anstarren, bis sie sich öffnen
ließen und das Amulett freigaben. Das half ihm, wieder zu
Besinnung zu kommen. Vermutlich hatte es Ember das Leben
gerettet.
»Ihr tätet gut daran, mit zu glauben, Prinz Alexander.
Aber Euer beherzter Neffe wird es Euch sicher gern
bestätigen.«
Alexander starrte ihn an. Und erst in diesem Moment registrierte
er, daß Ember von Valon längst nicht mehr allein war.
Hinter ihm standen die Männer, welche Lorimander als Reiter
eskortiert hatten. Sechs Männer mit Schwertern. Mit
gezogenen Schwertern. Alexander atmete tief durch.
»Die Waffen nieder!« sagte er dann.
»Ich glaube nicht, daß es an Euch ist, mir Befehle zu
geben«, sagte Ember. Sein Lächeln entblößte
sie breite Kerbe zwischen seinen Vorderzähnen, durch die beim
Sprechen die Luft zischte.
»Dies ist mein Schloß«, erwiderte Alexander
fest, »und gekrönt oder nicht, ich bin es, der hier
befiehlt.«
In diesem Moment flog die Tür vollends auf, so weit,
daß einer ihrer Flügel gegen die Wand schlug. Halan
stürmte in den Thronsaal.
»Alexander!« rief er, nahm ihn beim Arm und zur Seite,
drehte sich so, daß er zwischen Alexander und Ember, der
neugierig lauschend näher trat, stand. Halan war aufgeregt und
bestürzt und sehr, sehr unruhig. So war er noch nie gewesen.
Und er hatte noch nie daran gedacht, daß sein Onkel nicht
länger Anders genannt werden wollte. Es jagte Alexander Furcht
ein.
»Stimmt es, was er behauptet?« fragte er auf Elomond.
Belauschen ließ er sich nicht.
»Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat«,
antwortete Halan. »Aber selbst das Schlimmste kann nicht
schlimmer sein als die Wahrheit. Die Krone ist gestohlen
worden.«
»Von wem?« fragte Alexander. »Und wie?«
»Ich weiß es nicht. Die Tür war verschlossen.
Aber ich habe schon einen Diener zum Tor geschickt. Niemand wird
das Schloß verlassen, bis die Krone gefunden ist.«
Alexander wurde schwarz vor Augen. Seine Beine gaben nach,
knickten ein, als wollten sie wieder vor den Stufen warten. Er
riß sich zusammen. Keine Schwäche. Würde zeigen.
Warum nutzte er nicht endlich einmal seine Gaben? Hier war Ember,
schadenfroh und gut aufgelegt. Zwar wußte Alexander nicht,
gegen wen er schadenfroh sein sollte, doch es war allemal ein gutes
Gefühl. Er ging darin auf, zumindest bis ihm jemand begegnete,
dessen Gefühle ihm besser gelegen kamen.
»Hast du schon einen Verdacht?« fragte er. »Wenn
dir niemand einfällt, ich hätte einen.« Er
schüttelte sich. Embers Gefühle zu teilen hieß, die
Welt durch die Augen eines Widerlings zu sehen. Sein Vater, an den
er keine Erinnerung hatte, konnte Gedanken lesen. Das war bestimmt
angenehmer, solange man es unter Kontrolle hatte und im
Zweifelsfall abschalten konnte.
Halan nickte ernst. »Es gibt nur eine Person, welche die
Gelegenheit und die Möglichkeit hatte, an die Krone zu
gelangen und sie unbemerkt mitzunehmen - niemand anderes als deine
Mutter, Aralee.«
Alexander hätte seinem Neffen für diese Bemerkung
zumindest geschlagen, wenn nicht ihm die Nase zum zweiten Mal
gebrochen. Doch Embers Stimmung war gelassen, überlegen, weit
entfernt von einem Wutanfall. Alexander fühlte, wie sich seine
Haare sträubten, doch es gelang ihm, nur zu zischen:
»Ich weiß, wie meine Mutter heißt! Außerdem
stimmt es nicht. Es gibt noch mindestens einen anderen, der einen
Schlüssel zum Kronzimmer hatte und darüber hinaus ein
Interesse daran, daß ich nicht gekrönt werde.«
Halan blickte ihn erstaunt und interessiert an. Warum hatte
Alexander noch nie zuvor gemerkt, wie begriffsstutzig und langsam
sein Chronist bei aller Weisheit und Gelehrsamkeit war? Daß
er sich daß nicht selber denken konnte!
»Du«, sagte Alexander nur. »Geh in dein Zimmer.
Du stehst bis auf weiteres unter Arrest.« Natürlich
rührte Halan sich nicht. »Was soll das? Nimmst du mich
nicht ernst, so wie der Graf von Zahnspalt hier? Willst auch du mir
sagen, daß meine Befehle nichts wert sind?«
Halan schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht -
aber du bist verwirrt, du -«
»So, verwirrt bin ich also? Seit wann liest du meine
Gefühle?«
Einen Moment lang fragte sich Alexander, wieso er immer
neugieriger wurde, zugleich aber auch ungeduldiger und
wütender. In dem Augenblick fiel ihm wieder ein, daß sie
nicht allein waren, daß dort immer noch Ember von Valon mit
seinen Schwertträgern war - und nicht nur sie. Nach und nach
strömten auch die anderen Gäste in den Thronsaal, um zu
sehen, wie der ungekrönte König die Nachricht wohl
aufnahm. So viele Gesichter, so viel Verwirrung, Wut, sogar Angst.
Aber für Alexanders Verstand waren es zu viele Leute, zu viele
Gefühle, um sie noch auseinanderhalten zu können, um
nicht darin unterzugehen. In seiner Kehle stieg ein Lachen auf,
daß er erst im letzten Moment noch hinunterschlucken konnte.
Er durfte jetzt keinen Wutanfall haben, ganz gleich, wie sehr es
ihm half, sich stark zu fühlen. Alle beobachteten ihn, aber
nicht mehr mit Bewunderung wie zuvor. Sie sahen ihn an wie einen
Menschen. Alexander fühlte sich klein und verletzlich.
Plötzlich bekam er selber Angst.
»Hört her!« rief er, so fest er konnte. »Es
ist etwas geschehen, das nicht mit richtigen Dingen zugeht. Jemand
versucht, gegen mich zu intrigieren, versucht, meine
rechtmäßige Krönung zu verhindern. Ich werde das
nicht tatenlos hinnehmen. Bis auf weiteres steht jeder von Euch,
jeder einzelne in diesem Schloß, unter Arrest. Niemand wird
über das Gelände des Parks hinauskommen, bis meine Krone
gefunden ist oder sich der Dieb freiwillig meldet.«
Ein Raunen und Tuscheln ging durch den Saal. Was hatten die Leute
anderes erwartet? Immerhin war die Abriegelung des Tores Halans
Idee gewesen - keine, für die man ihn loben mußte: Es
war selbstverständlich.
»Wer von Euch etwas Verdächtiges, Absonderliches oder
auch nur Ungewöhnliches beobachtet hat, wird es mir
unverzüglich mitteilen. Das selbe gilt für die
Dienerschaft.«
Aralee sollte das Gesinde befragen. Für so etwas war eine
Frau vielleicht besser geeignet, und außerdem war Aralee als
gewöhnlicher Mensch in ihrer Stellung nicht so weit über
dem Gesinde. Sie kannte die meisten sogar mit Namen.
Alexander zögerte einen Moment. Am liebsten hätte er
jetzt alle Gäste - und Halan, und Aralee - in ihre Zimmer
gesperrt, nicht einmal, um sie mürbe zu machen, sondern um
seine Ruhe zu haben. Aber er mußte jetzt denken wie ein
König, tun, was Koris getan hätte. Was hätte
Koris getan?
»Wenn ich auf der einen Seite auch alle verdächtigen
muß, sogar mein eigen Fleisch und Blut, so baue ich auf der
anderen Seite doch auf Euer aller Hilfe und Unterstützung.
Darum rufe ich hiermit die Vertreter aller Länder, die
Botschafter von Indiradin und Doubladir sowie den Prinzen
Lorimander von Loringaril, zu einer privaten Beratung zusammen. Die
Übrigen können ihr Essen haben. Was mich betrifft: Mir
ist der Appetit vorerst vergangen.«
Während er den beiden Botschaftern so freundlich und
unverbindlich, wie es die Lage zuließ, zunickte,
überschlugen sich seine Gedanken. Wer von ihnen würde so
etwastun? Warum hatten sie es gerade auf ihn abgesehen? Und doch
hoffte er, daß es nur ein Anschlag auf ihn war, hinter dem
ein Mensch, oder vielleicht auch ein Engelsgeborener steckte -
daß es Halan war, der recht hatte, und nicht Ember. Er machte
sich ein wenig größer, um dann abschätzig auf den
Berater hinunterzulächeln. »Ihr werdet in Eurem Zimmer
warten, bis ich oder Euer Herr Euch mitteilen, daß die
Beratung vorüber ist.« Schadenfreude war ein
schönes Gefühl, vor allem, wenn sie echt war. Alexander
schenkte Ember sein mitleidigstes Lächeln.
»Ich werde den Prinzen Lorimander beraten«, sagte der
Mann.
Alexander schüttelte das Haupt. »Das ist nicht
möglich. Ihr seid kein Engelsgeborener, aber auch kein
offizieller Abgesandter Eures Landes. Angesichts der…
brisanten Situation«, er imitierte eine von Embers
bedächtigen Sprechpausen, »lasse ich niemanden zu,
dessen Identität nicht eindeutig geklärt und dessen Ruf
nicht über jeden Zweifel erhaben ist.«
Ember sagte nichts, doch er geriet langsam in Wut. Er konnte nicht
zugeben, daß Lorimander selbst nicht in der Lage war, ein
irgend einer Form von Beratung teilzunehmen, obwohl es jeder
einzelne der Anwesenden bereits wußte - und das machte es um
so schöner.
Laibrin, Botschafter von Indiradin, friedfertiger Sprecher einer
friedfertigen Volkes, trat vor und verdarb Alexander den
Spaß.
»Es wäre eine große Bereicherung, wenn Ember an
dem Gespräch teilnehmen könnte. Ich bin bereit, mich
für ihn zu verbürgen.«
»Dann tut es!« erwiderte Alexander leichthin.
»Bürgt für ihn. Wenn sich aber herausstellen
sollte, daß er an der Verschwörung gegen meine Person
beteiligt ist - werdet Ihr beide sterben.«
Die letzten Worte fielen ihm nicht mehr so leicht. Er wollte,
daß Ember der Täter war - aber er mochte Laibrin, und
vor allem war Indiradin, das Land des Elomaran Kaliander, ein
wichtiger Verbündeter und Handelspartner. In der
Beständigkeit und Fruchtbarkeit des Waldes lag eine Weisheit,
die sich nicht mit Korisanders gesammelten Wissen messen konnte,
aber eine ganz eigene, lebendige Tiefe besaß.
»So sei es denn«, sagte Laibrin ruhig.
»Bürge ich nun für ihn, mit meinem Leben.« Er
lächelte Ember zu. »Auf daß ich es nicht bereuen
werde.«
Ember errötete und blickte zu Boden. Alexander beachtete ihn
nicht weiter. Für den Moment waren die Mittel der
Demütigung ausgeschöpft. Später würden sich
neue ergeben. Alles, solange er selbst die Oberhand behielt.
Er winkte einem wie versteinert dastehenden Diener zu.
»Bring Getränke in das kleine Zimmer. Wein für
meine Gäste.«
»Und für Euch, Majestät?«
Alexander erstarrte. Nur einen Augenblick früher hätte
er nichts als gewöhnliches Wasser verlangt, um einen klaren
Kopf und die Kontrolle über seine Gaben zu behalten. Aber
diese Anrede, nicht aus Hohn, sondern aus Hochachtung…
Majestät… er war König, ob er nun eine
Krone hatte oder nicht. Die Welt sollte sehen, daß er sich
nicht einschüchtern ließ.
»Laß mir Nektar bringen!« Würde man ihn
jemals wieder mit ‘Majestät’ anreden?
»Sonnentau.«
Erst, nachdem sich der Diener mit vor blankem Entsetzen weit
aufgerissenen Augen verbeugt hatte und davongeeilt war, als
Alexander seinen ausgewählten Zirkel zu den kleinen
Besprechungszimmer leitete, fiel ihm plötzlich ein, daß
der Nektar, dieses seltene, königliche Getränk, noch
einen zweiten Namen hatte, und ihm wurde kalt. Plötzlich
begriff er, fügte sich ein Teil zum anderen.
Engelsblut.
Halb hoffte Alexander, daß sich alles nur als ein böser
Traum herausstellen sollte. Was hätte er dafür gegeben,
schreiend aufzuwachen - selbst wenn es bedeutete, daß er
niemals in seinem Leben wieder eine Nacht lang schlafen würde!
Aber hier saß er, wach, und hier war die Wirklichkeit.
Die Luft war verbraucht und stickig - Alexander hielt die Fenster
geschlossen, damit niemand von draußen lauschen konnte. Aber
an seiner Seite saß Halan und schrieb jedes Wort, das geredet
wurde, mit - für die Chronik, wie es sich gehörte. Seine
wortlosen Kritzeleien, unterbrochen nur von kurzen Pausen, in denen
er die Feder in die Tinte tauchte und dabei mit den Lippen das, was
in der Zwischenzeit gesprochen wurde, nachformte - als
bestünde auch nur die Gefahr, daß er etwas davon
vergessen könnte! - machten Alexander wütend. Das war
nicht die Unterstützung, die er sich von seinem Neffen erhofft
hatte. Aber andererseits mußte es so sein. Als König war
er selbst verantwortlich, und keinen Chronisten zu haben,
hätte bedeutet, kein König zu sein.
»Es ist, wie der Richter gesagt hat«, beteuerte
Alexander - zum wievielten Mal eigentlich? Jeden Satz, den er
sprach, schien er schon einmal gesprochen zu haben, schon
hundertmal, tausendmal. »Meine Ahnen haben mich als
rechtmäßigen Erben anerkannt.« Er wußte aus
gutem Grund, warum er den Richter nicht zu dieser Besprechung
eingeladen hatte. »Wollt Ihr den Obersten Richter in Frage
stellen? Wollt Ihr an den Worten des höchsten Menschen in
diesem Land zweifeln? Ihm sein Amt absprechen?« Er
wußte, daß er zu laut redete. Sein Hals schmerzte, als
hätte er seit Beginn der Versammlung nur geschrieen. Und doch
konnte er seine eigene Stimme nicht hören, schien sie nicht
mehr als das verlegene Flüstern eines verängstigten
Kindes.
»So ist es nicht« , sagte Laibrin. Auch seine Worte
klangen zu vertraut. »Alexander, ihr dürft nicht
glauben, daß wir Euch um jeden Preis um Euren Titel bringen
wollen. Aber wir können nicht darüber hinweg sehen,
daß Eure Krone verschwunden ist.«
»Es ist doch nur noch eine Formalität!« rief
Alexander.
»Es ist ein Engelsurteil!« Ember sprang auf.
»Daß Alexander es nicht als das sehen will, was es ist,
begreife ich nur zu gut - aber daß Ihr anderen Eure Augen vor
der Wahrheit verschließt! Gemäß den Gesetzen fleht
der Krönling seinen Engel um ein Zeichen an, ihn zu strafen,
wenn er nicht geschaffen ist für sein Amt, wenn er zu schwach
ist. Sieht denn niemand, daß dieses Zeichen hier eingetreten
ist? Korisander hat seine Krone zurückgeholt, um sie an einen
geeigneteren Erben weiterzugeben.«
Schweigen, viel zu lang. Dann eine noch schrecklichere Stille: Das
Kratzen von Halans Feder war verstummt. Alexanders Neffe blickte
auf. Doch auch er sagte nichts. Warum widersprach niemand? Warum
sprang niemand auf, schrie Lügner, ohrfeigte diesen
anmaßenden Bastard?
Ember setze sich wieder hin, rückte seinen Stuhl zurecht. In
die Stille hinein konnte Alexander ihn lächeln hören.
»Das glaube ich nicht«, sagte schließlich
Selmar, der schweigsame Botschafter von Doubladir. Seine Stimme war
rauh und langsam, weswegen er Alexander bis dahin als ein
Langweiler und nicht von der klügsten Sorte erschienen war.
Aber jetzt erschien Doubladir in völlig neuem Licht: Als
Verbündeter. »Alexander ist nicht der erste König
seiner Generation, sondern der zweite. Wäre er zu schwach,
wäre es auch schon sein Bruder gewesen. Doch wir alle kannten
Korisander als einen starken, fähigen König.«
»Der verstorbene Korisander vielleicht«, hielt Ember
dagegen. »Aber das sagt nichts über seinen Bruder aus,
selbst wenn sein Blut stark sein mag. Vielleicht hat er gefrevelt.
Wir wissen es nicht. Doch die Elomaran sehen alles.« Er
lehnte sich siegessicher zurück. »Bis die Klage
endgültig geklärt ist, schlage ich folgende Lösung
vor: Solange nicht feststeht, wer der rechtmäßige Erbe
von Korisanders Krone ist, unterstellen wir Koristan einem anderen
Engelsgeborenen, sozusagen als Protektorat. Da mein Herr, Prinz
Lorimander, der einzige anwesende Engelsgeborene von
unzweifelhafter Herkunft und starkem Blut ist -«
Weiter kam er nicht. Selmar erhob sich, beugte sich über den
Tisch und schlug Ember ins Gesicht. »Ihr geht zu weit, Ember
von Valon«, grollte er. »Laibrin mag sich, aus
Rücksicht auf Euren Herren, für euch verbürgt haben,
doch ich beginne, mehr und mehr zu glauben, daß Ihr
tatsächlich der Anstifter einer Verschwörung seid, um
Koristan unter Loringarils Herrschaft zu bringen.«
»Das ist nicht wahr!« rief Ember. »Ich kann
nicht -«
»Wo ist dann die Krone? Verräter!«
»Das nehmt Ihr zurück!« gellte die Stimme
Lorimanders durch den Raum. »Keiner nennt Ihn
Verräter!«
»Soll ich lieber Euch so nennen? Schweigt, wenn Ihr nichts
begreift!«
»Er ist kein Verräter!« schrie Lorimander.
»Er ist treu!«
Wenn es die beiden waren, die sich stritten, warum starrten dann
alle Alexander an? Dann begriff er. Er hob die Arme.
»Friede!« rief er. »Stille, sage ich! Hier wird
nicht gestritten! Dies ist eine Beratung. Wenn Ihr Euch schlagen
müßt, tut es draußen.« Er wußte,
daß dies die falschen Worte waren, aber sie stammten von
niemand anderem als Koris - nur, daß Koris sie nie zu
ausländischen Botschafter gesagt hatte, sondern zu Halan und
Alexander, als sie noch kleiner waren.
Selmar blickte ihn verletzt an. »Alexander, ich will Euch
nur helfen! Ember hat Eure Krone gestohlen, und -«
»Dafür gibt es keine Beweise«, unterbrach ihn
Alexander. »Ich sagte, wir werden den Fall untersuchen, nicht
wilde Anschuldigungen in die Luft setzen. Ebensowenig, wie ich mich
von Ember oder seinem Prinzen beleidigen lasse, kann ich dulden,
daß hier jemand meine Gäste Verräter nennt.«
Er haßte sich dafür. Selmar war vielleicht der einzige
Verbündete, den er in diesem Raum hatte, und jedes einzelne
seiner Worte sprach Alexander aus der Seele - ihm jetzt den Mund
verbieten zu müssen, tat weh.
Fast noch schlimmer war die Erleichterung in Embers Augen. Aber es
war auch dieser Moment, in dem Alexander erkannte, daß dieser
Mann zwar sein Feind war, aber kein Verräter, zumindest nicht
an ihm. Ember war zu überstützt, zu eifrig - wenn er die
Krone gestohlen hätte, dann niemals aus einem verschlossenen
Raum, oder er hätte, wenn er doch zu derartigem in der Lage
war, besser gewußt, wie die Übernahme Koristans danach
vonstatten gehen sollte. Das war nur ein ehrgeiziger, aber
erfolgloser junger Mann, der versuchte, die Gunst der Stunde zu
nutzten - ein Feind vielleicht, aber kein Gegner.
»Freut Euch nicht zu früh, Ember. Ich habe Euch
durchschaut. Ihr seid ein Wicht. Und das ist keine Beleidigung. Das
ist die Wahrheit.«
Ember schwieg. Er konnte auch gar nichts sagen. Erleichtert atmete
Alexander auf. Zum ersten Mal in dieser Nacht - Nacht?
Draußen wurde es bald schon hell - hatte er das Gefühl,
etwas richtiges getan zu haben. Er hob mit beiden Händen den
Kelch, der bis dahin unberührt vor ihm gestanden hatte, und
nippte daran. Der Nektar der Könige. Wie hatte er Koris darum
beneidet! Schwerer, goldener, klebriger Nektar, ein wenig wie
Sirup… Es schmeckte abscheulich. Er stellte den Kelch wieder
ab. Wasser wäre ihm lieber gewesen.
»Wir werden einen Boten nach Landalon schicken«, sagte
Laibrin. Wo Selmar verstockt und gekränkt war, lächelte
er. »Tolimanders Erben sollen entscheiden, was geschehen ist,
und was geschehen soll. Bis dahin laßt uns Alexanders Vorbild
folgen und den Frieden wahren.«
»Nein«, sagte der Prinz von Loringaril. »Ich
habe gewartet. Ich bin geduldig. Aber er hat sich nicht
entschuldigt. Wenn er meinen Berater Verräter nennt, muß
er sich mit mir duellieren.«
Ember lehnte sich zu ihm hinüber, versuchte ihm
flüsternd diese Idee auszureden - aber Lorimander
schüttelte energisch den Kopf. Alexander verstand die Worte
»Mein Prinz, das dürft Ihr nicht!«
Aber mehr gab es auch nicht zu hören, denn nun ging alles von
vorne los, dröhnte Selmar: »Ich werde ihn einen
Verräter nennen, bis er seine Unschuld beweisen kann! Er
versucht, diesem Jungen sein Land wegzunehmen, und dafür
-«
Laibrin zog den anderen Botschafter zu sich hinüber, redete
nun seinerseits auf ihn ein. Halans Hand zuckte hin und her; er
folgte beiden und war bemüht, sich kein Wort entgehen zu
lassen. Alexander versteifte wieder. Diese Situation konnte er nur
aufhalten, nicht wirklich entspannen. Er sah Selmar und Lorimander
- zwei Männer, die sich prügeln wollten und würden.
Einer von ihnen war ein Schwachkopf, der andere hatte offenbar zu
viel Wein getrunken - sollten sie doch ihre Prügelei haben.
Hinterher war es immer einfacher. Wut, die man immer nur
hinunterschluckte, konnte zu Kriegen führen.
»Genug!« rief er, laut genug, um alle wieder auf sich
aufmerksam zu machen. »Hinaus! Wenn Ihr Euer Duell haben
müßt, dann draußen. Kommt zurück, wenn Eure
Gemüter abgekühlt sind!«
Die Streithähne verstummten, aber nur für einen
Moment.
»Ich will Genugtuung!« rief Lorimander. »Der
Schuft soll mein Schwert zu fühlen bekommen!«
»Wenn Ihr Schwerter wollt, sollt Ihr sie bekommen!«
röhrte Selmar. »Aber ich kämpfe nicht gegen einen
Idioten! Ich fordere Ember!«
»Nicht, bevor ich mit Euch fertig bin! Und dann könnt
Ihr es nicht mehr. Denn wir sind die Engel der
Stärke!«
Alexander stand, stützte sich mit beiden Händen auf die
Tischplatte und zitterte am ganzen Körper, aber nur tief
innen, wo es niemand sehen konnte, bis Laibrin und Ember endlich
die Beiden hinausgeführt hatten und Ruhe einkehrte. Dann
ließ er sich erschöpft auf den Stuhl zurücksinken.
Die Strahlen der Morgensonne fielen durch das Fenster. Zum ersten
Mal merkte Alexander, wie müde er war. Doch zum Schlafen blieb
keine Zeit.
»Das hast du gut gemacht«, sagte Halan leise.
»Ich bin stolz auf dich.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Sag mir das nicht,
bevor ich meine Krone wiederhabe.« Seine Hände zitterten
noch immer. Er wünschte sich, selbst dort draußen zu
sein, jeden einzelnen von ihnen, vor allem Ember, verprügeln
zu dürfen. Wenn er etwas - oder jemanden - hatte, worauf er
einschlagen konnte, würde es ihm besser gehen.
Er packte den Kelch und schleuderte ihn gegen die nächste
Wand. Mehr tat er nicht. Aber es half.
Halans Hand mit der Feder blieb ruhig - er hatte schnell gelernt,
was in eine Chronik gehörte und was nicht. Alexander
würde ihm bei Gelegenheit dankbar dafür sein,
später, wenn das hier vorüber war.
»Ruh dich aus«, sagte Halan leise. »Mach die
Augen zu. Schlaf ein wenig. Das ist ein harter Tag für
dich.«
Alexander hätte nichts lieber getan als das, aber er
schüttelte den Kopf. »Ich muß
nachdenken.«
»Hast du das bis jetzt noch nicht?«
»Ich bin nicht du!« schrie Alexander. »Ich tue
auch noch anderes, als immer nur zu denken! Wofür habe ich
dich denn? Sag du mir doch, was passiert, wenn ein Korisanderskind
sich die Krone stehlen läßt!«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Halan, seine Stimme so
ruhig und brüchig wie immer. »Nicht jetzt. Nicht
hier.«
»Aber du hast doch jedes Buch in dieser verdammten
Bibliothek gelesen! Du mußt es wissen!«
Jetzt wurde Halan wütend, Alexander spürte es. »In
dieser Bibliothek«, er preßte die Worte hervor,
bemüht, sie so ruhig klingen zu lassen wie immer, »stand
jedes Buch, das jemals geschrieben wurde! Von jedem Buch muß
es mindestens eine Abschrift geben, die in Korisanders Bibliothek
aufgenommen wird, damit wir alles Wissen der Welt hüten
können. Ein Menschenleben reicht nicht aus, um sie alle zu
lesen. Du hast ja keine Ahnung, was für ein
unermeßlicher Wert sie war. Ihr Verschwinden ist ein
größerer Verlust als deine Krone!«
Alexander widerstand dem Drang, den Tisch umzuwerfen, Halan an den
Haaren zu reißen, ihn noch einmal gegen die Wand zu schlagen.
Einmal hatte gereicht. Er grub die Finger in die Handflächen,
bis er fühlte, wie das Blut floß. »Harold von
Korisanders Blute«, flüsterte er. Er wußte, wie
sehr Halan seinen Namen haßte. An seiner Stelle hätte er
nicht anders gedacht. »Wie kann ein Mensch so klug, so weise
sein wie du, und zugleich so dumm? Was glaubst du denn, wo unsere
Bibliothek ist - daß meine Mutter in ihrer abgrundtiefen
Bosheit sie in den Nilomar geworfen hat? Du hast immer nur die
Bücher in der Bibliothek gesehen, nie die Risse in den
Wänden oder die Schimmelflecken. Die Bücher sind im
Unterkeller, zum Teil in den Regalen, zum Teil noch in Kisten
verstaut. Wir haben tagelang gepackt. Die Wände in der
Bibliothek sollten ausgebessert und frisch gekalkt werden. Aber
Koris wußte, daß du das niemals verstanden
hättest. Darum hat er dich zu Graf Merin geschickt, nur darum!
Und dann -« Er sprach es nicht aus. Dann ist er einfach
gestorben. Alexander wollte weinen, und gleichzeitig wollte er es
nicht. Koris hätte ihn verstanden, hätte gewußt,
was er fühlte, ihn trösten können. Es war ganz gut,
daß er nicht mehr da war. Alexander wollte keinen Trost - er
wollte Stärke. Er wollte seinen Bruder wiederhaben.
Um nicht zu weinen, trat er ans Fenster. Vielleicht konnte er so
etwas von diesem Kampf sehen. Er spürte, daß Halan
hinter ihm stand. Doch ohne Trost. Er mochte erkennen, daß
Alexander unglücklich war, doch er würde nie versuchen,
das zu ändern.
»Warum hast du das nie gesagt?« fragte er nur.
Alexander war in Gedanken so sehr bei Koris, daß er einen
Moment brauchte, um zu begreifen, daß es nur um die
Bücher ging. »Weil du nie auch nur danach gefragt hast!
Weil du sofort angefangen hast zu heulen, weil wir dich bestohlen
haben! Verdammter Bastard!«
Er stieß Halan zurück. Er wollte allein sein - warum
durfte er es nicht? Ohne weitere Worte setzten sich beide
zurück an den Tisch, der zu groß für sie schien.
Zumindest für den Moment war Halan fassungslos. Alexander
versuchte sich daran aufzurichten. Er wußte, daß sein
Neffe bei nächster Gelegenheit in den Unterkeller hinabsteigen
und aus der richtigen Kiste das richtige Buch ziehen würde,
nicht locker lassen, bis er die Lösung gefunden hatte. Er
selbst war müde, wollte endlich die Augen schließen. Und
er tat es.
Keinen Moment später - und es war wirklich kein Moment, denn
wenn er geschlafen hätte, hätte er es gemerkt - ging die
Tür des Beratungszimmers wieder auf. Es war nicht nötig,
daß Halan ihn zaghaft am Ärmel zupfte - Alexander
saß sofort wieder gerade, mit offenen Augen und einem
unerträglich wachen Gefühl.
»Mutter, was gibt es?« Er hatte noch nie seine Hand
gegen Aralee erhoben, zumindest nicht mehr, seit er groß war,
und er würde es auch jetzt nicht tun - aber selten war ihm
mehr danach gewesen, sie zu schlagen.
»Deine Gäste sind verärgert, Alexander.«
Seit er darauf bestand, auch von ihr nicht mehr mit seinem
Kosenamen angeredet zu werden, hatte sie immer so einen seltsam
spöttischen Beiklang. »Die Grafen nehmen dir übel,
daß du dich nur mit Ausländern beraten willst. Unter dem
Gesinde verbreiten sich Gerüchte, daß Korisander seine
Krone zurückgeholt hat, um dich für frevelhaftes
Verhalten zu strafen, auch wenn sie sich nicht einig sind, was
genau du getan hast.«
»Warum sagst du mir das?« fragte Alexander. »Um
mich noch mehr zu verletzen? Wenn ich es ihnen verbiete, halten sie
das für einen Beweis meiner Untaten. Ich kann nichts tun,
außer warten!«
»Es hilft nichts, wenn du herumschreist«, entgegnete
Aralee. »Und kannst du mir erklären, was Lorimander mit
zwölf Schwertträgern im Hof zu suchen hat?«
»Duelliert sich mit Selmar«, antwortete Alexander
knapp. »Sie wären sich hier drinnen fast an die Gurgel
gegangen.«
»Und das läßt du zu? Und du, Halan?« Aralee
war entsetzt.
»Es ist ihre Sache.« Alexander zuckte die Schultern.
»Sie sind erwachsene Männer, beide, sogar der gute
Lorimander. Sollen sie sich die Köpfe einschlagen. Es
hätte zu lange gedauert, den Engel der Gerechtigkeit
herbeizuzitieren.«
»Alexander!« schrie Aralee. »Was tust
du?«
»Warten. Das ist alles, was ich kann. Gleich kommt Laibrin
und sagt mir, wer von beiden noch lebt.« Er lachte leise.
Irgendwie war es schade, daß er dieses sogenannte Duell nicht
sehen konnte. Lorimander mochte stark sein, aber er war zu dumm, um
zu wissen, wo bei einem Schwert vorne war und wo hinten. Selmar
hatte ihn sicher längst entwaffnet, und das war Engelsurteil
genug. Das einzige Blut, das zwischen diesen Männern
floß, stammte wahrscheinlich aus Selmars Nase. Vielleicht
dazu noch ein paar gebrochene Arme oder Rippen. Laibrin und Ember
würden schon aufpassen.
»Was ist mit dir?« Aralee starrte ihn an, das
Durcheinander auf dem Tisch, umgeworfene Weinkelche. »Seid
ihr allesamt betrunken?«
Alexander schüttelte den Kopf. »Nein. Von mir stammt
nur der Nektarfleck da an der Wand.« Ein Glucksen stieg in
ihm auf, ein Lachen, das er nicht zurückhalten konnte.
»Wenn du wissen willst, was passiert ist, lies Halans
Aufzeichnungen.« Mehr brachte er nicht hervor. Ein
hysterisches, unkontrollierbares Lachen begann ihn zu
schütteln. Wer nicht weinen durfte, mußte lachen.
Was ihn zurückholte, und schneller, als ihm lieb war, war
nicht das Geräusch der sich wieder öffnenden Tür,
nicht Laibrins hastig rasselnder Atem, sondern der Geruch von Blut.
Alexander öffnete die Augen und sah den Botschafter, der
weiß wie die Wand im Rahmen stand. Die grünen Roben des
Botschafters waren schwarz und glänzend vor Blut. Doch
Laibrins Gefühle waren Grausen, Angst, blankes Entsetzen und
Fassungslosigkeit, keine Schmerzen. Es war nicht sein eigenes Blut.
Alexander wurde kalt, verzweifelt versuchte er, sich
zurückzuziehen.
»Was ist passiert?« fragte Aralee.
Laibrin starrte sie an. Dann sagte er tonlos: »Selmar ist
tot.«
Man sollte meinen, daß es nichts Schrecklicheres gab, als
den Tod eines geliebten Menschen direkt mitzuerleben, seine
Gefühle zu teilen, zu spüren, wie sie plötzlich
einer endgültigen, einer um sich greifenden Leere wichen. Man
sollte meinen, es gäbe keinen schrecklicheren Anblick als die
tote Hülle eines Menschen, mit dem man sein Leben lang
verbunden war, mit jeder Sekunde mehr diese schreckliche Einsamkeit
zu fühlen. Und es stimmte. Es gab nichts schrecklicheres.
Aber schrecklich konnte auch eine zweite Bedeutung haben, eine,
bei der sich nicht das Herz schmerzlich zusammenzog, sondern der
Magen. Und was das betraf, konnte Alexander sich nicht erinnern,
jemals etwas schrecklicheres gesehen zu haben als Selmar, der im
Hof lag, in seinem Blut, im Dreck.
Sogar Halan wich, als sie um die Ecke bogen, erst einmal ein
Stück zurück, bevor er nähertrat und sich mit
gelassener Neugier über den Leichnam beugte. Diesmal konnte er
nicht die Augen eines Toten öffnen. Dieser Tote hatte kein
Gesicht mehr.
Alexander würgte und hoffte, daß es niemand bemerkte,
daß es ihm lang, den Brechreiz zu unterdrücken. Er hatte
ohnehin den ganzen Tag über nichts gegessen, erst vor
Aufregung, dann weil er, statt am Festmahl teilzunehmen, lieber
diese unsinnige Beratung einberufen hatte. Hätte er doch nie!
Er verfluchte sich für seine Entscheidung, für seine
Empfindlichkeit, eigentlich für alles, was an diesem Tag
passiert war. Für seine Schwäche. Sie war nicht in seinem
Blut, sie war in ihm selbst, und genau das hatte Korisander
erkannt. Alexander war zu schwach, um ein König zu sein.
Er wollte so sein wie Halan, immer ruhig und bedächtig. Er
wollte seine Gefühle teilen. Aber von Halan gingen keinerlei
Gefühle aus, als er sich aufrichtete und fragte: »Was
genau ist geschehen? Und wo ist Lorimander jetzt?«
Man brauchte Korisanders Weisheit, um einen Zusammenhang in die
gestammelten Antworten Laibrins zu bringen, vielleicht, weil er zu
sehr unter Schock stand, vielleicht, weil Aralee ihm einen Kelch
gereicht hatte mit den Worten: »Hier, trinkt das. Und
beruhigt Euch.« Alexander wünschte sich, sie hätte,
was auch immer es sein mochte, ihm gegeben.
Soviel war endlich herauszubringen: Selmar und Lorimander trafen
in einer Ecke des Hofes aufeinander, um sich zu duellieren. Niemand
konnte sagen, woher sie so schnell Schwerter hatten - Alexander
vermutete, daß Lorimanders Reiter dahintersteckten - aber sie
beschlossen, damit bis aufs Blut zu kämpfen. Während
Selmar noch Stellung bezog und darauf wartete, daß Laibrin
den Kampf für eröffnete erklärte, sprang der Prinz
auf ihn zu und hieb ihm die breite Seite seines Schwertes über
den Kopf. Selmars Schädel zersplitterte, der Mann war sofort
tot. Während Laibrin noch versuchte, sich um ihn zu
kümmern, packte Ember seinen Herren, der fröhlich lachte
und nichts von dem, was er getan hatte, zu begreifen schien, beim
Arm und zog ihn fort.
»Und wo sind die beiden jetzt?« fragte Halan.
»Sie können nicht weit sein - ich habe das Gelände
abriegeln lassen.«
»Sie sind nicht mehr hier«, wiederholte Laibrin. Wie
alt war er eigentlich? Er sah alt aus in diesem Moment, und
schwach, als ob ihn seine Beine nur mit Mühe trugen.
Alexander drehte sich um, nicht, um zu gehen, sondern um diesen
gräßlichen Anblick nicht mehr ertragen zu müssen,
nicht mehr die bohrenden Schuldgefühle spüren zu
müssen. »Schnell, zum Tor!« rief er. »Und
bringt diesen armen Toten endlich hinein, bahrt ihn auf, holt die
Totenmagd! Und warnt sie vorher, damit sie nicht noch einmal
schreit!«
Noch im selben Moment wurde ihm klar, was er da gesagt
hatte, sein Geheimnis, die Wahrheit, die niemand wissen durfte! Wie
viele Leute waren hier im Hof versammelt, um einen Toten zu
begaffen? Selbst einer wäre schon zuviel gewesen. Jetzt
starrten sie nicht länger den Leichnam an. Sie starrten ihn
an.
Alexander versteinerte. Er versuchte, Würde in seine Haltung
zu bringen, geradeaus zu blicken, als hätte er die letzten
Worte nie gesprochen. Aber er spürte, wie etwas zerbrach, das
Vertrauen, das zumindest sein Hofstaat noch in ihn setzte. Die
Schminke, die Halan ihm am Vormittag - am vergangenen
Vormittag - so kunstvoll aufgetragen hatte, war inzwischen
längst eingetrocknet. Jetzt riß sie ein, platzte ab, das
Silber zerbröckelte und hinterließ Haut, die nicht mehr
war als die eines Menschen. Alexander verlor sein Gesicht.
Endlich gelang es ihm, sich aus ihren Blicken zu reißen und
wegzurennen, weg von diesem Toten und von allen anderen. Erst
wollte er wirklich zum Tor rennen, Anweisungen geben, um Lorimander
und Ember aufzuhalten - aber wohin er tatsächlich lief, war
Koris’ Zimmer, das jetzt seines war. Er schlug die Tür
hinter sich zu, verriegelte sie, verschloß sie, so fest er
konnte.
Dann warf er sich bäuchlings auf sein Bett. Und fing an zu
heulen.
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