Stille füllte die Kammer, friedliche Stille, in der eine
geschundene Seele Trost finden konnte. Reglos zwischen Schlafen und
Wachen saß Lyda an der Seite des Toten, des Fremden, der fern
seiner Heimat gestorben war. Hier würde niemand um ihn weinen,
nicht Trauer, sondern Entsetzen trat in die Gesichter derer, die
ihn sahen. Lyda hatte ein graues Tuch über den Leichnam
gebreitet, aus Rücksicht vor dem Toten, um seinen Körper
nicht noch mehr neugierigen Blicken auszusetzen.
Noch bis zum Sonnenaufgang würde Lyda bei ihm sitzen,
schweigen, bis seine Seele zur Ruhe gekommen war und bereit
für ihren Aufstieg in den Elomar, bis sie seinen Körper
dem Nilomar überantworten konnte. Lyda ließ sich durch
die Leere treiben. An Tagen wie diesem brauchte und vermißte
sie keinen Schlaf. Die Stille war eine willkommene Abwechslung zu
den Gedanken, die sie sonst heimgesucht hätten, Versuche, die
Geschehnisse der Nacht zu begreifen. In der Stille war sie
allein.
Stimmen rissen sie aus ihrer Trance, laute Rufe. »Sie ist da
drin!« Die Tür flog auf. »Da ist die
Totenmagd!«
Die Männer standen im Eingang, und nur weil sie sich
gegenseitig behinderten, war es noch keinem von ihnen gelungen,
einzutreten. Lyda stand langsam auf und strich sich mit der Hand
ihr Kleid glatt. Dann blickte sie in die Gesichter der Männer.
Noch ein Toter in dieser Nacht? Sie sollten die Totenmagd aus der
Stadt holen, wenn sie es schon für nötig hielten, sich
gegenseitig zu erschlagen. Lyda konnte diese Wache nicht verlassen,
bevor der nächste Morgen dämmerte. Die Männer
sollten das wissen.
»Komm mit, Totenmagd, bevor wir dich an den Haaren
rausschleifen müssen!«
Im nächsten Moment stolperten zwei Männer in das Zimmer,
während der dritte nach hinten zurückgerissen wurde. Lyda
stellte sich schützend vor den Toten. Ihre Augen schrieen
Hinaus! Ihre Lippen schwiegen. Kein Frevel sollte in diesem
Zimmer geschehen.
Sie schwieg noch immer, als man sie packte und in den Hof
schleppte, als sie sich Hunderten von Gesichtern gegenübersah,
bekannten und fremden, Hofleuten und Stadtbürgern.
»Schaut sie an! Das ist die Schuldige!« Eine harte
Hand in ihrem Nacken zog Lyda in die Luft, so daß alle sie
sehen konnten. Lyda erstarrte. Selbst wenn sie hätte schreien
wollen, jetzt konnte sie es nicht mehr. Dies war Angst.
»So sieht eine aus, die einen Engel beleidigt!«
Lyda versuchte, sich nach innen zurückzuziehen, ihr Schweigen
wiederzufinden, sich darin einzuhüllen. Sie hörte ihre
Seele schreien. Ihre Lippen blieben verschlossen.
»Verräterin!«
Lyda konnte nur erraten, was diese Leute schrieen, mit was
für Namen man sie belegte. Alles drang gleichzeitig in ihre
Ohren, einzelne Gesichter, fremde und bekannte, erschwammen zu
einem Meer aus Augen und Mündern, das um sie herumwogte, sie
von allen Seiten umgab, sie festhielt, sich immer um sie
drängte. Ihre Füße berührten den Boden nicht
mehr, als sie vorwärts gezerrt, geschleppt, getragen,
gedrängt wurde. Hunderte von Händen rissen an ihren
Kleidern, ihrem Haar. Menschen, die schrieen. Menschen, die
spuckten. Lyda versuchte gar nicht erst zu begreifen, warum man ihr
die Schuld gab, oder woher sie es wußten. Darüber war
Zeit nachzudenken, wenn dies vorüber war. Falls dies
vorüber ging.
Ein Geräusch von schweren Steinen, das Lyda zu kennen
glaubte, doch sie erkannte es nicht. Ein Pfeifen wie ein hohler
Wind, ihr eigener Atem. Zurück! Vorsicht! Kälte! Wie
gelähmt. Stimmen schrieen. Angst Schreien Augen Zähne
Angstangstangstangstangst -
Plötzlich sah Lyda alles auf einmal, alles im Zusammenhang,
als betrachte sie die Szenerie aus weiter Ferne, von so weit fort,
wie sie sich von ihrem Körper getrennt fühlte. Sie
wußte nicht, ob sie wieder die Worte, die aus einer Fremden
Sprache zu kommen schienen, verstand, oder was es sonst war,
daß ihr diese Gewißheit gab - aber sie begriff,
daß sie an diesem Ort war, um zu sterben, und daß
dieser Ort, an dem sie sterben sollte, der Nilomar war, daß
man sie in die Tiefen hinabstoßen würde. Lyda starb
schon vorher. Sie starb in diesem Moment und erneut in jedem
weiteren, der zwischen der Erkenntnis und dem Sturz lag. Zeit
streckte sich, doch die Verzögerung bracht keine
Erleichterung. Je langsamer sie sich dem Unausweichlichen
näherte, desto mehr wuchs Lydas Angst. Der Tod gehörte
zum Leben, hatte schon immer zum Leben gehört, würde
immer dazugehören - der Tod anderer Leute.
Durch die johlenden Stimmen hindurch hörte Lyda, wie der
Abgrund nach ihr rief wie eine alte Freundin. Lyda hatte niemals
Freunde besessen. Ein tiefes kaltes Singen, ein
Dröhnen…
Die Zeit schnellte
zurückdiedistanzverschwandüberigbliebnurangst-angstangstangst
Komm zu mir ihr warte
Ein Schrei stieg in Lyda auf, brach sich seinen Weg durch ihren
erstarrten Körper, ein verzweifelter Schrei des Todes, der die
Stille ein und für alle Mal zerstören würde.
Ein Schrei gellte durch die Luft, hoch und laut und schrill, der
verzweifelte Schrei des Todes. Ihm folgte ein zweiter Schrei, ein
Aufschrei, aus vielen Kehlen gleichzeitig. Die Leute wichen
entsetzt zurück, blickten mit Schreck nach oben, hinauf zu dem
Schrei. Lydas eigenes Schreien blieb in ihrer Kehle stecken. Sie
stürzte. Doch nicht in den Nilomar. Zu Boden. Sie lebte.
Über ihr, vor dem bleigrauen Himmel, in einer geraden Reihe,
zogen acht schwarze Schwäne.
Woher sie die Kraft nahm, sich aufzurappeln und davonzulaufen,
konnte Lyda nicht sagen. Ihr Herz und ihr Atem rasten, sie
wußte nur halb, was sie tat, als sie sich durch die gebannt
zum Himmel starrenden Leute schob. Für den Moment achtete
niemand auf sie. Acht schwarze Schwäne. Lyda konnte keine
Furcht mehr vor ihnen empfinden. Es gab nicht mehr Furcht als in
dem Moment vor dem Tod, vor dem Nilomar…
Lyda rannte, stolperte, fiel hin, rannte weiter. Sie wußte,
daß sie fliehen mußte. Die Schwäne hatten sie
nicht gerettet, nur für den Augenblick die Meute abgelenkt.
Aber wenn man ihr auch für das Erscheinen der Schwäne die
Schuld gab… In ihren Ohren gellten noch immer die Stimmen
der Menschen. Sie war noch nicht weit genug fort.
»Die Nilomaran! Sie kommen!«
Lyda rannte. Wo war sie? Ihre Augen trafen auf Wände. Die
Mauer? Der Hof? Sie mußte stehenbleiben, um sich orientieren
zu können. Alles war fremd, auch wenn sie hier schon oft
gewesen war. Eine Holztür, die ein Stückweit offen stand.
Lyda hielt darauf zu. Sie mußte sich verstecken, einen
sicheren Ort suchen, bis sie wieder atmen und denken konnte. Hinter
der Tür waren Stimmen, aber nachdem Lyda einmal hindurch war,
konnte sie nicht wieder zurück. Sie stürzte. Um sie herum
war Stroh. Pferde.
Und zwei Frauen.
»Ich habe dir gesagt, du sollst es ruhig halten!«
»Aber es will mich immer treten!«
Lyda hielt die Luft an. Diese beiden klangen nicht böse oder
aufgebracht, aber solange man Lyda nicht bemerkte, war es besser,
jedem Ärger ganz aus dem Weg zu gehen. Die Frauen konnten kaum
mehr als Mädchen sein, und sie sprachen mit einem seltsamen,
fremdländischen Akzent. Eine von ihnen kicherte.
»Ich hau dich mit der Gerte, wenn du nicht endlich still
bist! Du machst mich ja ganz verrückt!«
»Ich mache alle Männer verrückt! Hast du nicht
gesehen, wie sie mich beim Bankett angestarrt haben?«
»Sie haben noch nie eine einzelne Frau soviel trinken
sehen.«
Die andere kicherte wieder. »Und ein paar von ihnen sahen
sogar ganz süß aus… dieser Prinz zum Beispiel!
Oh, Roveen, warum können wir nicht hierblieben?«
Lyda hörte ein Pferd unruhig schnauben und etwas, das
eindeutig wie eine Ohrfeige klang. »Darum!« fauchte die
ruhigere der beiden Frauen. »Weil sie uns einsperren
würden!«
»Oh, Roveen, sie würden uns nicht einsperren, wenn wir
lieb zu ihnen sind!«
Lyda wagte es, den Kopf zu heben und sich umzusehen. Sie war in
den Stallungen, lag bäuchlings im Stroh einer leerstehenden
Box. Als sie sich, so leise es irgendwie ging, aufrappelte, sah sie
ein Pferd, das fertig gesattelt und aufgezäumt im Gang stand
und unruhig mit den Hufen scharrte, ein zweites Pferd, einen
zweiten Sattel, und zwei leichtbekleidete junge Frauen, die mit
beidem kämpften. Sie waren fremd bei Hofe, mußten zu
einer der ausländischen Delegationen gehören, die zur
Krönung gekommen waren. Offenbar, Lyda konnte sich nicht
vorstellen warum, hatte man die beiden allein zurückgelassen.
Und soweit Lyda es beurteilen konnte, waren beide betrunken. Eine
von beiden sogar sehr.
»Hier, Roveen, guck mal hier hinten! Wenn Lorimander so was
-«
»Gaell!«
Lyda verließ, halb kriechend, halb schleichend, den
Verschlag. Niemand bemerkte sie, außer dem wartenden Pferd.
Lyda fing seinen Blick mit den Augen ein, um das Tier zu beruhigen,
während sie sich ihm leise, vorsichtig näherte. Was
angesichts der aufgebrachten Menschen versagt hatte, gelang bei dem
Pferd, und gleichzeitig sog Lyda aus diesen großen dunklen
Augen, die bereit waren, ihr bedingungslos zu vertrauen, ein
kleines bißchen Ruhe und Frieden. Die ausgelassene Hektik der
beiden Frauen hatte die Kreatur nervös gemacht, doch als Lyda
die Zügel ergriff und das Pferd mit kleinen, klappernden
Schritten zum Ausgang führte, da folgte es ihr ohne zu bocken
oder zu wiehern, und nur das Geräusch seiner Hufe auf dem
strohbedeckten Boden reichte nicht aus, um Roveen und Gaell von
ihrer eigentlichen Arbeit, dem Festzerren des Sattelgurtes,
abzulenken. Die eine Hand am Zügel, stieß Lyda mit der
anderen die Stalltür auf.
Es war lange her, seit sie zuletzt auf einem Pferd gesessen hatte
- nicht mehr, seit sie an den Hof gekommen war. Aber Muskeln und
Knochen vergaßen nur langsam, behielten Erinnerung, die der
Verstand vergeblich zu finden suchte. Einen Fuß am
Steigbügel und beide Hände am Vorderzwiesel, gelang es
Lyda, sich in den Sattel zu ziehen. Einen Moment lang erkannte sie,
daß sie mit Stroh bedeckt war, ihr Kleid zerrissen. Dann
verschwand auch dieses Bewußtsein wieder in der
Bedeutungslosigkeit. Sie spürte die Wärme, das Leben des
Pferdes unter sich, und ihre zitternden, dich an seinen Leib
gepreßten Schenkel waren ihm Befehl genug, anzutraben. Vor
sich sah sie den Weg, an dessen Ende das Tor wartete. Jetzt wollte
sie nur noch das eine: Fort von hier, so schnell wie möglich,
fort von all diesen Menschen, an einen sicheren Ort… Fast
hätte es Lyda aus dem Sattel geworfen, als das Pferd unter
ihrem harten Treiben zu galoppieren begann.
Was an ihr vorbeiflog, Häuser, Bäume, Menschen,
interessierte Lyda nicht. Sie krallte sich in den Zügeln fest,
hielt den Blick starr nach vorn gerichtet und überließ
nahezu alle Bewegungen dem Pferd. Kurz vermeinte sie ein Pfeifen in
den Ohren zu hören, als sie durch das unbewachte,
offenstehende Schloßtor galoppierte, dann war sie in der
Stadt. Wann war sie zuletzt hier gewesen? All die Jahre, in denen
sie das Schloßgelände niemals verlassen hatte…
vorbei.
Menschen wichen ihrem Ritt aus, aber sie hielt nur weiterhin
geradeaus, in der Mitte der Straße, auf das Stadttor am
anderen Ende der Ende zu. Mit wachsamer Angst trieb sie das Tier
vorwärts, und mit jedem Augenpaar, das sie vom
Straßenrand aus beobachtete, jedem, der stehenblieb und zu
ihr hinübersah, wurde die Angst größer. Stück
für Stück, Schritt für Schritt, kehrte die Furcht
zurück. Und wenn das Stadttor nun versperrt war? Oder der
Wächter sie nicht durchließ, sie festhielt, weil sie da
Pferd gestohlen hatte und zerlumpt war wie eine Diebin? Sie sah das
Tor schon von weitem, sah das Wächterhäuschen
daneben… Menschen strömten in die Stadt und wieder
hinaus, irgendwo mußte ein Markt sein - aber Lyda war anders
als sie, jeder konnte erkennen, daß sie auf der Flucht
war.
Das Tor - und hindurch. Hinter sich glaubte Lyda zu hören,
wie der Torwächter aus seinem Haus sprang, mit der Hellebarde
hinter ihr her rannte und schrie: »Haltet sie auf! Haltet die
Verräterin!« Doch sie drehte sich nicht um. Niemand
konnte sie einholen, solange sie auf diesem Pferd saß. Es war
ein prachtvolles Pferd, an das Rennen gewöhnt, wahrhaft
königlich, und auf ihm saß Lyda, ein verkrampftes,
angstvolles Bündel, eine Verräterin, seiner nicht
würdig. Dem Pferd war es gleich.
Die Stadt lag hinter ihnen. Sie waren nun auf der
Landstraße. Nach einiger Zeit fiel das Pferd von sich aus in
den Trab zurück. Lyda trieb es nicht weiter an. Langsam
begriff sie, daß sie selbst nicht wußte, wo sie war,
daß sie kein Ziel hatte, daß es keinen Ort gab, an dem
sie Zuflucht suchen konnte, außer vielleicht… Aber
Lyda wußte, daß sie nicht zu den Schwestern
zurückgehen konnte, nicht jetzt, nicht, nachdem sie das
Schweigen gebrochen, das Siegel entehrt und ein Haus ins
Unglück gestürzt hatte. Keinen Ort. Kein Ziel.
Plötzlich hob das Pferd den Kopf und wieherte. Lyda schrak
zusammen. Vor ihr, auf der Straße, näherte sich eine
Reiterin, eine dunkelhaarige Frau in einem taubenblauen Mantel.
Schnell drehte Lyda den Kopf zur Seite, versuchte, ihr Gesicht in
ihrem wirren Haar zu verbergen. Doch es war zu spät. Die
Pferde erkannten einander, und da Lyda nicht versuchte, ihrem
irgendwelche Befehle zu geben, blieb es stehen, als die
Königswitwe ihr Pferd anhalten ließ.
»Sieh mich an!« forderte Aralee. »Totenmagd, ich
weiß, daß du es bist! Sieh mich an!«
Lyda gehorchte. Durch die Haarsträhnen, die ihr direkt vor
den Augen hingen, blickte sie in ein Gesicht, das mehr besorgt als
erzürnt war. Aralee streckte die Hand aus, als wolle sie Lydas
Arm berühren, doch dann klopfte sie nur dem Pferd auf den
Hals.
»Ein gutes Tier hast du ausgesucht«, sagte sie mit
Kälte in ihrer Stimme. »Es gehört meinem
Sohn.«
Lyda wollte schnell wieder absteigen, aber die Witwe
schüttelte den Kopf. »Laß das. Bleib sitzen. Dein
Name ist Lyda, nicht wahr?«
Ängstlich und verwirrt nickte Lyda.
Aralee hob ihre Hand. »Lyda, hiermit enthebe ich dich deines
Amtes. Du sollst nicht länger königliche Totenmagd sein.
Du sollst nicht länger gezwungen sein zu schweigen, wenn deine
Worte Leben retten können. Ich entbinde dich deiner
Gelübde.«
Lyda starrte sie an. Sie wußte, daß sie erleichtert
sein sollte, doch in ihr war nichts als Entsetzen. Worte brachen
aus ihr heraus. »Das könnt Ihr nicht! Ihr könnt
nicht meine Gelübde von mir nehmen! Eine Totenmagd kann nicht
vom Stillen Kodex getrennt werden!«
»Du bist keine Totenmagd mehr«, erwiderte Aralee, und
sie lächelte, als sie es sagte. »Nicht mehr, seit du
dein Schweigen gebrochen hast. Du bist eine Dienerin in Korisanders
Haus. Du unterstehst meinem Befehl. Und ich habe eine Aufgabe
für dich.«
Lyda schüttelte den Kopf. Der Nachhall ihrer eigenen Stimme
lag immer noch seltsam und fremd in ihren Ohren.
Aralee erkannte die Ablehnung, doch sie deutete sie falsch.
»Ich verlange nicht, daß du mich zum Schloß
begleitest. Du mußt nie wieder dorthin zurückkehren. Ich
weiß, was sich dort anbahnte, als ich fortritt, und es tut
mir leid, daß du als Ersatz herhalten mußtest für
meinen Sohn und seinen Neffen, auf den es die Horden abgesehen
hatten. Sie sind übel mit dir umgesprungen.« Nun
berührte sie Lydas Gesicht, und unter der Berührung
begriff Lyda, daß dort Schürfwunden waren, blutige
Schrammen und blaue Flecken. »Es ist nur recht und billig,
daß du das Pferd meines Sohnes für deine Flucht
ausgewählt hast, Lyda.«
»Was wünscht Ihr?« fragte Lyda und hoffte, Aralee
möge ihre Hand fortnehmen und davonreiten, Lyda ihren Frieden
zurückgeben, und wenn Lyda verzweifeln mußte, dann
wollte sie das alleine tun.
»Alexander und Harold reiten nach Loringaril. Ich
wünsche, daß du sie begleitest als eine Dienerin, denn
sie sind auf sich allein gestellt und brauchen eine helfende
Hand.« Keine der beiden Frauen lächelte bei diesen
Worten, doch für einen Moment lag in ihren Augen
stillschweigendes Verstehen und so etwas wie ein Lächeln, das
keines Mundes bedurfte. »Und bring meinem Sohn sein Pferd
zurück. Das Pferd, auf dem er im Moment sitzt, ist nur ein
besseres Arbeitstier, und er weiß das.«
Lyda wollte nicken, doch dann sah sie zu Boden. »Nach
Loringaril, sagt Ihr?« flüsterte sie.
»Du bist auf der richtigen Straße. Und du kannst sie
leicht einholen. Ihre Pferde sind munter, doch sie selbst
erschöpft. Farrell wurde für die Jagd ausgebildet. Er
kann über weite Strecken rennen und wird nicht
müde.«
Aralee blickte Lyda an, als erwarte sie eine Antwort. Lyda wollte
ihr schon wortlos zustimmen. Doch dann sagte sie: »Ich bin
keine Dienerin, Aralee.« Es war ein Vorrecht der
Totenmägde, daß sie auch Könige mit Namen anreden
durften, und niemand konnte dieses Recht Lyda nehmen. Angesichts
des Todes waren alle gleich. Noch vor einer Woche hatte Lyda
versucht, dieser schluchzenden Frau Trost zu spenden. Sie wollte
keine Almosen von ihr, und keine Befehle. »Ich verstehe davon
nicht mehr als Ihr. Ich werde Eurem Sohn sein Pferd bringen. Aber
verpflichtet mich nicht zu mehr.«
»Ich kann dich dazu verpflichten, ein Schafott zu
besteigen«, sagte Aralee leise. »Du wirst meinen Sohn
begleiten, Lyda, weil ich es wünsche. Und nun beeile dich.
Verlier nicht noch mehr Zeit. Nein, warte!« Sie, die ihr
Pferd schon hatte weitergehen lassen, knüpfte ihren Umhang ab,
lehnte sich zu Lyda hinüber und legte ihn ihr um die
Schultern. »Nimm dieses mit. Dein Kleid ist
zerrissen.«
Lyda schlang das warme Tuch um sich. »Danke«, sagte
sie nur, und dann: »Warum?«
»Ich kann dich nicht als Bettlerin auf die Suche
schicken«, war Aralees Antwort. Doch es war keine Antwort auf
Lydas Frage.
Nachdem die Königswitwe in entgegengesetzter Richtung
davongeritten war, war Lyda wieder allein, und nichts hätte
sie mehr gezwungen, den Befehlen Folge zu leisten. Doch Aralee war
eine zu kluge Frau - mußte es sein, schon allein, um sich
zwischen Korisanders Kindern behaupten zu können. Lyda war nun
kein Opfer mehr, unschuldig aus ihrem vertrauten Leben gerissen,
geschlagen und vertrieben - sie war eine Täterin. Lyda hatte
das Pferd gestohlen, und was schlimmer als das wog - es gab keinen
Zweifel mehr daran, daß sie die Schuld am Geschehenen trug,
daß Alexander ihretwegen seine Krone verloren hatte, allein
und hilflos auf einem fremden Pferd unterwegs war.
Wie weit es bis Loringaril war, wußte Lyda nicht, doch sie
folgte der Straße. Zum Teil fürchtete sie sich davor,
die beiden Reiter vor sich auftauchen zu sehen, sich ihnen
offenbaren zu müssen - doch ein anderer Teil von ihr wartete
darauf mit seltsamer Sehnsucht.
Zwei Reiter auf der Straße… Doch sie ritten nicht
langsam und müde in Richtung Loringaril. Als Lyda so nah
herangekommen war, daß sie sich von verschwommenen Flecken am
Horizont in Engelsgeborene verwandelt hatten, warteten sie bereits
am Wegrand, waren abgesessen und ließen die Pferde
grasen.
»Dein Pferd, Anders! Es ist Farrell!«
Alexander, der im Gegensatz zu seinem stehenden Neffen am Boden
hockte, blickte auf. »Ich kenne mein Pferd«, sagte er
dumpf. »Ich kenne auch diesen Mantel. Aber - wer ist diese
Frau?«
Er erhob sich, schwankte für einen Moment und hielt sich dann
an den Zügeln seines Pferdes fest. Harold trat in den Weg.
Lyda hob eine Hand zum Gruße und ließ Farrell
anhalten. Sie hatte die beiden gefunden. Aber sie wußte
nicht, was sie sagen sollte.
»Sitz ab!« befahl Alexander. »Und bring mir mein
Pferd!«
Lyda gehorchte. »Ich kann alles erklären«,
versuchte sie noch zu sagen, aber der Engelsgeborene schnitt ihr
das Wort ab.
»Nicht jetzt. Ich will keine Erklärungen
hören.« Leise setzte er dann, an seinen Neffen gewandt,
hinzu: »Davon hatte ich heute schon beileibe genug.« Er
ließ sich in den Sattel helfen. Seine Hände, die in
unansehnlich schmutzigen Handschuhen steckten, schlugen
gegeneinander, als er versuchte, die Zügel aufzunehmen. Tief
durchatmend, biß der kreidebleiche Junge die Zähne
zusammen. Seine Mutter hatte Recht behalten - er war vollkommen
übermüdet, und wenn er sich das jetzt schon derart klar
ansehen ließ, mußte es wirklich schlimm um ihn
stehen.
Vorsichtig stieg Lyda auf das Pferd, mit dem Alexander gekommen
war. Die Stute tänzelte unruhig, und Schweiß stand ihr
auf den Flanken, dabei konnte sie kaum so weit und so schnell
gerannt sein wie Farrell.
»Ich erkenne dich«, sagte der Chronist. »Du bist
die Totenmagd.«
Lyda fragte sich, ob sie das abstreiten sollte - Aralees Worte
klangen immer noch in ihren Ohren. Aber dann sagte sie nur:
»Mein Name ist Lyda.«
»Also sprichst du wieder?« fragte Harold. Seine Stimme
verriet Interesse, aber keine Verwunderung.
»Sag ihr, sie soll damit aufhören!« fuhr
Alexander dazwischen. »Sie soll hinter uns herreiten. Und die
nächsten Worte, die ich hören will, sollen von einem Wirt
kommen und heißen ‘Herzlich willkommen. Ich fühle
mich geehrt ‘« - er brach ab, klapperte mit den
Zähnen. Es dauerte einen Moment, bis er an der gleichen Stelle
wieder einsetzen konnte, als sein nichts geschehen:
»’königliche Hoheiten begrüßen zu
dürfen. Ihr werdet sofort auf Eure Zimmer
gebracht.’«
Lyda nickte. Harold lächelte ihr zu und fragte:
»Schickt dich Aralee? Du trägst ihren Mantel. Wie kann
sie dir das Pferd übergeben haben, wenn sie doch erst
-«
»Das galt auch für dich!« schnappte Alexander.
»Und jetzt reitet!«
Langsam näherte sich die Sonne ihrem Niedergang, während
sie schweigend ritten. Nicht Dämmerung, aber Dunst, kalter
Abendnebel stieg auf und hüllte sie ein. Zu einer anderen
Zeit, unter anderen Umständen, hätte es vielleicht
behaglich gewirkt. Der Abend legte sich still um alle
Geräusche, dämpfte den Hufschlag der Pferde auf der
gepflasterten Straße. Die Stille kehrte nicht zu Lyda
zurück, aber eine kühle Gleichgültigkeit, die sie
ruhiger machte. Sie ließen die Pferde in einem langsameren
Schritt gehen, nicht um der Tiere selbst willen, sondern weil beide
Männer vor Erschöpfung aus dem Sattel zu fallen drohten.
Im Schritt gelang es Alexander, sich oben zu halten, aber nichts
täuschte darüber hinweg, daß sie eigentlich eine
Kutsche gebraucht hätten, oder, noch besser, Betten. Aber sie
erreichten eine Poststation, noch bevor es dunkel war.
Nach all den aufgebrachten Menschen, all dem Trubel, den sie an
diesem Tag durchgestanden hatten, nahm sich diese Gaststätte
fast wie ein ruhender Pol aus. Natürlich war die Schankstube
voller Menschen, doch diese verhielten sich friedlich und gesittet,
waren in Gespräche vertieft oder lauschten den
Erzählungen eines alten Mannes, der in einer Ecke
saß.
Lyda, von Harold mit knappen Gesten angewiesen, alles, was zur
Übernachtung nötig war, allein zu regeln, sah sich
unsicher in dem großen Raum um. Mit beiden Händen hielt
sie den Umhang zugezogen, damit niemand ihr zerrissenes Kleid
darunter sehen konnte. Hier waren Fremde, doch hier war auch
Sicherheit. Der Aufruhr war im Schloß. Er konnte noch nicht
bis hier gedrungen sein. Dann ging sie mit schnellen Schritten,
ohne sich weiter umzusehen, zum Schanktisch hin, wo ein Mann stand,
der wie ein Wirt aussah.
»Guten Abend, edle Dame«, sagte er und verneigte sich
vor ihr. »Gibt es eine Möglichkeit, wie ich Euch zu
Diensten sein kann?«
Lyda schluckte. Dies war alles so fremd für sie! Sie konnte
sich wohl denken, was die Engelsgeborenen von ihr erwarteten, aber
nicht, wie sie es anstellen sollte. Alexander und Harold waren vor
der Rebellion geflohen - wollten sie nun unerkannt bleiben, oder
verlangten sie doch königliche Behandlung? Und war es
überhaupt möglich, ihre Herkunft zu verbergen, wenn doch
ein einziger Blick in ihre Augen genügte, um den Engel in
ihnen zu erkennen? Zum ersten Mal verfluchte Lyda ihr Schweigen,
wünschte sich Worte, Worte, um den Wirt und ihre neuen Herren
zufriedenzustellen.
Der Wirt ließ das Schweigen nur einen Moment lang
existieren, dann redete er weiter: »Aber was sage ich da?
Erschöpft werdet Ihr sein, einen langen Ritt hinter Euch
haben! Ich schicke sofort meinen Jungen hinaus, damit er sich Eures
Pferdes annimmt.«
»Drei Zimmer«, sagte Lyda leise; die Worte versteckten
sich irgendwo in ihrer Brust, und nur ein Teil von ihnen kam
heraus. »Die -« Sie zögerte noch einen Moment, bis
sie Alexander und Harold mit einem Wort belegte, »- Herren
sind müde.«
»Nicht nur die Herren, möchte man meinen!« lachte
der Wirt. »Oh, nichts für ungut! Ich wollte Euch doch
nicht kränken, edle Dame. Unsere besten Zimmer sollt Ihr
bekommen, ich verspreche es Euch. Die Herren sind noch
draußen bei den Pferden, nehme ich an?«
Lyda nickte, froh, daß Reden hier offenbar nicht nötig
war.
»Ich werde mich sofort ihrer annehmen. Seid unbesorgt, meine
Dame, folgt einfach nur meinem Mädchen, es wird Euch auf Euer
Zimmer geleiten, damit Ihr Euch zu Ruhe begeben könnt - Ihr
seht erschöpft aus, wenn mir die Bemerkung gestattet ist. Oder
möchtet Ihr erst noch ein wenig essen? Einen Schluck
Wein?«
Lyda schüttelte den Kopf. Der Wirt winkte ein vielleicht
zehnjähriges Kind, das auf einem großen Tablett leere
Krüge und schmutzige Teller durch eine Hintertür tragen
wollte, zu sich hinüber und gab ihr ein paar kurze, aus mehr
Gesten als Worten bestehende Anweisungen, die selbst dabei nicht
den fröhlichen, gut aufgelegten Ton vermissen ließen.
Das Mädchen nickte mit großen Augen und offenem Mund und
dann mit einem Lächeln Lyda zu, bevor es sein Tablett auf die
Theke stellte, zu einer anderen Tür lief und Lyda die sich
dahinter befindliche Treppe hinaufwinkte.
»Wir bereiten die besten Zimmer jeden Tag neu vor«,
zwitscherte die Kleine. »Vater sagt, eines Tages wird jemand
kommen, der sie braucht und verdient hat, und da seid Ihr auch
schon!« Sie strahlte Lyda an, doch als sich ihre Blicke
kreuzten, erlosch ihr Lächeln, und sie blickte betreten zu
Boden. Lydas Blick hatte seinen Trost verloren. Und als sie kurz
danach im Bett lag - in der Hoffnung, daß dies nicht das
allerbeste Zimmer war, denn das nicht ihr zu, sondern dem jungen
Alexander - begann sie zu weinen, und weinte, bis sie eingeschlafen
war.
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