Sechstes Kapitel

Stille füllte die Kammer, friedliche Stille, in der eine geschundene Seele Trost finden konnte. Reglos zwischen Schlafen und Wachen saß Lyda an der Seite des Toten, des Fremden, der fern seiner Heimat gestorben war. Hier würde niemand um ihn weinen, nicht Trauer, sondern Entsetzen trat in die Gesichter derer, die ihn sahen. Lyda hatte ein graues Tuch über den Leichnam gebreitet, aus Rücksicht vor dem Toten, um seinen Körper nicht noch mehr neugierigen Blicken auszusetzen.
Noch bis zum Sonnenaufgang würde Lyda bei ihm sitzen, schweigen, bis seine Seele zur Ruhe gekommen war und bereit für ihren Aufstieg in den Elomar, bis sie seinen Körper dem Nilomar überantworten konnte. Lyda ließ sich durch die Leere treiben. An Tagen wie diesem brauchte und vermißte sie keinen Schlaf. Die Stille war eine willkommene Abwechslung zu den Gedanken, die sie sonst heimgesucht hätten, Versuche, die Geschehnisse der Nacht zu begreifen. In der Stille war sie allein.
Stimmen rissen sie aus ihrer Trance, laute Rufe. »Sie ist da drin!« Die Tür flog auf. »Da ist die Totenmagd!«
Die Männer standen im Eingang, und nur weil sie sich gegenseitig behinderten, war es noch keinem von ihnen gelungen, einzutreten. Lyda stand langsam auf und strich sich mit der Hand ihr Kleid glatt. Dann blickte sie in die Gesichter der Männer. Noch ein Toter in dieser Nacht? Sie sollten die Totenmagd aus der Stadt holen, wenn sie es schon für nötig hielten, sich gegenseitig zu erschlagen. Lyda konnte diese Wache nicht verlassen, bevor der nächste Morgen dämmerte. Die Männer sollten das wissen.
»Komm mit, Totenmagd, bevor wir dich an den Haaren rausschleifen müssen!«
Im nächsten Moment stolperten zwei Männer in das Zimmer, während der dritte nach hinten zurückgerissen wurde. Lyda stellte sich schützend vor den Toten. Ihre Augen schrieen Hinaus! Ihre Lippen schwiegen. Kein Frevel sollte in diesem Zimmer geschehen.
Sie schwieg noch immer, als man sie packte und in den Hof schleppte, als sie sich Hunderten von Gesichtern gegenübersah, bekannten und fremden, Hofleuten und Stadtbürgern.
»Schaut sie an! Das ist die Schuldige!« Eine harte Hand in ihrem Nacken zog Lyda in die Luft, so daß alle sie sehen konnten. Lyda erstarrte. Selbst wenn sie hätte schreien wollen, jetzt konnte sie es nicht mehr. Dies war Angst.
»So sieht eine aus, die einen Engel beleidigt!«
Lyda versuchte, sich nach innen zurückzuziehen, ihr Schweigen wiederzufinden, sich darin einzuhüllen. Sie hörte ihre Seele schreien. Ihre Lippen blieben verschlossen.
»Verräterin!«
Lyda konnte nur erraten, was diese Leute schrieen, mit was für Namen man sie belegte. Alles drang gleichzeitig in ihre Ohren, einzelne Gesichter, fremde und bekannte, erschwammen zu einem Meer aus Augen und Mündern, das um sie herumwogte, sie von allen Seiten umgab, sie festhielt, sich immer um sie drängte. Ihre Füße berührten den Boden nicht mehr, als sie vorwärts gezerrt, geschleppt, getragen, gedrängt wurde. Hunderte von Händen rissen an ihren Kleidern, ihrem Haar. Menschen, die schrieen. Menschen, die spuckten. Lyda versuchte gar nicht erst zu begreifen, warum man ihr die Schuld gab, oder woher sie es wußten. Darüber war Zeit nachzudenken, wenn dies vorüber war. Falls dies vorüber ging.
Ein Geräusch von schweren Steinen, das Lyda zu kennen glaubte, doch sie erkannte es nicht. Ein Pfeifen wie ein hohler Wind, ihr eigener Atem. Zurück! Vorsicht! Kälte! Wie gelähmt. Stimmen schrieen. Angst Schreien Augen Zähne Angstangstangstangstangst -
Plötzlich sah Lyda alles auf einmal, alles im Zusammenhang, als betrachte sie die Szenerie aus weiter Ferne, von so weit fort, wie sie sich von ihrem Körper getrennt fühlte. Sie wußte nicht, ob sie wieder die Worte, die aus einer Fremden Sprache zu kommen schienen, verstand, oder was es sonst war, daß ihr diese Gewißheit gab - aber sie begriff, daß sie an diesem Ort war, um zu sterben, und daß dieser Ort, an dem sie sterben sollte, der Nilomar war, daß man sie in die Tiefen hinabstoßen würde. Lyda starb schon vorher. Sie starb in diesem Moment und erneut in jedem weiteren, der zwischen der Erkenntnis und dem Sturz lag. Zeit streckte sich, doch die Verzögerung bracht keine Erleichterung. Je langsamer sie sich dem Unausweichlichen näherte, desto mehr wuchs Lydas Angst. Der Tod gehörte zum Leben, hatte schon immer zum Leben gehört, würde immer dazugehören - der Tod anderer Leute.
Durch die johlenden Stimmen hindurch hörte Lyda, wie der Abgrund nach ihr rief wie eine alte Freundin. Lyda hatte niemals Freunde besessen. Ein tiefes kaltes Singen, ein Dröhnen…
Die Zeit schnellte zurückdiedistanzverschwandüberigbliebnurangst-angstangstangst Komm zu mir ihr warte
Ein Schrei stieg in Lyda auf, brach sich seinen Weg durch ihren erstarrten Körper, ein verzweifelter Schrei des Todes, der die Stille ein und für alle Mal zerstören würde.
Ein Schrei gellte durch die Luft, hoch und laut und schrill, der verzweifelte Schrei des Todes. Ihm folgte ein zweiter Schrei, ein Aufschrei, aus vielen Kehlen gleichzeitig. Die Leute wichen entsetzt zurück, blickten mit Schreck nach oben, hinauf zu dem Schrei. Lydas eigenes Schreien blieb in ihrer Kehle stecken. Sie stürzte. Doch nicht in den Nilomar. Zu Boden. Sie lebte.
Über ihr, vor dem bleigrauen Himmel, in einer geraden Reihe, zogen acht schwarze Schwäne.

Woher sie die Kraft nahm, sich aufzurappeln und davonzulaufen, konnte Lyda nicht sagen. Ihr Herz und ihr Atem rasten, sie wußte nur halb, was sie tat, als sie sich durch die gebannt zum Himmel starrenden Leute schob. Für den Moment achtete niemand auf sie. Acht schwarze Schwäne. Lyda konnte keine Furcht mehr vor ihnen empfinden. Es gab nicht mehr Furcht als in dem Moment vor dem Tod, vor dem Nilomar…
Lyda rannte, stolperte, fiel hin, rannte weiter. Sie wußte, daß sie fliehen mußte. Die Schwäne hatten sie nicht gerettet, nur für den Augenblick die Meute abgelenkt. Aber wenn man ihr auch für das Erscheinen der Schwäne die Schuld gab… In ihren Ohren gellten noch immer die Stimmen der Menschen. Sie war noch nicht weit genug fort.
»Die Nilomaran! Sie kommen!«
Lyda rannte. Wo war sie? Ihre Augen trafen auf Wände. Die Mauer? Der Hof? Sie mußte stehenbleiben, um sich orientieren zu können. Alles war fremd, auch wenn sie hier schon oft gewesen war. Eine Holztür, die ein Stückweit offen stand. Lyda hielt darauf zu. Sie mußte sich verstecken, einen sicheren Ort suchen, bis sie wieder atmen und denken konnte. Hinter der Tür waren Stimmen, aber nachdem Lyda einmal hindurch war, konnte sie nicht wieder zurück. Sie stürzte. Um sie herum war Stroh. Pferde.
Und zwei Frauen.
»Ich habe dir gesagt, du sollst es ruhig halten!«
»Aber es will mich immer treten!«
Lyda hielt die Luft an. Diese beiden klangen nicht böse oder aufgebracht, aber solange man Lyda nicht bemerkte, war es besser, jedem Ärger ganz aus dem Weg zu gehen. Die Frauen konnten kaum mehr als Mädchen sein, und sie sprachen mit einem seltsamen, fremdländischen Akzent. Eine von ihnen kicherte.
»Ich hau dich mit der Gerte, wenn du nicht endlich still bist! Du machst mich ja ganz verrückt!«
»Ich mache alle Männer verrückt! Hast du nicht gesehen, wie sie mich beim Bankett angestarrt haben?«
»Sie haben noch nie eine einzelne Frau soviel trinken sehen.«
Die andere kicherte wieder. »Und ein paar von ihnen sahen sogar ganz süß aus… dieser Prinz zum Beispiel! Oh, Roveen, warum können wir nicht hierblieben?«
Lyda hörte ein Pferd unruhig schnauben und etwas, das eindeutig wie eine Ohrfeige klang. »Darum!« fauchte die ruhigere der beiden Frauen. »Weil sie uns einsperren würden!«
»Oh, Roveen, sie würden uns nicht einsperren, wenn wir lieb zu ihnen sind!«
Lyda wagte es, den Kopf zu heben und sich umzusehen. Sie war in den Stallungen, lag bäuchlings im Stroh einer leerstehenden Box. Als sie sich, so leise es irgendwie ging, aufrappelte, sah sie ein Pferd, das fertig gesattelt und aufgezäumt im Gang stand und unruhig mit den Hufen scharrte, ein zweites Pferd, einen zweiten Sattel, und zwei leichtbekleidete junge Frauen, die mit beidem kämpften. Sie waren fremd bei Hofe, mußten zu einer der ausländischen Delegationen gehören, die zur Krönung gekommen waren. Offenbar, Lyda konnte sich nicht vorstellen warum, hatte man die beiden allein zurückgelassen. Und soweit Lyda es beurteilen konnte, waren beide betrunken. Eine von beiden sogar sehr.
»Hier, Roveen, guck mal hier hinten! Wenn Lorimander so was -«
»Gaell!«
Lyda verließ, halb kriechend, halb schleichend, den Verschlag. Niemand bemerkte sie, außer dem wartenden Pferd. Lyda fing seinen Blick mit den Augen ein, um das Tier zu beruhigen, während sie sich ihm leise, vorsichtig näherte. Was angesichts der aufgebrachten Menschen versagt hatte, gelang bei dem Pferd, und gleichzeitig sog Lyda aus diesen großen dunklen Augen, die bereit waren, ihr bedingungslos zu vertrauen, ein kleines bißchen Ruhe und Frieden. Die ausgelassene Hektik der beiden Frauen hatte die Kreatur nervös gemacht, doch als Lyda die Zügel ergriff und das Pferd mit kleinen, klappernden Schritten zum Ausgang führte, da folgte es ihr ohne zu bocken oder zu wiehern, und nur das Geräusch seiner Hufe auf dem strohbedeckten Boden reichte nicht aus, um Roveen und Gaell von ihrer eigentlichen Arbeit, dem Festzerren des Sattelgurtes, abzulenken. Die eine Hand am Zügel, stieß Lyda mit der anderen die Stalltür auf.
Es war lange her, seit sie zuletzt auf einem Pferd gesessen hatte - nicht mehr, seit sie an den Hof gekommen war. Aber Muskeln und Knochen vergaßen nur langsam, behielten Erinnerung, die der Verstand vergeblich zu finden suchte. Einen Fuß am Steigbügel und beide Hände am Vorderzwiesel, gelang es Lyda, sich in den Sattel zu ziehen. Einen Moment lang erkannte sie, daß sie mit Stroh bedeckt war, ihr Kleid zerrissen. Dann verschwand auch dieses Bewußtsein wieder in der Bedeutungslosigkeit. Sie spürte die Wärme, das Leben des Pferdes unter sich, und ihre zitternden, dich an seinen Leib gepreßten Schenkel waren ihm Befehl genug, anzutraben. Vor sich sah sie den Weg, an dessen Ende das Tor wartete. Jetzt wollte sie nur noch das eine: Fort von hier, so schnell wie möglich, fort von all diesen Menschen, an einen sicheren Ort… Fast hätte es Lyda aus dem Sattel geworfen, als das Pferd unter ihrem harten Treiben zu galoppieren begann.
Was an ihr vorbeiflog, Häuser, Bäume, Menschen, interessierte Lyda nicht. Sie krallte sich in den Zügeln fest, hielt den Blick starr nach vorn gerichtet und überließ nahezu alle Bewegungen dem Pferd. Kurz vermeinte sie ein Pfeifen in den Ohren zu hören, als sie durch das unbewachte, offenstehende Schloßtor galoppierte, dann war sie in der Stadt. Wann war sie zuletzt hier gewesen? All die Jahre, in denen sie das Schloßgelände niemals verlassen hatte… vorbei.
Menschen wichen ihrem Ritt aus, aber sie hielt nur weiterhin geradeaus, in der Mitte der Straße, auf das Stadttor am anderen Ende der Ende zu. Mit wachsamer Angst trieb sie das Tier vorwärts, und mit jedem Augenpaar, das sie vom Straßenrand aus beobachtete, jedem, der stehenblieb und zu ihr hinübersah, wurde die Angst größer. Stück für Stück, Schritt für Schritt, kehrte die Furcht zurück. Und wenn das Stadttor nun versperrt war? Oder der Wächter sie nicht durchließ, sie festhielt, weil sie da Pferd gestohlen hatte und zerlumpt war wie eine Diebin? Sie sah das Tor schon von weitem, sah das Wächterhäuschen daneben… Menschen strömten in die Stadt und wieder hinaus, irgendwo mußte ein Markt sein - aber Lyda war anders als sie, jeder konnte erkennen, daß sie auf der Flucht war.
Das Tor - und hindurch. Hinter sich glaubte Lyda zu hören, wie der Torwächter aus seinem Haus sprang, mit der Hellebarde hinter ihr her rannte und schrie: »Haltet sie auf! Haltet die Verräterin!« Doch sie drehte sich nicht um. Niemand konnte sie einholen, solange sie auf diesem Pferd saß. Es war ein prachtvolles Pferd, an das Rennen gewöhnt, wahrhaft königlich, und auf ihm saß Lyda, ein verkrampftes, angstvolles Bündel, eine Verräterin, seiner nicht würdig. Dem Pferd war es gleich.
Die Stadt lag hinter ihnen. Sie waren nun auf der Landstraße. Nach einiger Zeit fiel das Pferd von sich aus in den Trab zurück. Lyda trieb es nicht weiter an. Langsam begriff sie, daß sie selbst nicht wußte, wo sie war, daß sie kein Ziel hatte, daß es keinen Ort gab, an dem sie Zuflucht suchen konnte, außer vielleicht… Aber Lyda wußte, daß sie nicht zu den Schwestern zurückgehen konnte, nicht jetzt, nicht, nachdem sie das Schweigen gebrochen, das Siegel entehrt und ein Haus ins Unglück gestürzt hatte. Keinen Ort. Kein Ziel.
Plötzlich hob das Pferd den Kopf und wieherte. Lyda schrak zusammen. Vor ihr, auf der Straße, näherte sich eine Reiterin, eine dunkelhaarige Frau in einem taubenblauen Mantel. Schnell drehte Lyda den Kopf zur Seite, versuchte, ihr Gesicht in ihrem wirren Haar zu verbergen. Doch es war zu spät. Die Pferde erkannten einander, und da Lyda nicht versuchte, ihrem irgendwelche Befehle zu geben, blieb es stehen, als die Königswitwe ihr Pferd anhalten ließ.
»Sieh mich an!« forderte Aralee. »Totenmagd, ich weiß, daß du es bist! Sieh mich an!«
Lyda gehorchte. Durch die Haarsträhnen, die ihr direkt vor den Augen hingen, blickte sie in ein Gesicht, das mehr besorgt als erzürnt war. Aralee streckte die Hand aus, als wolle sie Lydas Arm berühren, doch dann klopfte sie nur dem Pferd auf den Hals.
»Ein gutes Tier hast du ausgesucht«, sagte sie mit Kälte in ihrer Stimme. »Es gehört meinem Sohn.«
Lyda wollte schnell wieder absteigen, aber die Witwe schüttelte den Kopf. »Laß das. Bleib sitzen. Dein Name ist Lyda, nicht wahr?«
Ängstlich und verwirrt nickte Lyda.
Aralee hob ihre Hand. »Lyda, hiermit enthebe ich dich deines Amtes. Du sollst nicht länger königliche Totenmagd sein. Du sollst nicht länger gezwungen sein zu schweigen, wenn deine Worte Leben retten können. Ich entbinde dich deiner Gelübde.«
Lyda starrte sie an. Sie wußte, daß sie erleichtert sein sollte, doch in ihr war nichts als Entsetzen. Worte brachen aus ihr heraus. »Das könnt Ihr nicht! Ihr könnt nicht meine Gelübde von mir nehmen! Eine Totenmagd kann nicht vom Stillen Kodex getrennt werden!«
»Du bist keine Totenmagd mehr«, erwiderte Aralee, und sie lächelte, als sie es sagte. »Nicht mehr, seit du dein Schweigen gebrochen hast. Du bist eine Dienerin in Korisanders Haus. Du unterstehst meinem Befehl. Und ich habe eine Aufgabe für dich.«
Lyda schüttelte den Kopf. Der Nachhall ihrer eigenen Stimme lag immer noch seltsam und fremd in ihren Ohren.
Aralee erkannte die Ablehnung, doch sie deutete sie falsch. »Ich verlange nicht, daß du mich zum Schloß begleitest. Du mußt nie wieder dorthin zurückkehren. Ich weiß, was sich dort anbahnte, als ich fortritt, und es tut mir leid, daß du als Ersatz herhalten mußtest für meinen Sohn und seinen Neffen, auf den es die Horden abgesehen hatten. Sie sind übel mit dir umgesprungen.« Nun berührte sie Lydas Gesicht, und unter der Berührung begriff Lyda, daß dort Schürfwunden waren, blutige Schrammen und blaue Flecken. »Es ist nur recht und billig, daß du das Pferd meines Sohnes für deine Flucht ausgewählt hast, Lyda.«
»Was wünscht Ihr?« fragte Lyda und hoffte, Aralee möge ihre Hand fortnehmen und davonreiten, Lyda ihren Frieden zurückgeben, und wenn Lyda verzweifeln mußte, dann wollte sie das alleine tun.
»Alexander und Harold reiten nach Loringaril. Ich wünsche, daß du sie begleitest als eine Dienerin, denn sie sind auf sich allein gestellt und brauchen eine helfende Hand.« Keine der beiden Frauen lächelte bei diesen Worten, doch für einen Moment lag in ihren Augen stillschweigendes Verstehen und so etwas wie ein Lächeln, das keines Mundes bedurfte. »Und bring meinem Sohn sein Pferd zurück. Das Pferd, auf dem er im Moment sitzt, ist nur ein besseres Arbeitstier, und er weiß das.«
Lyda wollte nicken, doch dann sah sie zu Boden. »Nach Loringaril, sagt Ihr?« flüsterte sie.
»Du bist auf der richtigen Straße. Und du kannst sie leicht einholen. Ihre Pferde sind munter, doch sie selbst erschöpft. Farrell wurde für die Jagd ausgebildet. Er kann über weite Strecken rennen und wird nicht müde.«
Aralee blickte Lyda an, als erwarte sie eine Antwort. Lyda wollte ihr schon wortlos zustimmen. Doch dann sagte sie: »Ich bin keine Dienerin, Aralee.« Es war ein Vorrecht der Totenmägde, daß sie auch Könige mit Namen anreden durften, und niemand konnte dieses Recht Lyda nehmen. Angesichts des Todes waren alle gleich. Noch vor einer Woche hatte Lyda versucht, dieser schluchzenden Frau Trost zu spenden. Sie wollte keine Almosen von ihr, und keine Befehle. »Ich verstehe davon nicht mehr als Ihr. Ich werde Eurem Sohn sein Pferd bringen. Aber verpflichtet mich nicht zu mehr.«
»Ich kann dich dazu verpflichten, ein Schafott zu besteigen«, sagte Aralee leise. »Du wirst meinen Sohn begleiten, Lyda, weil ich es wünsche. Und nun beeile dich. Verlier nicht noch mehr Zeit. Nein, warte!« Sie, die ihr Pferd schon hatte weitergehen lassen, knüpfte ihren Umhang ab, lehnte sich zu Lyda hinüber und legte ihn ihr um die Schultern. »Nimm dieses mit. Dein Kleid ist zerrissen.«
Lyda schlang das warme Tuch um sich. »Danke«, sagte sie nur, und dann: »Warum?«
»Ich kann dich nicht als Bettlerin auf die Suche schicken«, war Aralees Antwort. Doch es war keine Antwort auf Lydas Frage.

Nachdem die Königswitwe in entgegengesetzter Richtung davongeritten war, war Lyda wieder allein, und nichts hätte sie mehr gezwungen, den Befehlen Folge zu leisten. Doch Aralee war eine zu kluge Frau - mußte es sein, schon allein, um sich zwischen Korisanders Kindern behaupten zu können. Lyda war nun kein Opfer mehr, unschuldig aus ihrem vertrauten Leben gerissen, geschlagen und vertrieben - sie war eine Täterin. Lyda hatte das Pferd gestohlen, und was schlimmer als das wog - es gab keinen Zweifel mehr daran, daß sie die Schuld am Geschehenen trug, daß Alexander ihretwegen seine Krone verloren hatte, allein und hilflos auf einem fremden Pferd unterwegs war.
Wie weit es bis Loringaril war, wußte Lyda nicht, doch sie folgte der Straße. Zum Teil fürchtete sie sich davor, die beiden Reiter vor sich auftauchen zu sehen, sich ihnen offenbaren zu müssen - doch ein anderer Teil von ihr wartete darauf mit seltsamer Sehnsucht.
Zwei Reiter auf der Straße… Doch sie ritten nicht langsam und müde in Richtung Loringaril. Als Lyda so nah herangekommen war, daß sie sich von verschwommenen Flecken am Horizont in Engelsgeborene verwandelt hatten, warteten sie bereits am Wegrand, waren abgesessen und ließen die Pferde grasen.
»Dein Pferd, Anders! Es ist Farrell!«
Alexander, der im Gegensatz zu seinem stehenden Neffen am Boden hockte, blickte auf. »Ich kenne mein Pferd«, sagte er dumpf. »Ich kenne auch diesen Mantel. Aber - wer ist diese Frau?«
Er erhob sich, schwankte für einen Moment und hielt sich dann an den Zügeln seines Pferdes fest. Harold trat in den Weg.
Lyda hob eine Hand zum Gruße und ließ Farrell anhalten. Sie hatte die beiden gefunden. Aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Sitz ab!« befahl Alexander. »Und bring mir mein Pferd!«
Lyda gehorchte. »Ich kann alles erklären«, versuchte sie noch zu sagen, aber der Engelsgeborene schnitt ihr das Wort ab.
»Nicht jetzt. Ich will keine Erklärungen hören.« Leise setzte er dann, an seinen Neffen gewandt, hinzu: »Davon hatte ich heute schon beileibe genug.« Er ließ sich in den Sattel helfen. Seine Hände, die in unansehnlich schmutzigen Handschuhen steckten, schlugen gegeneinander, als er versuchte, die Zügel aufzunehmen. Tief durchatmend, biß der kreidebleiche Junge die Zähne zusammen. Seine Mutter hatte Recht behalten - er war vollkommen übermüdet, und wenn er sich das jetzt schon derart klar ansehen ließ, mußte es wirklich schlimm um ihn stehen.
Vorsichtig stieg Lyda auf das Pferd, mit dem Alexander gekommen war. Die Stute tänzelte unruhig, und Schweiß stand ihr auf den Flanken, dabei konnte sie kaum so weit und so schnell gerannt sein wie Farrell.
»Ich erkenne dich«, sagte der Chronist. »Du bist die Totenmagd.«
Lyda fragte sich, ob sie das abstreiten sollte - Aralees Worte klangen immer noch in ihren Ohren. Aber dann sagte sie nur: »Mein Name ist Lyda.«
»Also sprichst du wieder?« fragte Harold. Seine Stimme verriet Interesse, aber keine Verwunderung.
»Sag ihr, sie soll damit aufhören!« fuhr Alexander dazwischen. »Sie soll hinter uns herreiten. Und die nächsten Worte, die ich hören will, sollen von einem Wirt kommen und heißen ‘Herzlich willkommen. Ich fühle mich geehrt ‘« - er brach ab, klapperte mit den Zähnen. Es dauerte einen Moment, bis er an der gleichen Stelle wieder einsetzen konnte, als sein nichts geschehen: »’königliche Hoheiten begrüßen zu dürfen. Ihr werdet sofort auf Eure Zimmer gebracht.’«
Lyda nickte. Harold lächelte ihr zu und fragte: »Schickt dich Aralee? Du trägst ihren Mantel. Wie kann sie dir das Pferd übergeben haben, wenn sie doch erst -«
»Das galt auch für dich!« schnappte Alexander. »Und jetzt reitet!«
Langsam näherte sich die Sonne ihrem Niedergang, während sie schweigend ritten. Nicht Dämmerung, aber Dunst, kalter Abendnebel stieg auf und hüllte sie ein. Zu einer anderen Zeit, unter anderen Umständen, hätte es vielleicht behaglich gewirkt. Der Abend legte sich still um alle Geräusche, dämpfte den Hufschlag der Pferde auf der gepflasterten Straße. Die Stille kehrte nicht zu Lyda zurück, aber eine kühle Gleichgültigkeit, die sie ruhiger machte. Sie ließen die Pferde in einem langsameren Schritt gehen, nicht um der Tiere selbst willen, sondern weil beide Männer vor Erschöpfung aus dem Sattel zu fallen drohten. Im Schritt gelang es Alexander, sich oben zu halten, aber nichts täuschte darüber hinweg, daß sie eigentlich eine Kutsche gebraucht hätten, oder, noch besser, Betten. Aber sie erreichten eine Poststation, noch bevor es dunkel war.
Nach all den aufgebrachten Menschen, all dem Trubel, den sie an diesem Tag durchgestanden hatten, nahm sich diese Gaststätte fast wie ein ruhender Pol aus. Natürlich war die Schankstube voller Menschen, doch diese verhielten sich friedlich und gesittet, waren in Gespräche vertieft oder lauschten den Erzählungen eines alten Mannes, der in einer Ecke saß.
Lyda, von Harold mit knappen Gesten angewiesen, alles, was zur Übernachtung nötig war, allein zu regeln, sah sich unsicher in dem großen Raum um. Mit beiden Händen hielt sie den Umhang zugezogen, damit niemand ihr zerrissenes Kleid darunter sehen konnte. Hier waren Fremde, doch hier war auch Sicherheit. Der Aufruhr war im Schloß. Er konnte noch nicht bis hier gedrungen sein. Dann ging sie mit schnellen Schritten, ohne sich weiter umzusehen, zum Schanktisch hin, wo ein Mann stand, der wie ein Wirt aussah.
»Guten Abend, edle Dame«, sagte er und verneigte sich vor ihr. »Gibt es eine Möglichkeit, wie ich Euch zu Diensten sein kann?«
Lyda schluckte. Dies war alles so fremd für sie! Sie konnte sich wohl denken, was die Engelsgeborenen von ihr erwarteten, aber nicht, wie sie es anstellen sollte. Alexander und Harold waren vor der Rebellion geflohen - wollten sie nun unerkannt bleiben, oder verlangten sie doch königliche Behandlung? Und war es überhaupt möglich, ihre Herkunft zu verbergen, wenn doch ein einziger Blick in ihre Augen genügte, um den Engel in ihnen zu erkennen? Zum ersten Mal verfluchte Lyda ihr Schweigen, wünschte sich Worte, Worte, um den Wirt und ihre neuen Herren zufriedenzustellen.
Der Wirt ließ das Schweigen nur einen Moment lang existieren, dann redete er weiter: »Aber was sage ich da? Erschöpft werdet Ihr sein, einen langen Ritt hinter Euch haben! Ich schicke sofort meinen Jungen hinaus, damit er sich Eures Pferdes annimmt.«
»Drei Zimmer«, sagte Lyda leise; die Worte versteckten sich irgendwo in ihrer Brust, und nur ein Teil von ihnen kam heraus. »Die -« Sie zögerte noch einen Moment, bis sie Alexander und Harold mit einem Wort belegte, »- Herren sind müde.«
»Nicht nur die Herren, möchte man meinen!« lachte der Wirt. »Oh, nichts für ungut! Ich wollte Euch doch nicht kränken, edle Dame. Unsere besten Zimmer sollt Ihr bekommen, ich verspreche es Euch. Die Herren sind noch draußen bei den Pferden, nehme ich an?«
Lyda nickte, froh, daß Reden hier offenbar nicht nötig war.
»Ich werde mich sofort ihrer annehmen. Seid unbesorgt, meine Dame, folgt einfach nur meinem Mädchen, es wird Euch auf Euer Zimmer geleiten, damit Ihr Euch zu Ruhe begeben könnt - Ihr seht erschöpft aus, wenn mir die Bemerkung gestattet ist. Oder möchtet Ihr erst noch ein wenig essen? Einen Schluck Wein?«
Lyda schüttelte den Kopf. Der Wirt winkte ein vielleicht zehnjähriges Kind, das auf einem großen Tablett leere Krüge und schmutzige Teller durch eine Hintertür tragen wollte, zu sich hinüber und gab ihr ein paar kurze, aus mehr Gesten als Worten bestehende Anweisungen, die selbst dabei nicht den fröhlichen, gut aufgelegten Ton vermissen ließen. Das Mädchen nickte mit großen Augen und offenem Mund und dann mit einem Lächeln Lyda zu, bevor es sein Tablett auf die Theke stellte, zu einer anderen Tür lief und Lyda die sich dahinter befindliche Treppe hinaufwinkte.
»Wir bereiten die besten Zimmer jeden Tag neu vor«, zwitscherte die Kleine. »Vater sagt, eines Tages wird jemand kommen, der sie braucht und verdient hat, und da seid Ihr auch schon!« Sie strahlte Lyda an, doch als sich ihre Blicke kreuzten, erlosch ihr Lächeln, und sie blickte betreten zu Boden. Lydas Blick hatte seinen Trost verloren. Und als sie kurz danach im Bett lag - in der Hoffnung, daß dies nicht das allerbeste Zimmer war, denn das nicht ihr zu, sondern dem jungen Alexander - begann sie zu weinen, und weinte, bis sie eingeschlafen war.

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