Alexander erwachte aus traumlosem Schlaf, an den ihm jede
Erinnerung fehlte, und fühlte sich seltsam. Die Nacht war
verschwunden, kaum, daß er die Augen aufschlug - als
hätte es sie niemals gegeben. Ohne den Kopf zu heben, sah er
das Licht, das durch die Fensterläden fiel, und wunderte sich,
wie er bei dem seltsamen Geruch des Bettes überhaupt hatte
schlafen können. Die Kissen rochen seltsam, irgendwie holzig.
Sicher hätte Halan es genauer sagen können, aber
Alexander war es eigentlich egal. Es änderte nichts daran, was
dies für ein Ort war, warum er hier war, was geschehen. Je
mehr Alexander versuchte, nicht daran zu denken, desto schneller
kehrte die Erinnerung zurück, und er begriff, daß er
aufstehen mußte, sich wieder bewegen, so schnell es ging,
sonst würde er hier noch den Verstand verlieren. Er stand
auf.
Er wollte aufstehen. Er konnte es nicht. Ein Schmerz, der von oben
bis unten drang, bohrte sich durch seinen Brustkorb, und
plötzlich war jeder Atemzug mit Schmerzen verbunden. Alexander
schnappt nach Luft und versuchte, den Kopf zu heben. Seine
Brust… Aus seiner Brust ragte der Griff des
Schwanenhalsdolches. Seine Klinge war tief in Alexanders Herz
gerammt.
Alexander starrte auf den Dolch. Wo kam er her? Seit wann war er
da? Alexander fragte nicht, aus Angst, eine Antwort zu bekommen. Er
nahm seinen Willen zusammen, zwang ihn in seine Hände, zwang
seinen Arm, sich zu heben. Es gab nur eines, was er tun konnte, um
sich zu retten und aus diesem Albtraum herauszukommen. Mit
äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, seine Finger
um den Griff zu legen, zuzupacken…
Als sich seine Finger in seine Handflächen bohrten, als er
merkte, daß er das Nichts umklammert hielt, wachte Alexander
auf. Er war allein. Es war Nacht. Alexander hatte Angst davor,
wieder einzuschlafen, aber er war er zu müde, um etwas anderes
zu tun, und diese Dunkelheit war kaum besser als die Träume,
die an ihrem anderen Ende warten mochten.
Als die Sonne aufging, erwachte Alexander zum zweiten Mal, diesmal
ohne einen Dolch in seiner Brust, aber dafür mit dem
Gefühl, als sei in der Nacht eine Kutsche über ihn und
sein Bett hinweggerollt, oder sogar mehrere. Aber hier gab es
niemanden, der ihn massieren konnte, wenn sein Knochen schmerzten,
und für das heiße Bad, nach dem jede Faser in Alexanders
Körper schrie, war keine Zeit. Sie mußten weiter.
Alexander sprang aus dem Bett, bevor er wieder mit der
Grübelei anfangen konnte, und begann, mehr schlecht als recht,
sich eilig anzuziehen. Jede Bewegung tat weh, aber das war nichts
im Vergleich dazu, einen Dolch in seiner Brust zu finden. Es gelang
ihm nicht, die Knöpfe seines Untergewandes zu schließen,
also warf er sich nur das Oberkleid über und lief in den Flur,
um Halan zu sehen. Aber der war, wie sich herausstellte, bereits
auf den Beinen und angezogen. Es ärgerte Alexander. Er hatte
der erste sein wollen, Halan möglichst unsanft aus dem Schlaf
reißen. Sofort verschlechterte sich Alexanders Laune.
»Und?« fragte er. »Sind die Pferde schon
gesattelt?«
Halan nickte. »Ich habe gerade dem Stallburschen
-«
»Und etwas zu essen für uns?«
Wieder nickte Halan. »Ich weiß zwar nicht, was man uns
vorsetzen wird, aber -«
Jetzt riß Alexander die Geduld. »Aber an mein Bad hast
du nicht gedacht!« schrie er.
Halan erzitterte. Alexander wußte, daß sein Neffe
gleich anfangen würde zu heulen, doch davon fühlte er
sich auch nicht besser. Aber zumindest hatte Halan - der perfekte,
umsichtige Halan - noch nicht veranlaßt, daß ein
Badezuber für Alexander angerichtet wurde.
Halan schluckte. Dann sagte er kalt: »Ich habe es in
Betracht gezogen. Aber ich hielt es für angebrachter, so wenig
Aufsehen wie möglich zu erregen, und so früh wie
möglich aufzubrechen.« Er strahlte eine Mauer aus Leere
ab, an der Alexanders Zorn verschluckt wurde und verschwand. Die
schlechte Laune blieb.
Alexander sagte nicht »Danke«, und er entschuldigte
sich nicht. Er fragte nur: »Und diese Frau?«
»Ich habe an ihre Tür geklopft«, erwiderte Halan,
»und ihr gesagt, sie soll aufstehen und sich bereit
machen.«
»Und wann war das?«
»Bevor ich mit dem Küchenmädchen gesprochen
habe.«
»Hat sie etwas gesagt?«
»Die Totenmagd?«
»Natürlich die Totenmagd. Wer sonst - meine
Mutter?«
Halan schüttelte den Kopf. Alexander sah ihn vor sich,
zaghaft klopfend, schüchtern flüsternd. Wahrscheinlich
war die Frau nicht einmal aufgewacht.
»Welches Zimmer?« fragte er. Halan deutete auf eine
Tür am Ende des Ganges. Dahinter war nichts zu hören,
kein Schnarchen, keine Schritte. Mit der flachen Hand schlug
Alexander gegen das Holz, dreimal, viermal, fünfmal, bis seine
Knochen schmerzten und die Wunden pochten. Kurz - sehr kurz - kam
ihm in den Sinn, daß seine Hände sich entzünden
würden, wenn er sie nicht heilen ließ, aber im Grunde
seines Herzens wußte er, daß er nicht zulassen durfte,
daß die Male verschwanden. Sie waren jetzt ein Teil von ihm,
das letzte, was ihn noch an Koris erinnerte. Aber Halan sah es im
gleichen Moment, rief: »Anders, deine Hände!« -
und das ließ wieder Wut in Alexander aufschäumen.
»Steh auf da drinnen!« rief er, so laut, daß
wirklich jeder auf dem Gang davon aufwachen mußte, aber
über die Folgen konnte er sich hinterher immer noch Gedanken
machen. »Steh auf und beeil dich, wir haben keine Zeit zu
verlieren!«
Als er sich jetzt zu Halan umdrehte, brachte er es sogar fertig zu
lächeln. »Sie ist selbst schuld, wenn ihr heute keine
Zeit mehr zum Frühstücken bleibt. Ich persönlich
werde jetzt etwas essen, nachdem du so gut warst, alles Nötige
in die Wege zu leiten.« Jetzt, wo er einen Sündenbock
hatte, konnte auch endlich Halan sein verdientes Lob bekommen.
Halan sah hin an und hob kurz die Augenbrauen. Leise fragte er:
»Du willst hinuntergehen? So?«
»Du bist auch nicht geschminkt«, erwiderte
Alexander.
»Nein, aber ich habe zumindest alle meine Kleider
an.«
Alexander ohrfeigte ihn, aber Halan verzog keine Miene und fragte
nur mit einer Stimme, die kaum über einem Flüstern lag:
»Wäre dir nicht besser damit gedient, dir von mir helfen
zu lassen?«
Etwas war in seiner Stimme, das Alexander beschämte, ein
seltsames Gefühl, und eines der unangenehmsten, nur dann zu
ertragen, wenn man es durch andere spüren konnte und mit der
eigenen Schadenfreude mischen. Er fühlte sich erröten. Er
suchte seinen Zorn. Wie konnte Halan es wagen, so mit ihm zu reden?
Wie konnte Halan es wagen, ihn so zu demütigen?
»Es tut mir leid«, murmelte er. Das seltsame
Gefühl blieb, und das Wissen, daß Halan einen Moment
lang wie Koris ausgesehen hatte, wie der Mann, dessen Sohn er war
und der ihm doch so wenig vererbt hatte. Alexander wunderte sich
über sich selbst, als er sich sagen hörte: »Es tut
mir leid, daß du deinen Vater verloren hast.«
Halan war wieder Halan: Er zerstörte alles. Immer, wenn
Alexander fast begonnen hätte, ihn zu lieben, mußte
Halan alles kaputtmachen. »Ich hatte nie einen Vater«,
sagte er kalt. »Ich hatte einmal eine Mutter, aber das ist
lange her.« Dann erkannte er, was er gesagt hatte - Schatten
huschten über sein Gesicht - aber es war schon zu spät.
»Es tut mir leid«, versuchte Halan die Lage noch zu
retten. »Ich weiß, er war wie ein Vater für
dich.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Er war niemals mein
Vater.« Es gab kein Wort für das, was Koris ihm gewesen
war, außer vielleicht dem einen, das so allgemein klang und
doch alles sagte: Bruder. Zwei von einem Blute, aus einer
Generation, gesegnet mit einer Gabe: Zwei Herzen, die wie eines
waren. Brüder.
Alexander drehte sich um und rannte die steile Treppe hinunter,
ganz gleich, ob er nun fertig angezogen war oder nur Hosen und
Oberkleid anhatte. Vielleicht würde ihn etwas zu essen davon
abhalten, wie ein kleines Kind loszuplärren. Seine
Gefühle waren wieder an Koris’ Bett, hielten seinen
Bruder, versuchten, ihn zurückzuziehen, als er…
verschwand. Er hörte wieder Koris’ Worte: »Anders,
du mußt loslassen! Ich kann dich auf die andere Seite nicht
mitnehmen!«
Alexander hob eine Schale mit warmer Milch mit beiden Händen
hoch, vergrub sein Gesicht darin. Niemand durfte jetzt seine Augen
sehen. Er hatte nicht losgelassen an jenem Tag.
Und Koris hatte ein Stück von ihm mitgenommen.
Über den Rand seiner Milchschale hinweg beäugte
Alexander das seltsame Frühstück vor ihm auf dem Tisch.
Er aß morgens selten viel, vor allem keine kleinen fettigen
Küchlein mit Mandeln und Zucker, die aussahen, als müssen
sie im Halse steckenbleiben. Aber er hatte Hunger, und er
mußte nehmen, was es gab. Sie waren als hohe Herren
abgestiegen, und als solche wurden sie nun verköstigt. Mit
kleinen Bissen aß Alexander der Kuchen, der sogleich wie ein
Stein in seinem Magen lag, und versuchte, ihn mit noch etwas Milch
hinunterzuspülen. Danach war ihm der Appetit vergangen, auch
wenn er noch einige Zeit reglos am Tisch saß und auf die Vase
mit Blümchen starrte, welche die Tochter des Wirtes eilig
gepflückt hatte. Soviel Aufmerksamkeit - das beste Zimmer,
Kuchen, Blumen… Niemand hatte etwas gesagt, aber diese Leute
wußten, wen sie beherbergten. Noch war die Schankstube
menschenleer, aber an diesem Abend würden alle darüber
reden, daß Engelsgeborene diesem Ort einen Besuch abgestattet
hatten, und von hier aus die Worte in allen Richtungen
verbreiten.
Er blickte auf und sah Halan, der wie er hinter einem leeren
Teller saß. »Sollte diese Frau nicht allmählich
fertig sein?« fragte er. Halan antwortete nicht, blickte nur
leer geradeaus.
»Warum hat Aralee sie uns geschickt?«
»Vielleicht dachte sie, daß wir eine Dienerin
brauchen«, erwiderte Halan, doch er klang, als glaube er es
selbst nicht ganz.
Alexander lachte. »Von einer Totenmagd bedient werden,
vielen Dank! Ich wollte mein Leben eigentlich noch ein wenig
behalten.« Er lachte wieder und wußte doch, daß
es falsch war. »Vielleicht soll sie uns für Aralee
ausspionieren, wer weiß? Aber es ist gut, daß sie bei
uns ist. Sie hat eine Schuld vor mir, und ich werde dafür
sorgen, daß sie beglichen wird.« Er schob seinen Stuhl
zurück und stand auf. »Kommst du mit?«
Als er den Tischen den Rücken zukehrte und zur Treppe
hinüberging, sah er noch aus den Augenwinkeln, wie das kleine
Mädchen aus der Küche gelaufen kam, um abzuräumen.
Er blieb stehen und beobachtete sie, mußte unwillkürlich
lächeln, als sie voller Ehrfurcht die Schale hob, aus der er
getrunken hatte, und vorsichtig mit dem Finger die Stelle
berührte, an der die Lasur seinen Lippen begegnet war. Die
Kleine wußte, wer er war, kein Zweifel. Der Tag, an dem man
diese Schale wieder ausspülen würde, war der Tag, der das
Ende der Engelsgeborenen einläutete. Das Volk brauchte seine
Heiligtümer. Er mußte an das kleine Mädchen denken,
das bei der Krönung für ihn getanzt hatte - wie lange lag
das zurück? Einen Tag, zwei Tage, Jahre - und sein
Lächeln erstarb.
Er öffnete die Tür, stieg die Treppe hinauf, seine
Schritte wurden immer schneller, den Gang hinunter rannte er fast,
bis er dann vor dem Zimmer der Totenmagd einen Augenblick reglos
stehenblieb und durchatmete. Dann packte er den Türknauf,
drehte ihn, wartete noch einen Augenblick, aber drinnen rührte
sich immer noch nichts, und stieß die Tür dann auf.
»Ich hatte gesagt, du sollst dich bereit machen!«
bellte er. »Ich bin daran gewöhnt, daß meine
Befehle befolgt werden.«
Die Totenmagd stand am offenen Fenster, reglos. Das graue Haar
saß ihr nicht, wie sonst, in einem Knoten auf dem Hinterkopf,
sondern hing als glatter Zopf ihren Rücken hinunter. Nach
unten hin wurde das Haar immer dünner, wie ein armselig
versiegendes Rinnsal. Als Alexander ich Betrachtung verharrte,
merkte er plötzlich, daß er nicht gesprochen hatte. Die
Worte waren auf seiner Zunge, als er das Zimmer betrat, in seinem
Kopf, er konnte ihren Klang in sich spüren und ihren Geschmack
in seinem Mund - aber er wußte, daß er sie nicht
ausgesprochen hatte. Ein seltsames Schweigen ging von dieser Frau
aus, eine Ruhe, die ihm kalt werden ließ.
»Was geht hier vor?« fragte er heiser. Mit leisen
Worten war es leichter, die Stille zu durchbrechen, als mit
Gebrüll. Diese Frau spürte Stille, und durch sie
konnte auch Alexander sie fühlen. Sie hatte schon einmal so
etwas getan, an Koris’ Sterbebett, aber da hatte Alexander
nicht so sehr darauf geachtet, oder es war ihm nicht aufgefallen.
»Was geht hier vor?« fragte er noch einmal, um sicher
zu gehen, daß er auch wirklich sprach.
Die Totenmagd antwortete nicht, fuhr nur damit fort, wortlos aus
dem Fenster zu schauen. Sie hielt beide Hände auf die
Fensterbank gestützt und rührte sich nicht. Alexander
trat zwei Schritte weiter ins Zimmer hinein und fühlte, wie
die Stille drückender wurde. Endlich begriff er, daß es
nur seine Gabe war, die auf seltsame Weise auf diese schweigende
Frau reagierte, und er brachte sich wieder unter Kontrolle. Indem
er hinter die Totenmagd trat, richtete auch er seinen Blick nach
draußen, hinaus zur aufgehenden Sonne, die fast schon zu
blenden begonnen hatte. Erfrischend duftende und noch klirrend
kalte Morgenluft schlug ihm entgegen, und er fröstelte,
erinnerte sich kurz daran, daß er nicht richtig angezogen
war.
»Was ist das?« ragte er leise.
Sie wandte ihren Kopf, ihr Gesicht nah an seinem, und Alexander
trat schnell einen Schritt zurück, um ihr nicht zu nahe zu
kommen, sie nicht versehentlich zu berühren. Diesmal war er
auf ihre Augen vorbereitet, und doch irritierten sie ihn.
»Sie fliegen wieder«, sagte sie leise.
Alexander schüttelte den Kopf. »Was?«
»Ich habe sie fliegen sehen, gestern, und gerade
wieder.«
Alexander folgte ihrem Blick aus dem Fenster, über den
Himmel, doch der war leer, bis auf ein paar fedrige graue Wolken.
»Wer fliegt?« fragte Alexander noch einmal, und kam
sich sehr dumm vor.
»Die Nilomaran«, erwiderte die Totenmagd.
»Unsinn!« stieß Alexander hervor, ein gutes,
lautes Wort, das seltsam hart in der Luft zu hängen schien,
ehe es verblaßte. »Es gibt keine Nilomaran! Und du
solltest das wissen, Totenmagd!«
Er trat noch einen weiteren Schritt zurück, von ihr fort, und
blickte an ihr hinunter. Ihr Kleid war zerrissen, oben am Hals, am
Arm, an der Schulter… Alexander kniff die Augen zusammen und
nickte. Er war in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen -
er mußte nicht fragen, und doch tat er es. »Warum gehst
du in Lumpen? Willst du mein Auge beleidigen?«
Sie antwortete nicht, trat nur wortlos zum Bett hin und nahm
Aralees Umhang, der dort lag, auf, legte ihn sich um die Schultern
und zog ihn zusammen.
Alexander schüttelte den Kopf. So konnte es nicht gehen. Erst
trat Halan in Opposition, widersetzte sich ihm, wo immer es ging,
und nun machte auch die Totenmagd keine Anstalten, auch nur mit ihm
zusammenzuarbeiten, geschweige denn ihm zu gehorchen. Er
wußte nicht, wofür er die beiden brauchen sollte, nur,
daß er sie nicht verlieren durfte. Sie waren alles, was er
noch hatte, und das war armselig.
Tief durchatmend, straffte Alexander seinen schmerzenden
Rücken. »Es ist Zeit, daß wir aufbrechen«,
sagte er. »Es steht dir frei, uns zu begleiten, wenn nicht,
werden wir dein Pferd als Packpferd mit uns führen. Solltest
du dich entschließen, uns zu begleiten, wirst du die Aufgaben
einer Dienerin übernehmen. Ich habe keinen Bedarf für
eine Totenmagd, und ich habe im Moment andere Sorgen, als daß
ich Interesse hätte, mich barmherzig zu zeigen.« Seine
Stimme klang kälter, als er sie kannte, doch gerade das gefiel
ihm, es machte ihn erwachsener. »Wie dem auch sei, du hast
eine Schuld mir gegenüber, die wiedergutzumachen du
außer Stande bist, und wenn es dir zehnmal gelingen sollte,
mir meine Krone zurückzugeben.« Während er redete,
kehrte langsam seine Wut zurück, kam wieder Klang in seine
Worte. Mit geschmeidigen, bemessenen Schritten ging er zur
Tür, blieb dort noch einmal stehen, um die Totenmagd ein
letztes Mal anzublicken, ihr zuzunicken, und dann hinunterzugehen
zu den Pferden.
Während sie ritten, überwog der Drang zu schweigen,
obwohl Alexander seine Gefühle gegen die der Totenmagd - und,
was noch sehr viel sinnvoller war, gegen die der Pferde -
abgeschirmt hatte. Diesmal war er es, der nicht reden wollte. Mit
Halan wollte er nicht sprechen, und wenn die Totenmagd vielleicht
Interessantes zu berichten hatte, hielt er es für besser,
manche Dinge nicht zu wissen.
Außerdem - aber er wäre lieber gestorben, als das
einzugestehen - war das Reiten zu anstrengend, als daß er
Kraft zum Unterhalten gefunden hätte. Er war seit jeher ein
guter Reiter - ein Punkt in seiner Erziehung, auf den Koris
großen Wert gelegt hatte, denn es war vor allem wichtig,
daß ein Engelsgeborener eine gute Figur machte - aber nun
schmerzten seine Knie und Schenkel beim Leichttraben, und wenn er
auszusitzen versuchte, schüttelte es ihn durch und durch, bis
er glaubte, nie wieder sitzen zu können, und die Zügel
scheuerten fortwährend an seinen kaputten Händen.
Alexander biß die Zähne zusammen, während er ritt,
und sein einziger Trost war, daß die Totenmagd eine
erbärmliche Reiterin war und er selbst zumindest Farrell
wiederhatte, seinen geliebten Rappen, den ihm Koris zum
zwölften Geburtstag geschenkt hatte.
Sie würden diese Geschwindigkeit nicht lange halten
können. Um die Beziehungen zwischen Koristan und Loringaril
stand es nicht zum Besten, und das spiegelte sich wieder in der
Straße, welche de beiden Hauptstädte verband. Es gab das
Straßennetz schon lange, vielleicht war es sogar älter
als das Geschlecht der Engelsgeborenen, aber je mehr die
Beziehungen zwischen den Kindern Korisanders und Lorimanders zu
bröckeln begann, desto weniger Aufwand wurde um den Erhalt der
Straße betrieben. Nun war sie voller Schlaglöcher, und
vermutlich hätte man sie schneller neu angelegt, als alle
schadhaften Stellen auszubessern, alle holprigen, hervorstehenden
Pflastersteine geradezurichten. Bei dem Versuch, hier zu
galoppieren, hätten sich die Pferde sicher die Beine gebrochen
- aber Alexander wußte, daß kein Pferd freiwillig auf
einer Straße wie dieser galoppiert wäre, und Koris hatte
ihn gelehrt, niemals ein Pferd dazu zu bringen, sich gegen seinen
Willen in Gefahr zu begeben. Selbst der weiseste Engelsgeborene
war, was den Gefahrensinn betraf, einem Pferd weit unterlegen.
Alexander spürte, wie die Trauer zurückkam mit der
Sehnsucht, wie sehr er seinen Bruder vermißte - mit jedem Tag
fehlte Koris ihm mehr, fielen ihm mehr kleine Dinge ein, die sie
zusammen getan hatten.
Wußte Koris um den Zustand der Landstraße? Es
wäre doch seine Aufgabe gewesen, sie instandzuhalten! Und
andere Könige vor ihm mußten sie doch gewartet haben,
sonst wäre über die Jahre kaum mehr als ein Feldweg von
ihr übriggeblieben. Schatten von Zweifeln trübten
Alexanders Erinnerung, und er bemühte sich, nicht Halans Blick
zu begegnen. Halan, der Koris aus tiefstem Herzen gehaßt
hatte und dem nicht entgangen sein konnte, wie es um die
Straße stand und wessen Schuld das war. Wenn Alexander erst
seine Krone hatte und in seinem Amt bestätigt wurde,
würde seine erste Regierungshandlung darin bestehen, Gelder
für die Ausbesserung der Straße zur Verfügung zu
stellen - wenn genug Gelder dafür da waren, hieß das.
Aber es war immer noch besser, diese Straße entlangzureiten,
als in einer Kutsche über sie zu jagen, hilflos
durchgeschüttelt zu werden und nicht die Möglichkeit zu
haben, die Stöße durch Leichttraben abzufangen. Er
mußte lachen bei der Vorstellung, wie ihre Gegner auf der
Flucht durchgeschüttelt wurden. Ob sie ihr Ziel schon erreicht
hatten? Wieviel Zeit blieb, um die Krone zurückzuerobern,
bevor sich ein Loringarim zum König ausrief? Alexanders Lachen
erstarb und wich grimmig zusammengebissenen Zähnen.
Auch als sie Rast machten, den Pferden und ihren eigenen Knochen
eine Erholung an einem schmalen Bach gönnten, wollte Alexander
lieber allein sein. Aber diesmal ließ es sich nicht
vermeiden, mit Halan reden zu müssen. Halan sprach ihn an.
»Glaubst du, wir können noch einen Moment länger
rasten?«
Wütend fuhr Alexander herum. »Warum fragst du mich?
Seit wann gilt mein Wort dir etwas? Triff deine Entscheidungen, wie
du willst, berate dich zur Not mit ihr darüber, aber
paß auf, daß es auch wirklich über meinen Kopf
hinweg geschieht!«
»Alexander«, sagte Halan ruhig, und Alexander hatte
die Momente fürchten gelernt, in denen sein Neffe daran
dachte, »ich frage dich jetzt. Doch wenn du mir Vorwürfe
deswegen machst, werde ich es nie wieder tun.«
Alexander wandte den Blick ab und starrte trotzig auf seine
Füße, auf die Sandalen, die Halan ihm hatte
schließen müssen.
»Für was hältst du mich?« fuhr Halan fort.
»Für deinen Diener? Ich bin ein Engelsgeborener wie du,
Alexander von Korisanders Blute, nur eine Generation unter dir, und
nicht dein Untertan. Und welchen Rang du auch immer innehaben
magst, als ungekrönter König, bin ich doch immer noch
fünf Jahre älter als du, und du bist ein halbes
Kind.«
»Bastard!« zischte Alexander. »Du bist ein
verdammter Bastard, Harold!« Er dehnte den Namen, den Halan
so sehr haßte, rollte die zweite Silbe im Mund, bis er
wußte, daß er Halan wirklich verletzt hatte. Mit dem
Kinn deutete er auf die Totenmagd, die in einigem Abstand hockte,
unten am Ufer, und ins Wasser schaute. »Sollen wir es ihr
nicht sagen, Harold? Sollen wir ihr nicht sagen, daß du ein
verdammter Bastard bist? Gehört es nicht in die
Chronik?«
Halan zog sich immer weiter zurück, entzog seine Gefühle
dem, was Alexander spüren konnte, bis nur noch ein Hauch von
ihnen zu erahnen war und Alexander wußte, daß man ihm
den Sieg nicht mehr nehmen konnte. Es fehlte nur noch ein letzter
Schlag. »Aber bestimmt weiß sie es schon längst.
Sie wird diejenige gewesen sein, die deine Mutter in den Nilomar
geworfen hat.« Er machte eine kurze Pause. »In
zwei Teilen.« Und dann… lächeln.
Wie mit einem Peitschenknall entluden sich Halans Gefühle
über ihn, fetzten das Lächeln aus seinem Gesicht,
ließen ihn aufheulen vor Schmerz und Verzweifelung. Er
fühlte Haß, Wellen von blankem Haß, die ihn
mitrissen, ihn fortrissen, ertränkten…
Alexander fiel ins Gras, wimmernd. Es dauerte nur einen Moment,
dann erstarb der Sturm, als hätte Halan eine Klappe über
den Nilomar gezogen. Die Stille war fast noch schlimmer.
»Das wollte ich nicht«, hörte Alexander sich
selbst flüstern. »Das wollte ich
nicht…«
»Doch«, sagte Halan. Es klang nicht einmal mehr wie
ein Vorwurf, nur noch wie eine Feststellung. Dann ging er zu seinem
Pferd hinüber und begann, ohne Alexander eines weiteren Blicks
zu würdigen, in den Satteltaschen zu suchen.
Alexander rappelte sich auf, irgendwie, er wußte es nicht
genau, rannte blind zu Farrell hinüber, band den Rappen los,
schwang sich in den Sattel, und nachdem er das Pferd auf die
Straße zurückgeritten hatte, trieb er ihm die Fersen in
die Flanken und stürmte davon.
In seinen Ohren rauschte es; der Wind ließ Alexanders Augen
tränen, als er die Straße nach Loringaril
entlanggaloppierte. Immer wieder, immer härter trieb er
Farrell zum Rennen an, wünschte sich zum ersten Mal in seinem
Leben eine Gerte, um mehr Geschwindigkeit aus dem Pferd
hinausprügeln zu können. Er wußte, daß
Farrell das nicht verdient hatte, und daß er mit dem, was er
tat, das Leben dieses wunderbaren Tieres in Gefahr brachte, aber es
mußte sein, es war die einzige Möglichkeit, diesen
Haß und diese Verzweiflung loszuwerden, die sich um sein
Innerstes klammerten. Farrell rannte schneller denn je, seine Hufe
hieben auf das Pflaster, aber es war noch immer nicht genug, es
mußte schneller gehen -
Zu spät erkannte Alexander, daß es sich bei dem dunklen
Schatten vor ihm nicht um einen Baum am Straßenrand, sondern
einen Menschen handelte, der seines Weges ging. Farrell
stürmte direkt auf ihn zu. Alexander versuchte noch, eine
Warnung zu brüllen - ausweichen konnte er nicht mehr, und
Farrell aus den blinden Galopp hinaus zum Stehen zu bringen,
hätte einen sicheren Sturz bedeutet. Der Mann hörte
Alexanders Schreien und sprang im letzten Augenblick - auf ihn
zu.
Später meinte Alexander sich daran erinnern zu können,
daß Farrell zur Seite ausbrach und stieg. Aber er war sich
nicht sicher. Er lag auf dem Rücken, und für einen Moment
stand die Welt still. Sogar die Zeit verharrte für einen
Augenblick, als wolle sie die Entscheidung über Alexanders
Schicksal für später aufschieben. Doch dann kam sie zu
dem Schluß, daß Alexander so viel Aufmerksamkeit nicht
verdient hatte, und begann langsam und rücksichtslos
weiterzulaufen. Alexander schlug die Augen auf und glaubte
festzustellen, daß er noch lebte. Doch auch da war er sich
nicht sicher. Nicht ganz, jedenfalls…
Erst sah er nur den Elomar über sich. Dann ein Gesicht - ein
Mann in den Dreißigern, mit strähnigem,
rötlichbraunen Haar, das nach vorne fiel, als er sich
über Alexander beugte und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen
betrachtete. Die Augen waren hell und bernsteinfarben und
paßten gut in das schmale Gesicht, das man nicht als
schön bezeichnen konnte, das aber nicht anders hätte sein
dürfen. Die Nase eine Spur zu lang, das Kinn eine Spur zu
spitz - aber man würde auch an keinem anderen Ort der Welt
einen Menschen von perfekter Schönheit finden, dieses Privileg
blieb allein den Engelsgeborenen vorbehalten.
Die hellen Augen verweilten keine zwei Momente an einer Stelle,
ihr Blick huschte hin und her, Alexanders Körper hinauf und
hinunter, bis es Alexander zuviel wurde und er sich aufsetzte.
»Ich fragte mich, was du dir wohl gebrochen hättest,
aber du scheinst in Ordnung zu sein«, sagte der Mann. Seine
Lippen bewegten sich nicht passend zu seinen Worten, sondern etwas
versetzt, und Alexander kniff die Augen zusammen und
schüttelte den Kopf, den er sich beim Sturz angeschlagen haben
mußte. In seinen Ohren klingelte es, aber danach hatte er
zumindest wieder das Gefühl, richtig hören und sehen zu
können. Dann erst fiel ihm die seltsame Kleidung des Fremden
auf, der fast nur aus Flicken bestehende Mantel, der aber verziert
war mit einem prächtigen Kragen aus Fuchspelz. Plötzlich
erinnerte ihn der ganze Mann an einen Fuchs, verschlagen und
lauernd…
»Ich sehe, du bist unverletzt, Junge, aber ich hoffe, ich
konnte dir auch so eine Lehre erteilen.«
Alexander öffnete den Mund. Alexander schloß den Mund
wieder. Alexander sagte: »Ihr hättet mich fast
umgebracht.«
Der Fremde schüttelte den Kopf, mißbilligend.
»So, wie du auf mich zugeprescht bist, hättest du
beinahe mich umgebracht. Und das ist nicht gerecht, denn im
Gegensatz zu dir hatte ich keineswegs die Absicht, heute zu
sterben.«
»Was wollt Ihr von mir?« fragte Alexander. Er wollte
kein Gespräch mit diesem seltsamen Mann, aber es würde
ihn ablenken von dem, was geschehen war, von der Falle, die Halan
ihm gestellt hatte.
Der Mann kniff die ohnehin schon schmalen Augen ein wenig weiter
zusammen und trat einen Schritt zurück. Dann griff er unter
seinen Umhang - und zog ein Schwert hervor, ein schäbiges,
altes Schwert, aber es sah immer noch tödlich aus.
»Ich könnte dir den Kopf abschlagen«, sagte er
freundlich.
Alexander starrte ihn an. Er wußte nicht, wem er Glauben
schenken sollte - den Worten oder der Stimme. Sein Verstand wog das
eine gegen das andere ab. Der Rest von ihm hatte einfach nur
Angst.
»Was -?« brachte er entgeistert hervor.
Der Mann hob das Schwert über seinen Kopf, als wolle er
ausholen. »Offensichtlich suchst du den Tod, heute noch, und
es wäre sinnlos, dir einen solchen Entschluß wieder
ausreden zu wollen, denn das ist eine Entscheidung, die jeder
für sich allein treffen muß. Da ich aber dieses Schwert
habe, biete ich dir seine Hilfe an. Auf diese Weise bleibt
zumindest dein Pferd am Leben.«
Alexander traf einen Entschluß, aber einen anderen, als der
Mann gemeint hatte, wahrscheinlich. Er begriff, daß in diesem
Moment seine Herkunft, seine Würde, sogar das Engelsblut in
seinen Adern, egal waren, nichts zählten. »Bitte«,
sagte er. »Tötet mich nicht.«
Mit scheinbar erstaunter Miene ließ der Mann das Schwert
sinken. »Wie, du willst leben? Und was erklärst du
deinem Pferd?«
»Bitte -«, sagte Alexander noch einmal, leiser. Auf
eine gewisse Art war dieser Mann noch einschüchternder als
Koris, und gerade das flößte ihm nicht nur Respekt,
sondern auch Vertrauen ein.
»Ich sehe, wie du auf mich zugeritten kommst in gestrecktem
Galopp, dein Pferd mit Schaum vor dem Maul und verdrehten Augen,
als sei es völlig von Sinnen und mit dir durchgegangen. Da
will ich dir noch helfen. Doch dann sehe ich dein Gesicht, und ich
sehe, daß du das arme Tier immer weiter antreibst. Da
begreife ich, daß du auf dem Weg in den Tod bist. Da will ich
deinem Pferd helfen. Du verstehst?« Die Worte kamen leise und
melancholisch, und ihre Einfachheit ging in ihrem Klang völlig
unter, oder machte alles um so eindringlicher. »Du wirst
verzeihen, daß ich mich zuerst um dein Pferd gekümmert
habe, er ist jetzt wieder ruhiger, und ich habe ihn gehobbelt,
damit er nicht das Weite sucht, während ich mit dir rede, auch
wenn ich denke, daß ihm der Sinn nach allem anderen steht als
danach, davonzurennen. Aber wenn ich du wäre, würde ich
in der nächsten Zeit einen Bogen um ihn machen, bis er dir
wieder verziehen hat.«
»Farrell!« rief Alexander, und erst jetzt merkte er,
daß er sich wie ein kleines Kind an dem Fremden - einem
gewöhnlichen Menschen! - festklammerte, sein Gesicht in den
Mantel barg und schluchzte. Er riß den Kopf zurück, als
hätte ihn eine Hornisse gestochen.
»Laß nur«, sagte der Mann. »Heul dich aus,
wenn es hilft. Der Mantel trocknet schon wieder.«
Alexander wich vor ihm zurück. »Wer seid Ihr?«
fragte er belegt.
»Ich bin Janek. Möchtest du reden? Ich weiß einen
Ort, wo wir das besser können. Kommst du mit?«
Alexander schüttelte den Kopf. »Ich muß
weiter.«
»Zu Fuß? Ich lasse nicht zu, daß du reitest.
Nicht um dein Leben zu retten, versteh mich nicht falsch. Aber dein
Pferd hat es mir angetan, und es wäre schade, wenn ihm etwas
zustieße. Kommst du?«
Langsam und unsicher nickte Alexander. Janeks Befehlen konnte er
Folge leisten, ohne sich eine Blöße zu geben. Dieser
Mann wußte nicht, daß er in Wirklichkeit seinen
König vor sich hatte, und gerade in diesem Moment wollte
Alexander auch keiner sein müssen. »Wohin?«
»Hier in der Nähe, ein Stück weit die Straße
hinauf, ist ein Gasthaus. Da können wir reden, wenn du magst.
Wenn du nicht magst, gibt es noch viele andere Möglichkeiten:
Du kannst dich betrinken, vielleicht hilft es ja, oder dir ein
Mädchen anlachen, es laufen dort genug herum… das Leben
hat eine Menge zu bieten, weißt du?« Er blickte
Alexander abschätzend an. »Wie alt bist du
überhaupt, Junge? Und hast du keinen Namen?«
Alexander zögerte. »Ich bin sechzehn«, sagte er
dann. »Und ich heiße Anders.«
Mit einem müden Lächeln nickte Janek. »Sechzehn
erst, und schon ein solcher Schinder… Ich schlage vor, wir
reden, während du dich betrinkst, und dann zeige ich dir, wie
das mit den Mädchen geht.«
Angeekelt starrte Alexander ihn an, hatte schon eine Erwiderung
auf der Zunge, die diesen unflätigen Mann in seine Schranken
weisen sollte. Doch dann ging er nur wortlos nebenher, als Janek
das Pferd langsam die Straße entlang führte. Die
Tränen schossen ihm in die Augen, als er sah, daß
Farrell lahmte, seinetwegen! Und so entging es ihm, bis sie beinahe
am Ziel waren, daß auch Janek nur langsam und mit Mühe
ging. Der Mann, aus dessen trockener Stimme so viel Stärke
sprach, der so respektfordernd auftrat und ein Schwert führte
wie ein freier Mann, auch wenn er in Lumpen ging - ausgerechnet
dieser Mann zog das rechte Bein nach und mußte sich beim
Gehen auf einen Stock stützen. Nur ein Krüppel.
Doch es war schon zu spät. Alexander hatte vor diesem
Krüppel so viel Respekt, wie er außer vor Koris noch vor
keinem gehabt hatte. Er wußte, daß er jeden einzelnen
Befehl dieses Mannes befolgen würde, und koste es sein
Leben.
Oder gerade dann.
Als er die Poststation sah, dachte Alexander einen Moment lang, er
habe bei seinem überstürzten Ritt versehentlich die
falsche Richtung eingeschlagen und sei zurückgeritten, so sehr
ähnelte diese Ansiedlung der anderen: Wieder drei Häuser,
die sich um einen Gasthof drängten, umgeben von Weiden und
Feldern. Aber dann sah er das gemalte Wirtshausschild. Zum
Schwanen. Dieser Name wäre ihm gestern bei aller
Müdigkeit aufgefallen.
Alexander schüttelte sich. Allein beim Gedanken an
Schwäne sträubten sich seine Nackenhaare.
»Am besten mieten wir dir gleich ein Bett«, meinte
Janek, »und bezahlen es auch sofort. Du wirst es brauchen.
Geld hast du?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Alexander unsicher.
Für die letzte Nacht hatte Halan wahrscheinlich gezahlt,
wieviel, wußte Alexander nicht. »In den Satteltaschen,
glaube ich.«
»So, glaubst du?« Janeks Stimme war
plötzlich wachsam. »Wie kommt es, daß du dir nicht
sicher bist? Farrell ist doch dein Pferd?«
Schnell nickte Alexander. Aber jetzt ließ es sich nicht mehr
vermeiden… »Vielleicht ist das Geld auch bei
Halan«, murmelte er.
Janek sagte nichts, blickte ihn nur an und hob eine Augenbraue, so
daß Alexander nichts übrig blieb als weiterzureden.
»Wir waren gemeinsam unterwegs. Wir hatten Streit.«
Das hatte auszureichen.
»Warte bis wir sitzen«, erwiderte Janek. »Ich
höre dir gerne zu, aber Stehen bereitet mir nur wenig
Vergnügen.« Er deutete auf seinen rechten Fuß.
Alexander errötete.
»Oh - das tut mir leid!«
»Dir muß es nicht leid tun«, sagte Janek,
aber in seiner Stimme lag alter Groll, und einen Moment lang war
Alexander versucht, sich in den Krüppel einzufühlen.
»Dich trifft keine Schuld. Du warst damals noch klein.«
Seine Augen verdunkelten sich, wurden aber sofort wieder hell.
»Was ist geschehen?« fragte Alexander.
»Ein Unfall«, war Janeks knappe Antwort. »Vor
vielen Jahren.«
Alexander fragte nicht weiter.
»Aber wir sollten schon einmal hineingehen«, fuhr
Janek fort. »Dein Freund wird sicher hier ankommen und kann
dir das Geld geben.«
»Nein!« unterbrach ihn Alexander. Nicht Halan! Er
wollte, er durfte Halan niemals wiedersehen. Nicht nach dem, was
geschehen war.
»Ansonsten habe ich zumindest soviel dabei, daß ich
dich für den Abend einladen kann, wenn du nicht gleich auf dem
Königszimmer bestehst.«
Für einen Moment glaubte Alexander sich entdeckt, glaubte,
daß Janek ihn erkannt hatte. Aber da lachte der Mann auch
schon über Alexanders bestürztes Gesicht. Er war nur ein
Scherz. Schnell fiel Alexander in das Lachen ein. Nur nicht zeigen,
daß er das ernst genommen hatte!
Im nächsten Moment legte Janek eine Hand an den Mund und
rief, in einer Lautstärke, die ein ganzes Schlachtfeld
übertönt hätte: »He, Wirt! Schick uns deinen
Stallburschen raus! Es gibt Arbeit für ihn!«
Mit der anderen Hand hielt er Farrell am Zügel fest, und der
Rappe, den früher kam etwas aus der Ruhe gebracht hätte,
schrak bei dem Gebrüll zusammen und begann, unruhig hin und
her zu tänzeln, bis Janek wieder leise auf ihn einredete und
ihm auf den Hals klopfte. Schuldbewußt und verschämt
blickte Alexander zu Boden, konnte nicht dem Stallburschen in die
Augen sehen, als dieser kam und versprach, sich gut um das kostbare
Tier zu kümmern.
»Und nun«, sagte Janek, »treten wir
ein.«
Kurz darauf fand Alexander sich an einem Tisch wieder, auf einer
ungepolsterten Holzbank, vor sich einen Becher mit Wein. Der Raum
war angefüllt mit Leuten und Gesprächen, die so laut
durcheinandergingen, daß es Halans Ohren bedurft hätte,
um mehr als nur Bruchstücke zu verstehen. Beim Gedanken an
seinen Neffen verschluckte sich Alexander fast an dem
säuerlichen Wein, und danach behielt er den Becher lieber in
der Hand, lauschte unschlüssig den Gesprächen, ohne zu
wissen, wo er anfangen sollte.
- »Frau hat sie auch gesehen, sie flogen ganz tief
-«
- »Und es waren acht, keiner mehr und keiner weniger
-«
- »Federn, schwarz wie die Nacht -«
- »Zum Glück haben sie nicht geschrieen, sonst
würde einer von uns morgen nicht mehr erwachen -«
- »Schwere Zeiten brechen an, schwere Zeiten -«
- »Habt ihr schon vom König gehört?«
Alexander beugte sich zur Seite, um besser hören zu
können, was über ihn geredet wurde. Woher kamen all diese
Leute überhaupt? Auf der Straße waren ihm an diesem und
dem letzten Tag nicht halb so viele Leute begegnet, wie nun diese
rauchige Stube füllten. Vielleicht wohnten sie hier, auf den
umliegenden Höfen, und nur die Ereignisse der jüngsten
Zeit hatten sie an diesem Abend in das Wirtshaus getrieben –
Er mußte wieder an die Worte der Totenmagd denken: Sie
fliegen wieder. Die Nilomaran. Er schüttelte sich, froh,
die schwarzen Vögel selbst nicht gesehen zu haben.
»Und? Willst du lieber anständige Leute belauschen, als
zu trinken?« Jankes Stimme und dessen warme Hand auf seiner
Schulter ließen Alexander zusammenzucken und sich ertappt
fühlen. »Wolltest du mir nicht erzählen, was mit
dir los ist?«
»Ich - ich kann nicht«, sagte Alexander leise.
»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Janek.
»Zumindest noch nicht. Aber bald wirst du das Bedürfnis
haben, mir sehr viel zu erzählen, und glaub mir, das ist das
Beste für dich, auch wenn dir manches davon hinterher leid tun
wird - es mir gesagt zu haben, meine ich.«
Alexander blickte von seinem Wein auf den Mann und wieder
zurück. Er wollte sich nicht betrinken, nicht nach dem, was
beim letzten Mal passiert war, und vor allem wollte er nicht zuviel
von sich verraten. Es gab zu vieles, das auf seiner Seele brannte,
das hinaus drängen, ihm Ruhe verschaffen wollte. Aber auch das
mußte geheim bleiben, schon um Koris‘ Willen, wenn
nicht sogar den der Elomaran. Alexander seufzte innerlich, als er
den Becher in seinen Händen drehte, sich dann zu Janek
hinüberbeugte und fragte: »Wer bist du
überhaupt?«
»Wie ich es dir schon sagte - ich bin Janek.« Der Mann
hob belustigt eine Augenbraue und schenkte sich Wein nach. Er hatte
einen ganzen Krug bestellt.
»Und wer ist Janek?« fragte Alexander weiter.
»Du gehst in Lumpen wie ein Bettler, doch du hast Geld in der
Tasche. Du führst ein Schwert wie ein Kämpfer, und doch
bist du -« Er brach erschrocken ab, bevor er es aussprach:
Ein Krüppel.
Janeks Augen verdunkelten sich. Er lehrte seinen Becher in einem
Zug und setzte ihn unsanft auf der Tischplatte ab. »Trink
deinen Wein!« sagte er. Ein Grollen war in seiner Stimme, das
mehr an einen Wolf denn einen Fuchs denken ließ. »Ich
habe dich nicht gefragt, wer Anders ist. Also unterlaß es,
mir solche Fragen zu stellen.«
Alexander entschuldigte sich. Aber jetzt war er wachsam geworden,
fühlte ein, wenn auch nur leichtes, so doch beißendes
Mißtrauen gegenüber diesem Mann, der so darauf brannte,
Alexanders Geheimnisse zu erfahren, ohne seine eigenen preisgeben
zu wollen. »Warum soll ich dir dann sagen, was mich
bedrückt,« fragte er trotzig, »wenn gleichzeitig
ich dir keine Fragen stellen darf?«
Janek atmete durch und griff nach dem Weinkrug, nicht nur um sich
selbst, auch um Alexander nachzuschenken. »Du vergißt
eines, Junge. Es gibt einen Unterschied zwischen uns, einen
entscheidenden Unterschied: Du hattest heute vor, zu sterben, und
ich nicht. Du schuldest mir eine Erklärung. Also
rede!«
Plötzlich bekam Alexander Angst, Angst vor Janeks Groll,
Angst, ihn wieder zu verlieren, so wie er Halan verloren hatte -
nicht, daß es ihm um den Leid tat, aber…
eigentlich… »Ich wünschte, er wäre
tot!« platzte es aus ihm heraus, und er konnte froh sein,
daß seine Worte im allgemeinen Lärm des Schankraums
untergingen. »Ich wünschte, er wäre nie
geboren!« Worte kamen ihm wie Tränen, ohne daß er
sie zurückhalten konnte - nicht von den Elomaran, von Koris
oder von der Krone, aber von Halan, der ihn so sehr hassen
mußte, der ihn niemals würde lieben und bewundern
können, und den er doch selbst immer bewundern mußte
für seine Klugheit, den er beneidete und haßte für
seine Gaben… Von sich sprach Alexander nur am Rand, aber er
merkte nach jedem Satz, immer dann, wenn es zu spät war, er es
nicht ungesagt machen konnte, wieviel er doch von sich verriet. Er
schlug mit den Handflächen hart gegen die Tischkante,
während er redete, bis Janek ihn hart am Arm packte.
»Du machst es damit nicht besser, also laß es!«
fuhr ihn Janek an. »Du kannst dich auch bemitleiden, ohne
dein Fleisch in Stücke zu reißen.« Seine Stimme,
wie auch seine Stimmung, verrieten, daß er von dem Wein, den
Alexander sich nicht anzurühren bemühte, um so
reichlicher trank, als wären es seine Wunden, die nicht heilen
wollten, und nicht Alexanders.
»Ich bemitleide mich nicht!« erwiderte Alexander
gereizt und wunderte sich über seinen Zorn, bis er begriff,
daß es Janeks war und er selbst kurz davor stand, die
Kontrolle über seine Gabe zu verlieren. Koris hatte ihn oft
gewarnt. Mit dem kleinen Finger schon Alexander den Becher noch
etwas weiter von sich fort.
»Ich will nichts mehr hören!« fiel ihm Janek ins
Wort. »Was ich begriffen habe, reicht mir. Du hast eine
Person, an der dir viel liegt, zutiefst verletzt, und du wirst dich
entschuldigen.«
»Das werde ich nicht! Ich will ihn nie wiedersehen!«
Leise fügte er hinzu: »Und er mich sicher auch
nicht.«
»Er wird hier vorbeikommen, verlaß dich drauf. Er wird
hier absteigen, etwas anderes bliebt ihm nämlich nicht
übrig, wenn er nicht im Freien übernachten will, und wenn
er durch diese Tür tritt, wirst du dich bei ihm
entschuldigen.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Er würde es nicht
akzeptieren. Er würde mir nicht einmal glauben, daß es
mir leid tut.«
»Dann sag es eben nicht!« Janeks Tonfall wurde immer
schroffer. »Dann bitte ihn nur um Vergebung!« Etwas
versöhnlicher fügte er hinzu: »Zur Not werde ich
mit ihm reden.« Er erhob sich, ein klein wenig unsicher, aber
das konnte auch an seinem schlimmen Fuß liegen. Was für
ein Unfall mochte das gewesen sein? »Und jetzt entschuldige
mich.«
»Warte!« rief Alexander. »Wo willst du hin?
Bitte, geh nicht weg!«
Janek lachte rauh. »Ich habe erst einmal genug von dir
gehört. Ich bin nicht deinetwegen hier. Ich sagte dir doch,
ich wollte mir hier ein Mädchen suchen. Und das finde ich ganz
sicher nicht, wenn ich mir von dir die Ohren vollheulen
lasse.«
Er verschwand in der Menge und ließ Alexander zurück,
allein und verzweifelt. Jetzt dachte er, einen Verbündeten
gefunden zu haben - und wurde wieder nur verraten. Alexander
fühlte Schuld, gegenüber Janek, den er enttäuscht
hatte, aber auch gegenüber Halan. Es half nichts, er
mußte sich entschuldigen, schon damit Janek wieder besser von
ihm dachte. Janek war ein wenig wie Koris. Alexander würde
fast alles tun, um ihm zu gefallen. Halan. Und wenn er nun nicht
kam? Wenn er längst mit der Totenmagd vorbeigeritten war? Wie
lange hatte Alexander hier mit Janek gesessen? Bestimmt Stunden.
Halan würde nicht mehr kommen…
Trübsinnig rutschte Alexander tiefer in seine Ecke hinein,
beugte sich vor und zog Becher und Weinkrug zu sich herüber.
Janek hatte eine Menge getrunken, aber vom zweiten Krug war genug
übrig - Alexanders Anteil. Er zögerte kurz, bevor er
seinen Becher voll goß, dachte daran, wie elend er sich nach
dem letzten Mal gefühlt hatte und daß es ausgerechnet
Halan war, der ihn damals retten mußte. Aber das konnte auch
nur wegen Aralees Schlafkräutern passiert sein… Er
hörte wieder Koris‘ Worte: Rausch ist etwas, das die
gewöhnlichen Menschen brauchen, wir nicht.
Aber Koris war tot. Und Alexander hatte sich niemals mehr
gewünscht, ein gewöhnlicher Mensch zu sein.
Er schenkte sich den Becher voll.
Die Augen fühlte er, ehe er sie sah, und war es ihm vorher
schon schwer gefallen, im Wein Zerstreuung zu finden, so war das
nun unmöglich. Dieser Blick war so kalt, so nüchtern,
daß wo er hinfiel, aller Rausch verschwand, seine Spuren
fortgewischt wurden zu einem Nichts, das es nie gegeben hatte.
Alexander machte nicht erst den Versuch, ihm auszuweichen, sich in
seiner Ecke, in den Schatten zu verstecken. Halan hatte ihn
gefunden, und ein Davonlaufen gab es nicht. Er wünschte nur,
Janek wäre wieder hier, um ihm zu helfen, ihm mit Worten oder
seinem Schwert beizustehen, doch Janek blieb verschwunden, so wie
er aufgetaucht war: Seltsam endgültig…
Halan sagte nichts, als er Alexanders gewahr wurde, durchquerte
nur die Schankstube mit so geraden Schritten, als erwarte er,
daß alle Leute vor ihm auswichen, und das taten sie auch. Die
Totenmagd folgte zwei Schritte hinter ihm, hielt wieder Aralees
Mantel fest um sich gezogen, was sie so form- und körperlos
erscheinen ließ, als sei sie selbst nicht mehr und nicht
weniger als Halans Schatten. Alexander hätte nicht gedacht,
daß er ihren Anblick einmal als erfreulich empfinden
würde, doch nun bedeutete es, daß er Halan nicht ganz
allein gegenübertreten mußte. Auch konnte er versuchen,
ihre Ruhe zu trinken…
Alexander setzte sich gerade auf, legte die Hände auf der
Tischplatte übereinander und wartete. Halan sollte ihn nicht
für betrunken halten - er war es nicht, war es nie gewesen an
diesem Abend. Aber es gelang ihm nicht, Halans Blick standzuhalten;
er hatte nichts mehr, was er ihm entgegensetzen konnte…
Alexander wußte um die scharfe Beobachtungsgabe seines
Neffen, wußte, daß der ihm niemals Glauben schenken
würde, solange Alexander nicht aus tiefstem Herzen sprach. Er
fühlte den Blick wie ein Messer, suchte nach Worten, aber
alles, was er hervorbrachte, war ein klägliches »Halan
-«
Keine Reaktion. Kein Aufwallen von Gefühlen, von
plötzlicher Zuneigung, Abneigung, Haß. Nichts, nichts
als Kälte. Nicht einmal Koris auf seinem Totenbett hatte sich
kälter angefühlt, oder lebloser.
»Es tut mir leid.« Kaum mehr als ein Flüstern.
»Vergib mir.«
Nichts. Halan rührte sich nicht, innerlich wie
äußerlich. Alexander getraute sich nicht, auch nur ein
Wort mehr zu sagen. Jetzt konnte er nichts mehr besser machen, nur
noch schlimmer. Er versuchte, Janek zu verfluchen, weil der ihm
geraten hatte, um Vergebung zu flehen, doch nicht einmal das gelang
ihm. Daß er weiter beobachtet wurde, konnte er fühlen,
doch er wußte nicht, was er tun sollte.
Dann trat Halan an ihn heran, legte, ohne etwas zu sagen,
Pergamente vor Alexander auf den Tisch, beschrieben in seiner
schönsten, ordentlichsten Chronistenschrift. Alexander
wußte, was von ihm erwartet wurde, daß er sie nehmen
und lesen sollte, doch er fürchtete ihren Inhalt, und schon
die ersten Worte verschwammen ihm vor den Augen.
»Wahre Chronik des Alexander von Korisanders Blute. Dies ist
die Wahrheit.« Er wollte nicht, doch er zwang sich, auch noch
den nächsten Satz zu lesen. »Alexander, Zweitgeborener
der siebzehnten Generation, Nachfahr des Elomaran Korisander und
Erbe der Krone, ist ein Nichts, jemand, der nur durch die Schmerzen
lebt, die er anderen zufügt…« Alexander ertrug
den Rest nicht. Sechs Bögen waren es, die vor ihm lagen, sechs
Bögen voller Wahrheit in Schönschrift.
»Lies weiter«, sagte Halan leise. »Und sieh zu,
daß du keine Flecken machst.« Er drückte die
Schriftrollen in Alexanders widerstrebende Hände.
Alexander sah auf und fing sich in Halans Augen. Beider Lippen
blieben verschlossen, als Alexander seine Frage stellte und Halan
ihm antwortete, als sei die Gabe, in Gedanken zu sprechen, nicht
seit Generationen ausgestorben. Du kannst nur das Pergament
zerreißen, nicht die Wahrheit. Keiner von ihnen
rührte sich, aber Alexander fühlte, wie er immer kleiner
wurde und Halan größer, seine Augen immer dunkler, immer
tiefer.
Warum tat Halan das? Um ihm zu zeigen, wie sehr er ihn
verabscheute, oder um zu demonstrieren, welche Macht in den
Händen der Chronisten lag? Nur einen Satz brauchte Halan, um
Alexander von einem Engelsgeborenen und rechtmäßigen
König in ein Nichts zu verwandeln. Nur einen Satz…
»Das ist die Wahrheit?« flüsterte Alexander.
Halan nickte. Alexander gab ihm die Pergamente zurück,
ungelesen.
»Ich kenne sie bereits.« Seine Stimme erstarb.
»Jetzt schon«, erwiderte Halan. Er nahm die
Bögen, legte sie übereinander, rollte sie säuberlich
auf, band sie mit einer Schleife zusammen und schob sie vorsichtig
in eine Tasche seines Gewandes.
Hieß das, er akzeptierte die Entschuldigung, glaubte,
daß Alexander an diesem Tag etwas gelernt hatte? Alexander
traute sich nicht zu fragen. Statt dessen hielt er Halan seinen
Becher hin. »Möchtest du?«
Seine Hand verharrte in der Luft. Noch bevor Halan das Angebot
annehmen oder ausschlagen konnte, näherte sich ihnen von
hinten das klopfende Geräusch eines Gehstocks, eines, das
Alexander inzwischen kannte und sein Herz vor Freude schneller
schlagen ließ. Janek war zurück!
Er schob Halan beiseite, um sich wieder auf seinen alten Platz
gegenüber Alexander zu setzen, so als sei er nie fort gewesen,
oder längst Bestandteil ihrer Gruppe. Dann blinzelte er mit
schiefgelegtem Kopf hinauf zu Halan, der ihn mit einer Mischung aus
Verwunderung, Argwohn und Entsetzen anstarrte, allerdings ohne die
Miene zu verziehen.
»So«, sagte Janek freundlich. »Und du bist also
Halan?«
Halan antwortete nicht, suchte wahrscheinlich nach einer
Würdevollen Erwiderung, als Alexander an seiner Stelle
nickte.
»Ich weiß nicht, ob er es fertig gebracht hat, dir das
zu sagen, aber es tut ihm leid«, fuhr Janek fort.
Einen Moment lang schien Halan vollends zu erstarren, dann
schoß sein Kopf herum. »Alexander«, sagte er sehr
leise und mit einem Zittern in der Stimme, »komm bitte
mit.«
In Alexanders Knien schien gerade noch genug Kraft zu stecken, als
er aufstand, Janek und der Totenmagd zunickte und seinem Neffen in
den Hof folgte. Er wollte nicht zornig werden, es sich nicht sofort
wieder mit Halan verderben, also blieb ihm nichts anderes
übrig, als Angst zu haben.
»Reicht es dir nicht, mich vor Lyda gedemütigt zu
haben? Mußt du es jetzt noch jedem Trunkenbold
erzählen?«
»Janek ist kein Trunkenbold«, erwiderte Alexander, zu
leise. Lieber hätte er geschrieen. »Er ist -« Er
brach ab. Was Janek war, wußte er nicht. »Er hat mir
geholfen«, sagte er statt dessen.
»Das habe ich gesehen.«
Alexander blickte ihn kläglich an. Er wollte Janek
verteidigen, doch er hatte keine Worte dafür, konnte seinen
Freund nicht erklären. Halan mußte selbst mit dem
Krüppel reden, ihn kennenlernen, bis der Zauber auch auf ihn
zu wirken begann.
Halan blickte an ihm hinunter, und unter seinen Augen begriff
Alexander plötzlich, wie er aussah, daß man zumindest
seinen Kleidern Ritt und Sturz ansehen mußte, daß sein
Äußeres gerade genauso erbärmlich wie sein
Innerstes sein mußte. »So«, sagte er. »Du
scheinst dir ja jetzt deinen Reisegefährten gesucht zu haben.
Dann brauchst du mich ja nicht mehr.«
‘Ich habe dich nie gebraucht!‘ wollte Alexander
schreien. Aber sie wußten beide, daß es nicht stimmte.
War das Halans Rache? Wie lange mußte Alexander noch auf den
Knien vor ihm rutschen, sich erniedrigen? »Ich brauche euch
beide«, sagte er.
»So siehst du auch aus«, sagte Halan, und für
einen Augenblick erschien es fast, als lächele er.
»Gehen wir wieder rein. Es hat wenig Sinn, noch länger
hier draußen zu stehen.« Alexander wollte wieder
hinein, zurück zu Janek.
Halan rief ihn zurück. »Oh, noch etwas - ich weiß
nicht, wer dein Janek ist, und du weißt es offenbar selbst
nicht - aber du bist dir hoffentlich im Klaren, daß er
weiß, wer wir sind?«
Alexander schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein,
ich habe es ihm nicht -« Er sah Halans Gesicht und brach ab.
Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren, wenn er sich auf
seine Beobachtungsgabe verließ oder zumindest daran
glaubte.
Außerdem war es ohnehin egal. Janek mußte wissen, mit
wem er es zu tun hatte, wenn er sich ihnen anschloß, um ihnen
mit seinem Schwert und seiner Lebenserfahrung zur Seite zu stehen.
Was machte es da schon, daß er einen Hinkefuß
hatte?
Aber Alexander kam nicht mehr dazu, Janek einzuweihen oder sich
ihm als Engelsgeborener zu offenbaren.
»Ich habe eine Bitte«, begann er, und plötzlich
fiel es ihm schwer. »Ich… wir… brauchen deine
Hilfe…«
Weiter kam er nicht. Janek begann zu lachen. »Das glaube ich
dir, und ich zweifle nicht daran, daß es stimmt. Du willst,
daß ich euch begleite, nicht wahr?« Schnell und
dankbar, weil ihm Worte erspart blieben, nickte Alexander. Janek
lachte lauter. »Und du glaubst, das reicht? Du glaubst, ich
habe Lust, einen lebensmüden kleinen Jungen auf der Suche nach
Abenteuern zu begleiten? Ich habe besseres zu tun, und es gibt
Leute, die mich mehr brauchen, meine Frau zum Beispiel, oder meine
Kinder.«
Alexander starrte ihn an, unfähig, sich auch nur zu
rühren. Janek hörte auf zu lachen, klopfte ihm auf die
Schulter. »Kopf hoch, Anders. Du kommst auch ohne mich
zurecht. Zumindest wissen wir jetzt beide, daß du dich nicht
noch einmal umbringen wirst.«
Mit einer halben Umdrehung entwand sich Alexander der
plötzlich unangenehmen Berührung, brachte es fertig, ein
paar ruhige Worte mit dem Wirt zu wechseln, sich seine Kammer -
sein Bett in einer Kammer, in der bereits ein anderer schlief -
zeigen zu lassen.
Bevor er einschlief, lag er noch ruhig wach, fühlte sich
seltsam leblos in der fremden Umgebung. Zum ersten Mal in seinem
Leben fing er an, Halan zu verstehen.
Dann, als er ihn schon nicht mehr erwartete, kam der Schlaf.
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