Siebtes Kapitel

Alexander erwachte aus traumlosem Schlaf, an den ihm jede Erinnerung fehlte, und fühlte sich seltsam. Die Nacht war verschwunden, kaum, daß er die Augen aufschlug - als hätte es sie niemals gegeben. Ohne den Kopf zu heben, sah er das Licht, das durch die Fensterläden fiel, und wunderte sich, wie er bei dem seltsamen Geruch des Bettes überhaupt hatte schlafen können. Die Kissen rochen seltsam, irgendwie holzig. Sicher hätte Halan es genauer sagen können, aber Alexander war es eigentlich egal. Es änderte nichts daran, was dies für ein Ort war, warum er hier war, was geschehen. Je mehr Alexander versuchte, nicht daran zu denken, desto schneller kehrte die Erinnerung zurück, und er begriff, daß er aufstehen mußte, sich wieder bewegen, so schnell es ging, sonst würde er hier noch den Verstand verlieren. Er stand auf.
Er wollte aufstehen. Er konnte es nicht. Ein Schmerz, der von oben bis unten drang, bohrte sich durch seinen Brustkorb, und plötzlich war jeder Atemzug mit Schmerzen verbunden. Alexander schnappt nach Luft und versuchte, den Kopf zu heben. Seine Brust… Aus seiner Brust ragte der Griff des Schwanenhalsdolches. Seine Klinge war tief in Alexanders Herz gerammt.
Alexander starrte auf den Dolch. Wo kam er her? Seit wann war er da? Alexander fragte nicht, aus Angst, eine Antwort zu bekommen. Er nahm seinen Willen zusammen, zwang ihn in seine Hände, zwang seinen Arm, sich zu heben. Es gab nur eines, was er tun konnte, um sich zu retten und aus diesem Albtraum herauszukommen. Mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, seine Finger um den Griff zu legen, zuzupacken…
Als sich seine Finger in seine Handflächen bohrten, als er merkte, daß er das Nichts umklammert hielt, wachte Alexander auf. Er war allein. Es war Nacht. Alexander hatte Angst davor, wieder einzuschlafen, aber er war er zu müde, um etwas anderes zu tun, und diese Dunkelheit war kaum besser als die Träume, die an ihrem anderen Ende warten mochten.

Als die Sonne aufging, erwachte Alexander zum zweiten Mal, diesmal ohne einen Dolch in seiner Brust, aber dafür mit dem Gefühl, als sei in der Nacht eine Kutsche über ihn und sein Bett hinweggerollt, oder sogar mehrere. Aber hier gab es niemanden, der ihn massieren konnte, wenn sein Knochen schmerzten, und für das heiße Bad, nach dem jede Faser in Alexanders Körper schrie, war keine Zeit. Sie mußten weiter.
Alexander sprang aus dem Bett, bevor er wieder mit der Grübelei anfangen konnte, und begann, mehr schlecht als recht, sich eilig anzuziehen. Jede Bewegung tat weh, aber das war nichts im Vergleich dazu, einen Dolch in seiner Brust zu finden. Es gelang ihm nicht, die Knöpfe seines Untergewandes zu schließen, also warf er sich nur das Oberkleid über und lief in den Flur, um Halan zu sehen. Aber der war, wie sich herausstellte, bereits auf den Beinen und angezogen. Es ärgerte Alexander. Er hatte der erste sein wollen, Halan möglichst unsanft aus dem Schlaf reißen. Sofort verschlechterte sich Alexanders Laune.
»Und?« fragte er. »Sind die Pferde schon gesattelt?«
Halan nickte. »Ich habe gerade dem Stallburschen -«
»Und etwas zu essen für uns?«
Wieder nickte Halan. »Ich weiß zwar nicht, was man uns vorsetzen wird, aber -«
Jetzt riß Alexander die Geduld. »Aber an mein Bad hast du nicht gedacht!« schrie er.
Halan erzitterte. Alexander wußte, daß sein Neffe gleich anfangen würde zu heulen, doch davon fühlte er sich auch nicht besser. Aber zumindest hatte Halan - der perfekte, umsichtige Halan - noch nicht veranlaßt, daß ein Badezuber für Alexander angerichtet wurde.
Halan schluckte. Dann sagte er kalt: »Ich habe es in Betracht gezogen. Aber ich hielt es für angebrachter, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, und so früh wie möglich aufzubrechen.« Er strahlte eine Mauer aus Leere ab, an der Alexanders Zorn verschluckt wurde und verschwand. Die schlechte Laune blieb.
Alexander sagte nicht »Danke«, und er entschuldigte sich nicht. Er fragte nur: »Und diese Frau?«
»Ich habe an ihre Tür geklopft«, erwiderte Halan, »und ihr gesagt, sie soll aufstehen und sich bereit machen.«
»Und wann war das?«
»Bevor ich mit dem Küchenmädchen gesprochen habe.«
»Hat sie etwas gesagt?«
»Die Totenmagd?«
»Natürlich die Totenmagd. Wer sonst - meine Mutter?«
Halan schüttelte den Kopf. Alexander sah ihn vor sich, zaghaft klopfend, schüchtern flüsternd. Wahrscheinlich war die Frau nicht einmal aufgewacht.
»Welches Zimmer?« fragte er. Halan deutete auf eine Tür am Ende des Ganges. Dahinter war nichts zu hören, kein Schnarchen, keine Schritte. Mit der flachen Hand schlug Alexander gegen das Holz, dreimal, viermal, fünfmal, bis seine Knochen schmerzten und die Wunden pochten. Kurz - sehr kurz - kam ihm in den Sinn, daß seine Hände sich entzünden würden, wenn er sie nicht heilen ließ, aber im Grunde seines Herzens wußte er, daß er nicht zulassen durfte, daß die Male verschwanden. Sie waren jetzt ein Teil von ihm, das letzte, was ihn noch an Koris erinnerte. Aber Halan sah es im gleichen Moment, rief: »Anders, deine Hände!« - und das ließ wieder Wut in Alexander aufschäumen.
»Steh auf da drinnen!« rief er, so laut, daß wirklich jeder auf dem Gang davon aufwachen mußte, aber über die Folgen konnte er sich hinterher immer noch Gedanken machen. »Steh auf und beeil dich, wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Als er sich jetzt zu Halan umdrehte, brachte er es sogar fertig zu lächeln. »Sie ist selbst schuld, wenn ihr heute keine Zeit mehr zum Frühstücken bleibt. Ich persönlich werde jetzt etwas essen, nachdem du so gut warst, alles Nötige in die Wege zu leiten.« Jetzt, wo er einen Sündenbock hatte, konnte auch endlich Halan sein verdientes Lob bekommen.
Halan sah hin an und hob kurz die Augenbrauen. Leise fragte er: »Du willst hinuntergehen? So?«
»Du bist auch nicht geschminkt«, erwiderte Alexander.
»Nein, aber ich habe zumindest alle meine Kleider an.«
Alexander ohrfeigte ihn, aber Halan verzog keine Miene und fragte nur mit einer Stimme, die kaum über einem Flüstern lag: »Wäre dir nicht besser damit gedient, dir von mir helfen zu lassen?«
Etwas war in seiner Stimme, das Alexander beschämte, ein seltsames Gefühl, und eines der unangenehmsten, nur dann zu ertragen, wenn man es durch andere spüren konnte und mit der eigenen Schadenfreude mischen. Er fühlte sich erröten. Er suchte seinen Zorn. Wie konnte Halan es wagen, so mit ihm zu reden? Wie konnte Halan es wagen, ihn so zu demütigen?
»Es tut mir leid«, murmelte er. Das seltsame Gefühl blieb, und das Wissen, daß Halan einen Moment lang wie Koris ausgesehen hatte, wie der Mann, dessen Sohn er war und der ihm doch so wenig vererbt hatte. Alexander wunderte sich über sich selbst, als er sich sagen hörte: »Es tut mir leid, daß du deinen Vater verloren hast.«
Halan war wieder Halan: Er zerstörte alles. Immer, wenn Alexander fast begonnen hätte, ihn zu lieben, mußte Halan alles kaputtmachen. »Ich hatte nie einen Vater«, sagte er kalt. »Ich hatte einmal eine Mutter, aber das ist lange her.« Dann erkannte er, was er gesagt hatte - Schatten huschten über sein Gesicht - aber es war schon zu spät. »Es tut mir leid«, versuchte Halan die Lage noch zu retten. »Ich weiß, er war wie ein Vater für dich.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Er war niemals mein Vater.« Es gab kein Wort für das, was Koris ihm gewesen war, außer vielleicht dem einen, das so allgemein klang und doch alles sagte: Bruder. Zwei von einem Blute, aus einer Generation, gesegnet mit einer Gabe: Zwei Herzen, die wie eines waren. Brüder.
Alexander drehte sich um und rannte die steile Treppe hinunter, ganz gleich, ob er nun fertig angezogen war oder nur Hosen und Oberkleid anhatte. Vielleicht würde ihn etwas zu essen davon abhalten, wie ein kleines Kind loszuplärren. Seine Gefühle waren wieder an Koris’ Bett, hielten seinen Bruder, versuchten, ihn zurückzuziehen, als er… verschwand. Er hörte wieder Koris’ Worte: »Anders, du mußt loslassen! Ich kann dich auf die andere Seite nicht mitnehmen!«
Alexander hob eine Schale mit warmer Milch mit beiden Händen hoch, vergrub sein Gesicht darin. Niemand durfte jetzt seine Augen sehen. Er hatte nicht losgelassen an jenem Tag.
Und Koris hatte ein Stück von ihm mitgenommen.
Über den Rand seiner Milchschale hinweg beäugte Alexander das seltsame Frühstück vor ihm auf dem Tisch. Er aß morgens selten viel, vor allem keine kleinen fettigen Küchlein mit Mandeln und Zucker, die aussahen, als müssen sie im Halse steckenbleiben. Aber er hatte Hunger, und er mußte nehmen, was es gab. Sie waren als hohe Herren abgestiegen, und als solche wurden sie nun verköstigt. Mit kleinen Bissen aß Alexander der Kuchen, der sogleich wie ein Stein in seinem Magen lag, und versuchte, ihn mit noch etwas Milch hinunterzuspülen. Danach war ihm der Appetit vergangen, auch wenn er noch einige Zeit reglos am Tisch saß und auf die Vase mit Blümchen starrte, welche die Tochter des Wirtes eilig gepflückt hatte. Soviel Aufmerksamkeit - das beste Zimmer, Kuchen, Blumen… Niemand hatte etwas gesagt, aber diese Leute wußten, wen sie beherbergten. Noch war die Schankstube menschenleer, aber an diesem Abend würden alle darüber reden, daß Engelsgeborene diesem Ort einen Besuch abgestattet hatten, und von hier aus die Worte in allen Richtungen verbreiten.
Er blickte auf und sah Halan, der wie er hinter einem leeren Teller saß. »Sollte diese Frau nicht allmählich fertig sein?« fragte er. Halan antwortete nicht, blickte nur leer geradeaus.
»Warum hat Aralee sie uns geschickt?«
»Vielleicht dachte sie, daß wir eine Dienerin brauchen«, erwiderte Halan, doch er klang, als glaube er es selbst nicht ganz.
Alexander lachte. »Von einer Totenmagd bedient werden, vielen Dank! Ich wollte mein Leben eigentlich noch ein wenig behalten.« Er lachte wieder und wußte doch, daß es falsch war. »Vielleicht soll sie uns für Aralee ausspionieren, wer weiß? Aber es ist gut, daß sie bei uns ist. Sie hat eine Schuld vor mir, und ich werde dafür sorgen, daß sie beglichen wird.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Kommst du mit?«
Als er den Tischen den Rücken zukehrte und zur Treppe hinüberging, sah er noch aus den Augenwinkeln, wie das kleine Mädchen aus der Küche gelaufen kam, um abzuräumen. Er blieb stehen und beobachtete sie, mußte unwillkürlich lächeln, als sie voller Ehrfurcht die Schale hob, aus der er getrunken hatte, und vorsichtig mit dem Finger die Stelle berührte, an der die Lasur seinen Lippen begegnet war. Die Kleine wußte, wer er war, kein Zweifel. Der Tag, an dem man diese Schale wieder ausspülen würde, war der Tag, der das Ende der Engelsgeborenen einläutete. Das Volk brauchte seine Heiligtümer. Er mußte an das kleine Mädchen denken, das bei der Krönung für ihn getanzt hatte - wie lange lag das zurück? Einen Tag, zwei Tage, Jahre - und sein Lächeln erstarb.
Er öffnete die Tür, stieg die Treppe hinauf, seine Schritte wurden immer schneller, den Gang hinunter rannte er fast, bis er dann vor dem Zimmer der Totenmagd einen Augenblick reglos stehenblieb und durchatmete. Dann packte er den Türknauf, drehte ihn, wartete noch einen Augenblick, aber drinnen rührte sich immer noch nichts, und stieß die Tür dann auf.
»Ich hatte gesagt, du sollst dich bereit machen!« bellte er. »Ich bin daran gewöhnt, daß meine Befehle befolgt werden.«
Die Totenmagd stand am offenen Fenster, reglos. Das graue Haar saß ihr nicht, wie sonst, in einem Knoten auf dem Hinterkopf, sondern hing als glatter Zopf ihren Rücken hinunter. Nach unten hin wurde das Haar immer dünner, wie ein armselig versiegendes Rinnsal. Als Alexander ich Betrachtung verharrte, merkte er plötzlich, daß er nicht gesprochen hatte. Die Worte waren auf seiner Zunge, als er das Zimmer betrat, in seinem Kopf, er konnte ihren Klang in sich spüren und ihren Geschmack in seinem Mund - aber er wußte, daß er sie nicht ausgesprochen hatte. Ein seltsames Schweigen ging von dieser Frau aus, eine Ruhe, die ihm kalt werden ließ.
»Was geht hier vor?« fragte er heiser. Mit leisen Worten war es leichter, die Stille zu durchbrechen, als mit Gebrüll. Diese Frau spürte Stille, und durch sie konnte auch Alexander sie fühlen. Sie hatte schon einmal so etwas getan, an Koris’ Sterbebett, aber da hatte Alexander nicht so sehr darauf geachtet, oder es war ihm nicht aufgefallen. »Was geht hier vor?« fragte er noch einmal, um sicher zu gehen, daß er auch wirklich sprach.
Die Totenmagd antwortete nicht, fuhr nur damit fort, wortlos aus dem Fenster zu schauen. Sie hielt beide Hände auf die Fensterbank gestützt und rührte sich nicht. Alexander trat zwei Schritte weiter ins Zimmer hinein und fühlte, wie die Stille drückender wurde. Endlich begriff er, daß es nur seine Gabe war, die auf seltsame Weise auf diese schweigende Frau reagierte, und er brachte sich wieder unter Kontrolle. Indem er hinter die Totenmagd trat, richtete auch er seinen Blick nach draußen, hinaus zur aufgehenden Sonne, die fast schon zu blenden begonnen hatte. Erfrischend duftende und noch klirrend kalte Morgenluft schlug ihm entgegen, und er fröstelte, erinnerte sich kurz daran, daß er nicht richtig angezogen war.
»Was ist das?« ragte er leise.
Sie wandte ihren Kopf, ihr Gesicht nah an seinem, und Alexander trat schnell einen Schritt zurück, um ihr nicht zu nahe zu kommen, sie nicht versehentlich zu berühren. Diesmal war er auf ihre Augen vorbereitet, und doch irritierten sie ihn.
»Sie fliegen wieder«, sagte sie leise.
Alexander schüttelte den Kopf. »Was?«
»Ich habe sie fliegen sehen, gestern, und gerade wieder.«
Alexander folgte ihrem Blick aus dem Fenster, über den Himmel, doch der war leer, bis auf ein paar fedrige graue Wolken.
»Wer fliegt?« fragte Alexander noch einmal, und kam sich sehr dumm vor.
»Die Nilomaran«, erwiderte die Totenmagd.
»Unsinn!« stieß Alexander hervor, ein gutes, lautes Wort, das seltsam hart in der Luft zu hängen schien, ehe es verblaßte. »Es gibt keine Nilomaran! Und du solltest das wissen, Totenmagd!«
Er trat noch einen weiteren Schritt zurück, von ihr fort, und blickte an ihr hinunter. Ihr Kleid war zerrissen, oben am Hals, am Arm, an der Schulter… Alexander kniff die Augen zusammen und nickte. Er war in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen - er mußte nicht fragen, und doch tat er es. »Warum gehst du in Lumpen? Willst du mein Auge beleidigen?«
Sie antwortete nicht, trat nur wortlos zum Bett hin und nahm Aralees Umhang, der dort lag, auf, legte ihn sich um die Schultern und zog ihn zusammen.
Alexander schüttelte den Kopf. So konnte es nicht gehen. Erst trat Halan in Opposition, widersetzte sich ihm, wo immer es ging, und nun machte auch die Totenmagd keine Anstalten, auch nur mit ihm zusammenzuarbeiten, geschweige denn ihm zu gehorchen. Er wußte nicht, wofür er die beiden brauchen sollte, nur, daß er sie nicht verlieren durfte. Sie waren alles, was er noch hatte, und das war armselig.
Tief durchatmend, straffte Alexander seinen schmerzenden Rücken. »Es ist Zeit, daß wir aufbrechen«, sagte er. »Es steht dir frei, uns zu begleiten, wenn nicht, werden wir dein Pferd als Packpferd mit uns führen. Solltest du dich entschließen, uns zu begleiten, wirst du die Aufgaben einer Dienerin übernehmen. Ich habe keinen Bedarf für eine Totenmagd, und ich habe im Moment andere Sorgen, als daß ich Interesse hätte, mich barmherzig zu zeigen.« Seine Stimme klang kälter, als er sie kannte, doch gerade das gefiel ihm, es machte ihn erwachsener. »Wie dem auch sei, du hast eine Schuld mir gegenüber, die wiedergutzumachen du außer Stande bist, und wenn es dir zehnmal gelingen sollte, mir meine Krone zurückzugeben.« Während er redete, kehrte langsam seine Wut zurück, kam wieder Klang in seine Worte. Mit geschmeidigen, bemessenen Schritten ging er zur Tür, blieb dort noch einmal stehen, um die Totenmagd ein letztes Mal anzublicken, ihr zuzunicken, und dann hinunterzugehen zu den Pferden.

Während sie ritten, überwog der Drang zu schweigen, obwohl Alexander seine Gefühle gegen die der Totenmagd - und, was noch sehr viel sinnvoller war, gegen die der Pferde - abgeschirmt hatte. Diesmal war er es, der nicht reden wollte. Mit Halan wollte er nicht sprechen, und wenn die Totenmagd vielleicht Interessantes zu berichten hatte, hielt er es für besser, manche Dinge nicht zu wissen.
Außerdem - aber er wäre lieber gestorben, als das einzugestehen - war das Reiten zu anstrengend, als daß er Kraft zum Unterhalten gefunden hätte. Er war seit jeher ein guter Reiter - ein Punkt in seiner Erziehung, auf den Koris großen Wert gelegt hatte, denn es war vor allem wichtig, daß ein Engelsgeborener eine gute Figur machte - aber nun schmerzten seine Knie und Schenkel beim Leichttraben, und wenn er auszusitzen versuchte, schüttelte es ihn durch und durch, bis er glaubte, nie wieder sitzen zu können, und die Zügel scheuerten fortwährend an seinen kaputten Händen. Alexander biß die Zähne zusammen, während er ritt, und sein einziger Trost war, daß die Totenmagd eine erbärmliche Reiterin war und er selbst zumindest Farrell wiederhatte, seinen geliebten Rappen, den ihm Koris zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte.
Sie würden diese Geschwindigkeit nicht lange halten können. Um die Beziehungen zwischen Koristan und Loringaril stand es nicht zum Besten, und das spiegelte sich wieder in der Straße, welche de beiden Hauptstädte verband. Es gab das Straßennetz schon lange, vielleicht war es sogar älter als das Geschlecht der Engelsgeborenen, aber je mehr die Beziehungen zwischen den Kindern Korisanders und Lorimanders zu bröckeln begann, desto weniger Aufwand wurde um den Erhalt der Straße betrieben. Nun war sie voller Schlaglöcher, und vermutlich hätte man sie schneller neu angelegt, als alle schadhaften Stellen auszubessern, alle holprigen, hervorstehenden Pflastersteine geradezurichten. Bei dem Versuch, hier zu galoppieren, hätten sich die Pferde sicher die Beine gebrochen - aber Alexander wußte, daß kein Pferd freiwillig auf einer Straße wie dieser galoppiert wäre, und Koris hatte ihn gelehrt, niemals ein Pferd dazu zu bringen, sich gegen seinen Willen in Gefahr zu begeben. Selbst der weiseste Engelsgeborene war, was den Gefahrensinn betraf, einem Pferd weit unterlegen.
Alexander spürte, wie die Trauer zurückkam mit der Sehnsucht, wie sehr er seinen Bruder vermißte - mit jedem Tag fehlte Koris ihm mehr, fielen ihm mehr kleine Dinge ein, die sie zusammen getan hatten.
Wußte Koris um den Zustand der Landstraße? Es wäre doch seine Aufgabe gewesen, sie instandzuhalten! Und andere Könige vor ihm mußten sie doch gewartet haben, sonst wäre über die Jahre kaum mehr als ein Feldweg von ihr übriggeblieben. Schatten von Zweifeln trübten Alexanders Erinnerung, und er bemühte sich, nicht Halans Blick zu begegnen. Halan, der Koris aus tiefstem Herzen gehaßt hatte und dem nicht entgangen sein konnte, wie es um die Straße stand und wessen Schuld das war. Wenn Alexander erst seine Krone hatte und in seinem Amt bestätigt wurde, würde seine erste Regierungshandlung darin bestehen, Gelder für die Ausbesserung der Straße zur Verfügung zu stellen - wenn genug Gelder dafür da waren, hieß das. Aber es war immer noch besser, diese Straße entlangzureiten, als in einer Kutsche über sie zu jagen, hilflos durchgeschüttelt zu werden und nicht die Möglichkeit zu haben, die Stöße durch Leichttraben abzufangen. Er mußte lachen bei der Vorstellung, wie ihre Gegner auf der Flucht durchgeschüttelt wurden. Ob sie ihr Ziel schon erreicht hatten? Wieviel Zeit blieb, um die Krone zurückzuerobern, bevor sich ein Loringarim zum König ausrief? Alexanders Lachen erstarb und wich grimmig zusammengebissenen Zähnen.
Auch als sie Rast machten, den Pferden und ihren eigenen Knochen eine Erholung an einem schmalen Bach gönnten, wollte Alexander lieber allein sein. Aber diesmal ließ es sich nicht vermeiden, mit Halan reden zu müssen. Halan sprach ihn an.
»Glaubst du, wir können noch einen Moment länger rasten?«
Wütend fuhr Alexander herum. »Warum fragst du mich? Seit wann gilt mein Wort dir etwas? Triff deine Entscheidungen, wie du willst, berate dich zur Not mit ihr darüber, aber paß auf, daß es auch wirklich über meinen Kopf hinweg geschieht!«
»Alexander«, sagte Halan ruhig, und Alexander hatte die Momente fürchten gelernt, in denen sein Neffe daran dachte, »ich frage dich jetzt. Doch wenn du mir Vorwürfe deswegen machst, werde ich es nie wieder tun.«
Alexander wandte den Blick ab und starrte trotzig auf seine Füße, auf die Sandalen, die Halan ihm hatte schließen müssen.
»Für was hältst du mich?« fuhr Halan fort. »Für deinen Diener? Ich bin ein Engelsgeborener wie du, Alexander von Korisanders Blute, nur eine Generation unter dir, und nicht dein Untertan. Und welchen Rang du auch immer innehaben magst, als ungekrönter König, bin ich doch immer noch fünf Jahre älter als du, und du bist ein halbes Kind.«
»Bastard!« zischte Alexander. »Du bist ein verdammter Bastard, Harold!« Er dehnte den Namen, den Halan so sehr haßte, rollte die zweite Silbe im Mund, bis er wußte, daß er Halan wirklich verletzt hatte. Mit dem Kinn deutete er auf die Totenmagd, die in einigem Abstand hockte, unten am Ufer, und ins Wasser schaute. »Sollen wir es ihr nicht sagen, Harold? Sollen wir ihr nicht sagen, daß du ein verdammter Bastard bist? Gehört es nicht in die Chronik?«
Halan zog sich immer weiter zurück, entzog seine Gefühle dem, was Alexander spüren konnte, bis nur noch ein Hauch von ihnen zu erahnen war und Alexander wußte, daß man ihm den Sieg nicht mehr nehmen konnte. Es fehlte nur noch ein letzter Schlag. »Aber bestimmt weiß sie es schon längst. Sie wird diejenige gewesen sein, die deine Mutter in den Nilomar geworfen hat.« Er machte eine kurze Pause. »In zwei Teilen.« Und dann… lächeln.
Wie mit einem Peitschenknall entluden sich Halans Gefühle über ihn, fetzten das Lächeln aus seinem Gesicht, ließen ihn aufheulen vor Schmerz und Verzweifelung. Er fühlte Haß, Wellen von blankem Haß, die ihn mitrissen, ihn fortrissen, ertränkten…
Alexander fiel ins Gras, wimmernd. Es dauerte nur einen Moment, dann erstarb der Sturm, als hätte Halan eine Klappe über den Nilomar gezogen. Die Stille war fast noch schlimmer.
»Das wollte ich nicht«, hörte Alexander sich selbst flüstern. »Das wollte ich nicht…«
»Doch«, sagte Halan. Es klang nicht einmal mehr wie ein Vorwurf, nur noch wie eine Feststellung. Dann ging er zu seinem Pferd hinüber und begann, ohne Alexander eines weiteren Blicks zu würdigen, in den Satteltaschen zu suchen.
Alexander rappelte sich auf, irgendwie, er wußte es nicht genau, rannte blind zu Farrell hinüber, band den Rappen los, schwang sich in den Sattel, und nachdem er das Pferd auf die Straße zurückgeritten hatte, trieb er ihm die Fersen in die Flanken und stürmte davon.
In seinen Ohren rauschte es; der Wind ließ Alexanders Augen tränen, als er die Straße nach Loringaril entlanggaloppierte. Immer wieder, immer härter trieb er Farrell zum Rennen an, wünschte sich zum ersten Mal in seinem Leben eine Gerte, um mehr Geschwindigkeit aus dem Pferd hinausprügeln zu können. Er wußte, daß Farrell das nicht verdient hatte, und daß er mit dem, was er tat, das Leben dieses wunderbaren Tieres in Gefahr brachte, aber es mußte sein, es war die einzige Möglichkeit, diesen Haß und diese Verzweiflung loszuwerden, die sich um sein Innerstes klammerten. Farrell rannte schneller denn je, seine Hufe hieben auf das Pflaster, aber es war noch immer nicht genug, es mußte schneller gehen -
Zu spät erkannte Alexander, daß es sich bei dem dunklen Schatten vor ihm nicht um einen Baum am Straßenrand, sondern einen Menschen handelte, der seines Weges ging. Farrell stürmte direkt auf ihn zu. Alexander versuchte noch, eine Warnung zu brüllen - ausweichen konnte er nicht mehr, und Farrell aus den blinden Galopp hinaus zum Stehen zu bringen, hätte einen sicheren Sturz bedeutet. Der Mann hörte Alexanders Schreien und sprang im letzten Augenblick - auf ihn zu.
Später meinte Alexander sich daran erinnern zu können, daß Farrell zur Seite ausbrach und stieg. Aber er war sich nicht sicher. Er lag auf dem Rücken, und für einen Moment stand die Welt still. Sogar die Zeit verharrte für einen Augenblick, als wolle sie die Entscheidung über Alexanders Schicksal für später aufschieben. Doch dann kam sie zu dem Schluß, daß Alexander so viel Aufmerksamkeit nicht verdient hatte, und begann langsam und rücksichtslos weiterzulaufen. Alexander schlug die Augen auf und glaubte festzustellen, daß er noch lebte. Doch auch da war er sich nicht sicher. Nicht ganz, jedenfalls…
Erst sah er nur den Elomar über sich. Dann ein Gesicht - ein Mann in den Dreißigern, mit strähnigem, rötlichbraunen Haar, das nach vorne fiel, als er sich über Alexander beugte und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete. Die Augen waren hell und bernsteinfarben und paßten gut in das schmale Gesicht, das man nicht als schön bezeichnen konnte, das aber nicht anders hätte sein dürfen. Die Nase eine Spur zu lang, das Kinn eine Spur zu spitz - aber man würde auch an keinem anderen Ort der Welt einen Menschen von perfekter Schönheit finden, dieses Privileg blieb allein den Engelsgeborenen vorbehalten.
Die hellen Augen verweilten keine zwei Momente an einer Stelle, ihr Blick huschte hin und her, Alexanders Körper hinauf und hinunter, bis es Alexander zuviel wurde und er sich aufsetzte.
»Ich fragte mich, was du dir wohl gebrochen hättest, aber du scheinst in Ordnung zu sein«, sagte der Mann. Seine Lippen bewegten sich nicht passend zu seinen Worten, sondern etwas versetzt, und Alexander kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, den er sich beim Sturz angeschlagen haben mußte. In seinen Ohren klingelte es, aber danach hatte er zumindest wieder das Gefühl, richtig hören und sehen zu können. Dann erst fiel ihm die seltsame Kleidung des Fremden auf, der fast nur aus Flicken bestehende Mantel, der aber verziert war mit einem prächtigen Kragen aus Fuchspelz. Plötzlich erinnerte ihn der ganze Mann an einen Fuchs, verschlagen und lauernd…
»Ich sehe, du bist unverletzt, Junge, aber ich hoffe, ich konnte dir auch so eine Lehre erteilen.«
Alexander öffnete den Mund. Alexander schloß den Mund wieder. Alexander sagte: »Ihr hättet mich fast umgebracht.«
Der Fremde schüttelte den Kopf, mißbilligend. »So, wie du auf mich zugeprescht bist, hättest du beinahe mich umgebracht. Und das ist nicht gerecht, denn im Gegensatz zu dir hatte ich keineswegs die Absicht, heute zu sterben.«
»Was wollt Ihr von mir?« fragte Alexander. Er wollte kein Gespräch mit diesem seltsamen Mann, aber es würde ihn ablenken von dem, was geschehen war, von der Falle, die Halan ihm gestellt hatte.
Der Mann kniff die ohnehin schon schmalen Augen ein wenig weiter zusammen und trat einen Schritt zurück. Dann griff er unter seinen Umhang - und zog ein Schwert hervor, ein schäbiges, altes Schwert, aber es sah immer noch tödlich aus.
»Ich könnte dir den Kopf abschlagen«, sagte er freundlich.
Alexander starrte ihn an. Er wußte nicht, wem er Glauben schenken sollte - den Worten oder der Stimme. Sein Verstand wog das eine gegen das andere ab. Der Rest von ihm hatte einfach nur Angst.
»Was -?« brachte er entgeistert hervor.
Der Mann hob das Schwert über seinen Kopf, als wolle er ausholen. »Offensichtlich suchst du den Tod, heute noch, und es wäre sinnlos, dir einen solchen Entschluß wieder ausreden zu wollen, denn das ist eine Entscheidung, die jeder für sich allein treffen muß. Da ich aber dieses Schwert habe, biete ich dir seine Hilfe an. Auf diese Weise bleibt zumindest dein Pferd am Leben.«
Alexander traf einen Entschluß, aber einen anderen, als der Mann gemeint hatte, wahrscheinlich. Er begriff, daß in diesem Moment seine Herkunft, seine Würde, sogar das Engelsblut in seinen Adern, egal waren, nichts zählten. »Bitte«, sagte er. »Tötet mich nicht.«
Mit scheinbar erstaunter Miene ließ der Mann das Schwert sinken. »Wie, du willst leben? Und was erklärst du deinem Pferd?«
»Bitte -«, sagte Alexander noch einmal, leiser. Auf eine gewisse Art war dieser Mann noch einschüchternder als Koris, und gerade das flößte ihm nicht nur Respekt, sondern auch Vertrauen ein.
»Ich sehe, wie du auf mich zugeritten kommst in gestrecktem Galopp, dein Pferd mit Schaum vor dem Maul und verdrehten Augen, als sei es völlig von Sinnen und mit dir durchgegangen. Da will ich dir noch helfen. Doch dann sehe ich dein Gesicht, und ich sehe, daß du das arme Tier immer weiter antreibst. Da begreife ich, daß du auf dem Weg in den Tod bist. Da will ich deinem Pferd helfen. Du verstehst?« Die Worte kamen leise und melancholisch, und ihre Einfachheit ging in ihrem Klang völlig unter, oder machte alles um so eindringlicher. »Du wirst verzeihen, daß ich mich zuerst um dein Pferd gekümmert habe, er ist jetzt wieder ruhiger, und ich habe ihn gehobbelt, damit er nicht das Weite sucht, während ich mit dir rede, auch wenn ich denke, daß ihm der Sinn nach allem anderen steht als danach, davonzurennen. Aber wenn ich du wäre, würde ich in der nächsten Zeit einen Bogen um ihn machen, bis er dir wieder verziehen hat.«
»Farrell!« rief Alexander, und erst jetzt merkte er, daß er sich wie ein kleines Kind an dem Fremden - einem gewöhnlichen Menschen! - festklammerte, sein Gesicht in den Mantel barg und schluchzte. Er riß den Kopf zurück, als hätte ihn eine Hornisse gestochen.
»Laß nur«, sagte der Mann. »Heul dich aus, wenn es hilft. Der Mantel trocknet schon wieder.«
Alexander wich vor ihm zurück. »Wer seid Ihr?« fragte er belegt.
»Ich bin Janek. Möchtest du reden? Ich weiß einen Ort, wo wir das besser können. Kommst du mit?«
Alexander schüttelte den Kopf. »Ich muß weiter.«
»Zu Fuß? Ich lasse nicht zu, daß du reitest. Nicht um dein Leben zu retten, versteh mich nicht falsch. Aber dein Pferd hat es mir angetan, und es wäre schade, wenn ihm etwas zustieße. Kommst du?«
Langsam und unsicher nickte Alexander. Janeks Befehlen konnte er Folge leisten, ohne sich eine Blöße zu geben. Dieser Mann wußte nicht, daß er in Wirklichkeit seinen König vor sich hatte, und gerade in diesem Moment wollte Alexander auch keiner sein müssen. »Wohin?«
»Hier in der Nähe, ein Stück weit die Straße hinauf, ist ein Gasthaus. Da können wir reden, wenn du magst. Wenn du nicht magst, gibt es noch viele andere Möglichkeiten: Du kannst dich betrinken, vielleicht hilft es ja, oder dir ein Mädchen anlachen, es laufen dort genug herum… das Leben hat eine Menge zu bieten, weißt du?« Er blickte Alexander abschätzend an. »Wie alt bist du überhaupt, Junge? Und hast du keinen Namen?«
Alexander zögerte. »Ich bin sechzehn«, sagte er dann. »Und ich heiße Anders.«
Mit einem müden Lächeln nickte Janek. »Sechzehn erst, und schon ein solcher Schinder… Ich schlage vor, wir reden, während du dich betrinkst, und dann zeige ich dir, wie das mit den Mädchen geht.«
Angeekelt starrte Alexander ihn an, hatte schon eine Erwiderung auf der Zunge, die diesen unflätigen Mann in seine Schranken weisen sollte. Doch dann ging er nur wortlos nebenher, als Janek das Pferd langsam die Straße entlang führte. Die Tränen schossen ihm in die Augen, als er sah, daß Farrell lahmte, seinetwegen! Und so entging es ihm, bis sie beinahe am Ziel waren, daß auch Janek nur langsam und mit Mühe ging. Der Mann, aus dessen trockener Stimme so viel Stärke sprach, der so respektfordernd auftrat und ein Schwert führte wie ein freier Mann, auch wenn er in Lumpen ging - ausgerechnet dieser Mann zog das rechte Bein nach und mußte sich beim Gehen auf einen Stock stützen. Nur ein Krüppel.
Doch es war schon zu spät. Alexander hatte vor diesem Krüppel so viel Respekt, wie er außer vor Koris noch vor keinem gehabt hatte. Er wußte, daß er jeden einzelnen Befehl dieses Mannes befolgen würde, und koste es sein Leben.
Oder gerade dann.

Als er die Poststation sah, dachte Alexander einen Moment lang, er habe bei seinem überstürzten Ritt versehentlich die falsche Richtung eingeschlagen und sei zurückgeritten, so sehr ähnelte diese Ansiedlung der anderen: Wieder drei Häuser, die sich um einen Gasthof drängten, umgeben von Weiden und Feldern. Aber dann sah er das gemalte Wirtshausschild. Zum Schwanen. Dieser Name wäre ihm gestern bei aller Müdigkeit aufgefallen.
Alexander schüttelte sich. Allein beim Gedanken an Schwäne sträubten sich seine Nackenhaare.
»Am besten mieten wir dir gleich ein Bett«, meinte Janek, »und bezahlen es auch sofort. Du wirst es brauchen. Geld hast du?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Alexander unsicher. Für die letzte Nacht hatte Halan wahrscheinlich gezahlt, wieviel, wußte Alexander nicht. »In den Satteltaschen, glaube ich.«
»So, glaubst du?« Janeks Stimme war plötzlich wachsam. »Wie kommt es, daß du dir nicht sicher bist? Farrell ist doch dein Pferd?«
Schnell nickte Alexander. Aber jetzt ließ es sich nicht mehr vermeiden… »Vielleicht ist das Geld auch bei Halan«, murmelte er.
Janek sagte nichts, blickte ihn nur an und hob eine Augenbraue, so daß Alexander nichts übrig blieb als weiterzureden.
»Wir waren gemeinsam unterwegs. Wir hatten Streit.« Das hatte auszureichen.
»Warte bis wir sitzen«, erwiderte Janek. »Ich höre dir gerne zu, aber Stehen bereitet mir nur wenig Vergnügen.« Er deutete auf seinen rechten Fuß. Alexander errötete.
»Oh - das tut mir leid!«
»Dir muß es nicht leid tun«, sagte Janek, aber in seiner Stimme lag alter Groll, und einen Moment lang war Alexander versucht, sich in den Krüppel einzufühlen. »Dich trifft keine Schuld. Du warst damals noch klein.« Seine Augen verdunkelten sich, wurden aber sofort wieder hell.
»Was ist geschehen?« fragte Alexander.
»Ein Unfall«, war Janeks knappe Antwort. »Vor vielen Jahren.«
Alexander fragte nicht weiter.
»Aber wir sollten schon einmal hineingehen«, fuhr Janek fort. »Dein Freund wird sicher hier ankommen und kann dir das Geld geben.«
»Nein!« unterbrach ihn Alexander. Nicht Halan! Er wollte, er durfte Halan niemals wiedersehen. Nicht nach dem, was geschehen war.
»Ansonsten habe ich zumindest soviel dabei, daß ich dich für den Abend einladen kann, wenn du nicht gleich auf dem Königszimmer bestehst.«
Für einen Moment glaubte Alexander sich entdeckt, glaubte, daß Janek ihn erkannt hatte. Aber da lachte der Mann auch schon über Alexanders bestürztes Gesicht. Er war nur ein Scherz. Schnell fiel Alexander in das Lachen ein. Nur nicht zeigen, daß er das ernst genommen hatte!
Im nächsten Moment legte Janek eine Hand an den Mund und rief, in einer Lautstärke, die ein ganzes Schlachtfeld übertönt hätte: »He, Wirt! Schick uns deinen Stallburschen raus! Es gibt Arbeit für ihn!«
Mit der anderen Hand hielt er Farrell am Zügel fest, und der Rappe, den früher kam etwas aus der Ruhe gebracht hätte, schrak bei dem Gebrüll zusammen und begann, unruhig hin und her zu tänzeln, bis Janek wieder leise auf ihn einredete und ihm auf den Hals klopfte. Schuldbewußt und verschämt blickte Alexander zu Boden, konnte nicht dem Stallburschen in die Augen sehen, als dieser kam und versprach, sich gut um das kostbare Tier zu kümmern.
»Und nun«, sagte Janek, »treten wir ein.«
Kurz darauf fand Alexander sich an einem Tisch wieder, auf einer ungepolsterten Holzbank, vor sich einen Becher mit Wein. Der Raum war angefüllt mit Leuten und Gesprächen, die so laut durcheinandergingen, daß es Halans Ohren bedurft hätte, um mehr als nur Bruchstücke zu verstehen. Beim Gedanken an seinen Neffen verschluckte sich Alexander fast an dem säuerlichen Wein, und danach behielt er den Becher lieber in der Hand, lauschte unschlüssig den Gesprächen, ohne zu wissen, wo er anfangen sollte.
- »Frau hat sie auch gesehen, sie flogen ganz tief -«
- »Und es waren acht, keiner mehr und keiner weniger -«
- »Federn, schwarz wie die Nacht -«
- »Zum Glück haben sie nicht geschrieen, sonst würde einer von uns morgen nicht mehr erwachen -«
- »Schwere Zeiten brechen an, schwere Zeiten -«
- »Habt ihr schon vom König gehört?«
Alexander beugte sich zur Seite, um besser hören zu können, was über ihn geredet wurde. Woher kamen all diese Leute überhaupt? Auf der Straße waren ihm an diesem und dem letzten Tag nicht halb so viele Leute begegnet, wie nun diese rauchige Stube füllten. Vielleicht wohnten sie hier, auf den umliegenden Höfen, und nur die Ereignisse der jüngsten Zeit hatten sie an diesem Abend in das Wirtshaus getrieben – Er mußte wieder an die Worte der Totenmagd denken: Sie fliegen wieder. Die Nilomaran. Er schüttelte sich, froh, die schwarzen Vögel selbst nicht gesehen zu haben.
»Und? Willst du lieber anständige Leute belauschen, als zu trinken?« Jankes Stimme und dessen warme Hand auf seiner Schulter ließen Alexander zusammenzucken und sich ertappt fühlen. »Wolltest du mir nicht erzählen, was mit dir los ist?«
»Ich - ich kann nicht«, sagte Alexander leise.
»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Janek. »Zumindest noch nicht. Aber bald wirst du das Bedürfnis haben, mir sehr viel zu erzählen, und glaub mir, das ist das Beste für dich, auch wenn dir manches davon hinterher leid tun wird - es mir gesagt zu haben, meine ich.«
Alexander blickte von seinem Wein auf den Mann und wieder zurück. Er wollte sich nicht betrinken, nicht nach dem, was beim letzten Mal passiert war, und vor allem wollte er nicht zuviel von sich verraten. Es gab zu vieles, das auf seiner Seele brannte, das hinaus drängen, ihm Ruhe verschaffen wollte. Aber auch das mußte geheim bleiben, schon um Koris‘ Willen, wenn nicht sogar den der Elomaran. Alexander seufzte innerlich, als er den Becher in seinen Händen drehte, sich dann zu Janek hinüberbeugte und fragte: »Wer bist du überhaupt?«
»Wie ich es dir schon sagte - ich bin Janek.« Der Mann hob belustigt eine Augenbraue und schenkte sich Wein nach. Er hatte einen ganzen Krug bestellt.
»Und wer ist Janek?« fragte Alexander weiter. »Du gehst in Lumpen wie ein Bettler, doch du hast Geld in der Tasche. Du führst ein Schwert wie ein Kämpfer, und doch bist du -« Er brach erschrocken ab, bevor er es aussprach: Ein Krüppel.
Janeks Augen verdunkelten sich. Er lehrte seinen Becher in einem Zug und setzte ihn unsanft auf der Tischplatte ab. »Trink deinen Wein!« sagte er. Ein Grollen war in seiner Stimme, das mehr an einen Wolf denn einen Fuchs denken ließ. »Ich habe dich nicht gefragt, wer Anders ist. Also unterlaß es, mir solche Fragen zu stellen.«
Alexander entschuldigte sich. Aber jetzt war er wachsam geworden, fühlte ein, wenn auch nur leichtes, so doch beißendes Mißtrauen gegenüber diesem Mann, der so darauf brannte, Alexanders Geheimnisse zu erfahren, ohne seine eigenen preisgeben zu wollen. »Warum soll ich dir dann sagen, was mich bedrückt,« fragte er trotzig, »wenn gleichzeitig ich dir keine Fragen stellen darf?«
Janek atmete durch und griff nach dem Weinkrug, nicht nur um sich selbst, auch um Alexander nachzuschenken. »Du vergißt eines, Junge. Es gibt einen Unterschied zwischen uns, einen entscheidenden Unterschied: Du hattest heute vor, zu sterben, und ich nicht. Du schuldest mir eine Erklärung. Also rede!«
Plötzlich bekam Alexander Angst, Angst vor Janeks Groll, Angst, ihn wieder zu verlieren, so wie er Halan verloren hatte - nicht, daß es ihm um den Leid tat, aber… eigentlich… »Ich wünschte, er wäre tot!« platzte es aus ihm heraus, und er konnte froh sein, daß seine Worte im allgemeinen Lärm des Schankraums untergingen. »Ich wünschte, er wäre nie geboren!« Worte kamen ihm wie Tränen, ohne daß er sie zurückhalten konnte - nicht von den Elomaran, von Koris oder von der Krone, aber von Halan, der ihn so sehr hassen mußte, der ihn niemals würde lieben und bewundern können, und den er doch selbst immer bewundern mußte für seine Klugheit, den er beneidete und haßte für seine Gaben… Von sich sprach Alexander nur am Rand, aber er merkte nach jedem Satz, immer dann, wenn es zu spät war, er es nicht ungesagt machen konnte, wieviel er doch von sich verriet. Er schlug mit den Handflächen hart gegen die Tischkante, während er redete, bis Janek ihn hart am Arm packte.
»Du machst es damit nicht besser, also laß es!« fuhr ihn Janek an. »Du kannst dich auch bemitleiden, ohne dein Fleisch in Stücke zu reißen.« Seine Stimme, wie auch seine Stimmung, verrieten, daß er von dem Wein, den Alexander sich nicht anzurühren bemühte, um so reichlicher trank, als wären es seine Wunden, die nicht heilen wollten, und nicht Alexanders.
»Ich bemitleide mich nicht!« erwiderte Alexander gereizt und wunderte sich über seinen Zorn, bis er begriff, daß es Janeks war und er selbst kurz davor stand, die Kontrolle über seine Gabe zu verlieren. Koris hatte ihn oft gewarnt. Mit dem kleinen Finger schon Alexander den Becher noch etwas weiter von sich fort.
»Ich will nichts mehr hören!« fiel ihm Janek ins Wort. »Was ich begriffen habe, reicht mir. Du hast eine Person, an der dir viel liegt, zutiefst verletzt, und du wirst dich entschuldigen.«
»Das werde ich nicht! Ich will ihn nie wiedersehen!« Leise fügte er hinzu: »Und er mich sicher auch nicht.«
»Er wird hier vorbeikommen, verlaß dich drauf. Er wird hier absteigen, etwas anderes bliebt ihm nämlich nicht übrig, wenn er nicht im Freien übernachten will, und wenn er durch diese Tür tritt, wirst du dich bei ihm entschuldigen.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Er würde es nicht akzeptieren. Er würde mir nicht einmal glauben, daß es mir leid tut.«
»Dann sag es eben nicht!« Janeks Tonfall wurde immer schroffer. »Dann bitte ihn nur um Vergebung!« Etwas versöhnlicher fügte er hinzu: »Zur Not werde ich mit ihm reden.« Er erhob sich, ein klein wenig unsicher, aber das konnte auch an seinem schlimmen Fuß liegen. Was für ein Unfall mochte das gewesen sein? »Und jetzt entschuldige mich.«
»Warte!« rief Alexander. »Wo willst du hin? Bitte, geh nicht weg!«
Janek lachte rauh. »Ich habe erst einmal genug von dir gehört. Ich bin nicht deinetwegen hier. Ich sagte dir doch, ich wollte mir hier ein Mädchen suchen. Und das finde ich ganz sicher nicht, wenn ich mir von dir die Ohren vollheulen lasse.«
Er verschwand in der Menge und ließ Alexander zurück, allein und verzweifelt. Jetzt dachte er, einen Verbündeten gefunden zu haben - und wurde wieder nur verraten. Alexander fühlte Schuld, gegenüber Janek, den er enttäuscht hatte, aber auch gegenüber Halan. Es half nichts, er mußte sich entschuldigen, schon damit Janek wieder besser von ihm dachte. Janek war ein wenig wie Koris. Alexander würde fast alles tun, um ihm zu gefallen. Halan. Und wenn er nun nicht kam? Wenn er längst mit der Totenmagd vorbeigeritten war? Wie lange hatte Alexander hier mit Janek gesessen? Bestimmt Stunden. Halan würde nicht mehr kommen…
Trübsinnig rutschte Alexander tiefer in seine Ecke hinein, beugte sich vor und zog Becher und Weinkrug zu sich herüber. Janek hatte eine Menge getrunken, aber vom zweiten Krug war genug übrig - Alexanders Anteil. Er zögerte kurz, bevor er seinen Becher voll goß, dachte daran, wie elend er sich nach dem letzten Mal gefühlt hatte und daß es ausgerechnet Halan war, der ihn damals retten mußte. Aber das konnte auch nur wegen Aralees Schlafkräutern passiert sein… Er hörte wieder Koris‘ Worte: Rausch ist etwas, das die gewöhnlichen Menschen brauchen, wir nicht.
Aber Koris war tot. Und Alexander hatte sich niemals mehr gewünscht, ein gewöhnlicher Mensch zu sein.
Er schenkte sich den Becher voll.

Die Augen fühlte er, ehe er sie sah, und war es ihm vorher schon schwer gefallen, im Wein Zerstreuung zu finden, so war das nun unmöglich. Dieser Blick war so kalt, so nüchtern, daß wo er hinfiel, aller Rausch verschwand, seine Spuren fortgewischt wurden zu einem Nichts, das es nie gegeben hatte. Alexander machte nicht erst den Versuch, ihm auszuweichen, sich in seiner Ecke, in den Schatten zu verstecken. Halan hatte ihn gefunden, und ein Davonlaufen gab es nicht. Er wünschte nur, Janek wäre wieder hier, um ihm zu helfen, ihm mit Worten oder seinem Schwert beizustehen, doch Janek blieb verschwunden, so wie er aufgetaucht war: Seltsam endgültig…
Halan sagte nichts, als er Alexanders gewahr wurde, durchquerte nur die Schankstube mit so geraden Schritten, als erwarte er, daß alle Leute vor ihm auswichen, und das taten sie auch. Die Totenmagd folgte zwei Schritte hinter ihm, hielt wieder Aralees Mantel fest um sich gezogen, was sie so form- und körperlos erscheinen ließ, als sei sie selbst nicht mehr und nicht weniger als Halans Schatten. Alexander hätte nicht gedacht, daß er ihren Anblick einmal als erfreulich empfinden würde, doch nun bedeutete es, daß er Halan nicht ganz allein gegenübertreten mußte. Auch konnte er versuchen, ihre Ruhe zu trinken…
Alexander setzte sich gerade auf, legte die Hände auf der Tischplatte übereinander und wartete. Halan sollte ihn nicht für betrunken halten - er war es nicht, war es nie gewesen an diesem Abend. Aber es gelang ihm nicht, Halans Blick standzuhalten; er hatte nichts mehr, was er ihm entgegensetzen konnte… Alexander wußte um die scharfe Beobachtungsgabe seines Neffen, wußte, daß der ihm niemals Glauben schenken würde, solange Alexander nicht aus tiefstem Herzen sprach. Er fühlte den Blick wie ein Messer, suchte nach Worten, aber alles, was er hervorbrachte, war ein klägliches »Halan -«
Keine Reaktion. Kein Aufwallen von Gefühlen, von plötzlicher Zuneigung, Abneigung, Haß. Nichts, nichts als Kälte. Nicht einmal Koris auf seinem Totenbett hatte sich kälter angefühlt, oder lebloser.
»Es tut mir leid.« Kaum mehr als ein Flüstern. »Vergib mir.«
Nichts. Halan rührte sich nicht, innerlich wie äußerlich. Alexander getraute sich nicht, auch nur ein Wort mehr zu sagen. Jetzt konnte er nichts mehr besser machen, nur noch schlimmer. Er versuchte, Janek zu verfluchen, weil der ihm geraten hatte, um Vergebung zu flehen, doch nicht einmal das gelang ihm. Daß er weiter beobachtet wurde, konnte er fühlen, doch er wußte nicht, was er tun sollte.
Dann trat Halan an ihn heran, legte, ohne etwas zu sagen, Pergamente vor Alexander auf den Tisch, beschrieben in seiner schönsten, ordentlichsten Chronistenschrift. Alexander wußte, was von ihm erwartet wurde, daß er sie nehmen und lesen sollte, doch er fürchtete ihren Inhalt, und schon die ersten Worte verschwammen ihm vor den Augen.
»Wahre Chronik des Alexander von Korisanders Blute. Dies ist die Wahrheit.« Er wollte nicht, doch er zwang sich, auch noch den nächsten Satz zu lesen. »Alexander, Zweitgeborener der siebzehnten Generation, Nachfahr des Elomaran Korisander und Erbe der Krone, ist ein Nichts, jemand, der nur durch die Schmerzen lebt, die er anderen zufügt…« Alexander ertrug den Rest nicht. Sechs Bögen waren es, die vor ihm lagen, sechs Bögen voller Wahrheit in Schönschrift.
»Lies weiter«, sagte Halan leise. »Und sieh zu, daß du keine Flecken machst.« Er drückte die Schriftrollen in Alexanders widerstrebende Hände.
Alexander sah auf und fing sich in Halans Augen. Beider Lippen blieben verschlossen, als Alexander seine Frage stellte und Halan ihm antwortete, als sei die Gabe, in Gedanken zu sprechen, nicht seit Generationen ausgestorben. Du kannst nur das Pergament zerreißen, nicht die Wahrheit. Keiner von ihnen rührte sich, aber Alexander fühlte, wie er immer kleiner wurde und Halan größer, seine Augen immer dunkler, immer tiefer.
Warum tat Halan das? Um ihm zu zeigen, wie sehr er ihn verabscheute, oder um zu demonstrieren, welche Macht in den Händen der Chronisten lag? Nur einen Satz brauchte Halan, um Alexander von einem Engelsgeborenen und rechtmäßigen König in ein Nichts zu verwandeln. Nur einen Satz…
»Das ist die Wahrheit?« flüsterte Alexander.
Halan nickte. Alexander gab ihm die Pergamente zurück, ungelesen.
»Ich kenne sie bereits.« Seine Stimme erstarb.
»Jetzt schon«, erwiderte Halan. Er nahm die Bögen, legte sie übereinander, rollte sie säuberlich auf, band sie mit einer Schleife zusammen und schob sie vorsichtig in eine Tasche seines Gewandes.
Hieß das, er akzeptierte die Entschuldigung, glaubte, daß Alexander an diesem Tag etwas gelernt hatte? Alexander traute sich nicht zu fragen. Statt dessen hielt er Halan seinen Becher hin. »Möchtest du?«
Seine Hand verharrte in der Luft. Noch bevor Halan das Angebot annehmen oder ausschlagen konnte, näherte sich ihnen von hinten das klopfende Geräusch eines Gehstocks, eines, das Alexander inzwischen kannte und sein Herz vor Freude schneller schlagen ließ. Janek war zurück!
Er schob Halan beiseite, um sich wieder auf seinen alten Platz gegenüber Alexander zu setzen, so als sei er nie fort gewesen, oder längst Bestandteil ihrer Gruppe. Dann blinzelte er mit schiefgelegtem Kopf hinauf zu Halan, der ihn mit einer Mischung aus Verwunderung, Argwohn und Entsetzen anstarrte, allerdings ohne die Miene zu verziehen.
»So«, sagte Janek freundlich. »Und du bist also Halan?«
Halan antwortete nicht, suchte wahrscheinlich nach einer Würdevollen Erwiderung, als Alexander an seiner Stelle nickte.
»Ich weiß nicht, ob er es fertig gebracht hat, dir das zu sagen, aber es tut ihm leid«, fuhr Janek fort.
Einen Moment lang schien Halan vollends zu erstarren, dann schoß sein Kopf herum. »Alexander«, sagte er sehr leise und mit einem Zittern in der Stimme, »komm bitte mit.«
In Alexanders Knien schien gerade noch genug Kraft zu stecken, als er aufstand, Janek und der Totenmagd zunickte und seinem Neffen in den Hof folgte. Er wollte nicht zornig werden, es sich nicht sofort wieder mit Halan verderben, also blieb ihm nichts anderes übrig, als Angst zu haben.
»Reicht es dir nicht, mich vor Lyda gedemütigt zu haben? Mußt du es jetzt noch jedem Trunkenbold erzählen?«
»Janek ist kein Trunkenbold«, erwiderte Alexander, zu leise. Lieber hätte er geschrieen. »Er ist -« Er brach ab. Was Janek war, wußte er nicht. »Er hat mir geholfen«, sagte er statt dessen.
»Das habe ich gesehen.«
Alexander blickte ihn kläglich an. Er wollte Janek verteidigen, doch er hatte keine Worte dafür, konnte seinen Freund nicht erklären. Halan mußte selbst mit dem Krüppel reden, ihn kennenlernen, bis der Zauber auch auf ihn zu wirken begann.
Halan blickte an ihm hinunter, und unter seinen Augen begriff Alexander plötzlich, wie er aussah, daß man zumindest seinen Kleidern Ritt und Sturz ansehen mußte, daß sein Äußeres gerade genauso erbärmlich wie sein Innerstes sein mußte. »So«, sagte er. »Du scheinst dir ja jetzt deinen Reisegefährten gesucht zu haben. Dann brauchst du mich ja nicht mehr.«
‘Ich habe dich nie gebraucht!‘ wollte Alexander schreien. Aber sie wußten beide, daß es nicht stimmte. War das Halans Rache? Wie lange mußte Alexander noch auf den Knien vor ihm rutschen, sich erniedrigen? »Ich brauche euch beide«, sagte er.
»So siehst du auch aus«, sagte Halan, und für einen Augenblick erschien es fast, als lächele er.
»Gehen wir wieder rein. Es hat wenig Sinn, noch länger hier draußen zu stehen.« Alexander wollte wieder hinein, zurück zu Janek.
Halan rief ihn zurück. »Oh, noch etwas - ich weiß nicht, wer dein Janek ist, und du weißt es offenbar selbst nicht - aber du bist dir hoffentlich im Klaren, daß er weiß, wer wir sind?«
Alexander schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, ich habe es ihm nicht -« Er sah Halans Gesicht und brach ab. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren, wenn er sich auf seine Beobachtungsgabe verließ oder zumindest daran glaubte.
Außerdem war es ohnehin egal. Janek mußte wissen, mit wem er es zu tun hatte, wenn er sich ihnen anschloß, um ihnen mit seinem Schwert und seiner Lebenserfahrung zur Seite zu stehen. Was machte es da schon, daß er einen Hinkefuß hatte?
Aber Alexander kam nicht mehr dazu, Janek einzuweihen oder sich ihm als Engelsgeborener zu offenbaren.
»Ich habe eine Bitte«, begann er, und plötzlich fiel es ihm schwer. »Ich… wir… brauchen deine Hilfe…«
Weiter kam er nicht. Janek begann zu lachen. »Das glaube ich dir, und ich zweifle nicht daran, daß es stimmt. Du willst, daß ich euch begleite, nicht wahr?« Schnell und dankbar, weil ihm Worte erspart blieben, nickte Alexander. Janek lachte lauter. »Und du glaubst, das reicht? Du glaubst, ich habe Lust, einen lebensmüden kleinen Jungen auf der Suche nach Abenteuern zu begleiten? Ich habe besseres zu tun, und es gibt Leute, die mich mehr brauchen, meine Frau zum Beispiel, oder meine Kinder.«
Alexander starrte ihn an, unfähig, sich auch nur zu rühren. Janek hörte auf zu lachen, klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch, Anders. Du kommst auch ohne mich zurecht. Zumindest wissen wir jetzt beide, daß du dich nicht noch einmal umbringen wirst.«
Mit einer halben Umdrehung entwand sich Alexander der plötzlich unangenehmen Berührung, brachte es fertig, ein paar ruhige Worte mit dem Wirt zu wechseln, sich seine Kammer - sein Bett in einer Kammer, in der bereits ein anderer schlief - zeigen zu lassen.
Bevor er einschlief, lag er noch ruhig wach, fühlte sich seltsam leblos in der fremden Umgebung. Zum ersten Mal in seinem Leben fing er an, Halan zu verstehen.
Dann, als er ihn schon nicht mehr erwartete, kam der Schlaf.

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