Am Tag nach dem großen Streit setzten sie ihre Reise fort,
ohne noch ein Wort über das Geschehene zu verlieren - aber
daß es geschehen war, daran bestand kein Zweifel.
Niemand trug deutlichere Spuren davon als Anders. Er sprach nicht,
zumindest nicht mehr als das Nötigste, weniger noch als Lyda,
und befolgte schon die kleinste Andeutung eines Vorschlags, ohne
Widerworte zu geben. Es war beängstigend, ihm zuzusehen -
nicht nur, weil er einen völlig verstörten Eindruck
machte und sich nicht einmal bemühte, das zu verbergen,
sondern weil Halan ständig einen neuen Ausbruch
befürchtete. Er wußte nicht, wie er seinem Onkel
hätte helfen können, und nach Anders’ Verhalten war
er auch nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Also
unternahm er gar nicht erst den Versuch, den Jungen in irgendeiner
Form aufzumuntern.
In den Tagen, die ihr Ritt nach Loringaril dauerte - es waren nur
zwei, doch sie kamen Halan sehr lang vor - war es nur das
Pflichtgefühl, das ihn an Anders’ Seite hielt. Lieber
wäre er bei der Arbeit gewesen, wie noch vor drei Wochen -
oder waren es sogar nur zwei? - in Graf Merins Haus, um dort das
Buch abzuschreiben, damit es in Korisanders Bibliothek aufgenommen
werden konnte. Zwischendurch waren seine Gedanken wieder dort, und
dann fragte er sich, ob das Manuskript jemals fertig werden sollte.
Sein Herz tat ihm weh bei dem Gedanken, daß dieses friedliche
Gelehrtenleben vielleicht für immer hinter ihm lag, er nie
wieder zu seinen Büchern zurückkehren konnte. In seinen
Satteltaschen trug er Pergament, Tinte und Federkiele, um unterwegs
die Chronik fortsetzen zu können, aber er wußte nicht,
wie weit das reichte, und auch nicht, ob Anders jemals eine Chronik
brauchen würde…
Trotzdem verbrachte Halan jeden freien Moment mit Schreiben,
schrieb an zwei Chroniken gleichzeitig: Der Offiziellen, in der
Anders Heldentaten vollbrachte, um sich in einer Aufgabe zu
bewähren, die niemand anderes als Korisander ihm gestellt
hatte - und der Wahren Chronik, in der Halan sich bemühte, ein
Bild von Anders zu zeichnen, wie er wirklich war. Es war fast noch
schwieriger, als sich all diese Lügen ausdenken zu
müssen. Eigentlich wollte Halan alles andere, als sich mit dem
Jungen zu beschäftigen, bei dem jeder Blick, jede Geste, jedes
Wort ihn an die Beleidigungen und Verletzungen denken ließ
und ihn daran erinnerte, daß seine Nase immer noch gebrochen
war und bei Berührung schmerzte. Aber wenn er nicht über
Anders nachdachte, nahmen seine Gedanken Wege, die noch
unangenehmer waren.
Janek ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, dieser sonderbare,
abgerissene Mann, in den Anders so vernarrt war. Halan wurde das
Gefühl nicht los, ihn kennen zu müssen - konnte er denn
niemandem mehr begegnen, ohne eine Ahnung von Vertrautheit zu
bekommen? Erst Ember von Valon, dann der Diener, nun Janek…
Aber diesmal war das Gefühl am stärksten. Halan sprach
nicht mit Anders über Janek, über das, was an dem
Nachmittag passiert war, obwohl allein eine Erwähnung bestimmt
schon gereicht hätte, um Anders aus seiner Starre zu
reißen. Aber Halan nannte den Namen nicht, wollte nicht
erzählen, was Janek zu ihm sagte, nachdem Anders von Tisch
geflohen war, kurz bevor der Mann sich anschickte zu gehen. Ein
letztes Lächeln, eine Verbeugung, die mehr spöttisch als
ehrfürchtig erschien, und dann die Worte:
»Leb wohl, Halan. Laß uns wünschen, daß du
nach deiner Mutter gerätst.« Dann war er fort, und Halan
war froh darüber. Er wollte keine Fragen stellen müssen,
was Janek meinte, woher er das wußte, das von…
damals?
Das seltsame war, daß Halan es selbst nicht wußte. Er
konnte sich an so vieles erinnern, eigentlich an alles, was sich in
seinem Leben ereignet hatte, seit er drei Jahre alt war - und
ausgerechnet dieses eine war ihm heute nur noch in
Bruchstücken erhalten. Damals hatte er es nicht verstanden,
und heute war nicht mehr genug zum Verstehen übrig.
Seine Mutter war groß, dunkel und schön - groß,
weil Halan selbst noch klein war, und dunkel im Vergleich zu Halans
anderen Verwandten, den Engelsgeborenen, welche die
porzellänerne Haut ihres Vorfahren geerbt hatten und diese
Blässe mit Schminke noch weiter betonten. Aber daß
Halans Mutter schön war, daran gab es keinen Zweifel. Man
schränkte es natürlich ein: Für einen Menschen, aber
nicht einmal das war nötig. Halans Mutter war schön, auch
schöner als Aralee, mit Abstand. Sie hatte eine angenehme
Stimme. Manchmal kam sie zu Halan und erzählte ihm
Geschichten, wie sie nicht in der Chronik standen, aber Halan
begriff, daß sein Vater das nicht gerne sah, und bat sie,
damit aufzuhören, obwohl er gerade diese Abende immer sehr
liebte. Die Erziehung der Engelsgeborenen hatte in der Hand anderer
Engelsgeborener zu liegen, die wußten, worauf es
ankam… Wenn Halan jetzt Anders ansah, bezweifelte er,
daß sein Vater es wirklich gewußt hatte. Aber jetzt war
es zu spät, um noch etwas zu ändern.
Halan war acht Jahre alt und studierte in der Bibliothek, als der
König den Raum betrat, sichtlich aufgebracht, so sehr von
Gefühlen gezeichnet, wie Halan es weder vorher noch danach
jemals wieder erleben sollte.
»Komm mit!« sagte er nur, wartete nicht, bis Halan die
Chronik zurück ins Regal stellen konnte, sondern nahm ihn beim
Arm und zog ihn fort. Draußen warteten Männer, die Halan
nicht kannte.
»Wollt Ihr ihn erst noch herrichten?« fragten sie,
doch der König schüttelte unwirsch den Kopf.
»Laßt das, ich brauche ihn, so wie er ist,
ungeschminkt. Man soll sein Gesicht erkennen
können.«
Kurz darauf fand sich Halan zu seinem Schrecken im Thronsaal
wieder, jener Halle, die er mehr fürchtete als alle anderen
Teile des Schlosses. Viele Menschen waren dort versammelt, von
denen er einige als Grafen wiedererkannte, die er bereits auf der
Krönung gesehen hatte. Sie alle fielen auf die Knie,
drückten ihre Stirnen zu Boden, als der König eintrat. Am
liebsten wäre Halan weggerannt. Dieser Saal war so riesig, so
kalt, die Decke so hoch, die Wände so weit. Halan hielt sich
gerade und würdevoll, machte kleine Schritte, um nicht auf dem
glatten Boden auszurutschen. Er wußte, daß ihm seine
Haare unordentlich ins Gesicht hingen, sein Kragen verrutscht war,
er einen Staubfleck am Ärmel hatte…
Sein Vater trat zum Thron hin, doch er blieb vor den Stufen
stehen, auf einer Höhe mit Halan, und drehte sich, nachdem er
sich ehrfürchtig vor dem Engel verneigt hatte - Halan
bemühte sich, es ihm nachzutun - zu den Leuten um.
»Seht her!« rief er. Die Knienden richteten sich
wieder auf, blickten ihn erwartungsvoll an. »Seht meinen
Sohn!«
Halan starrte geradeaus, auf die große, zweiflüglige
Tür am anderen Ende, nicht, weil er wegrennen wollte, sondern
um in keines dieser Gesichter blicken zu müssen, keinem Auge
zu begegnen.
»Dieser Junge«, tönte die Stimme seines Vaters
laut und klar durch den Raum, wurde von den Wänden
widergespiegelt, so daß sie von überall her zu kommen
schien, »ist mein Ebenbild, und das meines Engels. Jeder, der
daran zweifelt, zweifelt an den Worten seines Königs, und an
den Worten Korisanders. Dieser Junge ist mein Sohn, er ist ein
Engelsgeborener von Korisanders Blute, und wenn er auch
schwächer sein mag als mein Bruder Alexander oder ich, ist er
doch nach ihm der nächste in der Thronfolge. Was immer heute
eindeutig gegen seine Mutter sprechen mag, sie hat mir Harold als
rechtmäßigen Sohn geboren.«
Halan hörte ein Raunen und Tuscheln durch den Saal gehen, nur
verhalten, um nicht gegen den König anzusprechen, ein einziger
Wortbrei, in dem nichts zu verstehen war, aber Halan hörte
auch, wie sein Vater hinter ihm aufatmete, erleichtert
erschien.
Leise sagte der König: »Du kannst jetzt wieder
gehen.«
Und Halan mußte allein die Halle durchqueren, begleitet von
den Blicken, die ihn nun, da er näher war, um so kritischer
musterten. Erst, als er glücklich die Tür erreicht hatte,
gehorchten ihm seine Gedanken wieder so weit, daß er beginnen
konnte, sich über das Geschehene zu wundern. Erst dann fiel
ihm auf, daß er seine Mutter seit mehr als einer Woche nicht
mehr gesehen hatte. Er begriff, daß es wenig Erfolg haben
würde, jetzt noch nach ihr zu suchen.
Daß man sie hingerichtet hatte, erfuhr er erst später.
Es war nichts, worüber man sprach. Alexander schien noch mehr
darüber zu wissen als Halan selbst, obwohl er damals erst drei
war und sicher weniger von allem begriff - aber was immer der
König ihm auch verraten haben mochte, er benutzte dieses
Wissen nur, wenn er es darauf anlegte, Halan zu kränken und zu
verletzen, nie, wenn sie einander gut waren. Was Halan hörte,
mochte er nicht glauben - er wußte nicht, ob seine Mutter
seinen Vater geliebt hatte, doch sie kannte ihre Pflicht, und sie
hätte ihn niemals betrogen… Halan war sicher, daß
sein Vater sie absichtlich hatte umbringen lassen. Doch er konnte
nichts beweisen, und jetzt hätte es auch nichts mehr
geändert. Jetzt blieb nur noch Aralee.
Ein leichtes Ziehen an seiner Hand riß Halan aus seinen
Gedanken und ließ ihn aufblicken. Sein Pferd war
stehengeblieben und machte nun Anstalten, den Wegrand abzugrasen.
Halan zog die Zügel an und trieb das Pferd sanft an, um es zum
Gehen zu bringen, ärgerlich auf sich selbst, weil er so
unaufmerksam gewesen war.
Doch nun hatte auch Farrell zu grasen begonnen. Anders, der mit
hängenden Schultern im Sattel saß, schaute ihm dabei
teilnahmslos zu. Er war nicht in Gedanken, wußte sehr wohl,
daß Farrell sich schnell in ein eigenwilliges und
störrisches Tier verwandeln würde, wenn sein Reiter ihm
weder Hilfen noch Befehle gab - doch es schien ihm völlig
gleichgültig zu sein. Halan hoffte, daß Farrell seinem
Herdentrieb folgen und die beiden anderen Pferde begleiten
würde, denn Anders unternahm nichts, ließ die Zügel
locker schleifen, unterwarf sich völlig dem Willen des Tieres.
Wenn Farrell nun lieber fressen wollte… Halan seufzte.
Anders’ Verhalten war unerträglich, auf die eine oder
andere Weise. Er schnalzte leise mit der Zunge. »Jetzt komm
schon, Farrell… Sche-ritt.« Wahrscheinlich versprach
es mehr Erfolg, direkt mit dem Pferd zu reden.
Halan fühlte sich beobachtet. Die Totenmagd saß ruhig
auf ihrem Pferd, das mitten auf dem Weg zum Stehen gekommen war
und, was Halan am meisten schmerzte, keine Anstalten zu grasen
machte, obwohl Lyda doch von ihnen deutlich am schlechtesten ritt.
Am liebsten hätte Halan dem widerstandslosen Anders die
Zügel aus der Hand genommen und Farrell wie ein Packpferd mit
sich geführt, aber vor Lydas Augen konnte er einen
Engelsgeborenen nicht so offen demütigen, und wenn ihnen dann
noch jemand auf der Straße begegnete… Er blickte die
Totenmagd fest und reglos an, bis sie die Augen abwandte.
»Anders«, sagte er leise und ritt nah an den Jungen
heran. »Engelchen.« Selbst ihn in Wut zu bringen, war
besser als dies.
Anders blickte hoch, aber nur einen Moment lang glomm Zorn in den
Tiefen seiner Augen auf. Weder schrie er, noch schlug er zu.
»Wolltest du nicht reiten?« fragte Halan. »Oder
hast du vor, die Nacht hier zu verbringen, damit wir rechtzeitig zu
Lorimanders Krönung ankommen?«
Anders schwieg. Dann sagte er tonlos: »Farrell lahmt. Ich
habe ihm wehgetan.«
Halan ließ sich von seinem leiderfüllten Blick nicht
erweichen. Kalt erwiderte er: »Du hast mir auch wehgetan,
Anders.«
»Deine Nase… Es - es tut mir leid.«
»Ich rede nicht nur von meiner Nase, Anders. Schon immer.
Immer wieder. Aber es hilft nicht, darüber zu jammern. So bist
du nun einmal, Anders. Du kannst es nicht ändern. Nicht jetzt.
Nicht hier. Wir müssen mit dir leben. Also tu du das
gefälligst auch!«
Nach einer Weile, während er nur schweigend in die Ferne
geblickt hatte, meinte Anders: »Aber du erinnerst mich nicht
mit jedem Schritt daran, daß du Schmerzen hast.«
Halan sah an Farrell hinunter, der beim Grasen seinen rechten Huf
völlig entlastete. Auch die anderen Knöchel des Pferdes
schienen angeschwollen zu sein. »So schlimm?« fragte
er.
»Der Stallbursche hat es sich angesehen und gemeint, es
wäre nichts Schlimmes, aber ich sollte Farrell ein paar Tage
schonen. Aber das kann ich nicht! Die Zeit läuft mir
davon.« Er überlegte einen Moment, wandte dabei langsam
den Kopf zur Seite, bis sein Blick auf Lyda verharrte. »Aber
wir haben noch mehr als zwei Pferde, nicht wahr? Sag der Totenmagd,
sie soll absteigen. Sag ihr, es ist ihre Schuld, daß Farrell
lahmt - sie hätte ihn niemals reiten dürfen.«
»Nein«, sagte Halan ruhig. »Das werde ich nicht.
Steig ab, Anders.«
Anders gehorchte und klopfte Farrell entschuldigend auf den Hals,
vermied sorgfältig, in Richtung der verletzten Hufe zu sehen.
»Und jetzt?« fragte er.
Halan nahm einen Fuß aus dem Steigbügel und hielt
Anders die Hand hin. »Steig auf. Du kannst hinter mir sitzen.
Mein Pferd trägt uns beide.«
Anders zögerte, nahm die gebotene Hand nicht an. »Ich
kann nicht«, sagte er leise. »Es ist
würdelos.« Er blickte wieder zu der Totenmagd
hinüber, dann ging er zu ihr. »Reite zurück«,
sagte er. »Ich kann dich nicht brauchen, und dein zerlumpter
Anblick beleidigt mein Auge. Bring das Pferd dahin, wo es
hingehört, und gib meiner Mutter ihren Umhang zurück. Ich
will dich nicht mehr sehen.« Seine Stimme zitterte,
während er sprach.
Lyda erwiderte nichts, wiedersprach nicht, nickte nur und sah dann
Halan an. Halan senkte den Blick. »Leb wohl«, sagte er.
»Die Engel mögen dich auf deinem Ritt
beschützen.«
»Euch ebenso«, murmelte die Totenmagd. Als sie davon
ritt, schien sie kleiner geworden zu sein. Aber es war sicher
besser so, für sie alle. Halan und Anders mußten sich
nicht mehr ständig beobachtet fühlen, und Lyda war vor
Anders’ unberechenbarem Temperament in Sicherheit. Hinterher
fiel Halan ein, daß er ihr zumindest etwas Geld hätte
geben sollen, damit sie ihre Übernachtungen bezahlen konnte,
aber er wollte ihr nicht nachreiten. So schüttelte er nur den
Kopf, worüber, wußte er selbst nicht.
»Steig auf, Anders!« Er beugte sich noch weiter zu ihm
hinunter als bei der ersten Aufforderung. »Ich ziehe dich
hoch.«
Diesmal nahm Anders das Angebot an, sprang förmlich in Halans
Arme, so daß dieser fast vom Pferd gefallen wäre. Aber
kurz danach saß er wieder sicher im Sattel, Anders hinter ihm
auf der Kuppe, hielt sich an der Hinterkante des Sattels fest.
Halan griff nach Farrells Zügeln, und nun ließ sich das
Pferd willig und gehorsam mitführen. Sie ritten weiter,
langsam, um die Tiere zu schonen.
»Danke«, sagte Anders nach einer Weile.
»Für Farrell, meine ich. Kann ich mich an dir
festhalten?«
»Von mir aus«, erwiderte Halan gleichmütiger, als
ihm eigentlich zumute war, und bemühte sich, nicht
zusammenzuzucken, als sich von hinten zwei Arme um seine
Hüften legte und Anders so nah an ihn heranrutschte, daß
Halan seinen Atem an der Wange fühlen konnte, Anders’
Brust Halans Rücken berührte.
»Haßt du mich jetzt immer noch?« fragte
Anders.
»Ich habe kein Interesse daran, dich zu hassen.« Halan
staunte selbst, wie ruhig und gefühllos seine Stimme klang,
als er das aussprach, aber es stimmte. Anders sagte daraufhin
nichts mehr.
Und so erreichten sie auch die Grenze nach Loringaril.
Quer über die Straße spannte sich ein großes
steinernes Tor, bei dem sich helle Steine, die wie Marmor aussahen,
abwechselten mit dunklem Basalt. Es gab nur dieses Tor, keine
Mauer, keinen Zaun zu seinen Seiten, nur die großen
steinernen Figuren: Links und rechts nach Loringaril zwei
geflügelte Löwen, Lorimanders Symbole der Stärke,
und auf der koristaner Seite zwei mannsgroße Schwäne mit
drohend erhobenen Schwingen. Aber das Auffallendste waren die
beiden Engel, die rücken an Rücken, Flügel an
Flügel, oben auf dem Torbogen standen. Sie waren recht grob
aus dem Stein gehauen, nicht zu vergleichen mit dem Engel in
Korisanders Halle, ihre Gesichter ausdruckslos, kaum mehr als
angedeutet. Aber sie waren viel mehr, als man an einem verlassenen
Ort wie diesem erwarten konnte. Korisander trug die Krone auf
seinem Haupt, und auch ohne die andere Seite sehen zu können,
wußte Halan doch, daß dort Lorimander ein steinernes
Horn an die Lippen führte. Der Anblick des gekrönten
Engels schmerzte, aber was Halan in diesem Moment mehr Sorgen
bereitete war, wie Anders darauf reagieren würde.
»Halt an«, sagte der Junge ruhig. »Ich will es
sehen können. Und ich will die Grenze in Würde
überqueren.« Halan gehorchte. Als Anders hinter ihm vom
Pferd glitt, sahen sie, wie vier Männer unter den Torbogen
traten. Zwei von ihnen trugen das Blau und Silber der koristaner
Wachen, die beiden anderen waren im Himmelblau und Gold
Lorimanders, aber das war auch schon alles, was sie unterschied,
als sie nun nebeneinander mit halbgezogenen Schwertern im Torbogen
standen. Noch nie zuvor hatte Halan diese Grenze
überschritten, plötzlich fühlte er sich wieder
ängstlich, und unsicher, und auch wütend, auf Anders, der
ihn gleich zwingen würde, das Reden zu übernehmen, indem
er nichts tat.
Anders betrachtete derweilen das Tor, mit schiefgelegtem Kopf und
hinter dem Rücken verschränkten Armen, doch er achtete
nicht weiter auf die Männer; als gäbe es sie gar nicht,
interessierte er sich nur für das Bauwerk. Plötzlich
erinnerte er Halan an sich selbst, auch er liebte Dinge mehr als
Menschen - einen Moment lang, vielleicht zum ersten Mal in ihren
Leben, waren sie einander ähnlich.
»Es ist häßlich«, sagte Anders und
schlenderte zum Pferd zurück. »Wer hat es gebaut - doch
hoffentlich nicht wir?«
Halan zuckte so gleichmütig wie möglich mit den
Schultern. Er hatte Angst, und er wußte, daß Anders
auch Angst hatte vor diesem Tor, vor diesem Männern - davor,
daß man sie nicht passieren lassen, sie demütigen
würde. Bevor sie die letzten Schritte wagten, konnten sie noch
ihr Gesicht wahren, aber dann… Nun war es Halan, der sich
nach jemandem wie Janek sehnte, jemandem, der den Wachen befehlen
würde, und sie verschwinden lassen.
»Mein Pferd«, sagte Anders und nahm ihm die Zügel
aus der Hand. Dann führte er festen Schrittes Farrell, der
immer noch ging wie auf rohen Eiern, auf das Tor zu und bedeutete
Halan mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Die Wachen zogen ihre
Schwerter nun ganz.
»Wer -« begann einer der beiden Loringarim, und in dem
Moment traf ihn ein Blick Anders’, und er trat aus dem Weg,
schaffte es gerade noch, seinen Landsmann zur Seite zu ziehen. Die
beiden anderen fielen sofort auf die Knie. Halan atmete erleichtert
auf und straffte sich auf dem Pferderücken. Anders blieb
stehen und blickte die Loringarim fest an, so lange, bis auch sie
beide vor ihm auf die Knie gingen.
»Eine Kutsche mit dem Wappen des königlichen Hauses
eures Elomaran Lorimander hat diese Grenze überquert. Wann war
das?« fragte er gebieterisch und senkte den Kopf ein wenig,
wie auch seine Stimme. »Antwortet mir, in Korisanders
Namen!«
»Wir… wir wissen es nicht«, erwiderten die
beiden schließlich stammelnd.
»Was war das?« fragte Anders scharf. »Muß
ich eurem König berichten, daß seine Grenzsoldaten
nichts taugen? Seid ihr blind?«
Die Wachen schrumpften weiter unter seinem Blick.
Schließlich keuchte der eine: »Vorgestern,
Herr.«
Und der andere flüsterte: »Früh am
Morgen.«
Anders schnaubte. »Also ist es euch lieber, wenn ich
berichte, daß ihr feige Lügner seid.« Dann warf er
hochmütig den Kopf nach hinten und durchquerte das Tor.
Halan nickte den beiden koristaner Wachen zu, um anzudeuten,
daß sie es ihrem rechtmäßigen König
natürlich sofort gesagt hätten. Dann war auch er in
Loringaril. In seinem Rücken fühlte er die
argwöhnischen Blicke der Soldaten.
»Laß mich aufsitzen«, sagte Anders leise, aber
mit einem selbstsicheren Fordern in der Stimme. Halan gehorchte.
»Die Straße ist auf dieser Seite in noch schlechterem
Zustand. Und sie haben schon viel Vorsprung.« Er wechselte
ins Elomond über, damit die Wachen, die es schließlich
nichts anging, nichts verstehen konnten. »Ich habe ohnehin
nie erwartet, sie einzuholen. Aber sie müssen in ihre
Hauptstadt, und da werden wir sie finden.«
»Und dann?« fragte Halan leise über seine
Schulter. »Was willst du dann tun?«
»Wir stellen sie zur Rede, klagen sie offen an, und dann
fordern wir zurück, was uns gehört«, erwiderte
Anders ohne zu zögern. »Der direkte Angriff wird sie
überrumpeln.« Einen Moment lang schwieg er, und eilige
Schatten huschten über seine Augen, Zeichen, daß er
nicht halb so überstürzt handelte, wie er manchmal
vermuten ließ. »Warte«, sagte er dann und glitt
wieder vom Pferd.
Halan wunderte sich einen Moment lang, als Anders zu den Wachen
zurück ging, mit schnellen, sicheren Schritten.
»Bei dem Elomaran Korisander, ihr wißt, wer ich
bin«, sagte er zu den beiden silberblau gewandeten
Männern. »Aber wenn man euch fragt, werdet ihr
stillschweigen bewahren, auch um eurer eigenen Sicherheit Willen.
Und was ich von euch verlange, werdet ihr mir geben, ohne Fragen zu
stellen.« Die Wachen, alle vier, blickten ihn verwirrt wie
neugierig an, wußten nicht, was zu erwarten war. »Es
ist eure Aufgabe, Koristan - und seinen König - vor allem
Übel zu beschützen. Ihr habt einen Eid darauf geleistet.
Aber Schutz des Landes bedeutet nicht nur Schutz seiner Grenzen.
Wenn ihr euren König liebt und an euren Eid glaubt, dann macht
ihn wahr und überlaßt eure Schwerter mir und meines
Bruders Sohn.« Mit dem Kinn wies er auf Halan, und nun konnte
der auch sehen, daß das Leuchten und der Stolz in
Anders’ Augen zurückgekehrt waren.
»Aber, Hoheit -«, wagte es einer der koristaner
Männer, »wenn Ihr Schutz braucht, dann laßt uns
euch begleiten!«
»Nein«, erwiderte Anders, und es kam einem
Donnerschlag gleich. »Ich benötige keinen Schutz, ich
benötige ein Schwert. Bewacht meine Grenze, aber wenn ihr mir
eure Schwerter gebt, seid versichert, daß ihr im Geiste bei
mir seid.«
Die Männer zögerten, unsicher, aber Anders stand vor
ihnen mit fordernd ausgestreckter Hand, und es reichte, daß
Halan ihre Gesichter sehen konnte, um zu wissen, wie Anders aussah.
Dann löste der erste langsam die Scheide von seinem
Gürtel und ließ das Schwert in Anders Arme sinken. Seine
Augen waren voller Wehmut. Halan fragte sich, ob Anders
wußte, was er diesen Männern antat, daß er ihnen
vielleicht das Liebste nahm, was sie besaßen, und er
wußte nicht einmal, warum. Aber in diesem Moment war Anders
König, konnte Halan ihn nicht hinterfragen, mußte ihn
tun lassen.
Kurz darauf trug Anders mit triumphierender Miene zwei Schwerter
zu Halan hinüber. Er betrachtete sie kritisch, aber nur die
Scheiden, wagte es vor den ehemaligen Besitzern nicht, die Klingen
zu ziehen, wog sie nur prüfend in der Hand und reichte dann
eines an Halan weiter. Halan nahm das Schwert, weil er nicht
wußte, wie er es ablehnen sollte. Es war so schwer, daß
er schnell eine zweite Hand dazu nehmen mußte. Anders
strahlte ihn an.
Halan schüttelte den Kopf. »Ich kann kein Schwert
führen«, sagte er auf Elomond, bemühte sich aber
angesichts der Wachen seiner Stimme einen dankbaren, sogar
pathetischen Beiklang zu geben. »Und du auch
nicht.«
Jetzt wurde Anders’ Lächeln nachsichtig. »Oh, du
mußt es nicht führen. Nur tragen. Aber ich gedenke, bei
den Loringarim Eindruck zu schinden. Wenn wir keine Schwerter
haben, wird uns niemand für voll nehmen.«
Er gürtete das Schwert und ließ sich wieder auf das
Pferd helfen, immer noch lachend und stolz auf seinen Einfall.
Halan schwieg, auch nachdem sie weiterritten und die Grenzstation
hinter ihnen lag. Mehrmals blickte er sich um, suchte nach der
Totenmagd, bis ihm wieder einfiel, daß sie wirklich
zurückgeritten war - er fühlte sich immer noch
beobachtet, immer noch belauscht, selbst wenn er Elomond sprach -
aber sie war nicht mehr da, und ohnehin war alles, was er sehen
konnte, Anders.
»Die Wachen hatten Angst«, sagte Anders leise in sein
Ohr. »Nicht erst, als ich sie um die Schwerter gebeten habe.
Und nicht nur unsere Männer, auch die Loringarim. Die
Vögel sind vor uns über die Grenze gezogen. Das
müssen wir ausnutzen. Nur fürchten dürfen wir uns
nicht.«
Halan schwieg weiter. Das Schwert bereitete ihm Sorgen. Anders
hatte Lorimanders Erben schon einmal falsch eingeschätzt,
völlig falsch, und damit indirekt den Tod eines Mannes
verursacht. Wenn er, wie er es plante, seine Anklagen vorbrachte,
konnte er genau wie Botschafter Selmar in ein Duell verwickelt
werden, und wenn er dann ein Schwert trug…
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte Anders.
»Ich weiß jetzt genau, wie ich es anstellen muß.
Und mit dem Schwert kann ich umgehen. Ich habe oft genug zugesehen.
Und Koris hat mich unterrichtet.«
Halan schüttelte nur den Kopf. Es hätte nicht geholfen,
darauf hinzuweisen, daß sein Vater niemals ein Mann des
Schwertes gewesen war. Aber er fühlte, wie in seinem Inneren
eine Kälte nach ihm griff, die immer stärker wurde, je
lauter Anders lachte.
Halan haßte. Es saß in ihm, so tief, daß es die
Macht hatte, ihn zu verbrennen, wenn er versuchte, sich ihm zu
nähern, es nur näher zu erforschen. Es war, als
hätte sich alles, was Halan jemals gehaßt hatte, zu
einem großen kalten Berg geballt. Er konnte sich Anders
gegenüber verhalten, als hätte er ihm verziehen, sich
sogar wünschen, er könnte ihm verzeihen, aber davon ging
es nicht weg.
Halan haßte. Er lag in einem Bett fern von allem, an das er
gewöhnt war, und wollte weinen. Auch dafür haßte er
sich, sich selbst am meisten von allem. Er haßte sich, weil
er immer der Starke, der Vernünftige sein mußte, der,
der den Kopf bewahrte, wenn Anders ungerecht oder unbedacht
handelte, und weil das, was mit jedem Tag schlimmer geworden war,
nicht aufhören würde, schlimm zu werden.
Halan haßte. Er wollte weinen. Doch er konnte es nicht. Er
durfte es nicht. Anders lag im selben Zimmer, in einem Bett an der
gegenüberliegenden Wand, und an seinen Bewegungen, seinem Atem
hörte Halan, daß er, der am wenigsten von Halans
Haß, von Halans Schwäche wissen durfte, wach war.
Nach einiger Zeit drehte Halan sich mit dem Gesicht zur Wand,
rutschte so nah heran, wie er konnte, damit Anders, der ihn immer
noch beobachtete, nichts mehr von ihm sehen und hören konnte.
Sie hatten früher oft in einem Zimmer geschlafen - wenn Anders
Angst hatte, sogar in einem Bett - aber war es jemals so nah
gewesen, so aufdringlich?
Als Halan eine Berührung an seinem Rücken fühlte,
zuckte er zusammen. Er hatte Anders nicht aufstehen gehört,
und doch war der Junge plötzlich hinter ihm.
»Schscht«, machte Anders. »Ruhig! Entspann
dich!«
Halan verstand ihn zu wenig, um ihm zu widersprechen. Mit seinen
zierlichen, warmen Händen begann Anders, Halans Schultern zu
massieren; mit kleinen, kreisenden Bewegungen, in denen erstaunlich
viel Kraft steckte, entwirrte er Muskelstränge, von denen
Halan noch nicht einmal wußte, daß sie verspannt
waren.
Zunächst versteifte sich Halan unter der Berührung bis
in die ausgesteckten Zehenspitzen, doch Anders ließ sich
davon nicht beirren, drückte und knetete weiter, ohne ein Wort
zu sprechen, bis Halan merkte, wie sich, von seinen Schultern
ausgehend, ein Gefühl der Wohligkeit erst über seinen
Rücken, dann den ganzen Körper ausbreitete. Langsam
verschwand auch die Anspannung in seinem Herzen, und er wurde
schläfrig, seine Gedanken wurden schläfrig, und auch der
Haß. Er fühlte Anders Finger direkt auf seiner Haut,
seine Hände unter dem Unterhemd… Abrupt rollte Halan
herum.
»Deine Handschuhe!«
»Ich habe sie ausgezogen«, erwiderte Anders ruhig.
»Schau!«
In dem kargen Licht, das die Sterne warfen, war nicht mehr zu
erkennen, als daß Anders ihm beide Hände hinstreckte,
aber Halan wollte sich nicht nehmen, nicht die immer wieder aufs
Neue aufgerissenen Narben und Wunden fühlen.
»Bluten sie nicht mehr?« fragte Halan.
»Doch. Sie werden niemals heilen, weißt du. Korisander
hat mich gezeichnet. Aber manchmal ziehe ich nachts die Handschuhe
aus, damit sie nicht festwachsen. Nachts sieht man das Blut
nicht.«
Er berührte Halan seitlich am Hals. »Völlig
verspannt bist du. Hier auch.« Schmerz durchzuckte Halan, als
Anders zudrückte, aber hielt still und schluckte ein
Aufstöhnen hinunter. Doch Anders zog die Hand zurück, und
Halan hörte ihn scharf einatmen. »Was du brauchst, ist
ein heißes Bad, und ich auch. Morgen sind wir Lorimanders
Gäste. Morgen können wir wieder leben, wie es uns
zusteht.«
Eben noch saß er auf Halans Bettkante, als er plötzlich
die Beine anzog, sich zur Seite rollte und unter der Decke lag.
Halan fühlte Anders’ warmen Körper an seinem, enger
noch als auf dem Pferd, und rührte sich nicht. Es war ein
seltsames Gefühl, und ein seltsam schönes. Dann begann
Anders, ihm ins Ohr zu flüstern, so nah, daß seine
Lippen Halan fast berührten und sein Atem sanft über
Halans Haut strich.
»Ich träume jede Nacht, und ich träume immer das
gleiche.« Einen Moment war er still, atmete ein, atmete aus,
atmete ein, bis seine Stimme zurückkehrte, tonlos und ein
wenig brüchig und aus weiter Ferne. »Ich stehe unter
einem hohen Baum und blicke nach oben, und hoch über mir im
Gipfel, fast verborgen von all diesen hellen Blättern, sehe
ich meine Krone schimmern, so hoch, wie kein Mensch klettern kann,
wo sie nur ein Vogel aufgehängt haben kann, oder ein Engel.
Ich fange an zu klettern, und jeder Zweig, jeder Ast, an dem ich
vorbeikomme, verliert seine Blätter, bis der Baum endlich leer
ist, bis auf mich und die Krone. Aber ich kann sie nicht erreichen,
der Baum wächst immer höher und höher, je weiter ich
klettere. Doch ich gebe nicht auf und zwinge mich, weiterzusteigen,
und ich strecke meinen Arm aus und greife nach der Krone, und ich
kann sie auch fast berühren - und dann fällt sie an mir
vorbei, ganz langsam bis nach unten, wo du stehst, und zu mir hoch
schaust, und lächelst. Dann bückst du dich und greifst
nach der Krone, willst die aufheben - und in dem Moment verliere
ich den Halt und stürze, stürze und stürze, ohne
jemals aufzukommen - und dann wache ich auf.« Anders schwieg
einen Moment, als erwarte er eine Reaktion von Halan, und als Halan
sich nicht rührte, fragte er: »Was träumst
du?«
Halan antwortete: »Ich weiß nicht.«
»Du erinnerst dich nicht an deine Träume?«
Halan sagte ihm nicht, daß es genau das war, was er an
Träumen liebte - daß man sie vergessen konnte. Er
schwieg, hüllte sich in die Wärme um ihn herum, und
fühlte noch, als sein Geist davon trieb, wie Anders ihm mit
dem Rücken eines Fingers über das Gesicht strich. Dann
schlief er ein, ohne zu träumen.
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