So also hielt Koristans König Einzug in Lomar, an Lorimanders
Hof, in der Hauptstadt seiner Feinde: Ohne Kutsche, ohne Fanfaren,
ohne Reiterei und ohne Diener, mit nichts als seiner Weisheit und
seinem Stolz und dem Willen, sein Recht
zurückzuerobern…
Alexander diktierte Halan den Wortlaut der Chronik, um zumindest
in der Zukunft sein Gesicht wahren zu können.
An dem Morgen, an dem sie auf das Schloßtor zuritten - ein
protziges, klotziges Bauwerk, wie auch das Schloß selbst, und
alles von einer monumentalen Scheußlichkeit, die keinem Engel
zur Ehre gereichte - trug Alexander wieder seine Schminke, hinter
der er sich verbergen konnte wie hinter einer Maske. Auch sein
eigenes Gesicht hatte Halan kalkweiß bemalt, die Lippen
dunkelblau - sie hatten nur diese beiden Farben, aber es
mußte gehen. Zum ersten Mal war Alexander froh, daß
Janek sie nicht begleitete. Er war sicher, daß sich Janek
über die Aufmachung nur lustig gemacht hätte. Aber was
wußte der denn schon?
Es war eine lange gerade Straße, die durch die belebte
Hauptstadt auf das Schloßtor zuführte und die ganze Zeit
über anstieg - die Erben des Engels der Stärke hatten
ihre Burg, eigenhändig, wie es hieß, auf einen
Hügel gebaut und die Stadt rundherum, so daß man von
jeder Gasse, von jedem Haus aus das Schloß vor sich aufragen
sehen konnte. Der Hügel stieg nicht steil an, aber stetig, und
die Stadt streckte sich weit - es war ein zäher Weg hinauf,
gut geeignet, um Wut in Müdigkeit umzuwandeln und
Ungestüm in Ungeduld. Die Häuser selbst waren seltsam
klein, keines hatte ein zweites Stockwerk, und so erschien die Burg
um so größer und herrschaftlicher. Nach dem, was er
oberhalb der weißen Mauer erkennen konnte, versuchte
Alexander die Größe des Bauwerks einzuschätzen. Sie
konnte unmöglich größer sein als der Palast, aus
dem er selbst entkommen war - kriechend, er wagte nicht daran zu
denken. Was für ein Unterschied waren dagegen diese breiten,
sonnigen Straßen! Lomar machte so einen netten, harmlosen,
friedlichen Eindruck - wenn man darüber hinweg sah, daß
sie nun schon drei geöffnete Stadttore durchquert hatten.
Immer, wenn die Stadt weit genug über ihre Grenzen
hinausgewachsen war, zu viele Häuser ungeschützt
außerhalb der Befestigung lagen, bauten die Lomarer einen
weiteren Ring darum. Je näher sie der Hügelkuppe kamen,
desto älter wurde die Stadt.
Aber die Burg erreichten sie nicht. Es war wie in diesem Traum,
den Alexander sich für Halan ausgedacht hatte und der doch so
sehr hätte wahr sein können: Der Hügel schien zu
wachsen, je nähe die beiden Reiter seiner Kuppe kamen, und
immer wenn sie dachten, die Burgumfriedung erreicht zu haben, war
es doch wieder nur eine weitere, noch ältere Stadtmauer. Die
Burg aber war so fern wie früher, und die schnurgerade
Straße nahm kein Ende.
Alexander drehte sich zu Halan um, der hinter ihm ritt, wieder
allein, seit Farrell nicht mehr lahmte. »Haben sich das die
Berater ausgedacht, oder gab es einmal Nachfahren von Lorimander,
die so etwas wie Verstand besaßen?«
»Ich weiß nicht, wer die Stadt erbaut hat«,
antwortete Halan. »Es gibt keine Bücher aus oder
über Loringaril. Natürlich waren Lorimanders Kinder einst
weiser als heute. Aber mit jeder Generation wurden sie dümmer
und dümmer.«
Alexander schnaubte leise. »Wie bei uns.« Er
fühlte sich Halan gegenüber seltsam gereizt, gerade
weil Halan ihn nicht darauf ansprach, was in der letzten
Nacht zwischen ihnen vorgefallen war. Vielleicht hätte es
geholfen, zu wissen, wie Halan darüber dachte - selbst konnte
Alexander sich keine Meinung bilden. Seine eigentliche Absicht
hatte er erfüllt - Halan abgelenkt und friedlich einschlafen
lassen, um sich dann in seinem eigenen Bett zusammenzurollen und zu
heulen, unbeobachtet. Aber wie er das getan hatte - an einem
Punkt war ihm alles entglitten, und irgendwie war er über sich
selbst erschrocken. Er fühlte sich schuldig, wie ein
Verräter.
Am liebsten hätte er Halan direkt gefragt: Bist du mir
böse wegen gestern Nacht? Oder hat es dir zumindest ein wenig
gefallen? Aber es ging nicht. So konnte man mit Halan nicht
sprechen. Er würde tun, als hätte er nichts gehört -
gleichzeitig konnte man aber auch nicht wissen, hinter wie vielen
dieser Fenster Spione mit scharfen Ohren lauerten…
»Lomar ist größer als Koristir«, sagte
Halan, als ob man ihn danach gefragt hätte. »Und auch
älter, soweit ich weiß. Die Burg ist auf jeden Fall
älter.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Denk darüber nach,
bis du alles weißt, und erzähl es mir dann.«
Halan sagte nichts weiter, und schweigend erreichten sie endlich
das Burgtor.
In diesem Moment wünschte sich Alexander eine Fanfare, lauter
noch als die, mit der Lorimander bei ihm aufmarschiert war. Aber
daß er keine hatte, war auch gut, denn es gereichte ihm zur
Ehre - daß Korisanders Erben es nicht nötig hatten, mit
lautem Pomp nach Aufmerksamkeit zu schreien, sondern durch stille
Weisheit ihre Überlegenheit zeigen konnten. Leise
lächelnd, blickte er von dem Pferd hinunter auf die Wachen am
Tor.
»Ich bin Alexander von Korisanders Blute«, sagte er so
leise, daß sie gezwungen waren, ihm zuzuhören, und doch
voller Selbstbewußtsein. Er war stolz auf sich, und hoffte,
Koris wäre es auch. »Mich begleitet mein Chronist,
Harold von Korisanders Blute. Wir wünschen eine Audienz bei
Eurem Herrscher.« Er wandte sich zu Halan und fügte auf
Elomond hinzu: »Und von mir aus kann der König auch
dabei sein.« Für einen Moment glitt ein Lächeln
über Halans Gesicht. Aber es dauerte nicht lang genug.
»Aus Koristan?« Der Wachmann konnte sich nicht
entscheiden, ob er Alexander als Engelsgeborenen oder als Feind
behandeln sollte. Wann hatte es zuletzt einen derartigen
Staatsbesuch gegeben? »Wartet hier. Ich werde den Herrscher
informieren.«
»Die Mühe könnt Ihr Euch sparen«, sagte
Alexander ruhig und nicht lauter als vorher. »Er weiß
bereits von unserem Kommen, seit wir das erste Stadttor passiert
haben.«
Halan schüttelte den Kopf und fügte hinzu, in nahezu dem
gleichen Tonfall: »Wenn seine Wächter nur halb soviel
taugen wie unsere, weiß er es, seit wir die Grenze
überschritten haben - spätestens
seitdem.«
»Warum also«, übernahm Alexander wieder den
Faden, »erweist Ihr uns nicht die Höflichkeit und wartet
hier mit uns auf das königliche Begrüßungskomitee?
Sie müssen jeden Moment hier sein, glaubt es mir.« Genau
so mußten sie auftreten - kühl und beherrscht ihre
Gegner zum Handeln zwischen, ohne dabei auch nur eine Sekunde lang
die Oberhand zu verlieren.
Der Hauptmann am Tor wurde unsicher, schlug vor, einen seiner
Männer zu schicken. Alexander wies darauf hin, daß es
unter der Würde eines Engelsgeborenen war, von einem
gewöhnlichen Soldaten angekündigt zu werden. Der
Hauptmann, ein rundlicher, rosiger Mann in seinen Zwanzigern, der
weniger nach Führungsqualität als nach guten
Familienbeziehungen aussah, begann zu schwitzen und wollte die
Ankunft des hohen Besuchs seinen Männern im Innenhof
zubrüllen, aber es war nur zu leicht, ihn darauf hinzuweisen,
daß derartiges Verhalten im Umgang mit Engelsgeborenen nicht
angemessen war. Nach dem nervtötenden Ritt durch die Stadt
genoß Alexander sich und das Leiden dieses Mannes, der im
Grunde nichts dafür konnte, aber gerade passend war.
»Was ist Eurer Name?« fragte Halan liebenswürdig.
»Ihr sollt in Alexanders Chronik Erwähnung
finden.«
Es freute Alexander, daß Halan sein Spiel mitspielte, statt
wie üblich erwachsen auf ihn herunterzublicken. Als ob die
letzte Nacht ein Band zwischen ihnen gesponnen hatte, war da nun
eine seltsame Vertrautheit, in nichts mit der zwischen Alexander
und Koris zu vergleichen und doch etwas, das es noch nie gegeben
hatte.
»Vertreibt uns die Zeit. Erzählt uns von euch. Wir
wollen uns doch nicht langweilen.«
Einen Moment lang überlegte Alexander, abzusteigen, doch es
war sicher wirkungsvoller, vom Pferd aus auf den Mann
hinunterzublicken. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Nicht das
Tor selber, wohl aber eine Seitenpforte öffnete sich, und ein
Mann trat zu dem Hauptmann hin, zu elegant gekleidet, um ein Diener
zu sein, und mit einem zu intelligenten Gesicht, um zur Familie zu
gehören. Er war in hellblaue Roben gewandet, Brokat, mit Gold
durchwirkt, und auch die Goldkette um seinen Hals sprach
Bände. Sein Gesicht war, trotz der silbrigen Haare, die sich
an den Schläfen schon stark lichteten und ein Leben von mehr
als vierzig Jahren verrieten, noch fast faltenfrei, und man konnte
es fast schön nennen, wäre da nicht so ein gieriger Zug
um den Mund gewesen, der Alexander störte. Zorn lag in den
kleinen, dunklen Augen des Beraters, und Zorn war es auch, was
Alexander spürte. Es freute ihn, aber er schirmte sich schnell
dagegen ab. Zorn war ein zu gutes Gefühl, dem man sich zu
leicht hingeben konnte.
»Was geht hier vor? Warum wurde ich nicht informiert?«
Hin- und hergerissen zwischen zwei Obrigkeiten, brach der
Hauptmann in blinde Panik aus. Er sagte nichts, rührte sich
auch nicht, abgesehen von den Schweißperlen, die von seiner
Stirn rannen. Plötzlich verspürte Alexander Mitleid - es
war Halans - und so blickte er dem Berater in die Augen und sagte:
»Ich habe es nicht zugelassen.«
»Ihr?« Der Berater war viel zu fassungslos, um sich
der Grundregeln der Höflichkeit zu besinnen.
»Ich«, erwiderte Alexander, »Alexander von
Korisanders Blute, rechtmäßiger Herrscher von Koristan
und Erbe des Engels der Weisheit - aber das wißt Ihr schon
längst. Denn hätte man Euch in der Tat nicht informiert,
so hättet Ihr keine Veranlassung gehabt, durch diese Pforte
dort zu treten. Da Ihr aber hier seid… gibt es keine
Gründe, warum Ihr Euren Hauptmann zur Rechenschaft ziehen
müßtet.«
Gerade noch rechtzeitig fiel dem Berater ein, sich zu verbeugen,
wenn auch nicht so tief, wie man es von ihm verlangen konnte, aber
Alexander belehrte ihn nicht. Man mußte bedenken, daß
man hier an den Umgang mit einer anderen Art von Engelsgeborenen
gewöhnt war - nicht an solche, die selbst dachten.
»Seid willkommen an Lorimanders Hof, Alexander. In der Tat -
denn ich beabsichtige nicht, Eure Weisheit zu beleidigen, indem ich
Euch anlüge - wurde mir von Eurem Kommen berichtet.« Das
klang doch schon sehr viel besser. »Aber so sehr es uns auch
dauert, von dem Unheil zu hören, das über Eurer Land
hereingebrochen ist und über Euch selbst, wenn ich den
Berichten glauben schenken darf - so sehr wundert es uns doch,
daß Euch Eure Reise so direkt zu uns führt. Sucht Ihr
Loringarils militärischen Beistand?«
Alexander fing einen Blick von Halan auf - Obacht, hieß das.
Wieviel konnte man schon in Loringaril von den Umständen ihrer
Flucht wissen? Nicht genug, um eine Bedrohung zu sein. Wenn der
Berater es nötig hatte, diesen Trumpf gleich am Anfang
auszuspielen…
»Das werde ich, mit Verlaub, dem Herrscher dieses Landes
selbst sagen, in vertraulicher Umgebung, und nicht einem Mann, der
es nicht für nötig hält, auch nur seinen Namen zu
nennen.« Amüsiert beobachtete Alexander, wie sich die
kurzen glatten Haare seines Gegenübers alarmiert
sträubten, während sich die Miene des Mannes nicht
veränderte.
»Ich bin Harven von Lomar, persönlicher Berater des
Königs.« Jetzt trat ein unerwartetes Lächeln in das
Gesicht. »Im Namen seiner Majestät, Lorimander von
Lorimanders Blute, König von Loringaril, Erbe der Stärke
und Hüter des Hornes, heiße ich Euch noch einmal hier am
Hofe willkommen. Was ist Euer Anliegen?«
»Ich ersuche -« Einen Moment lang war Alexander
geneigt, verlange zu sagen, aber er mußte höflich
bleiben, »den König zu sprechen. Wenn Ihr nun so gut
wärt, uns schnellstmöglich zu ihm zu ihm zu
führen?«
Nun begann Harven zu lachen. »Euren Ungestüm in Ehren,
Prinz Alexander - Ihr seid ein junger Mann, der keine Zeit
verliert. Aber derartige Audienzen bedürfen einer langen
Vorbereitung, und -«
»Keine Audienz!« unterbrach ihn Alexander.
»Verhöhnt solche, die Euch an Verstand unterlegen sind,
nicht mich! Audienzen sind etwas für das Volk, für
Niedergestellte. Ich will ein Gespräch mit dem König
führen, und ich erwarte Antworten, kein huldvolles
Nicken.«
»Es liegt mir fern, Euch zurechtweisen zu wollen, Prinz
Alexander, aber anders als Ihr ist Lorimander ein König, und
Ihr seid in der Tat niedergestellt.«
Alexander geriet in Wut, und das war das Übelste, was ihm in
diesem Moment passieren konnte. »Ich bin der Höchste
meines Volkes und muß mich von Euch ebensowenig beleidigen
lassen wie von Eurem Freund Ember von Valon, der bereits
Ähnliches versucht hat. Ich bin nicht hier, um Loringaril den
Krieg zu erklären, und ich möchte auch nicht gezwungen
sein, es in Betracht zu ziehen.«
»Ich bitte untertänigst um Vergebung, Prinz Alexander.
Nichts liegt mir ferner, als Euch an Eurem wundesten Punkt
verletzen zu wollen.« Harvens Gesicht spiegelte
Reumütigkeit wider, die aber von seinen triumphierenden Augen
Lügen gestraft wurde. »Ich werde mein Möglichstes
tun, um Eurem Wunsch nachzukommen und eine Privataudienz zu
arrangieren. Bis dahin verweilt an unserem Hof als unsere
Gäste. Prinz Alexander, Prinz Harold - wir haben uns erlaubt,
eine Zimmerflucht für Euch vorzubereiten. Eure Pferde werdet
Ihr in unserem Stall gut untergebracht wissen. Und nun… wenn
Ihr mir bitte folgen würdet?«
Auf Harvens Wink hin wurde von innen das große Tor
geöffnet, und Alexander und Halan ritten in den
strahlendweißen Burghof, nicht ohne das Gefühl, die
erste Runde verloren zu haben.
Zwei Tage später warteten sie noch immer. Alexander
schäumte vor Wut - vor allem auf sich selbst, weil er das
hätte ahnen müssen. Natürlich ließen Harven
und der König ihn zappeln. Natürlich taten sie das nur,
um ihn provozieren. Und natürlich hatte Halan es die ganze
Zeit über gewußt.
»Was hast du anderes erwartet?« fragte Halan.
»Der König ist schwachsinnig, aber von seinem
Beraterstab kannst du das nicht hoffen. Harven weiß,
daß du es eilig hast, er weiß, daß du ein
Hitzkopf bist - er läßt dich so lange schmoren, bis du
die Beherrschung verlierst.«
»Die Freude werde ich ihm nicht machen.« Alexander
knirschte mit den Zähnen. »Ich verlasse diese Räume
nicht eher, als bis wir direkt zum König vorgelassen werden.
Ich werde nicht betteln.«
Halan nickte. »Engelsgeborene betteln nicht. Außerdem
ist es nicht schlimm, wenn wir eine bis zwei Wochen, vielleicht
auch einen oder zwei Monate, warten. Wir sind hier in Sicherheit
vor den Unruhen in Koristir. Du solltest versuchen, deiner Mutter
eine Botschaft zukommen zu lassen.«
»Schreib du ihr doch! Du bist der Chronist!« grummelte
Alexander, ärgerlich, weil ihm das nicht selbst eingefallen
war.
»Du bist der Herrscher«, erwiderte Halan. »Ich
kann ihr keine Anweisungen geben, wie sie dein Land verwalten
soll.«
»Wieso nicht? Du gibst mir schließlich auch
Anweisungen!«
Mit langsamen Schritten ging Halan zum Fenster hin. »Du
machst das schon sehr gut«, sagte er spöttisch.
»Wenn du weiter derart die Ruhe bewahrst, werden zwei Monate
hier mit dir ein leichtes.«
Kleinlaut entschuldigte sich Alexander für sein Verhalten und
ließ sich in einen Sessel fallen, bevor er sich zu fragen
begann, warum er eigentlich Halan immer Recht geben mußte.
Manchmal erschien Halan ihm seltsam verändert, auf eine
bedrohliche Weise selbstbewußt. Alexander hatte Halan immer
beneidet und gehaßt, aber gefürchtet noch nie. Nicht vor
dem Tag, an dem er Janek kennengelernt hatte.
Halan beachtete ihn nicht weiter, sondern ging zum Tisch
zurück, tunkte seine Feder in die Tinte und fuhr mit seiner
Schreiberei fort. Alexander fragte sich, mit was sein Neffe die
Chronik zu füllen gedachte, wenn sie hier monatelang
festsaßen…
»Hat Lorimander auch einen Chronisten?«
Halan blickte auf, lächelte auf eine Weise, die an Koris
erinnerte. »Er hat nicht einmal eine Bibliothek. Es gibt kein
einziges Buch in Loringaril.« Er wurde seinem Vater immer
ähnlicher, als lebe ein Teil von Koris nun in seinem Sohn
weiter. Bald zwei Wochen war er jetzt tot, aber er hörte
einfach nicht auf, Alexander zu fehlen, vor allem an Tagen wie
diesem, an denen nichts passierte. Manchmal war er kurz davor, es
Halan zu sagen, aber dann ließ er es doch.
Einen Moment lang dachte er noch über die Nachricht für
Aralee nach, bis ihm das eigentliche Problem aufging. Schreiben war
leichter als liefern.
»Wir haben doch einen Botschafter in Loringaril?«
»Keinen offiziellen. Dein Bruder war dagegen, weil die
Beziehungen zu schlecht waren.«
Alexander schämte sich, daß er all das selbst nicht
wußte. Warum hatte Koris seinen ungeliebten Sohn so viel mehr
lernen lassen als seinen Thronfolger? Dann entschuldigte er sich im
Geiste bei Koris. Koris hatte ihm so vieles beigebracht, ihn seine
Gaben nutzen gelehrt, das Wissen wäre bestimmt gefolgt. Warum
mußte er so früh sterben? Alexander schluckte.
»Aber wir haben hier Spione«, sagte er. »Die
können doch -«
»Weißt du, wo sie sich aufhalten?« fragte Halan.
»Sicher in der Nähe des Hofes, aber es wäre
gefährlich für sie, wenn irgend jemand mehr über sie
wüßte.«
Mit zusammengekniffenen Lippen dachte Alexander nach. Ein Mal, ein
einziges Mal, wollte er klüger sein als Halan, beweisen,
daß er näher am Engel der Weisheit stand. »Sie
beobachten diesen Hof«, sagte er langsam. »Also wissen
sie längst, daß wir da sind. Sie werden versuchen, mit
uns in Kontakt zu treten. Dann kann ich ihnen die Botschaft
für Aralee übergeben. Sie werden dafür sorgen,
daß sie in Koristir ankommt.«
Halan nickte. »Du hast Recht. Aber du mußt damit
rechnen, daß deine Mutter einen Brief bekommt, den schon zu
viele andere gelesen haben.«
»Wenn meine Spione gut sind - und das sind sie, Koris hat
nur die besten ausgewählt - werden sie den Inhalt so oder so
erfahren…« Etwas kitzelte Alexanders Aufmerksamkeit,
und er hob schnell die Hand, doch Halan hatte es auch schon
gehört. Jemand hatte die Tür zum Vorzimmer geöffnet.
Schnell schob Halan seine Bögen zu einem ordentlichen Stapel
zusammen und drehte sie um, so daß man nicht lesen konnte, um
was es ging.
Es kam nicht oft vor, daß jemand die Zimmerflucht, die man
ihnen zugewiesen hatte, betrat, aber wenn, dann immer ohne
anzuklopfen. Diener brachten ihnen morgens, mittags und abends die
Mahlzeiten, aber sie blieben nicht, um ihnen aufzuwarten.
Vermutlich hatten sich Halan und Alexander das selbst
zuzuschreiben. Sie waren ohne Diener gekommen, also nahm man nur
allzu gerne an, daß sie auch keine wollten oder brauchten.
Vielleicht war es besser so - sie konnten sie freier bewegen,
mußten weniger Angst vor Spionen haben. Trotzdem zogen sie es
vor, sich auf Elomond zu unterhalten. Alexander vermißte
seine Bequemlichkeit mehr, als ihn die Sicherheit freute. Aber er
würde sich hüten, das Halan zu verraten…
Doch die Frau, die nun in das Zimmer glitt, hatte mit einer
Dienerin nicht mehr Ähnlichkeit als Aralee mit einer
Totenmagd. ‘Frau’ war eigentlich das falsche Wort
für ein Mädchen, das nicht älter sein konnte als
Alexander selbst. Aber unter einem Mädchen stellte Alexander
sich eindeutig etwas anderes vor. Ihre Haare, üppig und von
einem dunklen Gold, wie Honig, trug sie in einem Turm über dem
Kopf, bis auf einige lockige Strähnen, die in ihr Gesicht
fielen und sich um ihre Ohren kringelten. Alexander starrte die
Haare an, um nicht in ihr Gesicht blicken zu müssen, das zu
stark geschminkt war für einen Menschen, als wolle sie
versuchen, es den Engelsgeborenen gleich zu tun, oder auf ihren
Körper, der sich nur allzu deutlich unter Schichten von
weißem Batist abzeichnete. Ihr Parfüm füllte den
Raum aus, und Alexander versuchte, es nicht einzuatmen. Er mochte
Parfum, wenn man es auftrug, um besser zu riechen, nicht, um
anderen zu gefallen. Alle Mühe, die diese… Person sich
gegeben hatte, ließ sie um so gewöhnlicher wirken. Er
hatte Frauen wie sie gesehen - am Tag seiner Krönung, in
Begleitung des Prinzen Lorimanders. Es war nicht schwer, ihre
Absichten zu erraten. Ein Gefühl des Ekels stieg in Alexander
auf, aber er unterdrückte es und zwang ein Lächeln in
sein Gesicht, eines, dem jegliche Wärme fehlte. »Mein
liebes Kind, du mußt dich in der Tür geirrt
haben.«
Sie lachte auf, glockenhell und künstlich, warf den Kopf in
den Nacken und lehnte sich mit den Schultern gegen die Tür,
wobei sie die Hüfte herauskehrte. Es erinnerte ein wenig zu
sehr an Farrell, aber sie hatte zugegebenermaßen das
schönere Gesäß. »Kommt Ihr nicht auf die
Idee, Sirah, daß ich zu Euch gewollt haben
könnte?« Ihre Stimme hätte vielleicht sehr angenehm
geklungen, doch es steckte zuviel Mühe dahinter.
»Nein«, erwiderte Alexander kurz.
Er beobachtete ihre Reaktion, und was er sah, gefiel ihm fast. Die
Art, wie sich ihre Augen veränderten, war bis jetzt das
intelligenteste, was er an ihr gesehen hatte. Aber dann kam sie bei
der Frage, wie sie ihn einschätzen sollte, offenbar zu einem
falschen Ergebnis. Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den
Finger, warf ihre Lippen zu einem Schmollmund auf und sagte
trotzig: »Ihr scheint ja keine hohe Meinung von diesem Hof zu
haben, Sirah, daß ein kleines bißchen Aufmerksamkeit
Euch so verwundert.«
Alexander lächelte etwas breiter, und etwas kälter.
»Mit Verlaub, nichts gegen deine Aufmerksamkeit, aber du
weißt so gut wie ich, daß mir ein wenig Aufmerksamkeit
von Seiten des Königs gelegener käme.«
»Oder von deinem Vater«, fügte Halan hinzu, mit
der größten Selbstverständlichkeit, als hätte
jeder sein Gedächtnis für Gesichter und seine Gabe. Sogar
Alexander brauchte einen Moment, um hinter der Schminke die
Ähnlichkeit zu erkennen. »Oder hat er dich
geschickt?«
Einen Moment lang sah es so aus, als würde die Frau die
Beherrschung verlieren, aber ihre Gefühle gingen nie so weit,
waren immer noch leidlich gelassen. Doch diesmal traf sie ihre
Entscheidung neu, und besser.
»Es ist wahr«, sagte sie. »Ich bin Harvens
Tochter. Mein Name, aber der wird Euch ohnehin nicht interessieren
und ich weiß nicht, warum ich ihn Euch überhaupt
verrate, ist Kala. Ich weiß, was Ihr von mir denkt und
für was Ihr mich haltet - für ein dressiertes
Püppchen, das mein Vater auf Euch losgelassen hat. Ist es
nicht so?«
»Das müssen wir dich fragen«, erwiderte Halan
gelassen, obwohl Alexander gern das gleiche gesagt hätte.
»Es stimmt nicht!« rief Kala, triumphierend - warum
auch immer, da weder Halan noch Alexander ihr glaubten. »Mein
Vater ist sehr stolz auf sich und hält sich für sehr
schlau, weil er Euch hier festgesetzt hat und zappeln
läßt. Am Anfang war ich neugierig, wollte wissen, was
denn so besonderes an Euch ist. Ich kenne Engelsgeborene,
müßt Ihr wissen, aber sie sind sehr… anders als
Ihr.« Zum ersten Mal klang Kalas Lachen echt, und es fiel
schwer, nicht mit einzufallen, aber vermutlich lauerte sie nur
darauf, um dann ihrem Vater zu berichten, die Korisanderskinder
verhöhnten den Engel der Stärke. »Aber dann begannt
Ihr mir leid zu tun. Es muß doch sehr langweilig sein, hier
oben…«
»Woraufhin du dich zurecht gemacht hast, um uns die Zeit zu
vertreiben«, ergänzte Alexander. »Warum
so?«
Jetzt hatte er es geschafft. Jetzt errötete sie. Und
schwieg.
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Halan,
blickte aus dem Fenster in den Hof statt auf die Besucherin.
»Entweder hegt sie keinen sehrsüchtigeren Wunsch, als
eine Konkubine zu werden, was in diesem Land ein wichtiges,
politisch einflußreiches Amt ist, und sie hofft, wenn sie bei
uns Erfolg hat, einem der Prinzen zugeteilt zu werden. Oder aber es
geht um ihr persönliches Vergnügen, sie erhofft sich eine
Abwechslung und wird als Gegenleistung anbieten, ihren
Einfluß auf ihren Vater geltend zu machen. Aber sie sagt in
jedem Fall die Wahrheit. Harven hätte nicht seine Tochter
geschickt, sondern eine Frau, die ihr Handwerk versteht.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Es ist nötig, neue
Frauen anzulernen. Denk daran - sie haben zwei bei uns
zurückgelassen und brauchen jetzt Ersatz.«
Kala blickte von einem zum anderen, ohne sich von der Tür
fortzubewegen. Dann seufzte sie. »Ich habe wohl alles falsch
gemacht, nicht wahr?« Sie sah plötzlich sehr
kläglich aus, und sie fühlte sich auch so. Man
mußte sie nicht an Stelle ihres Vaters bestrafen.
»Ja«, sagte Alexander freundlich. »Komm herein,
setz dich von mir aus. Es war nicht falsch von dir, herzukommen. Du
kannst uns einiges ebensogut erklären wie dein Vater, und
bestimmt besser als der König. Mein Neffe hat sicher Recht,
wenn er meint, daß du nicht ohne Einfluß bist, und
bestimmt hast du in Wirklichkeit eine bessere Behandlung verdient,
als du in deiner Aufmachung herausforderst.« Er rückte
einen Stuhl in die Sonne, die durch das Fenster fiel, und legte ein
zweites Kissen hinein. Mit einer einladenden Geste bedeutete er
Kala, sich zu setzen, und das tat sie auch, ohne zu zögern.
Sie wirkte nun gelöster, weniger künstlich, aber das
hielt ihr aufdringliches Parfüm nicht davon ab, den ganzen
Raum einzunehmen.
»So, jetzt können wir uns unterhalten. Falls es dich
tröstet - ich wäre auch nicht auf deine
Verführungsversuche eingegangen, wenn du dich dabei
geschickter angestellt hättest. Es hat nichts mit dir zu tun,
aber -« Alexander wußte selbst nicht, warum er es tat,
als er an Halan herantrat und ihm einen Arm um die Schultern legte,
und auch nicht, warum er sagte: »Ich habe schon einen
Geliebten.«
Kala starrte ihn entgeistert an. Ihr Unterkiefer sank herab, ihre
Augen weiteten sich, so daß unter geschminkten Lidern und
bemalten Wimpern endlich ihre Farbe als blau zu erkennen war. Ohne
ein Wort stand sie auf und verließ das Zimmer, schnell genug,
um wie Flucht auszusehen.
Alexander blickte ihr nach, unsicher, was er von sich halten
sollte, und kam zu dem Ergebnis, daß er richtig gehandelt
hatte, daß es besser war, sie los zu sein, ein und für
alle Mal. Sie würde bestimmt nicht wiederkommen.
Aber in dem Moment, in dem draußen im Flur die Tür des
Vorzimmers zugeschlagen wurde, entwand sich Halan Alexanders Arm
mit ungewohnter Gewalt.
»Was sollte das?« rief er, und als Alexander jetzt
sein Gesicht sehen konnte, war es fassungsloser als Kalas.
»Wie kommst du dazu, so etwas auch nur anzudeuten? Sie hat es
für bare Münze genommen, und jetzt wird sie überall
herumerzählen, daß wir -« Er brach ab, außer
Stande, das für ihn Unaussprechliche zu formulieren.
Alexander wich zurück, durch diese Schroffheit und Heftigkeit
verletzt. »Es war ein Trick, verstehst du? Wenn sie glauben,
daß wir Geliebte sind, können sie uns nicht mehr
einschätzen. Das zwingt sie dazu, den nächsten Schritt zu
unternehmen, denn sie wissen, daß wir hier Wochen verbringen
können, ohne uns zu langweilen -« Er wollte noch mehr
erklären, obwohl er doch schon alles gesagt hatte, aber er kam
nicht dazu. Halan schüttelte den Kopf, drehte sich weg, als
wollte er aus dem Raum gehen, doch dann wandte er sich zurück
und ohrfeigte Alexander.
»Diesmal bist du zu weit gegangen«, flüsterte
Halan.
Alexander sagte nichts mehr. Er fühlte, daß er Halan
gekränkt hatte, aber Halans Abweisung traf ihn nicht minder.
Er war es, der den Raum zuerst verließ und sich in seinem
Schlafzimmer einschloß. Dann setzte er sich vor den Spiegel
und begann langsam, sich zu schminken.
Der andere Tag war wieder einer von der Sorte, an denen Halan und
Alexander sich aus dem Weg gingen und nicht miteinander redeten. So
war es schon so oft gewesen war, aber hier, auf einem Raum von zwei
Schlafzimmern, einem Salon und einem winzigen Vorzimmer, war es
besonders schwer - die Umgebung war zu fremd, und es gab niemanden,
mit dem er reden konnte. Er konnte an das Fenster treten und in den
Hofgarten hinunterschauen, aber dort war ein kleiner
künstlicher See angelegt, auf dem Schwäne schwammen, acht
Stück, Alexander hatte nicht anders gekonnt als sie
zählen, obwohl er sie doch gar nicht sehen wollte. Es
wäre ihm sogar lieber gewesen, schwarze Vögel vor sich zu
haben, die legendären Todesvögel des Nilomar - sicher war
er der einzige auf den Welt, für den weiße Schwäne
einen größeren Schrecken bedeuteten.
Aber seine Hoffnung, auf diese Weise schneller zum König
vorgelassen zu werden, erfüllt sich nicht. Bis zum Abend lag
Alexander auf seinem Bett und träumte von Schwänen und
Elomaran, von seiner Krone und Koris, von ihm am allermeisten, ohne
daß irgend jemand auch nur an seine Tür geklopft
hätte. Es war schlimm genug, Halan ohne nachzudenken verletzt
zu haben - es war anders, als es absichtlich zu machen, man konnte
schwerer darauf reagieren - nun hatte er nicht einmal die
Genugtuung, daß der Trick zumindest zum gewünschten
Ergebnis führte. Wie immer öfter, versank Alexander im
Nilomar, und wie jedesmal war es schwerer als beim Mal davor,
wieder daraus aufzutauchen.
Er wußte schon lange, daß seine Krone, seine
Krönung ihn nicht mehr retten würden. Längst nicht
mehr. Die Krone war ein Dreck. Er hatte sein Leben verloren.
Und er würde es niemals wiederbekommen.
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