Zehntes Kapitel

Natara biß die Lippen zusammen und starrte auf ihre Fußspitzen. Ihre neuen Schuhe glänzten, aber sie zwickten auch. Durfte sie das sagen? Bestimmt nicht.
»Was ist mit dir?« fragte die Herrin. »Hast du Angst?«
Natara schüttelte den Kopf, als ihr wieder einfiel, was ihre Eltern ihr beigebracht hatten - daß man keinen Respekt vor seiner Herrschaft hatte, wenn man sie nicht fürchtete, und so nickte sie schnell.
»Du weißt es nicht? Weißt du wenigstens, warum du hier bist?«
Rede nur, wenn du gefragt wirst! Aber jetzt mußte sie antworten, mußte es zugeben. »Wegen dem Unheil. Weil ich daran schuld bin.«
Die Herrin lachte. Sie sah müde aus und alles andere als vergnügt, und jetzt lachte sie Natara aus. Das war kein guter Anfang.
»Du bist schuld, Kind? Hast du denn die Krone gestohlen?«
Schnell schüttelte Natara den Kopf. »Nein… nein!«
Die Herrin seufzte. »Setz dich hin, Kind. Schau mich nicht unentwegt an, als ob ich dich fressen wollte. Du bist nicht schuld.«
Zögernd setzte sich Natara auf den Fußboden, denn in dem Zimmer gab es nur zwei Sessel, und die waren ihr ganz bestimmt verboten.
»Steh auf!« herrschte die Herrin sie an. »Stell dich nicht dumm! Ich habe keine Zeit, dir zu erklären, was Möbel sind!«
Schnell stand Natara auf und setzte sich ganz vorne auf die Sesselkante, so daß sie gerade eben nicht mehr herunterrutschen konnte. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.
»Noch einmal von vorne«, sagte die Herrin. »Ich habe dir nicht befohlen, mich anzustarren wie das Kaninchen die Schlange. Glaubst du, ich hätte dich ins Schloß geholt, wenn ich dir Böses wollte?«
Natara schüttelte den Kopf. Sie wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Ihre Eltern hatten ihr den ganzen Abend lang erklärt, was für eine große Ehre es war und wie sie sich verhalten sollte, und jetzt machte sie alles falsch, und bestimmt würde sie gleich wieder zurückgeschickt, und dann würde sie Ärger bekommen… Natara hielt die Luft an. Sie wußte, sie würde gleich anfangen zu heulen, und das wollte sie auf keinen Fall.
»Warte einen Moment«, sagte die Herrin. »Ich werde uns jetzt einen Tee aufbrühen, und dann erkläre ich dir, was du hier sollst, und du erklärst mir, warum du glaubst, an dem Unheil schuld zu sein.«
Sie verließ das Zimmer durch einen Vorhang. Endlich traute sich Natara, sich neugierig umzusehen. Es war ein Salon, kleiner als der ihrer Eltern, und viel karger eingerichtet. An Möbeln gab es nur diese beiden Sessel und ein kleines Tischchen, und eine Truhe in der Ecke. Bis auf die Lampen waren die Wände kahl; zwei waren weiß gekalkt, die beiden anderen mit dunklem Holz verkleidet, als könne sich das Zimmer nicht entscheiden, ob es kalt oder einladend erscheinen wollte. Und auch die Herrin in ihren schlichten Gewändern sah nicht so aus, wie man sich die Frau eines Königs vorstellte, ganz ohne Schmuck und ungeschminkt, und doch sollte sie diejenige sein, die über das Land herrschte, zumindest, bis der König zurückkehrte. Aber sie sah sehr streng aus, und es fiel Natara schwer, keine Angst vor ihr zu haben, ganz gleich, was ihre Eltern oder die Herrin selbst sagen mochten.
Die Zeit verging, und Natara blieb allein. Sie traute sich nicht aufzustehen, obwohl sie gerne zum Fenster gelaufen wäre, um hinauszuschauen, zu sehen, ob man von hier, so viele Treppen hoch, das Haus ihrer Eltern sehen konnte. Aus dem Nebenzimmer drangen keine Geräusche, aber vielleicht lagen noch viele Räume hinter dem Vorhang… Natara wäre gern zum Vorhang geschlichen, um zu versuchen, durch einen Ritz zu spähen, doch niemand brauchte ihr mehr zu sagen, daß es verboten war. Natara wußte, daß sie nicht dumm war, und es tat weh, daß die Herrin sie nun dafür hielt. Sie blieb auf der Sesselkante sitzen, ohne sich zu bewegen, und wartete mit einer Mischung aus Aufregung und Langeweile.
Dann endlich kam die Herrin zurück, auf einem kleinen Tablett eine Kanne und zwei Tassen. Hatte sie keine Dienerinnen, die den Tee für sie kochen konnten? Natara hatte ihre Mutter noch nie mit einem Tablett in den Händen gesehen.
»So«, sagte die Herrin, stellte das Tablett auf dem Tisch ab und ließ sich in dem anderen Sessel nieder. »Dein Name ist Natara, und so werde ich dich auch nennen. Mein Name ist Aralee, und mit diesem Namen wirst du mich anreden. Hast du verstanden?«
Natara nickte. »Ja, Herrin.«
Kein Lächeln erhellte das strenge, schöne Gesicht. »Du bist hier, weil du auserwählt worden bist. Es lag nicht in meinen Händen, und auch nicht in deinen. Die Elomaran haben entschieden, und jetzt ist es an uns, das Beste daraus zu machen. Deine Eltern haben dir gesagt, du bist hier, um eine Dienerin zu werden?«
Natara nickte.
»Vergiß es«, sagte Aralee. Nataras Herz sank. Also mußte sie zurück, und auch wenn ihre Eltern ihr hier fehlten, fürchtete sie doch den Moment, in dem sie die beiden wiedersehen mußte. Aber Aralee, während sie rotgoldenen Tee in die Tassen goß, fuhr fort: »Du bist hier, um eine Hofdame zu werden. Das ist etwas ganz anderes. Hofdamen ist es erlaubt, eine Zunge zu besitzen.«
Ohne daß sie es verhindern konnte, mußte Natara kichern, und jetzt, endlich, trat ein Lächeln in Aralees Gesicht.
»Und jetzt, nachdem du das weißt - was soll das heißen, du bist Schuld?«
Natara drehte ihre Hände ineinander. »Weil ich ihm die falsche Krone gegeben habe«, flüsterte sie, »und er darum die echte nicht mehr bekommen konnte.«
Diesmal lachte Aralee nicht. Sie nickte nur. »Es paßt so schön zusammen, nicht wahr? Korisander selbst hat gesehen, wie du für meinen Sohn getanzt hast, und daß du es gewagt hast, sein Kind darzustellen. Und als du dann auch noch so weit gegangen bist, Alexander die Papierkrone auf den Kopf zu setzen…«
Mit weit aufgerissenen Augen nickte Natara. Also stimmte es, was sie sich zusammengereimt hatte.
»Nein«, sagte Aralee streng. »Fang gar nicht erst an, dir damit Angst zu machen. Denk weiter - als du getanzt hast, da hast du nur eine Rolle gespielt, die ich dir zugewiesen habe, nicht wahr? Du bist ein Kind, wie alt? Zwölf Jahre? Ich bin eine erwachsene Frau. Also wenn Korisander auf jemanden von uns böse sein müßte, dann auf mich. Aber er hat mir nichts getan, und dir auch nicht, und warum sollte er ausgerechnet den König bestrafen für etwas, das die Schuld von uns beiden ist?«
»Ich weiß nicht«, sagte Natara. »Aber -« Sie brach ab, bis Aralee sie mit einem Winken dazu ermutigte, weiterzusprechen. »Aber die Krone ist doch verschwunden, und der König auch, und das Unheil ist über Koristan hereingebrochen.«
»Nein«, erwiderte Aralee. »Paß auf. Ich weiß, was unten in der Stadt alles geredet wird, aber laß mich versuchen, dir die Wahrheit zu erklären. Und trink deinen Tee, bevor er kalt wird. Ich kann mir leider nicht soviel Zeit für dich nehmen, wie ich gerne würde - es ist sehr viel zu tun für mich, bis mein Sohn wiederkehrt.
Alexander ist sehr jung, wie du weißt, gerade vier Jahre älter als du, und vielleicht ist er noch zu jung, um König zu sein. Darum hat Korisander ihn jetzt auf die Probe gestellt - er muß eine schwere Aufgabe bewältigen, um der Welt zu beweisen, daß seine Fähigkeiten nicht hinter denen seines Bruders zurückbleiben. Ich habe die Gewißheit, daß er sich in dieser Aufgabe bewähren wird.« Jetzt trat Wärme in ihr Gesicht. »Ich kann dem Volk hierauf nicht mehr geben als mein Wort - aber eine Mutter weiß immer, wie es um ihren Sohn steht.«
Natara starrte sie neugierig an. Sie hatte die Engelsgeborenen von Nahem gesehen, war von ihnen berührt worden, kannte dieses wundervolle, furchteinflößende Gefühl - es war schwer zu glauben, daß diese Männer Mütter hatten, die ganz gewöhnliche Menschen waren, daß nichts von ihrer Göttlichkeit auf diese Frauen überging.
»Wann kommt er wieder?« wagte sie zu fragen.
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Aralee. »Es tut mir leid, Natara, ich hätte dich gerne noch ein wenig besser kennengelernt, aber ich denke, dazu werden wir später noch Gelegenheit genug haben. Ich muß jetzt noch zu einer Besprechung mit zwei Grafen, die nicht ganz einsehen wollen, daß Alexander mich gebeten hat, das Land in seiner Abwesenheit zu verwalten. Ich werde jemanden bitten, dich im Schloß herumzuführen, und da es ein großartiges, kompliziertes Gebäude ist, dürfte es dich für den Rest des Tages ausreichend beschäftigen. Glaubst du, du findest den Weg zu deinem Zimmer allein?«
Natara gab es nur ungern zu, denn es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, einen guten Eindruck zu machen, aber sie mußte den Kopf schütteln. Es lag eine Treppe tiefer, aber das war alles, was sie noch wußte.
»Das ist nicht schlimm«, tröstete Aralee sie. »Ich habe Wochen gebraucht, bis ich mich hier zurechtgefunden habe. Ich werde dich hinbringen und dir zeigen, wie du dir den Weg merken kannst.«
Natara nickte dankbar. Aralee war zu freundlich, als daß man hätte Angst vor ihr haben müssen - nicht so verlogen lieb, wie sich manche Ratsfrauen immer gaben, aber auf eine bestimmte, ehrliche Weise. Sie ließ keinen Zweifel daran, daß sie sehr streng war und nur wenig dulden würde, aber streng waren auch Nataras Eltern, und wenn Natara sich weiterhin bemühte, alles richtig zu machen…
»Ich lasse dich jetzt allein«, sagte Aralee, denn über diesen Gedanken waren sie an Nataras Kammer angekommen. »Ruh dich noch ein bißchen aus. Gleich wird dich jemand abholen, und danach« - ein kurzes Lächeln glitt über das Gesicht der Frau - »möchte ich nicht in deiner Haut stecken.«

Noch am anderen Morgen schmerzten Nataras Füße, und, um das noch schlimmer zu machen, ihre Waden und Knie dazu von all den Treppen, die Hester sie hatte steigen lassen. Hester war die Zofe, die sie im Schloß herumgeführt hatte, ein fröhliches junges Mädchen, nur einen halben Kopf größer als Natara selbst, aber ihr wuchsen schon Brüste.
»Oh, ich weiß genau, warum gerade ich dich herumführen soll«, sagte sie vergnügt. »Sie haben immer mit mir geschimpft und gesagt, ich treibe mich an Stellen herum, wo ich nichts zu suchen habe, anstatt zu arbeiten, ich bin sogar einmal vom König selbst getadelt worden.« Stolz lag in ihrer Stimme, als sie das erzählte, was für Natara den größten vorstellbaren Ärger und Scham bedeutet hätte. »Ich meine, vom richtigen König, dem, der jetzt tot ist. Ich war sogar dabei, als sie ihn beigesetzt haben.« Sie hüpfte leichtfüßig den Gang entlang, und der Saum ihres dunkelblauen Rockes tanzte auf und ab. »Sie können mich nicht zu meinen Eltern zurückschicken, weil ich eine Waise bin und sonst niemanden habe auf der Welt, also müssen sie mich behalten, und darum wirst du jetzt auch von jemandem geführt, der sich hier besser auskennt als irgend jemand sonst. Die Herrin weiß das. Ich habe auch schon überall gearbeitet - in der Küche, aber da kommen wir erst nachher hin, und ich habe jedes Stück Fußboden, das sie hier haben, schon mal geputzt, aber keines öfter als einmal - ich habe auch den Herrschaften aufgewartet, und wenn sie mich hier fortjagen, könnte ich den Leuten da draußen Dinge erzählen.«
Sie schwieg einen Moment, und Natara, die sonst die ganze Zeit über gebannt auf den Mund des Mädchens starrte, um nicht unhöflich oder unaufmerksam zu erscheinen, nutzte die Gelegenheit, um sich umzusehen und zu erkennen, daß sie hoffnungslos verloren war in einem hohen, hellen Gang, dessen Wände von alten Bildern in dunklen, schmutzig wirkenden Farben gesäumt waren. Von hier aus würde sie alleine nie mehr zurückfinden.
»Willst du denn gar nicht wissen, was ich gesehen habe?« fragte Hester entrüstet. »Du kannst das Reden ruhig mir überlassen, am Anfang ist es hier bestimmt gut für dich, wenn du so wenig wie möglich sagst, auch wenn er nicht mehr da ist - aber wenigstens ab und zu ein paar Worte, sonst denken ja alle, du bist stumm oder dumm!«
»Nein, sag schon!« beeilte sich Natara zu murmeln. Offenbar genügte das, um Hesters Worte wieder fließen zu lassen.
»Er hat mich einmal geschlagen, daß ich aus den Ohren geblutet habe!« Aus Hesters Mund klang das wie eine große Ehre. »Nicht der König, meine ich, aber sein Bruder, der Alexander, der jetzt kein König mehr werden kann. Hat mich angeschrieen, und dann hat er angefangen, auf mich einzuprügeln, daß ich fast drei Wochen im Bett liegen mußte und nicht arbeiten. Dann haben sie mit Geld gegeben und gesagt, ich darf es keinem erzählen.«
»Aber du hast es mir erzählt!« platzte es aus Natara heraus.
Hester lachte und hüpfte auf einem Bein auf die nächste Fliese. »Oh, du bist doch jetzt eine von uns, und hier drinnen wissen es alle!« Nicht verwunderlich, wenn Hester mit ihren Geheimnissen immer so haushielt! Ihre blauen Augen blitzten. »Außerdem macht es jetzt doch sowieso nichts mehr aus, wo er doch kein König mehr wird! Es ist eine feine Zeit im Moment, wir können machen, was wir wollen, und niemand kommt, um uns zu bestrafen. Hier geht es drunter und drüber seit der Krönung - die hättest du sehen müssen!«
»Oh, aber ich war auf der Krönung«, wagte es Natara, den Strom zu unterbrechen. »Ich habe vor dem König - vor dem neuen König - getanzt. Er hat mich geküßt. Mir ist ganz anders dabei geworden.«
Hester starrte sie einen Augenblick lang sprachlos an. Aber sie gewann ihre Fassung schnell wieder. »Das warst du!« Sie machte noch eine Pause. »Das kannst du mir glauben, du bist das einzige Mädchen, das er jemals geküßt hat.«
»Sie sagen, ich bin auserwählt«, flüsterte Natara. Es war ihr immer noch peinlich. Aber Hester lachte nur.
»Auserwählt von dem! Ich würde nicht mit dir tauschen mögen! Aber lieber geküßt als verprügelt, sage ich immer. Willst du mal den König sehen? Den toten?«
Natara schüttelte den Kopf, aber da war Hester bereits losgerannt, und es gab keine andere Möglichkeit, als ihr zu folgen, wenn sie in den Gängen nicht verhungern wollte.
Doch es war nur ein Bild, vor dem Hester stehenblieb, das letzte in einer langen Reihe - die Wand daneben war leer bis zum Ende des Ganges, soweit das Auge blicken konnte, wartete auf die Bilder der zukünftigen Könige, genug Platz für tausend Jahre und mehr, für tausend Könige. Dieses Bild war noch frisch in den Farben, heller und glänzender, aber es zeigte das, was alle Bilder seit Anfang des Ganges gezeigt hatten - den König. So ähnlich sahen sich die Männer in den Bildern, daß es immer der selbe hätte sein mögen, gemalt zu unterschiedlichen Jahreszeiten und in unterschiedlichen Altersstufen: Immer das gleiche schmale, schöne Gesicht, immer die zarten, verschlossenen Lippen, mal ernst, mal lächelnd, manchmal hochmütig. Dieser lächelte nicht, in seinen großen, dunklen Augen lag eine unerbittliche, traurige Strenge. Er mochte vielleicht fünfunddreißig, vielleicht vierzig Jahre alt sein - das Gesicht war falten- und alterslos, aber nicht jung. Auf dem Kopf trug er, wie alle Könige neben ihm, die Krone.
Natara mußte wieder an die Krone aus Papier denken, und ihr wurde klamm. Plötzlich erschienen ihr die Augen des toten Königs vorwurfsvoll auf sie gerichtet, die Augen aller Könige, und sie wäre am liebsten weggerannt. Aber was hätte Aralee dazu gesagt? Du hast Angst vor toten Bildern? Soll ich sie von der Wand nehmen, damit du siehst, daß es nur bemalte Bretter sind, wie alle anderen Bilder? Es half, sich das vorzustellen. Diese Bilder hatten nicht wirklich Augen. Allenfalls Astlöcher. Natara mußte lachen.
»Bist du verrückt?« zischte Hester, und erst jetzt bemerkte Natara, daß die Zofe vor dem Bild am Boden kniete. »Du mußt den Boden küssen! Er ist ein Elomaran!«
Natara schüttelte den Kopf. Plötzlich erschien ihr alles so lächerlich. »Das ist nur ein Bild!« rief sie. »Und der Fußboden ist kein Elomaran, sondern etwas, das du einmal geschrubbt hast.«
Hester starrte zu ihr auf, einen Moment lang voll Wut, aber noch während sie sich vom Boden aufrappelte, begann sie zu lachen. »Du hast Recht«, sagte sie. »Du bist ganz schön gescheit. Ich mag dich. Warte nur, wenn wir uns erst besser kennen, kann ich dir noch ganz andere Dinge erzählen. Aber jetzt komm! Du hast längst noch nicht alles gesehen, und ich bin nicht hier, um dir Geschichten zu erzählen. Das Schloß wartet!«
Und so kam es, daß Natara am anderen Morgen völlig erschöpft auf der Kante ihres schmalen, harten Bettes saß und sich fragte, wie sie ihre Füße nur jemals wieder in diese Schuhe zwängen sollte. Sie hatte Blasen an den Fersen, und ihr Kopf schwirrte immer noch von allem, was sie am Vortag gesehen und gehört hatte. Aber sie kam nicht dazu, auszuruhen. Noch während Natara auf der Bettkante saß und sich beim Betrachten ihrer Füße verrenkte - ein wenig wie die Aufwärmübungen in der Tanzschule - kam Hester herein.
»Komm mit zur Küche, wir holen uns etwas zu essen!« rief sie anstelle eines Morgengrußes. »Ich war mir nicht sicher, ob du sie allein finden würdest, also dachte ich mir, ich komm dich lieber abholen.«
»Mit wem frühstücken wir?« fragte Natara und streckte ihr Bein noch einmal durch, berührte ihre Stirn mit dem Knie und den Himmel mit den Zehen, um zu sehen, ob sie es noch konnte.
»Was meinst du - mit wem?« fragte Hester, leicht verwirrt. »Mit uns selbst, möchte ich meinen! Man geht in die Küche und bekommt etwas zu essen, bevor man mit der Arbeit anfängt. Die Herrin will dich heute noch einmal sehen, und wer weiß, was für Arbeit sie dir aufhalsen wird! Da ist es besser, wenn du vorher anständig was im Bauch hast. Wie geht es deinen Füßen?«
»Gut«, log Natara - für eine ausführliche Antwort blieb bei Hester ohnehin keine Zeit, und sie wollte das geschwätzige Mädchen nicht dazu ermutigen, stundenlang über Füße, Blasen und Schuhe im allgemeinen zu reden. Hester war auch schon beim nächsten Thema - wahrscheinlich hatte sie gar nicht zugehört.
»Komm, du mußt dein Bett noch machen - ich zeige dir, wie es geht, es kommen hier nämlich noch genug Betten auf dich zu, und wie willst du die machen, wenn du das nicht mal mit deinem eigenen kannst? Und du mußt eine Schürze über deinem Kleid tragen, und eine Haube kannst du von mir bekommen - was wäre denn eine Dienerin ohne Häubchen?«
Jetzt blieb Natara nichts anderes übrig, als das andere Mädchen zu unterbrechen, und es machte ihr sogar Spaß, auch wenn sie sich gemein dabei vorkam. »Oh, ich werde gar keine Zofe«, sagte sie stolz. »Aralee hat gesagt, ich soll eine Hofdame werden!«
Hester starrte sie an und sah einen Moment lang so aus, als wolle sie sie ohrfeigen. »Sprich nicht so von der Herrin!« fuhr sie Natara an. »Und außerdem bist du noch lang keine Hofdame, dafür bist du noch viel zu klein! Nur weil deine Eltern reich sind, heißt das nicht, daß du hier nicht arbeiten mußt! Und überhaupt - wer hier von allem am Härtesten arbeitet, ist die Herrin selbst, und die ist beileibe hochgeboren und könnte ein Königin sein.« Der Zorn verschwand wieder aus Hesters Stimme, sie gehörte zu der Sorte Mädchen, die niemandem lange böse sein konnten, von einem mal abgesehen, und sie lachte schon wieder. »Und jetzt laß uns endlich hinuntergehen, dann verrate ich dir auch ein Geheimnis.«
»Wie geheim ist es?« fragte Natara mutig.
»Was soll das heißen - wie geheim?« fragte Hester zurück.
Natara, die jetzt wußte, daß Hester ihr sofort verzeihen würde, lachte. »Wem außer mir hast du es schon erzählt? Bin ich die letzte, die es noch nicht weiß?«
Hester schnaubte verächtlich und warf den Kopf in den Nacken. »Pah! Dann erzähle ich es dir eben nicht!«
»Nein, bitte! Sag!«
Hester blickte sich verschwörerisch um, aber außer ihr war niemand im Gang zu sehen. »Als ich damals im Bett liegen mußte, weil der Alexander mich so geschlagen hat, da habe ich gebetet, Tag und Nacht lang. Und weißt du, zu wem?«
Natara schüttelte den Kopf. Sie selbst betete nur zu den Elomaran, wie sie es von ihren Eltern gelernt hatte, aber sie wußte auch, daß es auch Menschen gab, die noch zu den alten Göttern beteten, und warum sonst hätte Hester fragen sollen?
Die Stimme der Zofe war nicht mehr als ein Flüstern und doch voll von Triumph. »Zu den Nilomaran habe ich gebetet, immer und immer wieder, damit sie kommen und den Alexander holen.« Die Angst stieg so schnell in Natara auf, daß ihr schwindelig wurde und sie schwarze Flecken sah, da, wo eigentlich Hester stehen sollte, und in ihren Ohren war ein Rauschen, durch das Hesters Worte nur undeutlich klangen: »Und jetzt haben sie mich endlich erhört.«

Natara war dankbar, bald darauf wieder in Aralees Vorzimmer sitzen zu dürfen, während Hester allein ihrer Arbeit nachging. Sie hatte Angst, Angst vor einem Mädchen, daß die Nilomaran rufen konnte, und Angst vor den Nilomaran selbst. Jetzt saß sie da, mit einem Geheimnis, das sie nicht verraten durfte und das ihr mehr Schmerzen bereitete als alle Blasen der Welt.
»Du bist nicht bei der Sache!« ermahnte Aralee sie bestimmt schon zum dritten Mal. »Du hörst mir nicht zu!«
Natara riß sich zusammen und bemühte sich, die Königswitwe zumindest aufmerksam anzusehen. Sie hatte keine Ahnung, was die Frau ihr zu erklären versuchte.
»Was ist los? Wenn etwas nicht mit dir stimmt, sag es mir, ehe ich noch mehr Zeit mit sinnlosen Erklärungen verschwende!«
Natara schluckte, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als die Frage zu stellen, die sie noch nicht einmal ihrer Mutter hätte stellen können. »Aralee… Gibt es die Nilomaran wirklich?«
In Aralees Gesicht trat kein Entsetzen, als sie den verbotenen Namen hörte, nur Verwunderung. »Wie kommst du darauf?«
Natara zögerte mit ihrer Antwort. Sie wollte Hester nicht verraten, nicht einmal andeuten, was das Mädchen getan hatte - aber wer sonst sollte sie zwischen gestern und heute darauf gebracht haben? »Man sagt -« begann sie, brach ab und fing noch einmal von vorne an. »Ich habe gehört, die Nilomaran hätten Eurem Sohn die Krone gestohlen.«
Jetzt nickte Aralee, und sie lächelte dabei. Natara mußte wieder zurückdenken an dieses gräßliche Lächeln in Hesters Gesicht, als sie das Unaussprechliche sagte. Wie konnte man bei so etwas lächeln? Aber Aralee lachte nicht über die Nilomaran. Sie sagte nur: »Ah. Hester.« Schnell schüttelte Natara den Kopf, aber dann nickte sie. Sie wußte nicht, was schlimmer war, Lügen oder ein Geheimnis verraten.
»Es gibt keine Nilomaran«, sagte Aralee ruhig und eindringlich, »und es ist schändlich, sie anzurufen, aber ich weiß, warum Hester das getan hat. Sie hat es mir längst gebeichtet, unter vielen Tränen. Wenn einem Menschen sehr weh getan wird, kommt er oft auf die Idee, böse Dinge zu tun, und manche tun es dann tatsächlich. Aber vor den Nilomaran mußt du keine Angst haben. Sie sind nur Einbildung. Weißt du, warum die Menschen sie erfunden haben?«
Natara schüttelte den Kopf.
»Die Elomaran sind unendlich gut. Aber die Menschen können sich das nur vorstellen, wenn es gleichzeitig etwas unendlich Böses gibt, mit dem sie es vergleichen können - damit man den Unterschied merkt. Und so sagten sie sich, wenn der Himmel die Elomaran hervorbringen konnte, muß es doch auch Geschöpfe geben, die aus der tiefsten Tiefe des Nilomar kommen. So dachten sie sich die Nilomaran aus, die aufsteigen und versuchen, die Menschen mitsamt ihren Seelen in die Tiefe zu reißen. Aber es gibt sie nicht in Wirklichkeit.«
»Aber ihre Boten«, sagte Natara. »Sie sind über das Land geflogen, an dem Tag, nachdem die Krone verschwand!«
Wieder lachte Aralee. »Die schwarzen Schwäne, ja. Die gibt es wirklich. Aber es ist so ein dummer Aberglaube! Schwarze Schwäne sind selten, und in dieser Gegend sieht man sie nur, wenn sie im Frühling und im Herbst über uns hinwegfliegen. Aber wie du selbst sagst - sie können fliegen, und darum gehören sie, wie jedes fliegende Geschöpf, nur dem Elomar. War es das, was du wissen wolltest, oder hast du noch mehr Fragen übrig, die nicht mit dem zusammenhängen, was ich dich eigentlich lehren will? Wenn die Zeit es erlaubt, werde ich dir den Nilomar zeigen, das heißt, eine seiner Pforten, die auf dem Schloßgelände liegt, und wenn du dann noch mehr darüber wissen willst, solltest du eine Totenmagd fragen, denn niemand kennt sich mit dem Abgrund besser aus als sie. Hast du alles verstanden?«
Natara nickte, aber ihre Gedanken waren wieder bei Hester, der lachenden, hüpfenden Hester, die in ihrem Herzen so böse sein konnte. Nach Aralees Worten mußte sie keine Angst mehr vor den Nilomaran haben, aber die Angst, Hester gegen sich aufzubringen und ihre Rache fühlen zu müssen, blieb.
»Können wir jetzt fortfahren?« fragte Aralee. »Was ist denn nun schon wieder?«
»Nichts«, log Natara. »Es tut mir leid, daß ich unaufmerksam war. Werdet Ihr mich weiter anweisen?«
»Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig.« Aralees Seufzen klang genervt. Sie nahm sich für Natara Zeit, die sei eigentlich nicht hatte, und bestimmt bedauerte sie es längst, jemals Natara von ihren Eltern fortgeholt zu haben. »Ich fange noch einmal von vorne an. Du sollst heute zwei Frauen aufwarten und dich mit ihnen unterhalten. Glaubst du, du kannst das?«
»Ich habe das noch nie gemacht«, antwortete Natara kläglich.
»Das weiß ich. Aber es gibt einiges, das du lernen mußt, bevor du eine Hofdame werden kannst, und dazu gehören auch die Pflichten einer Zofe. Ich habe dich diesen Frauen zugeteilt, weil du bei ihnen nicht viel falsch machen kannst. Sie sind nicht von unserm Hofe, nicht einmal aus unserem Land, und sie sind auch nicht freiwillig hier.«
Es dauerte einen Moment, bis Natara sich traute zu fragen: »Heißt das, sie sind… so etwas wie Gefangene?«
»Was würdest du mit zwei Frauen machen, die versuchen, unsere Pferde zu stehlen?«
Die Frage klang so ernst, daß Natara lachen mußte. Diesmal war es Aralee, die sie verwundert anblickte. »Frauen stehlen doch keine Pferde!« erklärte Natara.
»So? Nun, diese offenbar schon, und daran, daß sie Frauen sind, besteht leider kein Zweifel. Aber du mußt nicht wissen, was genau sie getan haben oder warum sei hier sind. Ich habe sie bis auf weiteres in einem der Gästezimmer eingeschlossen, weil ich die Vorstellung nicht mag, daß Frauen in einem Verlies angekettet werden, egal, was sie verbrochen haben mögen. Außerdem haben diese zwei eine besondere… Stellung inne. Ich möchte, daß sich jemand um sie kümmert, und ich möchte, daß du es tust.« In Aralees Lächeln war etwas, das Natara nicht verstand, und ebenso in ihren Augen.
»Warum?« fragte Natara. »Ich meine, warum gerade ich? Ich habe so etwas noch nie gemacht, und ich weiß nicht, wie… Warum kann nicht vielleicht Hester…« Sie konnte schlecht sagen: Hester wollte Euren Sohn verfluchen, sie ist ebenso böse wie diese Frauen, aber ich habe Angst, ihnen zu begegnen.
Aralee legte eine Hand auf Nataras; sie fühlte sich kühl an, und klamm. »Hester ist nicht geeignet, vielleicht hat sie es dir sogar gesagt, aber sie kann nur noch auf einem Ohr hören, und auf dem nicht einmal besonders gut. Darum versteht sie vieles nicht richtig. Nein, ich möchte, daß du mit diesen Frauen sprichst. Ich glaube, es ist einfacher, dir zu zeigen, wie eine höfische Dame nicht sein sollte.« Sie drückte Nataras Hand einmal. »Du bist klug, und du hast gute Ohren. Mehr erwarte ich nicht von dir. Komm jetzt.«
Als Natara Aralee durch Gänge, die ihr trotz der gestrigen Führung völlig fremd vorkamen, folgte, fragte sie sich, was ihre Eltern wohl dazu sagen würden, wenn sie erführen, daß ihre Tochter im Schloß keine Dienerin werden sollte, keine Tänzerin und keine Dame - sondern ein Spitzel.

»Guten Tag«, sagte Natara leise und knickste mit vollendeter Anmut - es war das einzige in diesem Schloß, was sie mit Bestimmtheit konnte, aber ihre Beine schmerzten dabei.
Gleichzeitig sah sich sie neugierig um. Sie wußte nicht, wie Frauen aussahen, die so etwas tun würden wie Pferde stehlen, aber sie hatte auf jeden Fall etwas anderes erwartet - jemand häßliches, schäbiges, wie den Mann, den sie damals auf dem Marktplatz am Pranger gesehen hatte, bevor ihre Mutter sie weiterzog. Aber diese Frauen waren wunderschön. Nicht so, wie Aralee es war, aber prachtvoll. Sie sahen aus wie Tänzerinnen.
Die eine hatte lockiges, golden glänzendes Haar, hoch über ihrem Kopf aufgetürmt, und große blaue Augen, und einen kleinen roten Mund, wie eine Puppe, mit der Natara gespielt hatte, bis sie zu alt dafür wurde - und erst das Kleid, das sie trug! Die Amme, die Nataras kleinen Bruder gestillt hatte, bevor er starb, hatte ein Kleid, das sie vorne öffnen konnte, um ihre Brüste hervorzuholen. Dieses hier war ähnlich, nur, daß die Brüste schon fast von selbst herausquollen. Und sie waren sehr groß. Natara hatte noch nie eine so schlanke Frau mit so großen Brüsten gesehen, und sie mußte immer wieder darauf starren, fasziniert und ein wenig neidisch. Die andere Frau war nur von hinten zu sehen; sie stand mit ihrem roten Haar und gelben Kleid am Fenster und drehte sich nicht um, als Natara eintrat.
Aber dann öffnete die blonde Frau den Mund, und der Zauber verflog. Ihre Stimme war hoch und seltsam gedehnt - es erinnerte an eine maunzende Katze. Dazu rümpfte die Frau ihre kleine Nase.
»Ein kleines Mädchen! Ob es mir irgendwann gelingen wird, denen zu erklären, daß ich nicht nur von Frauen bedient werden will?«
In die Luft hinein und ohne sich umzusehen, erwiderte die Rothaarige: »Ich glaube, das haben sie begriffen. Darum schicken sie dir jetzt ja auch ein kleines Mädchen.«
Natara wußte nicht, was schlimmer war - von der einen ignoriert zu werden, oder von der anderen so angesehen. Aber sie hielt still und merkte sich, was geredet wurde - vielleicht konnte etwas davon Aralee interessieren, auch wenn Natara nicht wußte, warum.
»Ist dir aufgefallen, wie sie hier ihre Mädchen anziehen? Völlig reizlos. Schau dir die Kleine doch mal an, Roveen! An ihr ist überhaupt nichts dran, gar nichts.«
»Warum sollte mich das interessieren? Ich will doch nicht mit ihr schlafen! Bist du wirklich schon so verzweifelt, Gaell?«
Natara merkte sich die Namen, während sie sich in die Wange biß beim Versuch, Wuttränen zu unterdrücken. Jetzt erinnerte sie sich, wo sie die beiden schon einmal gesehen hatte - durch die Löcher einer Maske, als bei der Krönung der seltsame kleine Mann herumbrüllte und den Tanz verbieten wollte. Sie kniff die Augen zusammen. Es waren Ausländer - darum redeten sie so komisch, nicht wie normale Leute, sondern sprachen einige Worte so seltsam aus, daß man sie nur mit Mühe verstehen konnte.
»Nein, aber ernsthaft! Und wie sie mich anstarrt!«
»Ich dachte, du liebst es, wenn du angestarrt wirst? Wenn nicht, mußt du dich anders anziehen und schminken. Du bist selbst schuld. Also laß die arme Kleine zufrieden. Oder sag ihr, sie soll gehen.« Immer noch rührte sich die Frau nicht, obwohl Natara so gern ihr Gesicht gesehen, darin Hilfe gesucht hätte. Sie wußte nicht, was sie tun sollte; sie fühlte sich dumm und häßlich. Am meisten haßte sie in diesem Moment Aralee, Aralee, die sie in dieses Zimmer gesteckt hatte, ohne ihr zu sagen, was sie dort sollte.
Gaell lächelte. »Du hast Roveen gehört, Kleines. Du kannst gehen. Und sag der Sirahë, sie soll uns beim nächsten Mal einen Mann schicken, wenn sie uns schon einsperrt.«
Mit einem Gesicht, das so heiß war, daß es vor Wut und Scham zu brennen schien, rannte Natara durch die Gänge, die Augen blind vor Tränen, und ohne auf den Weg zu achten, so daß sie vor Verwunderung, sich plötzlich vor ihrem Zimmer wiederzufinden, einen Moment lang sogar ruhig wurde. Aber es hielt nicht lange an. Kaum fiel die Tür hinter Natara zu, kamen die Tränen wieder, und diesmal gab es keinen Weg, sie zurückzuhalten. Natara warf sich auf ihr Bett und heulte, und weil es das falsche Bett war, nicht das in ihrem Zuhause, weinte sie um so lauter, bis sie fast keine Luft mehr bekam und nur noch leise in sich hineinschluchzen konnte. Warum waren hier alle so gemein zu ihr? Warum tat Aralee erst so, als ob sie nett war, und machte dann so etwas? Natara wollte nach Hause, dahin, wo man sie nicht verspottete und beschimpfte. Sie wollte schlucken, aber es ging nicht, weil ihr etwas den Hals zuhielt. Und dann fiel ihr wieder ein, daß sie vergessen hatte, den Raum mit den Frauen wieder abzuschließen. Aralee hatte ihr den Schlüssel gegeben, sie ermahnt, daran zu denken - und jetzt steckte der Schlüssel immer noch in der Tasche von Nataras Schürze.
Natara wollte böse sein, wollte denken können: ‘Geschieht Aralee Recht, wenn die beiden jetzt abhauen!’ Aber so sehr sie es auch versuchte, es machte nur, daß sie sich noch schlechter fühlte. Sie konnte sich nicht rühren, nicht einmal, um ihre Schuhe auszuziehen, oder um zur Lampe hinzugehen und sie anzuzünden. Es wurde dunkel in ihrem Zimmer, und kalt, und Natara wollte nicht daran denken, daß sie Angst hatte.
Dann hörte sie, wie etwas an ihre Tür klopfte, dreimal, leise. Natara schwieg und wartete. Vielleicht würde es weggehen. Bestimmt. Es klopfte noch einmal. Natara biß sich auf die Finger. Wieder klopfte es, dreimal. Und dann öffnete sich die Tür, und leise Schritte waren im Zimmer, ein verstohlenes Schleichen. Natara kniff die Augen zusammen und wartete.
»Bist du wach?« fragte Hester besorgt.
»Geh weg!« brachte Natara hervor. »Laß mich allein«, wollte sie noch hinzufügen, aber sie konnte nicht mehr sprechen.
»Ich wollte dir nur eine Birne bringen«, sagte Hester entschuldigend. »Hey, was ist denn mit dir?« Im nächsten Moment saß sie neben Natara auf der Bettkante und schüttelte sie. »Waren sie gemein zu dir? Wein doch nicht! Du kannst es doch deiner lieben Hester erzählen.«Natara riß sich los und rollte herum. »Die Nilomaran sollen dich holen!« fauchte sie. Dann begriff sie, was sie gesagt hatte, und erschrak. Aber Hester lachte nur.
»Oh, und ich dachte noch, du wärst deswegen böse mit mir!«
»Nein, es ist, ich wollte nicht - es tut mir leid!« stammelte Natara.
Hester drückte sie einmal kurz an sich und ließ sie dann sofort wieder los. »Oh, du bist so niedlich! Und jetzt erzähl!«
Natara wollte, daß sie wegging, aber sie durfte es nicht sagen. In diesem Moment wünschte sie sich, der Nilomar würde Hester verschlingen, und es tat ihr nicht einmal leid. Sie wollte nicht erzählen, was die Frauen gesagt hatte, aber wie sollte sie Hesters bohrende Neugier aufhalten? Ihr kam eine Idee.
»Ich habe so etwas Dummes gemacht«, sagte sie leise.
»Was?« fragte Hester, und nachdem, was Aralee von ihren Ohren gesagt hatte, konnte es ebensogut sein, daß sie Natara einfach nicht verstand.
Natara sprach lauter. »Ich habe nicht daran gedacht, die Tür wieder abzuschließen, von diesen ausländischen Frauen.«
»Na, dann mach es doch jetzt!« Hester fand das weder besorgniserregend, noch wunderte es sie, wo Natara gewesen war.
»Ich trau mich nicht - es ist so dunkel.«
Hester lachte nur. »Dann mache ich es eben für dich. Dafür sind Freundinnen schließlich da. Gib schon den Schlüssel!«
Er wog seltsam schwer, als Natara ihn ihr reichte, aber die Erleichterung wog schwerer als ihr Gewissen. Dann war Natara allein.

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