Natara biß die Lippen zusammen und starrte auf ihre
Fußspitzen. Ihre neuen Schuhe glänzten, aber sie
zwickten auch. Durfte sie das sagen? Bestimmt nicht.
»Was ist mit dir?« fragte die Herrin. »Hast du
Angst?«
Natara schüttelte den Kopf, als ihr wieder einfiel, was ihre
Eltern ihr beigebracht hatten - daß man keinen Respekt vor
seiner Herrschaft hatte, wenn man sie nicht fürchtete, und so
nickte sie schnell.
»Du weißt es nicht? Weißt du wenigstens, warum
du hier bist?«
Rede nur, wenn du gefragt wirst! Aber jetzt mußte sie
antworten, mußte es zugeben. »Wegen dem Unheil. Weil
ich daran schuld bin.«
Die Herrin lachte. Sie sah müde aus und alles andere als
vergnügt, und jetzt lachte sie Natara aus. Das war kein guter
Anfang.
»Du bist schuld, Kind? Hast du denn die Krone
gestohlen?«
Schnell schüttelte Natara den Kopf. »Nein…
nein!«
Die Herrin seufzte. »Setz dich hin, Kind. Schau mich nicht
unentwegt an, als ob ich dich fressen wollte. Du bist nicht
schuld.«
Zögernd setzte sich Natara auf den Fußboden, denn in
dem Zimmer gab es nur zwei Sessel, und die waren ihr ganz bestimmt
verboten.
»Steh auf!« herrschte die Herrin sie an. »Stell
dich nicht dumm! Ich habe keine Zeit, dir zu erklären, was
Möbel sind!«
Schnell stand Natara auf und setzte sich ganz vorne auf die
Sesselkante, so daß sie gerade eben nicht mehr
herunterrutschen konnte. »Es tut mir leid«,
flüsterte sie.
»Noch einmal von vorne«, sagte die Herrin. »Ich
habe dir nicht befohlen, mich anzustarren wie das Kaninchen die
Schlange. Glaubst du, ich hätte dich ins Schloß geholt,
wenn ich dir Böses wollte?«
Natara schüttelte den Kopf. Sie wußte nicht mehr, was
sie denken sollte. Ihre Eltern hatten ihr den ganzen Abend lang
erklärt, was für eine große Ehre es war und wie sie
sich verhalten sollte, und jetzt machte sie alles falsch, und
bestimmt würde sie gleich wieder zurückgeschickt, und
dann würde sie Ärger bekommen… Natara hielt die
Luft an. Sie wußte, sie würde gleich anfangen zu heulen,
und das wollte sie auf keinen Fall.
»Warte einen Moment«, sagte die Herrin. »Ich
werde uns jetzt einen Tee aufbrühen, und dann erkläre ich
dir, was du hier sollst, und du erklärst mir, warum du
glaubst, an dem Unheil schuld zu sein.«
Sie verließ das Zimmer durch einen Vorhang. Endlich traute
sich Natara, sich neugierig umzusehen. Es war ein Salon, kleiner
als der ihrer Eltern, und viel karger eingerichtet. An Möbeln
gab es nur diese beiden Sessel und ein kleines Tischchen, und eine
Truhe in der Ecke. Bis auf die Lampen waren die Wände kahl;
zwei waren weiß gekalkt, die beiden anderen mit dunklem Holz
verkleidet, als könne sich das Zimmer nicht entscheiden, ob es
kalt oder einladend erscheinen wollte. Und auch die Herrin in ihren
schlichten Gewändern sah nicht so aus, wie man sich die Frau
eines Königs vorstellte, ganz ohne Schmuck und ungeschminkt,
und doch sollte sie diejenige sein, die über das Land
herrschte, zumindest, bis der König zurückkehrte. Aber
sie sah sehr streng aus, und es fiel Natara schwer, keine Angst vor
ihr zu haben, ganz gleich, was ihre Eltern oder die Herrin selbst
sagen mochten.
Die Zeit verging, und Natara blieb allein. Sie traute sich nicht
aufzustehen, obwohl sie gerne zum Fenster gelaufen wäre, um
hinauszuschauen, zu sehen, ob man von hier, so viele Treppen hoch,
das Haus ihrer Eltern sehen konnte. Aus dem Nebenzimmer drangen
keine Geräusche, aber vielleicht lagen noch viele Räume
hinter dem Vorhang… Natara wäre gern zum Vorhang
geschlichen, um zu versuchen, durch einen Ritz zu spähen, doch
niemand brauchte ihr mehr zu sagen, daß es verboten war.
Natara wußte, daß sie nicht dumm war, und es tat weh,
daß die Herrin sie nun dafür hielt. Sie blieb auf der
Sesselkante sitzen, ohne sich zu bewegen, und wartete mit einer
Mischung aus Aufregung und Langeweile.
Dann endlich kam die Herrin zurück, auf einem kleinen Tablett
eine Kanne und zwei Tassen. Hatte sie keine Dienerinnen, die den
Tee für sie kochen konnten? Natara hatte ihre Mutter noch nie
mit einem Tablett in den Händen gesehen.
»So«, sagte die Herrin, stellte das Tablett auf dem
Tisch ab und ließ sich in dem anderen Sessel nieder.
»Dein Name ist Natara, und so werde ich dich auch nennen.
Mein Name ist Aralee, und mit diesem Namen wirst du mich anreden.
Hast du verstanden?«
Natara nickte. »Ja, Herrin.«
Kein Lächeln erhellte das strenge, schöne Gesicht.
»Du bist hier, weil du auserwählt worden bist. Es lag
nicht in meinen Händen, und auch nicht in deinen. Die Elomaran
haben entschieden, und jetzt ist es an uns, das Beste daraus zu
machen. Deine Eltern haben dir gesagt, du bist hier, um eine
Dienerin zu werden?«
Natara nickte.
»Vergiß es«, sagte Aralee. Nataras Herz sank.
Also mußte sie zurück, und auch wenn ihre Eltern ihr
hier fehlten, fürchtete sie doch den Moment, in dem sie die
beiden wiedersehen mußte. Aber Aralee, während sie
rotgoldenen Tee in die Tassen goß, fuhr fort: »Du bist
hier, um eine Hofdame zu werden. Das ist etwas ganz anderes.
Hofdamen ist es erlaubt, eine Zunge zu besitzen.«
Ohne daß sie es verhindern konnte, mußte Natara
kichern, und jetzt, endlich, trat ein Lächeln in Aralees
Gesicht.
»Und jetzt, nachdem du das weißt - was soll das
heißen, du bist Schuld?«
Natara drehte ihre Hände ineinander. »Weil ich ihm die
falsche Krone gegeben habe«, flüsterte sie, »und
er darum die echte nicht mehr bekommen konnte.«
Diesmal lachte Aralee nicht. Sie nickte nur. »Es paßt
so schön zusammen, nicht wahr? Korisander selbst hat gesehen,
wie du für meinen Sohn getanzt hast, und daß du es
gewagt hast, sein Kind darzustellen. Und als du dann auch noch so
weit gegangen bist, Alexander die Papierkrone auf den Kopf zu
setzen…«
Mit weit aufgerissenen Augen nickte Natara. Also stimmte es, was
sie sich zusammengereimt hatte.
»Nein«, sagte Aralee streng. »Fang gar nicht
erst an, dir damit Angst zu machen. Denk weiter - als du getanzt
hast, da hast du nur eine Rolle gespielt, die ich dir zugewiesen
habe, nicht wahr? Du bist ein Kind, wie alt? Zwölf Jahre? Ich
bin eine erwachsene Frau. Also wenn Korisander auf jemanden von uns
böse sein müßte, dann auf mich. Aber er hat mir
nichts getan, und dir auch nicht, und warum sollte er ausgerechnet
den König bestrafen für etwas, das die Schuld von uns
beiden ist?«
»Ich weiß nicht«, sagte Natara. »Aber
-« Sie brach ab, bis Aralee sie mit einem Winken dazu
ermutigte, weiterzusprechen. »Aber die Krone ist doch
verschwunden, und der König auch, und das Unheil ist über
Koristan hereingebrochen.«
»Nein«, erwiderte Aralee. »Paß auf. Ich
weiß, was unten in der Stadt alles geredet wird, aber
laß mich versuchen, dir die Wahrheit zu erklären. Und
trink deinen Tee, bevor er kalt wird. Ich kann mir leider nicht
soviel Zeit für dich nehmen, wie ich gerne würde - es ist
sehr viel zu tun für mich, bis mein Sohn wiederkehrt.
Alexander ist sehr jung, wie du weißt, gerade vier Jahre
älter als du, und vielleicht ist er noch zu jung, um
König zu sein. Darum hat Korisander ihn jetzt auf die Probe
gestellt - er muß eine schwere Aufgabe bewältigen, um
der Welt zu beweisen, daß seine Fähigkeiten nicht hinter
denen seines Bruders zurückbleiben. Ich habe die
Gewißheit, daß er sich in dieser Aufgabe bewähren
wird.« Jetzt trat Wärme in ihr Gesicht. »Ich kann
dem Volk hierauf nicht mehr geben als mein Wort - aber eine Mutter
weiß immer, wie es um ihren Sohn steht.«
Natara starrte sie neugierig an. Sie hatte die Engelsgeborenen von
Nahem gesehen, war von ihnen berührt worden, kannte dieses
wundervolle, furchteinflößende Gefühl - es war
schwer zu glauben, daß diese Männer Mütter hatten,
die ganz gewöhnliche Menschen waren, daß nichts von
ihrer Göttlichkeit auf diese Frauen überging.
»Wann kommt er wieder?« wagte sie zu fragen.
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Aralee.
»Es tut mir leid, Natara, ich hätte dich gerne noch ein
wenig besser kennengelernt, aber ich denke, dazu werden wir
später noch Gelegenheit genug haben. Ich muß jetzt noch
zu einer Besprechung mit zwei Grafen, die nicht ganz einsehen
wollen, daß Alexander mich gebeten hat, das Land in seiner
Abwesenheit zu verwalten. Ich werde jemanden bitten, dich im
Schloß herumzuführen, und da es ein großartiges,
kompliziertes Gebäude ist, dürfte es dich für den
Rest des Tages ausreichend beschäftigen. Glaubst du, du
findest den Weg zu deinem Zimmer allein?«
Natara gab es nur ungern zu, denn es wäre eine gute
Gelegenheit gewesen, einen guten Eindruck zu machen, aber sie
mußte den Kopf schütteln. Es lag eine Treppe tiefer,
aber das war alles, was sie noch wußte.
»Das ist nicht schlimm«, tröstete Aralee sie.
»Ich habe Wochen gebraucht, bis ich mich hier zurechtgefunden
habe. Ich werde dich hinbringen und dir zeigen, wie du dir den Weg
merken kannst.«
Natara nickte dankbar. Aralee war zu freundlich, als daß man
hätte Angst vor ihr haben müssen - nicht so verlogen
lieb, wie sich manche Ratsfrauen immer gaben, aber auf eine
bestimmte, ehrliche Weise. Sie ließ keinen Zweifel daran,
daß sie sehr streng war und nur wenig dulden würde, aber
streng waren auch Nataras Eltern, und wenn Natara sich weiterhin
bemühte, alles richtig zu machen…
»Ich lasse dich jetzt allein«, sagte Aralee, denn
über diesen Gedanken waren sie an Nataras Kammer angekommen.
»Ruh dich noch ein bißchen aus. Gleich wird dich jemand
abholen, und danach« - ein kurzes Lächeln glitt
über das Gesicht der Frau - »möchte ich nicht in
deiner Haut stecken.«
Noch am anderen Morgen schmerzten Nataras Füße, und, um
das noch schlimmer zu machen, ihre Waden und Knie dazu von all den
Treppen, die Hester sie hatte steigen lassen. Hester war die Zofe,
die sie im Schloß herumgeführt hatte, ein
fröhliches junges Mädchen, nur einen halben Kopf
größer als Natara selbst, aber ihr wuchsen schon
Brüste.
»Oh, ich weiß genau, warum gerade ich dich
herumführen soll«, sagte sie vergnügt. »Sie
haben immer mit mir geschimpft und gesagt, ich treibe mich an
Stellen herum, wo ich nichts zu suchen habe, anstatt zu arbeiten,
ich bin sogar einmal vom König selbst getadelt worden.«
Stolz lag in ihrer Stimme, als sie das erzählte, was für
Natara den größten vorstellbaren Ärger und Scham
bedeutet hätte. »Ich meine, vom richtigen
König, dem, der jetzt tot ist. Ich war sogar dabei, als sie
ihn beigesetzt haben.« Sie hüpfte leichtfüßig
den Gang entlang, und der Saum ihres dunkelblauen Rockes tanzte auf
und ab. »Sie können mich nicht zu meinen Eltern
zurückschicken, weil ich eine Waise bin und sonst niemanden
habe auf der Welt, also müssen sie mich behalten, und darum
wirst du jetzt auch von jemandem geführt, der sich hier besser
auskennt als irgend jemand sonst. Die Herrin weiß das. Ich
habe auch schon überall gearbeitet - in der Küche, aber
da kommen wir erst nachher hin, und ich habe jedes Stück
Fußboden, das sie hier haben, schon mal geputzt, aber keines
öfter als einmal - ich habe auch den Herrschaften aufgewartet,
und wenn sie mich hier fortjagen, könnte ich den Leuten da
draußen Dinge erzählen.«
Sie schwieg einen Moment, und Natara, die sonst die ganze Zeit
über gebannt auf den Mund des Mädchens starrte, um nicht
unhöflich oder unaufmerksam zu erscheinen, nutzte die
Gelegenheit, um sich umzusehen und zu erkennen, daß sie
hoffnungslos verloren war in einem hohen, hellen Gang, dessen
Wände von alten Bildern in dunklen, schmutzig wirkenden Farben
gesäumt waren. Von hier aus würde sie alleine nie mehr
zurückfinden.
»Willst du denn gar nicht wissen, was ich gesehen
habe?« fragte Hester entrüstet. »Du kannst das
Reden ruhig mir überlassen, am Anfang ist es hier bestimmt gut
für dich, wenn du so wenig wie möglich sagst, auch wenn
er nicht mehr da ist - aber wenigstens ab und zu ein paar
Worte, sonst denken ja alle, du bist stumm oder dumm!«
»Nein, sag schon!« beeilte sich Natara zu murmeln.
Offenbar genügte das, um Hesters Worte wieder fließen zu
lassen.
»Er hat mich einmal geschlagen, daß ich aus den Ohren
geblutet habe!« Aus Hesters Mund klang das wie eine
große Ehre. »Nicht der König, meine ich, aber sein
Bruder, der Alexander, der jetzt kein König mehr werden kann.
Hat mich angeschrieen, und dann hat er angefangen, auf mich
einzuprügeln, daß ich fast drei Wochen im Bett liegen
mußte und nicht arbeiten. Dann haben sie mit Geld gegeben und
gesagt, ich darf es keinem erzählen.«
»Aber du hast es mir erzählt!« platzte es aus
Natara heraus.
Hester lachte und hüpfte auf einem Bein auf die nächste
Fliese. »Oh, du bist doch jetzt eine von uns, und hier
drinnen wissen es alle!« Nicht verwunderlich, wenn Hester mit
ihren Geheimnissen immer so haushielt! Ihre blauen Augen blitzten.
»Außerdem macht es jetzt doch sowieso nichts mehr aus,
wo er doch kein König mehr wird! Es ist eine feine Zeit im
Moment, wir können machen, was wir wollen, und niemand kommt,
um uns zu bestrafen. Hier geht es drunter und drüber seit der
Krönung - die hättest du sehen müssen!«
»Oh, aber ich war auf der Krönung«, wagte es
Natara, den Strom zu unterbrechen. »Ich habe vor dem
König - vor dem neuen König - getanzt. Er hat mich
geküßt. Mir ist ganz anders dabei geworden.«
Hester starrte sie einen Augenblick lang sprachlos an. Aber sie
gewann ihre Fassung schnell wieder. »Das warst du!« Sie
machte noch eine Pause. »Das kannst du mir glauben, du bist
das einzige Mädchen, das er jemals geküßt
hat.«
»Sie sagen, ich bin auserwählt«, flüsterte
Natara. Es war ihr immer noch peinlich. Aber Hester lachte nur.
»Auserwählt von dem! Ich würde nicht mit dir
tauschen mögen! Aber lieber geküßt als
verprügelt, sage ich immer. Willst du mal den König
sehen? Den toten?«
Natara schüttelte den Kopf, aber da war Hester bereits
losgerannt, und es gab keine andere Möglichkeit, als ihr zu
folgen, wenn sie in den Gängen nicht verhungern wollte.
Doch es war nur ein Bild, vor dem Hester stehenblieb, das letzte
in einer langen Reihe - die Wand daneben war leer bis zum Ende des
Ganges, soweit das Auge blicken konnte, wartete auf die Bilder der
zukünftigen Könige, genug Platz für tausend Jahre
und mehr, für tausend Könige. Dieses Bild war noch frisch
in den Farben, heller und glänzender, aber es zeigte das, was
alle Bilder seit Anfang des Ganges gezeigt hatten - den König.
So ähnlich sahen sich die Männer in den Bildern,
daß es immer der selbe hätte sein mögen, gemalt zu
unterschiedlichen Jahreszeiten und in unterschiedlichen
Altersstufen: Immer das gleiche schmale, schöne Gesicht, immer
die zarten, verschlossenen Lippen, mal ernst, mal lächelnd,
manchmal hochmütig. Dieser lächelte nicht, in seinen
großen, dunklen Augen lag eine unerbittliche, traurige
Strenge. Er mochte vielleicht fünfunddreißig, vielleicht
vierzig Jahre alt sein - das Gesicht war falten- und alterslos,
aber nicht jung. Auf dem Kopf trug er, wie alle Könige neben
ihm, die Krone.
Natara mußte wieder an die Krone aus Papier denken, und ihr
wurde klamm. Plötzlich erschienen ihr die Augen des toten
Königs vorwurfsvoll auf sie gerichtet, die Augen aller
Könige, und sie wäre am liebsten weggerannt. Aber was
hätte Aralee dazu gesagt? Du hast Angst vor toten Bildern?
Soll ich sie von der Wand nehmen, damit du siehst, daß es nur
bemalte Bretter sind, wie alle anderen Bilder? Es half, sich
das vorzustellen. Diese Bilder hatten nicht wirklich Augen.
Allenfalls Astlöcher. Natara mußte lachen.
»Bist du verrückt?« zischte Hester, und erst
jetzt bemerkte Natara, daß die Zofe vor dem Bild am Boden
kniete. »Du mußt den Boden küssen! Er ist ein
Elomaran!«
Natara schüttelte den Kopf. Plötzlich erschien ihr alles
so lächerlich. »Das ist nur ein Bild!« rief sie.
»Und der Fußboden ist kein Elomaran, sondern etwas, das
du einmal geschrubbt hast.«
Hester starrte zu ihr auf, einen Moment lang voll Wut, aber noch
während sie sich vom Boden aufrappelte, begann sie zu lachen.
»Du hast Recht«, sagte sie. »Du bist ganz
schön gescheit. Ich mag dich. Warte nur, wenn wir uns erst
besser kennen, kann ich dir noch ganz andere Dinge erzählen.
Aber jetzt komm! Du hast längst noch nicht alles gesehen, und
ich bin nicht hier, um dir Geschichten zu erzählen. Das
Schloß wartet!«
Und so kam es, daß Natara am anderen Morgen völlig
erschöpft auf der Kante ihres schmalen, harten Bettes
saß und sich fragte, wie sie ihre Füße nur jemals
wieder in diese Schuhe zwängen sollte. Sie hatte Blasen an den
Fersen, und ihr Kopf schwirrte immer noch von allem, was sie am
Vortag gesehen und gehört hatte. Aber sie kam nicht dazu,
auszuruhen. Noch während Natara auf der Bettkante saß
und sich beim Betrachten ihrer Füße verrenkte - ein
wenig wie die Aufwärmübungen in der Tanzschule - kam
Hester herein.
»Komm mit zur Küche, wir holen uns etwas zu
essen!« rief sie anstelle eines Morgengrußes.
»Ich war mir nicht sicher, ob du sie allein finden
würdest, also dachte ich mir, ich komm dich lieber
abholen.«
»Mit wem frühstücken wir?« fragte Natara und
streckte ihr Bein noch einmal durch, berührte ihre Stirn mit
dem Knie und den Himmel mit den Zehen, um zu sehen, ob sie es noch
konnte.
»Was meinst du - mit wem?« fragte Hester, leicht
verwirrt. »Mit uns selbst, möchte ich meinen! Man geht
in die Küche und bekommt etwas zu essen, bevor man mit der
Arbeit anfängt. Die Herrin will dich heute noch einmal sehen,
und wer weiß, was für Arbeit sie dir aufhalsen wird! Da
ist es besser, wenn du vorher anständig was im Bauch hast. Wie
geht es deinen Füßen?«
»Gut«, log Natara - für eine ausführliche
Antwort blieb bei Hester ohnehin keine Zeit, und sie wollte das
geschwätzige Mädchen nicht dazu ermutigen, stundenlang
über Füße, Blasen und Schuhe im allgemeinen zu
reden. Hester war auch schon beim nächsten Thema -
wahrscheinlich hatte sie gar nicht zugehört.
»Komm, du mußt dein Bett noch machen - ich zeige dir,
wie es geht, es kommen hier nämlich noch genug Betten auf dich
zu, und wie willst du die machen, wenn du das nicht mal mit deinem
eigenen kannst? Und du mußt eine Schürze über
deinem Kleid tragen, und eine Haube kannst du von mir bekommen -
was wäre denn eine Dienerin ohne Häubchen?«
Jetzt blieb Natara nichts anderes übrig, als das andere
Mädchen zu unterbrechen, und es machte ihr sogar Spaß,
auch wenn sie sich gemein dabei vorkam. »Oh, ich werde gar
keine Zofe«, sagte sie stolz. »Aralee hat gesagt, ich
soll eine Hofdame werden!«
Hester starrte sie an und sah einen Moment lang so aus, als wolle
sie sie ohrfeigen. »Sprich nicht so von der Herrin!«
fuhr sie Natara an. »Und außerdem bist du noch lang
keine Hofdame, dafür bist du noch viel zu klein! Nur weil
deine Eltern reich sind, heißt das nicht, daß du hier
nicht arbeiten mußt! Und überhaupt - wer hier von allem
am Härtesten arbeitet, ist die Herrin selbst, und die ist
beileibe hochgeboren und könnte ein Königin sein.«
Der Zorn verschwand wieder aus Hesters Stimme, sie gehörte zu
der Sorte Mädchen, die niemandem lange böse sein konnten,
von einem mal abgesehen, und sie lachte schon wieder. »Und
jetzt laß uns endlich hinuntergehen, dann verrate ich dir
auch ein Geheimnis.«
»Wie geheim ist es?« fragte Natara mutig.
»Was soll das heißen - wie geheim?« fragte
Hester zurück.
Natara, die jetzt wußte, daß Hester ihr sofort
verzeihen würde, lachte. »Wem außer mir hast du es
schon erzählt? Bin ich die letzte, die es noch nicht
weiß?«
Hester schnaubte verächtlich und warf den Kopf in den Nacken.
»Pah! Dann erzähle ich es dir eben nicht!«
»Nein, bitte! Sag!«
Hester blickte sich verschwörerisch um, aber außer ihr
war niemand im Gang zu sehen. »Als ich damals im Bett liegen
mußte, weil der Alexander mich so geschlagen hat, da habe ich
gebetet, Tag und Nacht lang. Und weißt du, zu wem?«
Natara schüttelte den Kopf. Sie selbst betete nur zu den
Elomaran, wie sie es von ihren Eltern gelernt hatte, aber sie
wußte auch, daß es auch Menschen gab, die noch zu den
alten Göttern beteten, und warum sonst hätte Hester
fragen sollen?
Die Stimme der Zofe war nicht mehr als ein Flüstern und doch
voll von Triumph. »Zu den Nilomaran habe ich gebetet, immer
und immer wieder, damit sie kommen und den Alexander holen.«
Die Angst stieg so schnell in Natara auf, daß ihr schwindelig
wurde und sie schwarze Flecken sah, da, wo eigentlich Hester stehen
sollte, und in ihren Ohren war ein Rauschen, durch das Hesters
Worte nur undeutlich klangen: »Und jetzt haben sie mich
endlich erhört.«
Natara war dankbar, bald darauf wieder in Aralees Vorzimmer sitzen
zu dürfen, während Hester allein ihrer Arbeit nachging.
Sie hatte Angst, Angst vor einem Mädchen, daß die
Nilomaran rufen konnte, und Angst vor den Nilomaran selbst. Jetzt
saß sie da, mit einem Geheimnis, das sie nicht verraten
durfte und das ihr mehr Schmerzen bereitete als alle Blasen der
Welt.
»Du bist nicht bei der Sache!« ermahnte Aralee sie
bestimmt schon zum dritten Mal. »Du hörst mir nicht
zu!«
Natara riß sich zusammen und bemühte sich, die
Königswitwe zumindest aufmerksam anzusehen. Sie hatte keine
Ahnung, was die Frau ihr zu erklären versuchte.
»Was ist los? Wenn etwas nicht mit dir stimmt, sag es mir,
ehe ich noch mehr Zeit mit sinnlosen Erklärungen
verschwende!«
Natara schluckte, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als
die Frage zu stellen, die sie noch nicht einmal ihrer Mutter
hätte stellen können. »Aralee… Gibt es die
Nilomaran wirklich?«
In Aralees Gesicht trat kein Entsetzen, als sie den verbotenen
Namen hörte, nur Verwunderung. »Wie kommst du
darauf?«
Natara zögerte mit ihrer Antwort. Sie wollte Hester nicht
verraten, nicht einmal andeuten, was das Mädchen getan hatte -
aber wer sonst sollte sie zwischen gestern und heute darauf
gebracht haben? »Man sagt -« begann sie, brach ab und
fing noch einmal von vorne an. »Ich habe gehört, die
Nilomaran hätten Eurem Sohn die Krone gestohlen.«
Jetzt nickte Aralee, und sie lächelte dabei. Natara
mußte wieder zurückdenken an dieses gräßliche
Lächeln in Hesters Gesicht, als sie das Unaussprechliche
sagte. Wie konnte man bei so etwas lächeln? Aber Aralee lachte
nicht über die Nilomaran. Sie sagte nur: »Ah.
Hester.« Schnell schüttelte Natara den Kopf, aber dann
nickte sie. Sie wußte nicht, was schlimmer war, Lügen
oder ein Geheimnis verraten.
»Es gibt keine Nilomaran«, sagte Aralee ruhig und
eindringlich, »und es ist schändlich, sie anzurufen,
aber ich weiß, warum Hester das getan hat. Sie hat es mir
längst gebeichtet, unter vielen Tränen. Wenn einem
Menschen sehr weh getan wird, kommt er oft auf die Idee, böse
Dinge zu tun, und manche tun es dann tatsächlich. Aber vor den
Nilomaran mußt du keine Angst haben. Sie sind nur Einbildung.
Weißt du, warum die Menschen sie erfunden haben?«
Natara schüttelte den Kopf.
»Die Elomaran sind unendlich gut. Aber die Menschen
können sich das nur vorstellen, wenn es gleichzeitig etwas
unendlich Böses gibt, mit dem sie es vergleichen können -
damit man den Unterschied merkt. Und so sagten sie sich, wenn der
Himmel die Elomaran hervorbringen konnte, muß es doch auch
Geschöpfe geben, die aus der tiefsten Tiefe des Nilomar
kommen. So dachten sie sich die Nilomaran aus, die aufsteigen und
versuchen, die Menschen mitsamt ihren Seelen in die Tiefe zu
reißen. Aber es gibt sie nicht in Wirklichkeit.«
»Aber ihre Boten«, sagte Natara. »Sie sind
über das Land geflogen, an dem Tag, nachdem die Krone
verschwand!«
Wieder lachte Aralee. »Die schwarzen Schwäne, ja. Die
gibt es wirklich. Aber es ist so ein dummer Aberglaube! Schwarze
Schwäne sind selten, und in dieser Gegend sieht man sie nur,
wenn sie im Frühling und im Herbst über uns
hinwegfliegen. Aber wie du selbst sagst - sie können fliegen,
und darum gehören sie, wie jedes fliegende Geschöpf, nur
dem Elomar. War es das, was du wissen wolltest, oder hast du noch
mehr Fragen übrig, die nicht mit dem zusammenhängen, was
ich dich eigentlich lehren will? Wenn die Zeit es erlaubt, werde
ich dir den Nilomar zeigen, das heißt, eine seiner Pforten,
die auf dem Schloßgelände liegt, und wenn du dann noch
mehr darüber wissen willst, solltest du eine Totenmagd fragen,
denn niemand kennt sich mit dem Abgrund besser aus als sie. Hast du
alles verstanden?«
Natara nickte, aber ihre Gedanken waren wieder bei Hester, der
lachenden, hüpfenden Hester, die in ihrem Herzen so böse
sein konnte. Nach Aralees Worten mußte sie keine Angst mehr
vor den Nilomaran haben, aber die Angst, Hester gegen sich
aufzubringen und ihre Rache fühlen zu müssen, blieb.
»Können wir jetzt fortfahren?« fragte Aralee.
»Was ist denn nun schon wieder?«
»Nichts«, log Natara. »Es tut mir leid,
daß ich unaufmerksam war. Werdet Ihr mich weiter
anweisen?«
»Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes
übrig.« Aralees Seufzen klang genervt. Sie nahm sich
für Natara Zeit, die sei eigentlich nicht hatte, und bestimmt
bedauerte sie es längst, jemals Natara von ihren Eltern
fortgeholt zu haben. »Ich fange noch einmal von vorne an. Du
sollst heute zwei Frauen aufwarten und dich mit ihnen unterhalten.
Glaubst du, du kannst das?«
»Ich habe das noch nie gemacht«, antwortete Natara
kläglich.
»Das weiß ich. Aber es gibt einiges, das du lernen
mußt, bevor du eine Hofdame werden kannst, und dazu
gehören auch die Pflichten einer Zofe. Ich habe dich diesen
Frauen zugeteilt, weil du bei ihnen nicht viel falsch machen
kannst. Sie sind nicht von unserm Hofe, nicht einmal aus unserem
Land, und sie sind auch nicht freiwillig hier.«
Es dauerte einen Moment, bis Natara sich traute zu fragen:
»Heißt das, sie sind… so etwas wie
Gefangene?«
»Was würdest du mit zwei Frauen machen, die versuchen,
unsere Pferde zu stehlen?«
Die Frage klang so ernst, daß Natara lachen mußte.
Diesmal war es Aralee, die sie verwundert anblickte. »Frauen
stehlen doch keine Pferde!« erklärte Natara.
»So? Nun, diese offenbar schon, und daran, daß sie
Frauen sind, besteht leider kein Zweifel. Aber du mußt nicht
wissen, was genau sie getan haben oder warum sei hier sind. Ich
habe sie bis auf weiteres in einem der Gästezimmer
eingeschlossen, weil ich die Vorstellung nicht mag, daß
Frauen in einem Verlies angekettet werden, egal, was sie verbrochen
haben mögen. Außerdem haben diese zwei eine
besondere… Stellung inne. Ich möchte, daß sich
jemand um sie kümmert, und ich möchte, daß du es
tust.« In Aralees Lächeln war etwas, das Natara nicht
verstand, und ebenso in ihren Augen.
»Warum?« fragte Natara. »Ich meine, warum gerade
ich? Ich habe so etwas noch nie gemacht, und ich weiß nicht,
wie… Warum kann nicht vielleicht Hester…« Sie
konnte schlecht sagen: Hester wollte Euren Sohn verfluchen, sie
ist ebenso böse wie diese Frauen, aber ich habe Angst, ihnen
zu begegnen.
Aralee legte eine Hand auf Nataras; sie fühlte sich kühl
an, und klamm. »Hester ist nicht geeignet, vielleicht hat sie
es dir sogar gesagt, aber sie kann nur noch auf einem Ohr
hören, und auf dem nicht einmal besonders gut. Darum versteht
sie vieles nicht richtig. Nein, ich möchte, daß du mit
diesen Frauen sprichst. Ich glaube, es ist einfacher, dir zu
zeigen, wie eine höfische Dame nicht sein
sollte.« Sie drückte Nataras Hand einmal. »Du bist
klug, und du hast gute Ohren. Mehr erwarte ich nicht von dir. Komm
jetzt.«
Als Natara Aralee durch Gänge, die ihr trotz der gestrigen
Führung völlig fremd vorkamen, folgte, fragte sie sich,
was ihre Eltern wohl dazu sagen würden, wenn sie
erführen, daß ihre Tochter im Schloß keine
Dienerin werden sollte, keine Tänzerin und keine Dame -
sondern ein Spitzel.
»Guten Tag«, sagte Natara leise und knickste mit
vollendeter Anmut - es war das einzige in diesem Schloß, was
sie mit Bestimmtheit konnte, aber ihre Beine schmerzten dabei.
Gleichzeitig sah sich sie neugierig um. Sie wußte nicht, wie
Frauen aussahen, die so etwas tun würden wie Pferde stehlen,
aber sie hatte auf jeden Fall etwas anderes erwartet - jemand
häßliches, schäbiges, wie den Mann, den sie damals
auf dem Marktplatz am Pranger gesehen hatte, bevor ihre Mutter sie
weiterzog. Aber diese Frauen waren wunderschön. Nicht so, wie
Aralee es war, aber prachtvoll. Sie sahen aus wie Tänzerinnen.
Die eine hatte lockiges, golden glänzendes Haar, hoch
über ihrem Kopf aufgetürmt, und große blaue Augen,
und einen kleinen roten Mund, wie eine Puppe, mit der Natara
gespielt hatte, bis sie zu alt dafür wurde - und erst das
Kleid, das sie trug! Die Amme, die Nataras kleinen Bruder gestillt
hatte, bevor er starb, hatte ein Kleid, das sie vorne öffnen
konnte, um ihre Brüste hervorzuholen. Dieses hier war
ähnlich, nur, daß die Brüste schon fast von selbst
herausquollen. Und sie waren sehr groß. Natara hatte noch nie
eine so schlanke Frau mit so großen Brüsten gesehen, und
sie mußte immer wieder darauf starren, fasziniert und ein
wenig neidisch. Die andere Frau war nur von hinten zu sehen; sie
stand mit ihrem roten Haar und gelben Kleid am Fenster und drehte
sich nicht um, als Natara eintrat.
Aber dann öffnete die blonde Frau den Mund, und der Zauber
verflog. Ihre Stimme war hoch und seltsam gedehnt - es erinnerte an
eine maunzende Katze. Dazu rümpfte die Frau ihre kleine
Nase.
»Ein kleines Mädchen! Ob es mir irgendwann gelingen
wird, denen zu erklären, daß ich nicht nur von Frauen
bedient werden will?«
In die Luft hinein und ohne sich umzusehen, erwiderte die
Rothaarige: »Ich glaube, das haben sie begriffen. Darum
schicken sie dir jetzt ja auch ein kleines Mädchen.«
Natara wußte nicht, was schlimmer war - von der einen
ignoriert zu werden, oder von der anderen so angesehen. Aber
sie hielt still und merkte sich, was geredet wurde - vielleicht
konnte etwas davon Aralee interessieren, auch wenn Natara nicht
wußte, warum.
»Ist dir aufgefallen, wie sie hier ihre Mädchen
anziehen? Völlig reizlos. Schau dir die Kleine doch mal an,
Roveen! An ihr ist überhaupt nichts dran, gar
nichts.«
»Warum sollte mich das interessieren? Ich will doch nicht
mit ihr schlafen! Bist du wirklich schon so verzweifelt,
Gaell?«
Natara merkte sich die Namen, während sie sich in die Wange
biß beim Versuch, Wuttränen zu unterdrücken. Jetzt
erinnerte sie sich, wo sie die beiden schon einmal gesehen hatte -
durch die Löcher einer Maske, als bei der Krönung der
seltsame kleine Mann herumbrüllte und den Tanz verbieten
wollte. Sie kniff die Augen zusammen. Es waren Ausländer -
darum redeten sie so komisch, nicht wie normale Leute, sondern
sprachen einige Worte so seltsam aus, daß man sie nur mit
Mühe verstehen konnte.
»Nein, aber ernsthaft! Und wie sie mich anstarrt!«
»Ich dachte, du liebst es, wenn du angestarrt wirst? Wenn
nicht, mußt du dich anders anziehen und schminken. Du bist
selbst schuld. Also laß die arme Kleine zufrieden. Oder sag
ihr, sie soll gehen.« Immer noch rührte sich die Frau
nicht, obwohl Natara so gern ihr Gesicht gesehen, darin Hilfe
gesucht hätte. Sie wußte nicht, was sie tun sollte; sie
fühlte sich dumm und häßlich. Am meisten
haßte sie in diesem Moment Aralee, Aralee, die sie in dieses
Zimmer gesteckt hatte, ohne ihr zu sagen, was sie dort sollte.
Gaell lächelte. »Du hast Roveen gehört, Kleines.
Du kannst gehen. Und sag der Sirahë, sie soll uns beim
nächsten Mal einen Mann schicken, wenn sie uns schon
einsperrt.«
Mit einem Gesicht, das so heiß war, daß es vor Wut und
Scham zu brennen schien, rannte Natara durch die Gänge, die
Augen blind vor Tränen, und ohne auf den Weg zu achten, so
daß sie vor Verwunderung, sich plötzlich vor ihrem
Zimmer wiederzufinden, einen Moment lang sogar ruhig wurde. Aber es
hielt nicht lange an. Kaum fiel die Tür hinter Natara zu,
kamen die Tränen wieder, und diesmal gab es keinen Weg, sie
zurückzuhalten. Natara warf sich auf ihr Bett und heulte, und
weil es das falsche Bett war, nicht das in ihrem Zuhause, weinte
sie um so lauter, bis sie fast keine Luft mehr bekam und nur noch
leise in sich hineinschluchzen konnte. Warum waren hier alle so
gemein zu ihr? Warum tat Aralee erst so, als ob sie nett war, und
machte dann so etwas? Natara wollte nach Hause, dahin, wo man sie
nicht verspottete und beschimpfte. Sie wollte schlucken, aber es
ging nicht, weil ihr etwas den Hals zuhielt. Und dann fiel ihr
wieder ein, daß sie vergessen hatte, den Raum mit den Frauen
wieder abzuschließen. Aralee hatte ihr den Schlüssel
gegeben, sie ermahnt, daran zu denken - und jetzt steckte der
Schlüssel immer noch in der Tasche von Nataras
Schürze.
Natara wollte böse sein, wollte denken können:
‘Geschieht Aralee Recht, wenn die beiden jetzt
abhauen!’ Aber so sehr sie es auch versuchte, es machte nur,
daß sie sich noch schlechter fühlte. Sie konnte sich
nicht rühren, nicht einmal, um ihre Schuhe auszuziehen, oder
um zur Lampe hinzugehen und sie anzuzünden. Es wurde dunkel in
ihrem Zimmer, und kalt, und Natara wollte nicht daran denken,
daß sie Angst hatte.
Dann hörte sie, wie etwas an ihre Tür klopfte, dreimal,
leise. Natara schwieg und wartete. Vielleicht würde es
weggehen. Bestimmt. Es klopfte noch einmal. Natara biß sich
auf die Finger. Wieder klopfte es, dreimal. Und dann öffnete
sich die Tür, und leise Schritte waren im Zimmer, ein
verstohlenes Schleichen. Natara kniff die Augen zusammen und
wartete.
»Bist du wach?« fragte Hester besorgt.
»Geh weg!« brachte Natara hervor. »Laß
mich allein«, wollte sie noch hinzufügen, aber sie
konnte nicht mehr sprechen.
»Ich wollte dir nur eine Birne bringen«, sagte Hester
entschuldigend. »Hey, was ist denn mit dir?« Im
nächsten Moment saß sie neben Natara auf der Bettkante
und schüttelte sie. »Waren sie gemein zu dir? Wein doch
nicht! Du kannst es doch deiner lieben Hester
erzählen.«Natara riß sich los und rollte herum.
»Die Nilomaran sollen dich holen!« fauchte sie. Dann
begriff sie, was sie gesagt hatte, und erschrak. Aber Hester lachte
nur.
»Oh, und ich dachte noch, du wärst deswegen böse
mit mir!«
»Nein, es ist, ich wollte nicht - es tut mir leid!«
stammelte Natara.
Hester drückte sie einmal kurz an sich und ließ sie
dann sofort wieder los. »Oh, du bist so niedlich! Und jetzt
erzähl!«
Natara wollte, daß sie wegging, aber sie durfte es nicht
sagen. In diesem Moment wünschte sie sich, der Nilomar
würde Hester verschlingen, und es tat ihr nicht einmal leid.
Sie wollte nicht erzählen, was die Frauen gesagt hatte, aber
wie sollte sie Hesters bohrende Neugier aufhalten? Ihr kam eine
Idee.
»Ich habe so etwas Dummes gemacht«, sagte sie
leise.
»Was?« fragte Hester, und nachdem, was Aralee von
ihren Ohren gesagt hatte, konnte es ebensogut sein, daß sie
Natara einfach nicht verstand.
Natara sprach lauter. »Ich habe nicht daran gedacht, die
Tür wieder abzuschließen, von diesen ausländischen
Frauen.«
»Na, dann mach es doch jetzt!« Hester fand das weder
besorgniserregend, noch wunderte es sie, wo Natara gewesen war.
»Ich trau mich nicht - es ist so dunkel.«
Hester lachte nur. »Dann mache ich es eben für dich.
Dafür sind Freundinnen schließlich da. Gib schon den
Schlüssel!«
Er wog seltsam schwer, als Natara ihn ihr reichte, aber die
Erleichterung wog schwerer als ihr Gewissen. Dann war Natara
allein.
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