Elftes Kapitel

Erst am Tag darauf trug Alexanders Idee Früchte, aber da war es schon zu spät. Es begann mit dem Diener, der das Frühstück brachte, auf einem wunderhübsch ziselierten Wägelchen, und, anders als an den vergangenen Tagen, nicht lauwarm, sondern frisch.
»Euer Frühstück, Sirah«, sagte der Diener und verneigte sich tief vor Halan, während Alexander die Szenerie von der einen Spalt weit geöffneten Tür seines Schlafzimmers aus betrachtete. »Und mir wurde aufgetragen, Euch diesen Brief zu überreichen.«
Alexander wäre am liebsten in den Salon gestürmt, hätte Halan den Brief, der niemals an jemanden, der nur Chronist und Neffe des Königs war, adressiert sein konnte. Aber er mußte sich gedulden, bis der Diener fort war, denn er wollte nicht noch einmal miterleben müssen, wie die Augen eines Untergebenen neugierig zwischen ihm, Halan und der Schlafzimmertür hin und her wanderten, und er wollte nicht noch einmal danach Halans Blick begegnen müssen. Er geduldete sich, beobachtete, wie Halan den großen Brief in der Hand wog und wendete, um ihn dann wieder ungeöffnet auf den Servierwagen zu legen.
»Er ist für dich«, sagte Halan ohne aufzublicken. »Vielleicht vom König?«
Alexander fragte sich, ob das ein Scherz war, und hoffte es. »Glaubst du, der König kann schreiben?«
»Dein Bruder war des Schreibens kundig«, entgegnete Halan spitz, »und trotzdem hat er es vorgezogen, seine Briefe zu diktieren. Wünschst du, daß ich ihn dir vorlese?«
Wortlos durchquerte Alexander den Salon, schnappte sich den Brief und verzog sich damit in sein Zimmer, wohin Halan ihm nicht folgen würde - nicht mehr nach Alexanders Worten vom Vortag.
Der Brief war nicht vom König selbst, und auch nicht, wie Alexander einen Moment lang befürchtete, von Kala, sondern stammt von niemand geringerem als dem wohl mächtigsten Mann von Loringaril: Berater Harven.
»Mein sehr verehrter Prinz Alexander«, schrieb Harven, und jetzt, wo ihn niemand beobachtete und es nicht nötig war, sein Gesicht zu wahren, konnte Alexander ob dieser Beleidigung seine Hände gegen die Wand und die Pfosten des Himmelbettes schlagen, »wenn es dem König auch aus terminlichen Gründen noch unmöglich ist, Euch zu empfangen, würde es ihn doch sehr freuen, wenn Ihr ihm die Ehre erwieset, die heute von ihm zu Ehren seines Ahnes, dem Elomaran Lorimander, abgehaltenen Festspiele zu besuchen. Auch über das Erscheinen Eures Verwandten würde er sich sehr freuen. Hochachtungsvoll, Harven von Lomar.«
Alexander hätte am liebsten den Brief in die Ecke geworfen und geschrieen. Aber schreien konnte er nicht, solange er nicht wußte, ob sie belauscht wurden - daheim waren genug Zimmer, insbesondere Gästezimmer, mit hohlen Wänden ausgestattet, die selbst Geflüstertes in einem kleinen Zimmer, dessen Ort wahrscheinlich nur Koris und Alexander bekannt war, hörbar machten… Alexander biß sich auf die Zunge und schleuderte den Brief quer durch den Raum. Halan erschien in der Tür.
»Alexander!« Zum ersten Mal wünschte sich Alexander, wieder Anders genannt zu werden, zumindest von Halan, aber jetzt konnte er nicht mehr darum bitten.
»Lies selbst!« Alexander spie ihm die Worte entgegen, wütend nicht auf ihn, sondern auf den Schreiber. »Ich habe dich noch nie fluchen gehört, aber wenn du das hier siehst… Dieser verdammte Bastard von einem Botschafter deutet an, daß du einer bist.«
»Aber ich bin kein Bastard?« fragte Halan leise zurück, als verwundere ihn das.
»Natürlich nicht!« fauchte Alexander. »Deine unglückselige Mutter mag mit diesem Hauptmann geschlafen haben, wer kann das heute noch sagen, alle Beteiligten sind tot - aber wessen Kind du bist, daran besteht kein Zweifel. Dein Blut ist dünn, aber ein Bastard bist du deswegen noch lange nicht. Selbst Koris hat das anerkannt, und er haßte deine Mutter für das, was sie ihm angetan hat, für den Hohn und die Demütigung -«
Er brach ab. Halan bückte sich nach dem Brief. »Danke«, sagte er leise, und noch einmal: »Ich danke dir.«
Alexander nickte nur, wartete, bis sein Neffe zuende gelesen hatte. Halan blieb ruhig, alles was er sagte, war: »Nun gut.«
Nach dem Frühstück blieb ihnen gerade genug Zeit, sich eilig zurechtzumachen, bis schon der nächste Besucher kam. Diesmal war es ein Mitglied des Beraterstabes, nicht Harven oder Ember, aber ein Mann in den Dreißigern, der den gleichen kalt überlegenen Gesichtsausdruck zur Schau trug. Es war immerhin ein Fortschritt.
»Ihr habt Euch entschlossen, die Einladung anzunehmen, Sirah?« Bei Gelegenheit mußte Alexander Halan fragen, ob diese Anrede eigentlich soviel bedeutete wie ‘Hoheit’ oder despektierlich gemeint war. Es klang zumindest immer sehr ernst, also akzeptierte er es bis auf weiteres.
»Selbstverständlich werden wir uns eine derartige Darbietung nicht entgehen lassen, erwiderte Halan, und der Mann fuhr fort:
»Dann möchte ich Euch bitten, mich zu begleichen. Für den Weg zum Stadion steht eine Sänfte für Euch bereit.«
War das eine Falle? Alexander traute Sänften nicht; er vertraute sein Leben lieber einem Pferd an, das er lenken konnte, als wildfremden Trägern. Schnell warf er Halan einen Blick zu und erntete ein angedeutetes Nicken. Wenn es hier Gebrauch war, daß Edelleute oder zumindest Engelsgeborene in Sänften reisten, dann wollte er auch nichts anderes.
Es war ein warmer Tag, und so kamen sie um die Verlegenheit herum, sich selbst ihre Umhänge anlegen zu müssen; nur leicht bekleidet und in Sandalen folgten sie dem Berater in den Hof, wo bereits alles für eine größere Prozession vorbereitet war. Gleich ein halbes Dutzend Sänften standen dort, alle aus golden bemaltem Holz, bei keiner weniger als vier Träger, bei der größten sogar acht, hellblauer Samt, weiße Seide und Unmengen von Brokat, in dem das Wappentier, das geflügelte Löwe, immer und immer wiederkehrte. Ein Dutzend uniformierter Reiter, alle auf blütenweißen Schimmeln, warteten auf der einen Seite des Hofes, auf der entgegengesetzten die doppelte Menge an livrierten Dienern, und in der Ecke versammelt eine Gruppe von Konkubinen, alle aufgemacht wie Kala, die jedoch nicht unter ihnen weilte. Was dagegen bei dieser Zusammenkunft völlig fehlte, waren die Engelsgeborenen, denen zur Ehre dieser Trubel veranstaltet wurde - nicht Halan und Alexander, sondern Lorimanders Nachkommen. Es war möglich, daß sie bereits in ihren Sänften saßen, und auch, daß sie erst später kommen würden, aber ganz sicher war es kein Zufall, daß hier ein Treffen gekonnt verhindert wurde. Auch Harven war nirgends zu entdecken. Alexander verfluchte sich, daß er der Sänfte zugestimmt hatte, statt darauf zu bestehen, Farrell zu reiten. Aber nun war es zu spät, und er stieg, von Halan gefolgt, in die mit Schnitzereien verzierte Kiste. Kaum saßen sie auf den Polstern und atmeten die muffige Luft, die nach alten Schränken roch und schwerem Parfüm, als von außen schon die Vorhänge dicht zugezogen wurden. Zusätzlich zu allem Licht verschwand nun auch die letzte Frischluftzufuhr. Alexander hoffte, daß es zumindest kein weiter Weg bis zur Arena sein würde. In diesem Kasten getragen zu werden, war nach dem hastig eingenommenen Frühstück das letzte, was er seinem Magen antun wollte. Außerdem war es eng. Die Kissen, mit denen die Sitzbänke ausgestattet waren, nahmen so viel Raum ein, daß Halan und Alexander beim Gegenübersitzen mit den Beinen zusammenstießen, sosehr Halan sich auch bemühen mochte, der Berührung auszuweichen. Alle Geräusche drangen gedämpft zu ihnen, sogar die Fanfare, auf deren Signal sich der Trupp in Bewegung setzte. Die Sänfte schwankte und schaukelte einen Moment, aber die Träger schienen ihr Handwerk zu verstehen und bewegten sich so gleichmäßig, daß nichts zurückblieb als ein sanftes Wiegen.
»Was erwartet uns?« fragte Alexander endlich leise.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Halan. »Ich habe von verschiedenen Wettkämpfen gehört, solchen, bei denen Männer gegen Männer kämpfen, und solchen, bei denen wilde Tiere im Spiel sind, wir werden sehen, was es hier zu sehen gibt, aber sicherlich wird es eindrucksvoll sein.« Die Neugier in seiner Stimme war nicht zu überhören, und auch nicht eine gewissen Erwartungsfreude. Alexander hatte es schon längst kommen sehen, als Halan sich schließlich vorbeugte und nach dem Zipfel des Vorhangs griff; er kannte die Vorliebe seines Neffen für das Verborgene, für Anblicke, die man ihm vorenthalten wollte - solange sich das Erfahren auf Sehen belief und man Halan nicht zwang, selbst an etwas teilzunehmen, dem Leben zum Beispiel. Halan eignete sich zum Chronisten, aber zum lebendigen Menschen fehlte ihm etwas. Alexander hätte gerne versucht, es ihm zu geben. Aber er wußte, daß Halan ihn niemals lassen würde.
Sonnenlicht, nicht minder schwer als das Parfüm, quoll in das Innere der Sänfte. Wurde Lomar interessanter, wenn man es nur durch einen Ritz erspähen konnte? Aber dies war nicht mehr das leere, abweisende Lomar, in das sie vor vier Tagen - vier Tage schon! Und noch nichts erreicht! - eingezogen waren. Hier waren die Straßen gesäumt von Menschen, deren Jubel zurückgedrängt wurde durch die Anwesenheit der Reiter, aber ihre Freude, ihre Begeisterung war ungedämpft, sie schlug auf Alexander ein, der wußte, daß sie nicht ihm galt. Dieses Volk war hier um Lorimanders Willen, um einen Schwachkopf anzuhimmeln, der nicht mehr zu bieten hatte als starke Arme und das, was vom Blut eines Engels noch übrig war. Und hier war Alexander, von seinem eigenen Volk verraten und vertrieben, um seine Krone gebracht, um alles, was er liebte…
»Zieh es wieder zu!« befahl Alexander. Aber Halan gehorchte nicht, hielt nur seinen Kopf um so dichter an den Ritz.
Alexander ließ ihn gewähren, um des lieben Friedens Willen; er lehnte sich zurück und schloß die Augen, bis die Sänfte endlich zum Stehen kam. Kurz darauf wurden auch die Vorhänge wieder für sie geöffnet, und Alexander fand sich vor einer Arena wieder, wie er sie nicht erwartet hatte.
Sie war riesengroß, und daß er sie auf dem ersten quälenden Ritt durch die Stadt nicht bemerkt hatte, konnte man nur damit erklären, daß sie auf der Rückseite des Hügels, auf einem riesigen, freien Platz lag. Sie schien sehr alt zu sein, und sie war schön, aus hellem, fast weißen Stein erbaut, mit weiten Bögen, die sich hoch hinauf streckten und die von einer Reihe versetzt laufender Bögen gekrönt wurde, und auf jeder Ecke stand die Figur eines Elomaran. Alexander blinzelte gegen die Sonne, die sich dem Mittag näherte, und erkannte die drei von ihnen, die ihm am nächsten waren: Kaliander, der Engel des Waldes, hielt sein Szepter mit in beiden Händen. Elysander, Engel des Lichts, schien gedankenverloren dem Klang seiner Glocke zu lauschen, während der Engel des Zorns, Iriander, versuchte, seinen Dolch halb hinter den verschwörerisch um seine Schultern gelegten Flügeln zu verbergen. Sie waren prachtvoll, nicht minderwertig wie die Figuren auf dem Grenztor, sondern von so großer Kunstfertigkeit, daß Alexander nur staunen und schlucken konnte.
»Das ist unglaublich«, flüsterte Halan. »Die Form - siehst du das? Sie ist siebeneckig.«
»Du meinst, ein Elomaran fehlt?« fragte Alexander zurück und reckte sich bei dem Versuch, Korisander unter den Figuren auf der ihm abgewandten Seite des Gebäudes zu erkennen.
Halan schüttelte den Kopf. »Es sind acht - Lorimander steht auf der großen Säule in der Mitte -« Alexander erkannte es ihm gleichen Moment und ärgerte sich, gefragt zu haben - »aber kaum etwas ist schwieriger zu errichten als ein Gebäude in der Form eines gleichmäßigen Siebenecks, und dieses ist perfekt.«
Alexander begriff. Einmal hatte es hier fähige Bauherren gegeben, und nur weil der Verstand des Herrscherhauses mit jeder Generation schwand, hieß das nicht, daß sie es hier mit einem Volk von Schwachköpfen zu tun hatten. Vielleicht zeigte Harven ihnen die Arena als Warnung: Unterschätzt uns nicht.
»Ich werde Euch zu Eurer Loge geleiten, Sirah.« Alexander mußte seine Augen von den steinernen Engeln fortzwingen und sah erst dunkle Flecken, dann einen jungen Diener von vielleicht vierzehn Jahren, einen hübschen blondlockigen Knaben mit großen dunklen Augen. »Wenn Ihr einen Wunsch habt, zögert nicht, ihn mir zu nennen. Ich werde Euch für die Dauer Eures Aufenthaltes dienen.«
Ein schneller Blickwechsel mit Halan, und ein knappes Nicken. So also huschte der Hase! Kala hatte sich als Fehlschlag erwiesen, doch nun wurden Geschütze anderer Art aufgefahren. Alexander lächelte. So leicht war er nicht zu besiegen.
»Wie heißt du, Junge?« fragte er freundlich.
»Davren, Sirah. Wenn Ihr nun mit mir kommen wollt… Ihr habt besonders gute Plätze.«
»Alles andere«, erwiderte Alexander, »würde ich auch als eine grobe Beleidigung auffassen.«

Die Arena war besetzt bis auf den letzten Platz. Menschen aller Schichten, Männer und Frauen, bevölkerten die steil aufsteigenden Reihen, und nun, endlich, bekam Alexander auch Lorimanders Nachfahren zu sehen. Sehen war in der Tat das richtige Wort, denn sie saßen ihnen gegenüber, am fernen Ende der Arena, wo sichergestellt war, daß es auch wirklich nicht zu einem Gespräch kommen konnte. Alexander zählte sechs Männer mit goldenem Haar, die er für Engelsgeborene hielt, soweit man das auf die Entfernung überhaupt sagen konnte, und drei Frauen, die offenbar auch zur Familie gehörten, denn alle sahen sich so ähnlich, wie das nur irgend möglich war. Man konnte schlecht sagen, ob der Prinz, den sie verfolgten, unter ihnen war, aber zumindest eines stand fest - keiner der Begleiter war Ember.
Plötzlich sprangen alle Leute in der Arena auf und begannen zu jubeln, und auch Davren schien sich vor Begeisterung selbst zu vergessen, hüpfte klatschend auf und ab mit einem solchen Enthusiasmus, daß Halan und Alexander um so nachdrücklicher sitzen blieben. Immerhin lagen ihre Plätze ganz vorne, und solange nichts ihre Sicht versperrte als die Säule, auf der Lorimander das Stadion überragte, würden sie sich auch nicht von der Stelle rühren.
Auf den Balkon über dem Eingang der Manege trat ein Mann. Lange goldene Locken hingen ihm auf die Schultern, berührten seinen glänzenden Brustpanzer, der mit einem geflügelten Löwen verziert war. Und golden war auch das armlange Horn, das er mit beiden Händen hochstreckte in die Sonne, so daß alle es sehen konnten. Alexander erkannte die Pose sofort wieder - es war die gleiche wie die der Engelsstatue, in deren Augen der König von Loringaril - denn niemand anderes konnte er sein - nun blickte. Von der Seite betrachtet, war er fast das Spiegelbild des Elomaran, nur daß ihm die Flügel fehlten - ihre Gesichtsausdrücke ähnelten sich so sehr, als habe der König für die Statue Modell gestanden, und doch war sie um ein vielfaches älter als er, viele hundert Jahre.
Weder der Mensch noch der Engel rührten sich, während das Tosen der Menge erstarb und einem gespannten Schweigen wich. Am Liebsten wäre Alexander zu Lorimander hingeschlichen und hätte ihm das Horn gestohlen, ihn seines Engelsschatzes beraubt, so wie man auch ihn bestohlen hatte…
Muster in der Oberfläche des Hornes brachen das Sonnenlicht, doch Alexander konnte nicht erkennen, ob es sich dabei um Bilder oder eine Inschrift handelte oder einfach nur um Verzierungen. Gerne hätte er gesagt, daß dieses Horn ihn nicht im Geringsten interessiere, daß er mit dem Engel der Stärke nichts zu schaffen hatte - aber in Wirklichkeit war seine Neugier weniger brennend als Halans, erwartete er nichts sehrsüchtiger zu erfahren, als was geschah, wenn Lorimander das Horn blies. Aber bestimmt würde er das nicht tun, nicht an einem Ort wie diesem, nicht ohne zwingenden Grund; er zeigte es seinem Volk, damit alle sahen, daß es noch da war -
Lorimander hob das Horn an seine Lippen und blies.
Alexander hielt vor Aufregung die Luft an. Die ganze Arena füllte sich mit dem tiefen, mehr und mehr anschwellenden Klang des Hornes - keinem unangenehmen Ton, aber einem so intensiven, daß man die Hände an die Ohren legen wollte, seinen Kopf festhalten aus Angst vor dem, was kommen mochte.
Doch nichts geschah, zumindest nichts Sichtbares. Der Ton schwoll an und wieder ab, ohne daß der Engel auf der Säule sich geregt hätte - Lorimander blieb so steif und steinern wie sein Bruder im Thonsaal in Koristir. Erleichtert atmete Alexander auf und war doch ein wenig enttäuscht.
»Was bedeutet es?« fragte er Halan, während um sie herum das Volk nach einem Moment der vollkommenen Stille erneut in Jubel ausbrach. »Ist es nur ein Symbol, oder kann es…?« Koris hatte ihm nie verraten wollen, was in einem Kopf vorging, der die Krone trug, und vielleicht würde er es niemals herausfinden.
»Es verleiht uns Stärke«, antwortete Davren an Halans Stelle. »Es läßt uns Schmerzen vergessen und gibt uns Hoffnung, läßt uns wissen, daß wir unbesiegbar sind.«
Alexander hätte sich schlagen können dafür, daß er kein Elomond gesprochen hatte. »Du redest viel für einen Diener«, stellte er fest. »Zuviel, wenn du meinen Rat hören möchtest, und du unternimmst sehr, sehr wenig, um uns zu dienen. Es ist ein heißer Tag, und die Sonne scheint direkt auf unsere Häupter - doch ich kann hier nirgendwo Erfrischungen entdecken.«
Der Junge errötete bis in die Spitzen seiner Ohren. »Ich… es tut mir leid«, stammelte er. »Ich hätte… ich habe mich hinreißen lassen. Ich werde sofort…« Er drehte sich um und lief die Ränge hoch, verschwand schneller, als ihm das Auge folgen konnte.
»Ich weiß nicht, was er ist«, sagte Alexander leise, und diesmal dachte er daran, sich der Sprache der Engel zu bedienen, »aber kein Diener käme auf den Gedanken, so viele Sätze mit dem Wort ‘ich’ zu beginnen.«
Es war keine Erwiderung hierauf nötig, es bestand kein Zweifel. Und warum sollten sie lange Unterhaltungen führen, wenn das Treiben unten in der Arena doch gerade anfing? So etwas würden sie so schnell nicht wieder zu sehen bekommen. Hoffte Alexander.
Statt mit Kämpfen begann das Spektakel mit Tänzen. Ein Dutzend junger Frauen von einer Sorte, die Alexander inzwischen zu Genüge kannte, verteilte sich im sandigen Rund der Manege, und auf der Balustrade, wo eben noch der König gestanden hatte, traten nun Musiker auf, die mit Flöten und Violen und einer kleinen schnellen Trommel aufspielten. Alexander schaute lieber ihnen zu als den sich drehenden und wiegenden Frauen, die sich zwar mit vielen Tüchern und Schleiern umgaben, nur nicht dort, wo sie es hätten tun sollen. Es reichte, daß Halan ihnen fasziniert zusah, und daß ihr Geruch nach Schweiß und Parfüm bis zur Loge hinaufdrang. Die Melodie selbst gefiel Alexander, es hätte ein ruhiges, trauriges Lied sein können, eine Ballade von verlorener Liebe, hätten nicht die Frauen so sehr gegen diesen Eindruck angetanzt.
Jemand hüstelte hinter ihm. Als Alexander über seine Schulter blickte, war Davren zurückgekehrt, leicht verschwitzt und mit einer Karaffe auf einem silbernen Tablett. Offenbar hatte er in der Zwischenzeit auch neue Anweisungen bekommen, denn er schenkte zwei Kelche ein, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, und reichte sie an Alexander und Halan. Es war ein leichter Wein, klar wie Wasser, der nach Pflaumen schmeckte, eiskalt und köstlich, aber Alexander nippte nur vorsichtig daran, zur Sicherheit.
Auf dem Balkon trat inzwischen, von Fanfaren angekündigt, ein Herold auf und sagte die nächsten Programmpunkte an: Erst ein Wettrennen, weitere Tänze, dann eine Reihe Schaukämpfe, noch mehr Tänze, und dann endlich, von allen sehnsüchtig erwartet, der Große Kampf. Wie lange das Ganze dauern würde, verriet er nicht.
Alexander folgte den Darbietungen zwar interessiert, aber nicht wirklich zufrieden. Er wurde das Gefühl nicht los, daß Harven dieses ganze Theater nur inszenierte, um ihnen zu zeigen, wie unwichtig sie waren. Und im Kreis rennende Athleten gab es aus gutem Grund nicht in Koristir - sie waren nicht wirklich das, was ein Engelsgeborener von Korisanders Blute sehen wollte. Es gab zu viele Dinge, die wichtiger waren als Männer in Lendenschürzen und glöckchenbehangene Frauen. Das erschien alles so… würdelos. Alexander blickte über die Manege hinweg und versuchte, die königliche Familie zu beobachten, wartete darauf, daß sich der König dazugesellen würde, doch der kam nicht, blieb nach seinem Auftritt mit dem Horn verschwunden.
Alexander trank Pflaumenwein, aß Trauben, die Davren ihm reichte, und bemühte sich, vollkommen gelangweilt auszusehen. Dabei wartete er auf den großen Kampf, schon allein, weil das Spektakel danach vorbei sein sollte. Die Hitze machte ihn schläfrig, aber es gab keinen Schatten. Unten schlugen Männer mit Holzschwertern aufeinander ein, und der Lärm, den sie und das Publikum machten, hielt Alexander wach.
Dann trat der Herold wieder auf und verkündete, daß nun der Moment gekommen war, der Moment, die Stunde des großen Kampfes. Mehr sagte er nicht, aber jeder schien zu wissen, um was es ging - jeder, schien es, bis auf Alexander, der sich fragte, was nun kommen würde - ein wildes Tier, vielleicht, eine riesige Bestie, vielleicht sogar ein Löwe… Alexander hatte noch nie einen lebenden Löwen gesehen -
Aber es war ein Mann, der nun in die Arena trat - niemand anderes als Lorimander, der König selbst. Und er war vollkommen nackt.
Es fiel Alexander schwer, ihn nicht anzustarren, weniger entgeistert als fasziniert. Lorimander war unglaublich schön, kein Teil seines Körpers erschien weniger als vollkommen. Alexander wandte seinen Blick ab und sah zu Halan hinüber. Im gleichen Moment wandte Halan seinen Kopf ihm zu, und ihre Augen begegneten sich. Wann hatte Alexander zuletzt in Halans Augen gesehen? Sonst verloren sie sich immer in der Tiefe, wurden dunkler und dunkler, bis nichts sie mehr durchdringen konnte. Aber nun waren sie anders, vollkommen klar, und glänzend, und Alexander konnte erkennen, was darunter lag, und daß Halan ihn nicht nur haßte.
Halan löste seinen Blick zuerst, ein wenig erschrocken, vielleicht, weil er glaubte, zuviel von sich verraten zu haben. Aber der seltsame Schimmer in seinem Gesicht blieb, und ein ungewohntes Gefühl von Wärme. Er nahm einen Schluck aus seinem Kelch und reichte ihn dann, ohne sich umzuwenden, an Davren.
Alexander griff nach den Trauben und versuchte, sich wieder auf das Geschehen zu konzentrieren, obwohl er lieber damit fortgefahren hätte, Halan anzusehen. Man konnte dem König nicht die Aufmerksamkeit verweigern, die ihm zustand, wenn er es schon wagte, sich seinem Volk derart zu präsentieren - nackt… Wenn Koris das getan hätte… In diesem Moment tat es nicht weh, an Koris zu denken. Vielmehr mußte Alexander lächeln bei der Vorstellung - Koris auf seinem Thron, ohne einen Fetzen am Leibe, nur mit der Krone auf dem Kopf…
Und dann kamen die Löwen.
Sie schlichen durch das hochgezogene Gittertor, groß, golden und glänzend. Ihre Schulterblätter ragten hervor, die Flanken wirkten eingefallen, verglichen mit den Abbildungen, die Alexander kannte. Nur einer von ihnen hatte eine lange, graubraune Mähne, die den Kopf umgab wie ein Bart. Die beiden anderen schienen Weibchen zu sein, aber deswegen wirkten sie kaum weniger gefährlich.
Lorimander stand ganz still, als sie sich auf ihn zu bewegten mit tödlicher Ruhe und Geschmeidigkeit. Hatte er denn gar keine Angst? Er hatte nichts, um sich zu verteidigen als seine bloßen Hände. Natürlich war er stark, aber so stark konnte doch niemand sein, so viele Generationen, seit die Elomaran ihr Bett mit den Menschen geteilt hatten… Die Haltung des Königs veränderte sich. Er spannte die Muskeln an, er war bereit. Sein Körper glänzte im Sonnenlicht, aber es schien Öl zu sein, kein Schweiß. Große Kraft ging von ihm aus, aber mit bloßen Händen?
Die Löwen griffen an. Das Publikum schrie auf, sogar Alexander verschluckte sich vor Schreck.
Lorimander wirbelte herum, packte den ersten Löwen bei der Kehle und begann ihn zu würgen. Die beiden anderen wichen vor ihm zurück, doch sie flohen nicht, sondern umkreisten ihn mit ihren langsamen, schleichenden Schritten, wachsam und ohne Furcht. Die Löwin widerstand Lorimander nicht lange. Am Anfang versucht sie noch zu kämpfen, doch Lorimanders Griff ließ sie bewegungsunfähig, und bald erstarb auch ihr Zucken. In hohem Bogen schleuderte Lorimander das tote Tier von sich fort, so daß es am fernen Ende der Arena auf den Boden schlug, ein goldbrauner Haufen Fell, jeglicher Majestät beraubt.
In Alexanders Kehle stieg ein Kloß auf. Besiegt werden war etwas anderes als diese vollständige Demütigung - das hatten diese Tiere nicht verdient. Waren die Löwen in diesem Land nicht heilig?
Die beiden verbleibenden Tiere griffen gleichzeitig an. Mit einem Tritt wehrte Lorimander das Männchen ab, so daß es haltlos über den Arenasand rutschte und gegen die Mauer prallte, während der König dem Weibchen erst den Kiefer ausrenkte und dann das Genick brach. Alexander wußte nicht, warum das Männchen noch einen letzten Angriff wagte, sich mit einem verzweifelten Sprung auf Lorimander stürzte, denn es war klar, hätte sogar einer verstandlosen Kreatur wie diesem Tier klar sein müssen, daß es chancenlos war. Der letzte Löwe starb langsamer, doch das schien nicht sein eigener Verdienst zu sein; auch Lorimanders Kraft schien nicht geringer als beim Beginn des Kampfes, er war weder geschwächt, noch erschöpft. Aber jetzt, wo es keine Bedrohung mehr gab, konnte er sich die Zeit nehmen, mit seinem Opfer zu spielen, seinem Publikum ein Spektakel zu bieten, das länger dauerte als einige wenige Augenblicke. Immer, wenn das Tier dem Tod nah war, ließ Lorimander von ihm ab, nur um gleich darauf weiterzumachen. Er hielt dem Löwen mit beiden Armen den Brustkorb zusammen wie in dem Zerrbild eines Tanzes und erdrückte ihn, langsam.
Die Zuschauer johlten und grölten, aber Alexander war längst die Lust am Hinsehen vergangen. Dies war barbarische Schlächterei, die Zurschaustellung grober Kräfte, und die Zurschaustellung eines Königs, der vielleicht nicht einmal merkte, zu was er sich da degradierte. Ein Engelsgeborener, der sich vorführen ließ wie ein Tanzbär, zwar geliebt und bewundert, aber doch kaum mehr als eine Puppe. Und diese armen, wehrlosen Tiere…
Da stand er nun, Lorimander von Lorimanders Blute, siegreich im Kampf, und ließ sich als Held feiern. Sand klebte an seinem Körper und ausgerissene Löwenhaare, doch kein Blut, weder seines, noch das der Löwen. Von den Rängen warfen die Menschen Blumen, während Arenaknechte die toten Löwen davonzerrten. Alexander war übel, und er wäre am liebsten sofort aufgestanden und gegangen. Er mußte wieder an Selmar denken, den toten Botschafter. Was machten sie hier, schauten sich dieses Theater an, während in der gegenüberliegenden Loge vielleicht ein Mörder saß? Die Menge hörte nicht auf zu toben. Alexander hatte genug. Es war immer noch besser, draußen bei den Sänften zu warten, als das hier länger auszuhalten. Aus dem Augenwinkel sah er, daß Halan mit ihm aufstand, und das freute ihn.
Aber bevor er den Ausgang erreichte, kam ihm jemand entgegen. Silberne Haare reflektierten das Sonnenlicht, und dunkle Roben verschluckten es. Das Gesicht dazwischen lag im Schatten, und es gehörte Harven. Ein plötzlicher Schwindel überkam Alexander, und er machte erschrocken einen Schritt zurück.
»Prinz Alexander… Prinz Harold… ich hoffe, Euch gefällt unser Spektakel?«
Alexander starrte den Botschafter an, unsicher, ob er sich einem halben Kompliment für den Bau als solchen herausreden oder die Wahrheit sagen sollte.
»Aber wie ist es?« fuhr Harven fort. »Vielleicht habt Ihr auch den Wunsch, Euch mit unserem König zu messen?«
Alexander schluckte. »Das habe ich nicht nötig«, brachte er dann hervor. »Lorimander und ich stehen für unterschiedliche Werte, und jeder von uns bemüht sich, in seiner Gabe Perfektion zu erlangen. Ich würde mich niemals dort unten mit Eurem König anlegen wollen, ebensowenig, wie er mich zu einem Duell im Geiste herausfordern sollte.«
Harvens Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Lächeln. »Also gefällt es Euch?«
Das Schwindelgefühl verschwand nicht und mischte sich mit Übelkeit. Selmar hätte nicht gewollt, daß Alexander jetzt log. »Harven, Ihr wißt so gut wie ich, daß dem nicht so ist. Diese Veranstaltung ist ebenso unter Eurer Würde wie unter meiner, und unter der Eures Königs, so Ihr ihm erlaubt, eine zu haben.«
Harvens Augen verengten sich, und sein Lächeln erstarb. »Wir werden uns noch sprechen, Prinz Alexander. Aber vergeßt nicht, daß Ihr in diesem Land nur Gäste seid.«
Mit der Hand stützte sich Alexander am Geländer ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er verfluchte die Sonne, und sich selbst, und den Pflaumenwein, aber Harven am meisten, doch er schaffte es, ihm ins Gesicht zu lächeln. »Auf dieses Gespräch, Berater, freue ich mich seit Tagen. Wenn Ihr nun so freundlich wäret, uns vorbei zu lassen?«
Harven trat beiseite, und Davren folgte Halan und Alexander, als sie das Stadion verließen und zu ihrer Sänfte zurückkehrten.

Am liebsten hätte Alexander noch an diesem Tag mit Halan über alles gesprochen, nicht über das, was sie in der Arena hatten sehen müssen, aber über das, was sie füreinander empfanden. Doch Halan, der den ganzen Rückweg über schwieg und offenbar alles tat, um Alexanders Blick auszuweichen, murmelte nach ihrer Rückkehr in den Palast nur, ihm sei nicht wohl, und zog sich in sein Zimmer zurück. Alexander wußte nicht, ob er ihm folgen sollte oder durfte, oder ob Halan vielleicht sogar nur darauf wartete, daß Alexander ihm folgte.
Aber Alexander ließ ihn in Ruhe, er hatte einmal eine Tür zertreten, hinter der Halan sich verschanzte, und einmal zu oft versucht, Halans Wände mit Gewalt niederzureißen. Diesmal fehlte ihm der Mut.
Er blieb zurück mit einem so unerträglich vielsagend lächelnden Davren, daß Alexander ihm am liebsten die Vorderzähne eingeschlagen hätte.
»Du willst also mein Diener sein?« fragte er kalt. »Dann unternimm etwas, um mein Wohlbefinden zu steigern!«
Davrens Augen begannen zu leuchten. »Was immer Ihr wünscht, Sirah.«
Alexander setzte ein Lächeln auf. »Es geht nicht darum, was ich immer wünsche, sondern was ich jetzt im Moment wünsche, Davren.« Er legte eine plötzliche Wärme in diesen Namen, als ihm eine Idee kam. »Bereite mir ein Bad!«
»Sofort, Sirah!« Der Junge war schon fast an der Tür, als er sich besann und zurückkehrte. »Soll ich eines der Badezimmer für Euch herrichten, oder wünscht Ihr, daß ich den Zuber hierher bringe?«
»Wenn ich deinen Herren Harven richtig verstanden habe, ist dieses Zimmer für die Dauer meines Aufenthaltes meines, aber kein anderes. Ich möchte nicht das Bad eines anderen belegen, auf daß er - oder ich - unliebsame Überraschungen erleben.«
»Also hier?« fragte Davren noch einmal, offenbar zu sehr gewöhnt an den Umgang mit Schwachsinnigen. Alexander seufzte und nickte geduldig, und Davren eilte davon.
Als er zurückkehrte, schob er eine Messingwanne auf kleinen Rollen in Alexanders Zimmer, und danach kam er in immer länger werdenden Abständen, von immer größerer Anstrengung gezeichnet, und schleppte Kübel mit heißem Wasser an.
Er gab sich große Mühe, alles genau nach Alexanders Wünschen zu gestalten, ließ ihn an verschiedenen Duftölen riechen, welchen davon am ersten seinen Geschmack träfe?
Alexander erwiderte, er wolle das Öl schließlich nicht trinken, aber wenn er noch etwas von diesem köstlichen Pflaumenwein bekommen könnte? Und wieder eilte Davren davon, mit hochrotem Gesicht von der harten Arbeit und den heißen Dämpfen, und seine goldblonden Haare klebten nun dunkel und strähnig um seinen Kopf. Alexander sah ihm lächelnd nach. Er begann, Gefallen an dem Jungen zu finden, und sei es nur, um alle störenden Gedanken aus seinem Kopf verbannen zu dürfen, Halan, Lorimander, die toten Löwen, die toten Schwäne…
»Ich hoffe, er ist noch kühl genug«, sagte Davren, ein wenig atemlos, als er zurückkam, und schenkte Alexander einen Kelch ein. Er hatte zwei davon mitgebracht, aber Alexander tat, als bemerke er das nicht. »Gibt es sonst noch Wünsche, die ich Euch erfüllen kann?«
Alexander sah Davren zu, wie er eine Hand voll getrockneter Rosenblätter in das Wasser streute und nippte langsam an seinem Wein. »Ja«, sagte er dann. »Hilf mir, damit ich nicht gezwungen bin, in Kleidern zu baden - oder ist das in diesem Land Sitte?«
Er streifte mit den Füßen seine Sandalen ab, richtete sich auf und streckte die Arme aus. Davren entkleidete ihn geschickt und ohne Scheu, und offensichtlich hatte er Erfahrung damit. Kein Mal wurde er grob, und er legte Alexanders Kleider sorgsam über einen Stuhl, den er von der Wanne noch ein wenig weiter fortschob, damit kein Wasser auf den Stoff spritzte.
Vorsichtig stieg Alexander in die Wanne. Das Wasser hatte genau die richtige Temperatur, es legte sich sanft um ihn, umschmeichelte seinen Körper, als er sich niederließ.
Davren griff zu einem Schwamm und einem Stück fliederfarbener Seife und kniete sich neben der Wanne nieder. »Ihr erlaubt, daß ich mein Hemd ausziehe, Sirah? Meine Ärmel würden sonst naß, und -«
»Nein«, sagte Alexander ruhig. »Dein Hemd kannst du behalten, keine Sorge. Und es wird auch nicht nasser werden, als es ohnehin schon ist.«
Davrens glänzendes Gesicht bekam etwas Klägliches. »Aber wie soll ich dann Euren Rücken schrubben, Sirah?«
»Oh, das wirst du nicht. Es ist gewöhnlichen Sterblichen wie dir verboten, Engelsgeborene wie mich zu berühren. Für das, was du für mich getan hast, danke ich dir. Aber noch dankbarer wäre ich, wenn du nun bitte meinen Neffen zu mir schicken könntest.«
Davren gehorchte. Aber ihm fehlte die Beherrschung, um nicht im Gehen die Tür zuzuschlagen.
Kurz darauf kam Halan. »Ich wollte mich schlafen legen«, sagte er, aber wenn er auch vor einer Stunde das gleiche gesagt hatte, war er noch immer voll bekleidet.
»Ich weiß«, erwiderte Alexander trotzdem. »Aber ich brauche deine Hilfe. Magst du mich einseifen und mir den Rücken schrubben? Mir ist zu spät eingefallen, daß es dem Jungen verboten ist.« Er lächelte, als er diese Lüge aussprach, aber das Lächeln war echt, anders als alle, die er Davren geschenkt hatte.
»Wenn es sein muß«, sagte Halan gleichgültig, aber seine Augen sprachen eine andere Sprache. Er schob seine Ärmel hoch, trat hinter ihn und begann, Alexanders Rücken mit Schwamm und Seife zu bearbeiten, nur seinen Rücken, und er sah nicht auf dabei, bemühte sich, nicht in Alexanders Gesicht zu blicken, und nicht auf seinen Körper.
»Ich habe Davren nicht meine Handschuhe ausziehen lassen, aber jetzt möchte ich nicht, daß sie naß werden«, sagte Alexander leise. Er wußte nicht, ob das, was er versuchte, richtig war, oder ob es nicht vielmehr Halan in Wut versetzen würde.
Aber Halan kam herum und half mit nassen Fingern Alexander aus den Handschuhen. Diesmal rissen die Wunden nicht wieder auf. Diesmal würde Alexander sie heilen lassen.
»Besser?« fragte Halan und sah aus dem Fenster.
»Glaubst du, das Wasser hat die richtige Temperatur?«
Halan streckte eine Hand kurz in das Wasser, sorgsam darauf bedacht, Alexander nicht zu berühren. »Ich glaube schon«, sagte er.
Am liebsten hätte Alexander geschrieen. Er konnte Halans Gefühle spüren, sie teilen wie noch nie zuvor, aber hier war Halan und versuchte kalt zu sein, seine Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen.
Er sah nicht in das Wasser, das klar war und Alexander verriet, und nicht in seine Augen. Statt dessen trat er wieder hinter ihn und begann, ihm mit zaghaften, unbeholfenen Bewegungen den Rücken zu massieren, nur den Rücken, sonst nichts.
Alexanders Gefühle bäumten sich auf, und unter ihnen bäumte Alexander sich auf, griff mit beiden Armen nach oben, nach hinten, bis er Halans Haare zwischen seinen Fingern fühlte, seinen Kopf faßte und sanft zu sich hinunter zog.
Halan sagte nichts, aber er versuchte auch nicht, seinen Kopf wegzuziehen, auch nicht, als sein Kinn auf Alexanders Schulter ruhte, nicht, als seine Wange sich gegen Alexanders schmiegte, und auch nicht, als Alexander sich, ohne ihn loszulassen, zu ihm drehte, und ihn zu küssen begann.

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