Der andere Morgen brachte nicht Sonne, sondern strömenden
Regen, aber Natara fühlte sich erstaunlich gut. Sie lachte,
als sie aus dem Fenster in den nassen, leeren Hof blickte, und sie
lächelte noch immer, als sie, barfuß und im Hemd, die
Truhe aufstemmte, in der ihre Sachen lagen. Mit einer Hand hielt
sie den Deckel hoch, während sie mit der anderen nach dem
Kleid wühlte, das zuunterst lag, weil sie geglaubt hatte, es
lange nicht mehr zu brauchen: Das taubenblaue Kleid, in dem sie ins
Schloß gekommen war, das beste Kleid eines bürgerlichen
Mädchens, nicht das einer Dienerin. Natara hatte sich dieses
Kleid noch nie allein angezogen, aber sie war schon einmal allein
hinausgekommen, und mit dem Wissen, daß eine Tänzerin
wendig sein mußte, gelang es ihr, die Bänder an ihrem
Rücken zu durchaus brauchbaren Schleifen zu binden. Ihr fehlte
ein Spiegel, um es zu kontrollieren, aber sie konnte zumindest ihr
Gesicht in der Waschschüssel sehen. Sie streckte den
Rücken, nahm den Kopf noch ein wenig weiter in den Nacken,
dann knickste sie und sagte zur Tür: »Ich danke Euch
für die Tage, die ich in Korisanders Schloß verbringen
durfte, doch nun werde ich gehen.«
Weil ihr der Tonfall nicht so recht gefiel, sagte sie es noch ein
paarmal, verfeinerte die Bewegungen, bis sie waren, wie sie sollten
- ungeduldig mit sich selbst, wie sie es immer wurde, wenn ihr ein
Tanzschritt nicht sofort gelang. Draußen regnete es heftiger,
aber endlich war Natara mit sich selbst zufrieden. Sie ging zum
Fenster, um es wieder zu schließen, und dabei fiel ihr Blick
auf Hesters Birne, die immer noch unberührt auf dem Waschtisch
lag. Natara wollte schon erfreut hineinbeißen, denn hier
würde sie kein Frühstück mehr nehmen, und bis sie
bei ihren Eltern wieder etwas zu Essen bekam - bis sie ihren Eltern
erklärt hatte, daß man sie nicht fortgeschickt hatte,
sondern sie freiwillig gegangen war - würde es dauern. Aber
ein Geschenk von Hester anzunehmen nach dem, was passiert war,
wäre zu höflich gewesen, zu nett - und Natara wollte
nicht mehr nett sein. Hier war niemand nett, also warum Natara?
Zumindest eine Sache hatte Natara im Schloß gelernt. Sie nahm
die Birne und schleuderte sie aus dem Fenster, im hohen Bogen,
daß sie quer über den Hof fliegen und an der
gegenüberliegenden Wand zerplatzen sollte. Aber Natara hatte
nicht kräftig genug geworfen, und die Birne fiel nur hinunter
in den Hof, und sie barst nicht, als sie auf dem Pflaster
aufschlug, sondern rollte noch ein Stück zu Seite, ehe sie
liegenblieb und wie ein anklagendes grünes Auge zu Natara
hochblickte. Nataras Herz sank, plötzlich fühlte sie sich
schuldig, und klein, und armselig, und der Regen sprühte in
ihr Gesicht, und sie trat schnell vom Fenster weg und schloß
es, und drehte sich um - und in dem Moment ging die Tür
auf.
Natara schrak zusammen. Dort stand nicht Hester. Es war Aralee
selbst. Das Herz klopfte bis in Nataras Hals. Jetzt mußte sie
es sagen, es gab keine andere Gelegenheit. Aber obwohl sie es so
sehr geübt hatte, konnte sie es nicht, und so war es Aralee,
die als erstes sprach.
»Natara«, sagte sie, und Natara wußte, was jetzt
kommen würde: Ärger, weil sie ihre Arbeit nicht
ausgeführt, die Tür nicht abgeschlossen und Hester den
Schlüssel gegeben hatte. Aralees Gesicht war zu ernst. Jetzt
wurde Natara doch in Schande nach Hause geschickt… Natara
traf eine Entscheidung.
»Es tut mir leid!« rief sie, bevor Aralee
weitersprechen konnte.
»Nein«, erwiderte Aralee. »Nicht dir muß
es leid tun. Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Was ich
mit dir vorhatte, war eine törichte Idee, und es tut mir
leid.«
Natara starrte sie sprachlos an. »Was?«
»Es tut mir leid«, sagte Aralee noch einmal.
»Ich dachte, da mir die Zeit fehlt, dich selbst zu
unterrichten, wäre es das beste, wenn du die unterschiedlichen
Seiten des Schlosses selbst kennenlernst. Außerdem wollte ich
jemanden, der die Loringarim unauffällig beobachtet, und
dachte, daß sie bei einem Kind am wenigsten Verdacht
schöpfen würden. Ich habe nicht nachgedacht. Es tut mir
leid.«
Natara fühlte, wie sie rot wurde. »Oh, es ist nicht
schlimm«, sagte sie schnell. »Ich habe mich auch dumm
angestellt. Nächstes Mal werde ich mir mehr Mühe
geben.«
Doch Aralee schüttelte den Kopf. »Es wird kein
nächstes Mal geben. Ich habe eine andere, viel wichtigere
Aufgabe für dich. Du wirst lesen und schreiben
lernen.«
Entgeistert starrte Natara sie an. »Aber das - das kann ich
nicht!«
»Ich weiß. Darum sollst du es auch lernen.
Natürlich ist die Schrift bis heute fast ausschließlich
dem Adel vorbehalten. Mein Stiefsohn hat in seiner Regierungszeit
nichts daran geändert, und ich bezweifle sehr, daß mein
Sohn es würde. Aber im Moment bin ich es, die das Land
verwaltet und mit ihm das Wissen, und es kann nicht in Korisanders
Sinne sein, daß die Weisheit einem Großteil seines
Volkes vorenthalten bleibt. Darum werde ich dich unterrichten. Ich
bin keine Lehrerin, und ich habe auch nicht die Zeit dazu. Darum
will ich es mit dir versuchen. Du bist intelligent und
verständig, und wenn du es gelernt hast, wirst du eines Tages
anderen Kindern das Gleiche beibringen können. Verstehst
du?«
Natara nickte. Ihr war schwindelig von der Aussicht. Lesen lernen!
Sie hatte sich nie gewünscht, etwas anderes zu lernen als
tanzen, aber plötzlich gefiel ihr die Vorstellung. Kein
Mädchen, das sie kannte, konnte lesen. Auch wenn Natara nicht
wußte, wofür sie es einmal brauchen konnte - Lesen war
etwas besonderes, das ihr gefallen würde.
»Ich werde mir Mühe geben«, versprach Natara,
dachte nicht mehr daran, daß sie noch gerade eben das
Schloß hatte verlassen wollen. »Hat Euch Hester
erzählt, was gestern abend passiert ist?«
»Nein«, erwiderte Aralee. »Du sollst nicht
glauben, ich lasse Hester dir nachspionieren. Nein, sagen wir es
einmal so, die Frauen haben es mir selbst erzählt. Als du
nicht zurück kamst, um Bericht zu erstatten, habe ich selbst
nachgesehen.«
Nataras Hände wurden kalt. Sie traute sich nicht zu fragen,
ob die Tür offen oder versperrt war, denn wenn Hester es
wirklich noch nachgeholt hatte, wäre es jetzt dumm, das
Versäumnis zu verraten. Dann aber fiel es Natara
siedendheiß ein: Der Schlüssel! Was war, wenn Aralee ihn
jetzt zurückhaben wollte? So ruhig wie möglich fragte
sie: »Wo ist Hester überhaupt?«
Aralee zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie
hat Arbeit zu erledigen, und ich hoffe, das tut sie auch. Ich habe
sie heute den ganzen Tag noch nicht gesehen, aber da noch niemand
hier war, um sich über sie zu beschweren, glaube ich,
daß alles in Ordnung ist. Vermutlich wirst du sie heute abend
wiedertreffen.«
Danach ging sie nicht mehr auf die Ausländerinnen oder den
Schlüssel ein, und Natara war erleichtert. Wenn Hester schlau
war, hatte sie den Schlüssel einfach in der Tür stecken
lassen, und Aralee hatte ihn gefunden…
»Wenn du jetzt bitte mit mir kommst… Ich werde dir
die Bibliothek zeigen. Du weißt, was das ist?«
Natara fühlte sich schrecklich dumm, als sie den Kopf
schüttelte, und zog sich schnell die Schuhe an, um nicht zu
zeigen, daß sie rot wurde. »Tut mir leid«,
flüsterte sie.
Doch Aralee lachte. »Das ist gut, dann werden zumindest
deine Erwartungen nicht enttäuscht. Es ist ein großer
Raum voller Bücher. Aber unsere ist im Moment in einem
Notquartier, im Keller, weil der eigentliche Saal frisch gekalkt
wird; er soll auch einen neuen Fußboden bekommen, aber durch
all das, was in diesem Land im Moment vor sich geht, ruhen die
Arbeiten. Die Bücher werden sich noch ein wenig im Keller
gedulden müssen. Ich hoffe, dir machen Treppen nichts
aus.«
Natara schüttelte den Kopf und beeilte sich, ihr zu folgen.
Den Keller hatte Hester ihr noch nicht gezeigt, nur erzählt,
daß dort unten gruselige Dinge lauerte, daß die Stufen
hinunterführten in den Nilomar. Nicht die Hälfte davon
hielt Natara für wahr, aber sie war doch ein wenig aufgeregt,
als sie Aralee durch das Schloß folgte, sich bemühte,
den langen, schnellen Schritten einer Frau, die keine Zeit
verlieren durfte, zu folgen, ohne rennen zu müssen. Mehrmals
wäre sie auf dem frischgewischten Boden fast ausgerutscht,
aber sie fing sich und stieg mit klopfendem Herzen die Treppe zum
Keller hinunter. Unten wartete die Dunkelheit.
Unter dem Keller lag noch ein Keller, darunter noch einer, und
doch wanden sich die Stufen immer weiter nach unten. Mit jeder
Stufe begann Natara, ein klein wenig mehr an Hesters Worte zu
glauben. Sie bemühte sich, dicht hinter Aralee zu bleiben, die
eine Fackel trug. Vor ihnen lag das Dunkel des Kellers, und es
blieb dunkel, trotz der Fackel, die doch nur sich selbst
beleuchtete. Natara hätte gerne gefragt, wie weit es noch
hinunterging.
Doch plötzlich, mitten auf der Treppe, blieb Aralee stehen.
»Natara, dreh dich um und steig langsam die Treppen
hinauf!« Ihre Stimme war tonlos und ruhig, und sie machte
Natara mehr Angst als das Dunkel. Aralee hätte ihr nicht
deutlicher sagen können, daß da etwas war.
»Was ist dort?« hörte sich Natara fragen und
wunderte sich, daß sie das noch konnte. Bewegen konnte sie
sich plötzlich nicht mehr, geschweige denn die Stufen allein
hochsteigen. Als hielte sie etwas fest…
»Geh nach oben«, erwiderte Aralee statt einer
Antwort.
»Ich kann nicht«, flüsterte Natara.
»Dann bleib, wo du bist. Aber geh nicht weiter.«
Aralee selbst stieg weiter nach unten, entfernte sich mit der
Fackel, bis sie fast hinter der nächsten Krümmung der
Wendeltreppe verschwunden war. Natara wußte, daß dort
unten etwas schreckliches war, sie wartete, aber allein hier zu
bleiben, mit dieser Ungewißheit, das war noch viel
schrecklicher. Eilig folgte sie Aralee, hüpfte die Stufen
hinunter, so wie Hester es an ihrer Stelle getan -
Hester lag dort, mit ihren Beinen auf den Stufen, mit dem
Oberkörper halb auf dem nächsten Absatz. Sie sah verdreht
aus unter dem Licht von Aralees Fackel. Natara biß sich auf
die Fingerknöchel. Ihr war nicht nach Schreien zumute, und
auch nicht nach Weglaufen.
Aralee wandte den Kopf und sah, daß Natara ihr gefolgt war.
Aber sie versuchte nicht, sie noch einmal wegzuschicken. Statt
dessen sagte sie: »Halt die Fackel, Natara. Komm näher.
Ich muß sie sehen können, und ich brauche meine
Hände.«
Ohne zu zögern folgte Natara der Aufforderung. Ihre Angst war
fort, aber was sie statt dessen hatte, konnte Natara nicht sagen.
So wie jetzt hatte sie sich noch nie in ihrem Leben gefühlt.
Ein Gedanke durchzuckte sie, eine Erinnerung, die sie nicht wollte.
Zumindest nicht, seit ihr kleiner Bruder gestorben war.
Aralee beugte sich über Hester, berührte den Kopf der
Zofe, ihren Hals, aber sie sagte nichts dabei, sprach weder mit
Natara, noch mit dem anderen Mädchen. Nicht daran denken,
daß es Hester war! Die Augen des Mädchens waren
geschlossen, das Gesicht entspannt. Sie sah friedlich aus. Aber
niemand schlief so… verdreht. Dann fiel Natara noch etwas an
Hester auf, und sie wünschte sich, es nicht bemerkt zu haben.
Blut. Nicht viel davon, nur ein kleines Bißchen, so dunkel,
daß es schon nicht mehr wie Blut aussah - an Hesters Nase,
und ein wenig im Mundwinkel. Man hätte es ablecken
können. Natara fühlte den Geschmack von Blut auf ihrer
Zunge, als sie sich an ihn erinnerte. Ihre Arme zitterten, und das
Licht ihrer Fackel flackerte unheimlich, bis Natara sich wieder
gefangen hatte.
»Sie ist tot«, sagte Aralee ruhig. Natara hätte
sich am liebsten die Ohren zugehalten, aber sie konnte es nicht,
wegen der Fackel. »Sie muß die Treppe hinuntergefallen
sein.«
Natara nickte nur. Etwas anderes war kaum möglich.
»Natara, ich möchte, daß du jetzt ganz ruhig
bleibst. Wir können nichts mehr für Hester tun, aber sie
kann hier nicht bleiben. Ich werde jemanden holen, der mir hilft,
sie zu tragen. Ich nehme an, daß du nicht allein hier unten
bleiben möchtest?«
»Doch«, sagte Natara und fragte sich, warum.
»Ich möchte bei Hester bleiben.«
Aralee blickte sie scharf an. Ihr Gesicht glänzte. »Sie
ist tot, Natara. Verstehst du? Sie ist tot.«
Natara nickte wieder. »Ich weiß. Ich werde auf sie
aufpassen.«
Sie wußte nicht, wie lange Hester hier unten schon gelegen
hatte, oder wer ihr jetzt noch etwas tun sollte, aber sie
mußte einfach hier warten. Sie konnte Aralee nicht
sagen, warum.
»Also gut«, erwiderte Aralee. »Dann lasse ich
dir die Fackel da. Ich finde den Weg nach oben auch so.«
Es tat Natara leid, daß Aralee nicht noch mehr Versuche
machte, sie zum Mitkommen zu bewegen. Sie wollte doch gar nicht
hier bleiben, nicht allein! Wenn Aralee nur einmal mehr gefragt
hätte, wäre Natara mit ihr gegangen. So aber stieg Aralee
die Stufen hinauf, während Natara sich gegen die Rundung der
Wand preßte, um die Frau vorbeizulassen. Sie hörte noch
einige Zeit lang Aralees eilige Schritte, seltsam hallend und immer
ferner, bis schließlich alles um sie herum still war. Natara
war allein.
Sie setzte sich auf die Treppe, zwei Stufen oberhalb der Stelle,
wo Hesters Füße lagen. Vor Hester hatte sie keine Angst.
Nicht mehr. Es war sie selbst, die sie jetzt fürchten
mußte.
»Ich wollte das nicht!« sagte sie laut. Es klang nicht
einmal mehr wie ihre eigene Stimme. »Ich habe das doch nur so
gesagt! Ihr dürft sie nicht haben!«
Hinter dem Absatz führte die Treppe noch weiter nach unten,
aber Natara wollte nicht dorthin, nicht wissen, was dort war, oder
wer. Sie stellte sich vor, wie die Nilomaran aus der Tiefe
gekrochen kamen und Hester mit sich fortzerrten, aber solange es
Natara gab und das Licht ihrer Fackel, konnten sie das nicht
tun.
»Es gibt euch nicht einmal«, fuhr Natara fort und
wußte, daß das, was sie tat, schrecklich albern war.
Aber sie hatte von Totenwachen gehört, und so etwas verdiente
auch Hester.
Aber war das überhaupt noch Hester? Natara versuchte zu
beten, für Hesters Seele, damit nichts ihren Flug aufhielt,
aber sie konnte es nicht, wußte die rechten Worte nicht und
hatte Angst, Hester aus Dummheit in die Verdammnis zu schicken. Was
sie statt dessen tun konnte war, sich von Hester zu verabschieden.
Sie würde nie wieder mit ihr allein sein und ihr die Dinge
sagen können, so wie sie es nun tat.
»Danke für die Birne«, fing sie an - sie
mußte ja nicht verraten, daß sie sie nicht gegessen
hatte - »und danke, daß du die Tür für mich
abgeschlossen hast.« Sie zögerte einen Moment, kam sich
seltsam vor, mit einer Toten zu reden, und bekam wieder Angst. Das
Licht flackerte, und unter den Schatten sah Hester aus, als bewege
sie sich, als könne sie jeden Moment wieder aufstehen.
»Ich… ich wollte nur sagen, daß es mir leid
tut«, flüsterte Natara weiter. Am liebsten wäre sie
aufgestanden und die Treppen hinaufgerannt bis in die Turmspitze,
aber sie hatte etwas versprochen, und es war immer noch besser, mit
Hester hier unten zu sein, als alleine.
»Hast du den Schlüssel noch?« fragte Natara.
Hester gab keine Antwort. Natara zögerte, sie zu
berühren, aber dann hielt sie die Luft an und griff schnell in
Hesters Schürzentasche. Falls die Tür nicht abgeschlossen
war und Aralee das wußte, war es immer noch besser, wenn der
Schlüssel zumindest bei Natara war. Wenn man ihn aber bei
Hester fand, würde es Ärger geben, in jedem Fall.
Es war ein Schlüssel in Hesters Kitteltasche, doch Nataras
Finger waren so kalt wie er und klamm und konnten ihn nicht richtig
fassen. Sie konnte ihr Herz schlagen hören, und sie biß
sich auf die Zunge, als sie es versuchte, bis sie ihn endlich in
der Hand hielt. Ihre Finger waren ganz taub und wollten ihn erst
nicht mehr loslassen, und als sie ihn einstecken wollte, fiel
Natara ein, daß ihr Kleid gar keine Taschen hatte. Zitternd
schob sie ihn vorne in ihren Ärmel und hielt die Fackel mit
der Hand so, daß er nicht herausfallen konnte. Kalt und hart
drückte sich der Schlüssel gegen ihren Unterarm. Und er
wollte nicht wärmer werden, auch in der langen, langen Zeit
nicht, die Natara unten auf der Treppe wartete, bis Aralee endlich
zurückkam.
Sie traute sich nicht mehr, noch einmal etwas zu sagen, hatte
Angst, daß man ihre Stimme im ganzen Schloß würde
hören können. Lauschend wartete Natara auf
Geräusche, die von oben kamen, auf den beruhigenden Klang von
Schritten, als ihre Fackel wild zu flackern begann, seltsame Bilder
an die Wände warf, nur um gleich darauf zu verlöschen und
Natara im Dunkeln zurückzulassen. Es verging ein Moment, bis
sie anfing, wirklich Angst zu haben, und dieser Moment war es, in
dem Natara auffiel, was ihr hier unten so seltsam und falsch
vorkam: Daß Hester hier lag, wo sie nie hätte sein
dürfen, tief unten, in pechschwarzer Finsternis - und das,
ohne eine Fackel mitgebracht zu haben.
Keine drei Tage war es her, daß Natara zuletzt durch die
Straßen von Koristir gelaufen war, und doch fühlte sie
sich wie etwas, das noch nie hier gewesen war, das dort nicht
hingehörte. Damals war sie nur scheu hinter Aralee
hergelaufen, nun hielt sie ihre Hand umklammert, aber damals wie
heute getraute sie sich nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Aber
Aralee redete.
»Ich hoffe, die Totenmagd ist zuhause«, sagte sie.
»Zum Glück ist der Winter vorbei. Wir hatten immer
unsere eigene Totenmagd, oben im Schloß, aber nun ist sie
fort, und ich habe noch keine neue angefordert, ich wollte warten,
bis sich die Wogen geglättet hatten. Ich habe nicht geglaubt,
daß wir so schnell wieder einen Tod im Schloß haben
würden.«
Natara fragte nicht, was mit der alten Totenmagd passiert war,
auch wenn sie es gerne gewußt hätte. Oder, wo
Totenmägde herkamen, daß man sie bestellen konnte wie
frisches Wasser oder einen Klotz Eis für den Keller. Aber sie
war dankbar, daß Aralee sie mitgenommen hatte, daß sie
bei ihr sein durfte und nicht noch einmal allein bleiben
mußte. Sie drückte ihre Hand gegen ihren Körper,
als hätte sie sich verletzt, damit der Schlüssel nicht
herausfallen konnte, und hoffte, daß Aralee es nicht merkte.
Aber Aralee war weit davon entfernt, auf solche Kleinigkeiten zu
achten.
Das Haus, vor dem sie anhielten, war schmal und hoch, so eng
zwischen die Nachbarhäuser gedrängt, daß es schien,
als wolle es vor ihnen zurückweichen, denn es lag ein wenig
nach hinten versetzt. In diesem Viertel wohnten arme Leute, und
Natara hätte nicht erwartet, hier das Heim einer Totenmagd zu
finden. Totenmägde waren bedeutende Menschen, nicht so wichtig
wie der Richter oder der Bürgermeister, aber da sie die Macht
hatten, über Leben und Tod zu entscheiden, konnten sie doch
nicht arm sein!
»Hier?« fragte Natara darum erstaunt, als Aralee, mit
leichtem Nicken die Häuser abzählend, gegen die Tür
pochte. Einen Klingelzug gab es nicht. Aralee nickte ihr zu, und
dann warteten sie, klopften nochmals.
»Vielleicht ist sie nicht da?« fragte Natara und
hoffte es. Sie konnte sich noch gut an die Totenmagd erinnern, eine
großgewachsene, hagere Frau mit grauem Haar und
unerbittlichen grauen Augen, die gekommen war, um ohne ein Wort
Nataras kleinen Bruder mitzunehmen. Komische Vorstellung, daß
es mehr als eine solche Frau geben sollte, daß irgend eine
Frau freiwillig Totenmagd wurde.
Aralee klopfte ein drittes Mal, und endlich wurde die Tür
geöffnet, nur einen Spalt breit.
»Sie ist nicht da«, sagte eine leise Frauenstimme.
»Wir werden warten«, erwiderte Aralee.
»Dürfen wir hereinkommen?« Warum sagte sie nicht,
daß es dringend war? Daß sie die Königswitwe war?
Warum befahl sie nicht, die Tür aufzumachen? Aber Aralee war
ganz höflich und zurückhaltend.
»Es tut mir leid«, sagte die Stimme. »Ich kann
Euch nicht einlassen.«
Natara blickte Aralee irritiert an. Aralee blickte nicht minder
irritiert zurück, dann drehte sie sich wieder zur Tür.
Hinter dem Spalt war es dunkel, wer dahinter stand, nicht zu
erkennen.
»Das geht nicht an.« Aralees Stimme war laut, aber
ruhig. »Die Tür einer Totenmagd darf nicht verschlossen
sein vor denen, die ihre Hilfe brauchen. Niemals.«
Die Tür öffnete sich mit einem Geräusch, das wie
ein Seufzen klang. Zu ihrem großen Erstaunen sah sich Natara
einer Totenmagd gegenüber, einer anderen als der, die sie
erwartet hatte, doch auch diese hatte graues Haar, ohne alt zu
sein, und trug ein graues Kleid. Natara wollte fragen, wie es kam,
daß es hier zwei Totenmägde gab, daß die Totenmagd
die Tür nicht hatte öffnen wollen. Aber dann sah sie
Aralees Gesicht. Nicht einmal, als sie Hester auf der Treppe
fanden, war Aralee derart fassungslos gewesen.
Sie sagte nur ein einziges Wort: »Du.« Plötzlich
sah sie nicht mehr so bewunderungswürdig aus, und auch nicht
mehr furchteinflößend. Natara blickte zwischen den
Frauen hin und her, unsicher, ob es ihr jetzt erlaubt war, den
Hausflur zu betreten, auch wenn Aralee sich nicht rührte. Es
war Aralee, die zuerst wegschaute, aber Natara konnte es ihr nicht
verdenken. Sie wollte auch nicht lange einer Totenmagd in die Augen
sehen. Dann wandte sich die Graugekleidete ab und trat
beiseite.
»Aber Ihr wolltet doch hereinkommen.« Ihre Stimme war
sehr leise und freundlich, indem sie nicht unfreundlich war.
»Was tust du hier?« fragte Aralee mit fremder
Schärfe. »Ich hatte dir aufgetragen, meinem Sohn zu
helfen.«
»Eurem Sohn zu dienen«, sagte die Totenmagd.
»Doch ich kann es erklären. Kommt herein.«
Nur zögerlich betrat Natara hinter Aralee das Haus. Sie
wußte, sie war hier fehl am Platz, daß zwischen den
beiden Frauen etwas Privates vorgefallen sein mußte, das sie
nichts anging. Aber sie wollte auch nicht allein
zurückbleiben, nicht auf einer Straße wie dieser, nicht
in ihrem besten Kleid. Sie fand sich in einer Stube wieder, die
Wände nicht einmal gekalkt, sondern mit Lehm verschmiert. Ein
hölzerner Tisch, Stühle, sonst nichts, nicht einmal
Bilder an den Wänden.
»Setzt Euch«, sagte die Totenmagd. »Ich war bei
Eurem Sohn. Ich habe ihm meine Dienste nach bester Kraft angeboten,
aber er hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er meiner
nicht bedarf. Darum bin ich hierher zurückgekehrt. Ins
Schloß kann ich nicht zurück, nicht nach dem, was
geschehen ist.«
Aralee nickte, dann griff sie über den Tisch und nahm die
Hand der Totenmagd. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Ich hätte mir denken müssen, daß es so
kommen würde. Ich kenne meinen Sohn. Ich sollte dir keine
Vorwürfe machen. Du hast genug durchgestanden.«
Die Totenmagd blickte sie mißtrauisch an. »Seid Ihr
darum gekommen - um Euch zu entschuldigen? Oder wollt Ihr mich an
den Hof zurückholen?«
Aralee hob beschwichtigend eine Hand, ohne mit der anderen die
Totenmagd loszulassen. »Das kann ich nicht von dir verlangen,
auch wenn sich die Wogen wieder geglättet haben und Ruhe
herrscht in Korisanders Hallen. Nein, ich bin nicht deinetwegen
hier, Lyda. Aber es hat einen Unfall gegeben - einen sehr
tragischen Unfall. Wir brauchen eine Totenmagd.«
Lyda rührte sich nicht, und einen Moment lang herrschte
vollkommene Stille. Dann fragte die Totenmagd:
»Wer?«
»Eine meiner zogen, Hester. Ein Mädchen von vierzehn
Jahren. Sie ist die Kellertreppe hinuntergestürzt.«
Auch die Totenmagd fragte nicht, was eine Zofe allein im Keller zu
suchen hatte. Sie sagte nur: »Ich kannte sie.«
Jetzt trat ein müdes Lächeln in Aralees Gesicht.
»Es war schwer, Hester nicht zu kennen. Jeder mochte sie. Es
ist ein Jammer, daß sie so früh sterben mußte. Sie
war die letzte aus ihrer Familie.«
»Es wird noch eine Weile dauern, bis Naella
zurückkommt«, sagte Lyda. »Ich werde mit Euch
gehen.«
»Solange ich in deiner Nähe bin, wird dir niemand etwas
tun«, versprach Aralee. »Und auch danach nicht. Das
Schloß braucht wieder eine Totenmagd.«
»Ihr habt mich von meinem Beruf losgesprochen«,
erwiderte Lyda. »Die Männer am Hof haben mich nur
angegriffen, aber Ihr wart es, die gesagt habt, daß ich keine
Totenmagd mehr bin.«
Natara, welche die ganze Zeit über Lyda nur fasziniert
angestarrt hatte, bemerkte nun erstmalig Spuren von Zorn in diesen
Augen, die so ruhig waren und so tief, wie sie es noch niemals
zuvor gesehen hatte. Es war ein ähnlich fesselndes Gefühl
wie damals, als sie Alexander in die Augen hatte blicken
dürfen, aber es war angenehmer. Die Augen der Totenmagd waren
das Gegenteil von bedrohlich. Aber nun strahlten sie ein Schweigen
aus, das schwer wog und schmerzte.
»Das habe ich gesagt«, murmelte Aralee
schließlich. »Aber es lag nie in meiner Macht, eine
Totenmagd von ihrem Amt zu trennen, von ihrer Berufung. Verzeih
mir.«
»Wir können nicht verzeihen«, erwiderte Lyda,
aber der Zorn verschwand aus ihren Augen. »Wir richten nicht,
und wir vergeben nicht. Und wir können niemals aufhören,
Totenmägde zu sein. So werden wir geboren, und so sterben wir.
Ebenso wie Euer Sohn niemals aufhören wird, ein
Engelsgeborener zu sein, auch wenn er vielleicht niemals eine Krone
tragen wird.« Sie stand auf. »Aber meine Welt ist die
der Toten, nicht der Worte. Hester braucht mich jetzt.«
‘Ihr nicht’, sagten ihre Augen, aber sie sprach es
nicht aus. Noch bevor sie das kleine Zimmer betraten, in dem Hester
aufgebahrt lag, war Totenmagd in Schweigen verfallen.
Mehr und mehr fühlte sich Natara, als sei die Welt, in der
sie an diesem Morgen aufgewacht war, nicht die, in der sie sich
schlafen gelegt hatte, so seltsam erschien ihr alles um sich herum.
Nicht nur fremd - fremd war für Natara alles, was im
Schloß geschah - aber falsch. Hester war mit einem Mal tot,
und Aralee merkwürdig, aber am meisten wunderte sich Natara
über sich selbst.
Vielleicht war die Welt die gleiche geblieben, nur Natara
plötzlich eine andere. Mit fast schon so etwas wie Neugier sah
sie der Totenmagd zu, wie sie Hester auszog und wusch und mit
schimmerndem Öl einrieb, nicht nur, weil Aralee ihr
aufgetragen hatte, dabei zu sein.
»Du hast heute so viel Schlimmes gesehen. Ich hätte
dich nie mit der Toten dort unten allein lassen dürfen. Jetzt
sollst du sehen, wie es weitergeht. Die Totenmägde nehmen dem
Tod so viel von seinem Schrecken. Du wirst sehen, es ist nicht
anders, als wenn eine Mutter ihr Kind auf eine Reise
schickt.«
Natara nickte nur. Es war schon lange her, daß sie zuletzt
etwas gesagt hatte, aber sie vermißte die Wörter nicht.
So konnte sie sich zumindest nicht verraten. Sie versuchte sich
vorzustellen, daß Hester nur auf einer Reise war, daß
sie ihren Körper verlassen hatte wie Natara ihr Elternhaus, um
einem fremden Ort etwas Neues zu erleben. Eine Mutter schickte ihr
Kind auf eine Reise… Plötzlich mußte Natara daran
denken, daß auch Aralee eine Mutter war. Plötzlich sah
Hester, die so weiß auf einem weißen Tuch lag, aus wie
der Engelsgeborene Alexander, und neben ihm kniete nicht mehr Lyda,
sondern Aralee im Gewand einer Totenmagd, und ruhig, ohne eine
Träne zu vergießen, strich sie ihrem Sohn über das
Gesicht. Natara biß sich auf die Knöchel, um nicht vor
Schreck zu schreien, um den Traum zu vertreiben.
Die Totenmagd blickte von ihrer Arbeit - von Hester - auf und zu
Natara hinüber, und plötzlich, ohne daß man sagen
konnte woher sie kamen in dieser mit Schweigen gefüllten
Kammer, waren die Worte wieder da.
»Es tut mir leid«, flüsterte Natara. »Ich
wollte Euch nicht stören.«
Die Totenmagd schüttelte den Kopf und stand auf, kam auf
Natara zu und ergriff ihre Hände, nur einen Moment lang, aber
es reichte aus, um Natara dieses Gefühl des Fremdseins zu
nehmen. Plötzlich drängte alles aus ihr heraus: Die
Tür und der Schlüssel und daß sie Hester die
Nilomaran an den Hals gewünscht hatte und das Dunkel im
Keller… Und dann hörte sie sich das sagen, was vorher
noch nicht einmal ihr Kopf sich getraut hatte, zu Wörtern zu
machen.
»Sie ist nicht die Kellertreppe hinuntergefallen«,
sagte sie. »Jemand hat sie gestoßen. Niemand geht so
tief in den Keller, ohne ein Licht mitzunehmen. Aber Hester hatte
kein Licht. Ich habe danach gesucht, aber es war keines da. Also
muß jemand bei ihr gewesen sein, der eine Lampe hatte. Und
wenn Hester dann die Treppe nur hinuntergefallen wäre,
hätte er ihr doch geholfen, oder? Aber ich kann mir nicht
vorstellen, daß irgend jemand so etwas Böses tun
würde!« Das war gelogen. Sie hatte gelernt, sich das
vorzustellen. Aber sie wünschte sich, sie könne es
nicht.
Die Totenmagd blickte Natara scharf an. Sie sagte kein Wort, aber
ihre Augen sprachen eine deutliche Sprache, nicht von Ärger
oder Unglauben, sondern von Sorge. Sie blickte zur Tür
hinüber, doch die war verschlossen. Dann beugte sie sich zu
Natara hinunter, legte erst einen Finger auf ihren eigenen, dann
auf Nataras Mund. Natara begriff.
»Ich soll niemandem etwas davon verraten?« Lyda
nickte. Ȇberhaupt niemandem? Nicht einmal meinen Eltern
oder Aralee?« Wieder nickte die Totenmagd, ihr Gesicht ernst.
Natara fühlte, wie ihr Vertrauen in diese Frau wuchs, gerade
weil sie nichts sagte. Sie mußte schweigen, weil es ihr Beruf
war, aber wie eine Tänzerin konnte sie mit ihrem Gesicht, mit
ihrem Körper so vieles sagen, und weil sie selbst eine
Tänzerin war, konnte Natara sie verstehen.
Sie zögerte einen Moment. Dann schüttelte sie den
Schlüssel aus ihrem Ärmel in ihre Handfläche. Im
Keller hatte sie ihn nicht angesehen, nur hastig eingesteckt. Jetzt
kam er ihr vor, als wäre er kleiner als der Schlüssel,
den sie gestern Hester gegeben hatte, und blanker gerieben, und sie
konnte nicht sagen, ob es derselbe Schlüssel war. Aber sie
hielt ihn der Totenmagd hin.
»Den hatte Hester in ihrer Tasche. Ich habe ihn ihr
weggenommen, weil ich dachte…« Sie brach ab und sah zu
dem Häuflein hinüber, das Hesters zusammengefaltete
Sachen waren. »Wenn ich ihn zurückgebe, und es ist der
falsche, muß ich erzählen, woher ich ihn habe, und
vielleicht bin ich dann auch in… in Gefahr.«
Die Totenmagd nickte und griff nach dem Schlüssel. Als sich
ihre Hände berührten, merkte Natara, daß Lydas
Hände nun viel, viel kälter waren als zuvor, klamm wie
ihre eigenen.
»Vielleicht können wir ihn einfach in Hesters Tasche
zurückstecken«, schlug Natara leise vor. »Ich will
ihn nicht, und er gehört ihr doch irgendwie. Man darf den
Toten nichts wegnehmen.«
Lyda hielt den Schlüssel einen Moment lang auf ihrer
Handfläche vor sich. Dann schüttelte sie den Kopf und
schob den Schlüssel in eine Falte, die auch eine verborgene
Tasche sein konnte, ihres Gewandes. Natara widersprach ihr nicht.
Was die Totenmagd tat, mußte richtig sein.
»Werdet Ihr darauf aufpassen?« fragte sie trotzdem,
nur zur Sicherheit. »Und auf sie auch?« Sie blickte zu
Hester hinüber.
Lyda nickte. Dann ergriff sie mit beiden Händen zwei Ecken
des Tuches, auf dem Hester lag, und legte sie über den
Körper des toten Mädchens, nahm die beiden anderen und
tat mit ihnen das gleiche. Natara sah in einem Schälchen auf
dem Boden eine Nadel liegen, und eine Schere, und Faden, und erst
in diesem Moment begriff sie, daß Hester wirklich tot,
daß Hester für immer fort war, daß sie sich
niemals wiedersehen würden.
Als damals ihr kleiner Bruder starb, hatte sie noch nicht
gewußt, was das bedeutete und wie man trauerte, daß es
etwas anderes hieß, als traurig zu sein, aber sie hatte
geweint, weil alle anderen auch weinten und das von ihr erwarteten.
Jetzt weinte sie anders, richtig, sie wollte es nicht, aber ein
Kloß stieg in ihrer Kehle auf, als sie daran dachte, wie
Hester vor dem Portrait des toten Königs kniete, und dann, als
sie begriff, daß man nirgends im Schloß ein Bild von
Hester aufhängen würde, daß es bestimmt nicht
einmal ein Bild von Hester gab - barst er.
Lyda ließ ihre Arbeit ruhen und legte Natara einen Arm um
die Schultern, ließ sie sich anlehnen und hielt sie, und sie
gab ihr ein sauberes Stück Stoff, um ihre Nase zu putzen. Als
Natara sich endlich die Tränen aus den Augen rieb, sah sie die
Totenmagd erleichtert lächeln.
»Danke«, flüsterte Natara, und: »Ich
möchte jetzt lieber gehen.« Sie wollte nicht sehen, wie
Hester für immer in einem Tuch verschwand, und sie wollte
nicht dabei sein, wenn man die Tote in den Nilomar warf. Lyda
ließ sie gehen, bedeutete ihr mit keiner Geste zu bleiben,
sondern senkte nur den Kopf und wandte sich wieder Hester zu,
kniete nieder, um ihre Nadel einzufädeln. Aber als Natara
sich, mit dem Türknauf in der Hand noch einmal zu der
Totenmagd umdrehte, blickte diese auf, lächelte, und legte
dann wie zufällig ihre Hand auf jene Stelle ihres Gewandes,
die den Schlüssel barg. Natara fühlte sich erleichtert,
als sie im Flur stand - zumindest für den Augenblick, bevor
Aralee in den Flur einbog.
Schon spürte Natara wieder das Drücken ihres
Geheimnisses, die Angst, daß Aralee alles wußte und nun
enttäuscht war, nicht wegen dem, was Natara getan hatte,
sondern ihrem Mangel an Vertrauen. Und wenn sie Aralee nicht mehr
trauen durfte - wem dann noch?
Aber Aralee hatte ganz andere Sachen im Sinn. »Ich sehe,
daß du endlich geweint hast«, sagte sie freundlich.
»Das ist gut. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Aber jetzt
komm. Ich habe Bücher für dich hinaufkommen lassen - du
mußt nie wieder in den Keller. Und jetzt komm mit. Es ist an
der Zeit, daß du lesen lernst.«
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