Zwölftes Kapitel

Der andere Morgen brachte nicht Sonne, sondern strömenden Regen, aber Natara fühlte sich erstaunlich gut. Sie lachte, als sie aus dem Fenster in den nassen, leeren Hof blickte, und sie lächelte noch immer, als sie, barfuß und im Hemd, die Truhe aufstemmte, in der ihre Sachen lagen. Mit einer Hand hielt sie den Deckel hoch, während sie mit der anderen nach dem Kleid wühlte, das zuunterst lag, weil sie geglaubt hatte, es lange nicht mehr zu brauchen: Das taubenblaue Kleid, in dem sie ins Schloß gekommen war, das beste Kleid eines bürgerlichen Mädchens, nicht das einer Dienerin. Natara hatte sich dieses Kleid noch nie allein angezogen, aber sie war schon einmal allein hinausgekommen, und mit dem Wissen, daß eine Tänzerin wendig sein mußte, gelang es ihr, die Bänder an ihrem Rücken zu durchaus brauchbaren Schleifen zu binden. Ihr fehlte ein Spiegel, um es zu kontrollieren, aber sie konnte zumindest ihr Gesicht in der Waschschüssel sehen. Sie streckte den Rücken, nahm den Kopf noch ein wenig weiter in den Nacken, dann knickste sie und sagte zur Tür: »Ich danke Euch für die Tage, die ich in Korisanders Schloß verbringen durfte, doch nun werde ich gehen.«
Weil ihr der Tonfall nicht so recht gefiel, sagte sie es noch ein paarmal, verfeinerte die Bewegungen, bis sie waren, wie sie sollten - ungeduldig mit sich selbst, wie sie es immer wurde, wenn ihr ein Tanzschritt nicht sofort gelang. Draußen regnete es heftiger, aber endlich war Natara mit sich selbst zufrieden. Sie ging zum Fenster, um es wieder zu schließen, und dabei fiel ihr Blick auf Hesters Birne, die immer noch unberührt auf dem Waschtisch lag. Natara wollte schon erfreut hineinbeißen, denn hier würde sie kein Frühstück mehr nehmen, und bis sie bei ihren Eltern wieder etwas zu Essen bekam - bis sie ihren Eltern erklärt hatte, daß man sie nicht fortgeschickt hatte, sondern sie freiwillig gegangen war - würde es dauern. Aber ein Geschenk von Hester anzunehmen nach dem, was passiert war, wäre zu höflich gewesen, zu nett - und Natara wollte nicht mehr nett sein. Hier war niemand nett, also warum Natara? Zumindest eine Sache hatte Natara im Schloß gelernt. Sie nahm die Birne und schleuderte sie aus dem Fenster, im hohen Bogen, daß sie quer über den Hof fliegen und an der gegenüberliegenden Wand zerplatzen sollte. Aber Natara hatte nicht kräftig genug geworfen, und die Birne fiel nur hinunter in den Hof, und sie barst nicht, als sie auf dem Pflaster aufschlug, sondern rollte noch ein Stück zu Seite, ehe sie liegenblieb und wie ein anklagendes grünes Auge zu Natara hochblickte. Nataras Herz sank, plötzlich fühlte sie sich schuldig, und klein, und armselig, und der Regen sprühte in ihr Gesicht, und sie trat schnell vom Fenster weg und schloß es, und drehte sich um - und in dem Moment ging die Tür auf.
Natara schrak zusammen. Dort stand nicht Hester. Es war Aralee selbst. Das Herz klopfte bis in Nataras Hals. Jetzt mußte sie es sagen, es gab keine andere Gelegenheit. Aber obwohl sie es so sehr geübt hatte, konnte sie es nicht, und so war es Aralee, die als erstes sprach.
»Natara«, sagte sie, und Natara wußte, was jetzt kommen würde: Ärger, weil sie ihre Arbeit nicht ausgeführt, die Tür nicht abgeschlossen und Hester den Schlüssel gegeben hatte. Aralees Gesicht war zu ernst. Jetzt wurde Natara doch in Schande nach Hause geschickt… Natara traf eine Entscheidung.
»Es tut mir leid!« rief sie, bevor Aralee weitersprechen konnte.
»Nein«, erwiderte Aralee. »Nicht dir muß es leid tun. Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Was ich mit dir vorhatte, war eine törichte Idee, und es tut mir leid.«
Natara starrte sie sprachlos an. »Was?«
»Es tut mir leid«, sagte Aralee noch einmal. »Ich dachte, da mir die Zeit fehlt, dich selbst zu unterrichten, wäre es das beste, wenn du die unterschiedlichen Seiten des Schlosses selbst kennenlernst. Außerdem wollte ich jemanden, der die Loringarim unauffällig beobachtet, und dachte, daß sie bei einem Kind am wenigsten Verdacht schöpfen würden. Ich habe nicht nachgedacht. Es tut mir leid.«
Natara fühlte, wie sie rot wurde. »Oh, es ist nicht schlimm«, sagte sie schnell. »Ich habe mich auch dumm angestellt. Nächstes Mal werde ich mir mehr Mühe geben.«
Doch Aralee schüttelte den Kopf. »Es wird kein nächstes Mal geben. Ich habe eine andere, viel wichtigere Aufgabe für dich. Du wirst lesen und schreiben lernen.«
Entgeistert starrte Natara sie an. »Aber das - das kann ich nicht!«
»Ich weiß. Darum sollst du es auch lernen. Natürlich ist die Schrift bis heute fast ausschließlich dem Adel vorbehalten. Mein Stiefsohn hat in seiner Regierungszeit nichts daran geändert, und ich bezweifle sehr, daß mein Sohn es würde. Aber im Moment bin ich es, die das Land verwaltet und mit ihm das Wissen, und es kann nicht in Korisanders Sinne sein, daß die Weisheit einem Großteil seines Volkes vorenthalten bleibt. Darum werde ich dich unterrichten. Ich bin keine Lehrerin, und ich habe auch nicht die Zeit dazu. Darum will ich es mit dir versuchen. Du bist intelligent und verständig, und wenn du es gelernt hast, wirst du eines Tages anderen Kindern das Gleiche beibringen können. Verstehst du?«
Natara nickte. Ihr war schwindelig von der Aussicht. Lesen lernen! Sie hatte sich nie gewünscht, etwas anderes zu lernen als tanzen, aber plötzlich gefiel ihr die Vorstellung. Kein Mädchen, das sie kannte, konnte lesen. Auch wenn Natara nicht wußte, wofür sie es einmal brauchen konnte - Lesen war etwas besonderes, das ihr gefallen würde.
»Ich werde mir Mühe geben«, versprach Natara, dachte nicht mehr daran, daß sie noch gerade eben das Schloß hatte verlassen wollen. »Hat Euch Hester erzählt, was gestern abend passiert ist?«
»Nein«, erwiderte Aralee. »Du sollst nicht glauben, ich lasse Hester dir nachspionieren. Nein, sagen wir es einmal so, die Frauen haben es mir selbst erzählt. Als du nicht zurück kamst, um Bericht zu erstatten, habe ich selbst nachgesehen.«
Nataras Hände wurden kalt. Sie traute sich nicht zu fragen, ob die Tür offen oder versperrt war, denn wenn Hester es wirklich noch nachgeholt hatte, wäre es jetzt dumm, das Versäumnis zu verraten. Dann aber fiel es Natara siedendheiß ein: Der Schlüssel! Was war, wenn Aralee ihn jetzt zurückhaben wollte? So ruhig wie möglich fragte sie: »Wo ist Hester überhaupt?«
Aralee zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie hat Arbeit zu erledigen, und ich hoffe, das tut sie auch. Ich habe sie heute den ganzen Tag noch nicht gesehen, aber da noch niemand hier war, um sich über sie zu beschweren, glaube ich, daß alles in Ordnung ist. Vermutlich wirst du sie heute abend wiedertreffen.«
Danach ging sie nicht mehr auf die Ausländerinnen oder den Schlüssel ein, und Natara war erleichtert. Wenn Hester schlau war, hatte sie den Schlüssel einfach in der Tür stecken lassen, und Aralee hatte ihn gefunden…
»Wenn du jetzt bitte mit mir kommst… Ich werde dir die Bibliothek zeigen. Du weißt, was das ist?«
Natara fühlte sich schrecklich dumm, als sie den Kopf schüttelte, und zog sich schnell die Schuhe an, um nicht zu zeigen, daß sie rot wurde. »Tut mir leid«, flüsterte sie.
Doch Aralee lachte. »Das ist gut, dann werden zumindest deine Erwartungen nicht enttäuscht. Es ist ein großer Raum voller Bücher. Aber unsere ist im Moment in einem Notquartier, im Keller, weil der eigentliche Saal frisch gekalkt wird; er soll auch einen neuen Fußboden bekommen, aber durch all das, was in diesem Land im Moment vor sich geht, ruhen die Arbeiten. Die Bücher werden sich noch ein wenig im Keller gedulden müssen. Ich hoffe, dir machen Treppen nichts aus.«
Natara schüttelte den Kopf und beeilte sich, ihr zu folgen. Den Keller hatte Hester ihr noch nicht gezeigt, nur erzählt, daß dort unten gruselige Dinge lauerte, daß die Stufen hinunterführten in den Nilomar. Nicht die Hälfte davon hielt Natara für wahr, aber sie war doch ein wenig aufgeregt, als sie Aralee durch das Schloß folgte, sich bemühte, den langen, schnellen Schritten einer Frau, die keine Zeit verlieren durfte, zu folgen, ohne rennen zu müssen. Mehrmals wäre sie auf dem frischgewischten Boden fast ausgerutscht, aber sie fing sich und stieg mit klopfendem Herzen die Treppe zum Keller hinunter. Unten wartete die Dunkelheit.

Unter dem Keller lag noch ein Keller, darunter noch einer, und doch wanden sich die Stufen immer weiter nach unten. Mit jeder Stufe begann Natara, ein klein wenig mehr an Hesters Worte zu glauben. Sie bemühte sich, dicht hinter Aralee zu bleiben, die eine Fackel trug. Vor ihnen lag das Dunkel des Kellers, und es blieb dunkel, trotz der Fackel, die doch nur sich selbst beleuchtete. Natara hätte gerne gefragt, wie weit es noch hinunterging.
Doch plötzlich, mitten auf der Treppe, blieb Aralee stehen. »Natara, dreh dich um und steig langsam die Treppen hinauf!« Ihre Stimme war tonlos und ruhig, und sie machte Natara mehr Angst als das Dunkel. Aralee hätte ihr nicht deutlicher sagen können, daß da etwas war.
»Was ist dort?« hörte sich Natara fragen und wunderte sich, daß sie das noch konnte. Bewegen konnte sie sich plötzlich nicht mehr, geschweige denn die Stufen allein hochsteigen. Als hielte sie etwas fest…
»Geh nach oben«, erwiderte Aralee statt einer Antwort.
»Ich kann nicht«, flüsterte Natara.
»Dann bleib, wo du bist. Aber geh nicht weiter.« Aralee selbst stieg weiter nach unten, entfernte sich mit der Fackel, bis sie fast hinter der nächsten Krümmung der Wendeltreppe verschwunden war. Natara wußte, daß dort unten etwas schreckliches war, sie wartete, aber allein hier zu bleiben, mit dieser Ungewißheit, das war noch viel schrecklicher. Eilig folgte sie Aralee, hüpfte die Stufen hinunter, so wie Hester es an ihrer Stelle getan -
Hester lag dort, mit ihren Beinen auf den Stufen, mit dem Oberkörper halb auf dem nächsten Absatz. Sie sah verdreht aus unter dem Licht von Aralees Fackel. Natara biß sich auf die Fingerknöchel. Ihr war nicht nach Schreien zumute, und auch nicht nach Weglaufen.
Aralee wandte den Kopf und sah, daß Natara ihr gefolgt war. Aber sie versuchte nicht, sie noch einmal wegzuschicken. Statt dessen sagte sie: »Halt die Fackel, Natara. Komm näher. Ich muß sie sehen können, und ich brauche meine Hände.«
Ohne zu zögern folgte Natara der Aufforderung. Ihre Angst war fort, aber was sie statt dessen hatte, konnte Natara nicht sagen. So wie jetzt hatte sie sich noch nie in ihrem Leben gefühlt. Ein Gedanke durchzuckte sie, eine Erinnerung, die sie nicht wollte. Zumindest nicht, seit ihr kleiner Bruder gestorben war.
Aralee beugte sich über Hester, berührte den Kopf der Zofe, ihren Hals, aber sie sagte nichts dabei, sprach weder mit Natara, noch mit dem anderen Mädchen. Nicht daran denken, daß es Hester war! Die Augen des Mädchens waren geschlossen, das Gesicht entspannt. Sie sah friedlich aus. Aber niemand schlief so… verdreht. Dann fiel Natara noch etwas an Hester auf, und sie wünschte sich, es nicht bemerkt zu haben. Blut. Nicht viel davon, nur ein kleines Bißchen, so dunkel, daß es schon nicht mehr wie Blut aussah - an Hesters Nase, und ein wenig im Mundwinkel. Man hätte es ablecken können. Natara fühlte den Geschmack von Blut auf ihrer Zunge, als sie sich an ihn erinnerte. Ihre Arme zitterten, und das Licht ihrer Fackel flackerte unheimlich, bis Natara sich wieder gefangen hatte.
»Sie ist tot«, sagte Aralee ruhig. Natara hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, aber sie konnte es nicht, wegen der Fackel. »Sie muß die Treppe hinuntergefallen sein.«
Natara nickte nur. Etwas anderes war kaum möglich.
»Natara, ich möchte, daß du jetzt ganz ruhig bleibst. Wir können nichts mehr für Hester tun, aber sie kann hier nicht bleiben. Ich werde jemanden holen, der mir hilft, sie zu tragen. Ich nehme an, daß du nicht allein hier unten bleiben möchtest?«
»Doch«, sagte Natara und fragte sich, warum. »Ich möchte bei Hester bleiben.«
Aralee blickte sie scharf an. Ihr Gesicht glänzte. »Sie ist tot, Natara. Verstehst du? Sie ist tot.«
Natara nickte wieder. »Ich weiß. Ich werde auf sie aufpassen.«
Sie wußte nicht, wie lange Hester hier unten schon gelegen hatte, oder wer ihr jetzt noch etwas tun sollte, aber sie mußte einfach hier warten. Sie konnte Aralee nicht sagen, warum.
»Also gut«, erwiderte Aralee. »Dann lasse ich dir die Fackel da. Ich finde den Weg nach oben auch so.«
Es tat Natara leid, daß Aralee nicht noch mehr Versuche machte, sie zum Mitkommen zu bewegen. Sie wollte doch gar nicht hier bleiben, nicht allein! Wenn Aralee nur einmal mehr gefragt hätte, wäre Natara mit ihr gegangen. So aber stieg Aralee die Stufen hinauf, während Natara sich gegen die Rundung der Wand preßte, um die Frau vorbeizulassen. Sie hörte noch einige Zeit lang Aralees eilige Schritte, seltsam hallend und immer ferner, bis schließlich alles um sie herum still war. Natara war allein.
Sie setzte sich auf die Treppe, zwei Stufen oberhalb der Stelle, wo Hesters Füße lagen. Vor Hester hatte sie keine Angst. Nicht mehr. Es war sie selbst, die sie jetzt fürchten mußte.
»Ich wollte das nicht!« sagte sie laut. Es klang nicht einmal mehr wie ihre eigene Stimme. »Ich habe das doch nur so gesagt! Ihr dürft sie nicht haben!«
Hinter dem Absatz führte die Treppe noch weiter nach unten, aber Natara wollte nicht dorthin, nicht wissen, was dort war, oder wer. Sie stellte sich vor, wie die Nilomaran aus der Tiefe gekrochen kamen und Hester mit sich fortzerrten, aber solange es Natara gab und das Licht ihrer Fackel, konnten sie das nicht tun.
»Es gibt euch nicht einmal«, fuhr Natara fort und wußte, daß das, was sie tat, schrecklich albern war. Aber sie hatte von Totenwachen gehört, und so etwas verdiente auch Hester.
Aber war das überhaupt noch Hester? Natara versuchte zu beten, für Hesters Seele, damit nichts ihren Flug aufhielt, aber sie konnte es nicht, wußte die rechten Worte nicht und hatte Angst, Hester aus Dummheit in die Verdammnis zu schicken. Was sie statt dessen tun konnte war, sich von Hester zu verabschieden. Sie würde nie wieder mit ihr allein sein und ihr die Dinge sagen können, so wie sie es nun tat.
»Danke für die Birne«, fing sie an - sie mußte ja nicht verraten, daß sie sie nicht gegessen hatte - »und danke, daß du die Tür für mich abgeschlossen hast.« Sie zögerte einen Moment, kam sich seltsam vor, mit einer Toten zu reden, und bekam wieder Angst. Das Licht flackerte, und unter den Schatten sah Hester aus, als bewege sie sich, als könne sie jeden Moment wieder aufstehen. »Ich… ich wollte nur sagen, daß es mir leid tut«, flüsterte Natara weiter. Am liebsten wäre sie aufgestanden und die Treppen hinaufgerannt bis in die Turmspitze, aber sie hatte etwas versprochen, und es war immer noch besser, mit Hester hier unten zu sein, als alleine.
»Hast du den Schlüssel noch?« fragte Natara.
Hester gab keine Antwort. Natara zögerte, sie zu berühren, aber dann hielt sie die Luft an und griff schnell in Hesters Schürzentasche. Falls die Tür nicht abgeschlossen war und Aralee das wußte, war es immer noch besser, wenn der Schlüssel zumindest bei Natara war. Wenn man ihn aber bei Hester fand, würde es Ärger geben, in jedem Fall.
Es war ein Schlüssel in Hesters Kitteltasche, doch Nataras Finger waren so kalt wie er und klamm und konnten ihn nicht richtig fassen. Sie konnte ihr Herz schlagen hören, und sie biß sich auf die Zunge, als sie es versuchte, bis sie ihn endlich in der Hand hielt. Ihre Finger waren ganz taub und wollten ihn erst nicht mehr loslassen, und als sie ihn einstecken wollte, fiel Natara ein, daß ihr Kleid gar keine Taschen hatte. Zitternd schob sie ihn vorne in ihren Ärmel und hielt die Fackel mit der Hand so, daß er nicht herausfallen konnte. Kalt und hart drückte sich der Schlüssel gegen ihren Unterarm. Und er wollte nicht wärmer werden, auch in der langen, langen Zeit nicht, die Natara unten auf der Treppe wartete, bis Aralee endlich zurückkam.
Sie traute sich nicht mehr, noch einmal etwas zu sagen, hatte Angst, daß man ihre Stimme im ganzen Schloß würde hören können. Lauschend wartete Natara auf Geräusche, die von oben kamen, auf den beruhigenden Klang von Schritten, als ihre Fackel wild zu flackern begann, seltsame Bilder an die Wände warf, nur um gleich darauf zu verlöschen und Natara im Dunkeln zurückzulassen. Es verging ein Moment, bis sie anfing, wirklich Angst zu haben, und dieser Moment war es, in dem Natara auffiel, was ihr hier unten so seltsam und falsch vorkam: Daß Hester hier lag, wo sie nie hätte sein dürfen, tief unten, in pechschwarzer Finsternis - und das, ohne eine Fackel mitgebracht zu haben.

Keine drei Tage war es her, daß Natara zuletzt durch die Straßen von Koristir gelaufen war, und doch fühlte sie sich wie etwas, das noch nie hier gewesen war, das dort nicht hingehörte. Damals war sie nur scheu hinter Aralee hergelaufen, nun hielt sie ihre Hand umklammert, aber damals wie heute getraute sie sich nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Aber Aralee redete.
»Ich hoffe, die Totenmagd ist zuhause«, sagte sie. »Zum Glück ist der Winter vorbei. Wir hatten immer unsere eigene Totenmagd, oben im Schloß, aber nun ist sie fort, und ich habe noch keine neue angefordert, ich wollte warten, bis sich die Wogen geglättet hatten. Ich habe nicht geglaubt, daß wir so schnell wieder einen Tod im Schloß haben würden.«
Natara fragte nicht, was mit der alten Totenmagd passiert war, auch wenn sie es gerne gewußt hätte. Oder, wo Totenmägde herkamen, daß man sie bestellen konnte wie frisches Wasser oder einen Klotz Eis für den Keller. Aber sie war dankbar, daß Aralee sie mitgenommen hatte, daß sie bei ihr sein durfte und nicht noch einmal allein bleiben mußte. Sie drückte ihre Hand gegen ihren Körper, als hätte sie sich verletzt, damit der Schlüssel nicht herausfallen konnte, und hoffte, daß Aralee es nicht merkte. Aber Aralee war weit davon entfernt, auf solche Kleinigkeiten zu achten.
Das Haus, vor dem sie anhielten, war schmal und hoch, so eng zwischen die Nachbarhäuser gedrängt, daß es schien, als wolle es vor ihnen zurückweichen, denn es lag ein wenig nach hinten versetzt. In diesem Viertel wohnten arme Leute, und Natara hätte nicht erwartet, hier das Heim einer Totenmagd zu finden. Totenmägde waren bedeutende Menschen, nicht so wichtig wie der Richter oder der Bürgermeister, aber da sie die Macht hatten, über Leben und Tod zu entscheiden, konnten sie doch nicht arm sein!
»Hier?« fragte Natara darum erstaunt, als Aralee, mit leichtem Nicken die Häuser abzählend, gegen die Tür pochte. Einen Klingelzug gab es nicht. Aralee nickte ihr zu, und dann warteten sie, klopften nochmals.
»Vielleicht ist sie nicht da?« fragte Natara und hoffte es. Sie konnte sich noch gut an die Totenmagd erinnern, eine großgewachsene, hagere Frau mit grauem Haar und unerbittlichen grauen Augen, die gekommen war, um ohne ein Wort Nataras kleinen Bruder mitzunehmen. Komische Vorstellung, daß es mehr als eine solche Frau geben sollte, daß irgend eine Frau freiwillig Totenmagd wurde.
Aralee klopfte ein drittes Mal, und endlich wurde die Tür geöffnet, nur einen Spalt breit.
»Sie ist nicht da«, sagte eine leise Frauenstimme.
»Wir werden warten«, erwiderte Aralee. »Dürfen wir hereinkommen?« Warum sagte sie nicht, daß es dringend war? Daß sie die Königswitwe war? Warum befahl sie nicht, die Tür aufzumachen? Aber Aralee war ganz höflich und zurückhaltend.
»Es tut mir leid«, sagte die Stimme. »Ich kann Euch nicht einlassen.«
Natara blickte Aralee irritiert an. Aralee blickte nicht minder irritiert zurück, dann drehte sie sich wieder zur Tür. Hinter dem Spalt war es dunkel, wer dahinter stand, nicht zu erkennen.
»Das geht nicht an.« Aralees Stimme war laut, aber ruhig. »Die Tür einer Totenmagd darf nicht verschlossen sein vor denen, die ihre Hilfe brauchen. Niemals.«
Die Tür öffnete sich mit einem Geräusch, das wie ein Seufzen klang. Zu ihrem großen Erstaunen sah sich Natara einer Totenmagd gegenüber, einer anderen als der, die sie erwartet hatte, doch auch diese hatte graues Haar, ohne alt zu sein, und trug ein graues Kleid. Natara wollte fragen, wie es kam, daß es hier zwei Totenmägde gab, daß die Totenmagd die Tür nicht hatte öffnen wollen. Aber dann sah sie Aralees Gesicht. Nicht einmal, als sie Hester auf der Treppe fanden, war Aralee derart fassungslos gewesen.
Sie sagte nur ein einziges Wort: »Du.« Plötzlich sah sie nicht mehr so bewunderungswürdig aus, und auch nicht mehr furchteinflößend. Natara blickte zwischen den Frauen hin und her, unsicher, ob es ihr jetzt erlaubt war, den Hausflur zu betreten, auch wenn Aralee sich nicht rührte. Es war Aralee, die zuerst wegschaute, aber Natara konnte es ihr nicht verdenken. Sie wollte auch nicht lange einer Totenmagd in die Augen sehen. Dann wandte sich die Graugekleidete ab und trat beiseite.
»Aber Ihr wolltet doch hereinkommen.« Ihre Stimme war sehr leise und freundlich, indem sie nicht unfreundlich war.
»Was tust du hier?« fragte Aralee mit fremder Schärfe. »Ich hatte dir aufgetragen, meinem Sohn zu helfen.«
»Eurem Sohn zu dienen«, sagte die Totenmagd. »Doch ich kann es erklären. Kommt herein.«
Nur zögerlich betrat Natara hinter Aralee das Haus. Sie wußte, sie war hier fehl am Platz, daß zwischen den beiden Frauen etwas Privates vorgefallen sein mußte, das sie nichts anging. Aber sie wollte auch nicht allein zurückbleiben, nicht auf einer Straße wie dieser, nicht in ihrem besten Kleid. Sie fand sich in einer Stube wieder, die Wände nicht einmal gekalkt, sondern mit Lehm verschmiert. Ein hölzerner Tisch, Stühle, sonst nichts, nicht einmal Bilder an den Wänden.
»Setzt Euch«, sagte die Totenmagd. »Ich war bei Eurem Sohn. Ich habe ihm meine Dienste nach bester Kraft angeboten, aber er hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er meiner nicht bedarf. Darum bin ich hierher zurückgekehrt. Ins Schloß kann ich nicht zurück, nicht nach dem, was geschehen ist.«
Aralee nickte, dann griff sie über den Tisch und nahm die Hand der Totenmagd. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte mir denken müssen, daß es so kommen würde. Ich kenne meinen Sohn. Ich sollte dir keine Vorwürfe machen. Du hast genug durchgestanden.«
Die Totenmagd blickte sie mißtrauisch an. »Seid Ihr darum gekommen - um Euch zu entschuldigen? Oder wollt Ihr mich an den Hof zurückholen?«
Aralee hob beschwichtigend eine Hand, ohne mit der anderen die Totenmagd loszulassen. »Das kann ich nicht von dir verlangen, auch wenn sich die Wogen wieder geglättet haben und Ruhe herrscht in Korisanders Hallen. Nein, ich bin nicht deinetwegen hier, Lyda. Aber es hat einen Unfall gegeben - einen sehr tragischen Unfall. Wir brauchen eine Totenmagd.«
Lyda rührte sich nicht, und einen Moment lang herrschte vollkommene Stille. Dann fragte die Totenmagd: »Wer?«
»Eine meiner zogen, Hester. Ein Mädchen von vierzehn Jahren. Sie ist die Kellertreppe hinuntergestürzt.«
Auch die Totenmagd fragte nicht, was eine Zofe allein im Keller zu suchen hatte. Sie sagte nur: »Ich kannte sie.«
Jetzt trat ein müdes Lächeln in Aralees Gesicht. »Es war schwer, Hester nicht zu kennen. Jeder mochte sie. Es ist ein Jammer, daß sie so früh sterben mußte. Sie war die letzte aus ihrer Familie.«
»Es wird noch eine Weile dauern, bis Naella zurückkommt«, sagte Lyda. »Ich werde mit Euch gehen.«
»Solange ich in deiner Nähe bin, wird dir niemand etwas tun«, versprach Aralee. »Und auch danach nicht. Das Schloß braucht wieder eine Totenmagd.«
»Ihr habt mich von meinem Beruf losgesprochen«, erwiderte Lyda. »Die Männer am Hof haben mich nur angegriffen, aber Ihr wart es, die gesagt habt, daß ich keine Totenmagd mehr bin.«
Natara, welche die ganze Zeit über Lyda nur fasziniert angestarrt hatte, bemerkte nun erstmalig Spuren von Zorn in diesen Augen, die so ruhig waren und so tief, wie sie es noch niemals zuvor gesehen hatte. Es war ein ähnlich fesselndes Gefühl wie damals, als sie Alexander in die Augen hatte blicken dürfen, aber es war angenehmer. Die Augen der Totenmagd waren das Gegenteil von bedrohlich. Aber nun strahlten sie ein Schweigen aus, das schwer wog und schmerzte.
»Das habe ich gesagt«, murmelte Aralee schließlich. »Aber es lag nie in meiner Macht, eine Totenmagd von ihrem Amt zu trennen, von ihrer Berufung. Verzeih mir.«
»Wir können nicht verzeihen«, erwiderte Lyda, aber der Zorn verschwand aus ihren Augen. »Wir richten nicht, und wir vergeben nicht. Und wir können niemals aufhören, Totenmägde zu sein. So werden wir geboren, und so sterben wir. Ebenso wie Euer Sohn niemals aufhören wird, ein Engelsgeborener zu sein, auch wenn er vielleicht niemals eine Krone tragen wird.« Sie stand auf. »Aber meine Welt ist die der Toten, nicht der Worte. Hester braucht mich jetzt.« ‘Ihr nicht’, sagten ihre Augen, aber sie sprach es nicht aus. Noch bevor sie das kleine Zimmer betraten, in dem Hester aufgebahrt lag, war Totenmagd in Schweigen verfallen.

Mehr und mehr fühlte sich Natara, als sei die Welt, in der sie an diesem Morgen aufgewacht war, nicht die, in der sie sich schlafen gelegt hatte, so seltsam erschien ihr alles um sich herum. Nicht nur fremd - fremd war für Natara alles, was im Schloß geschah - aber falsch. Hester war mit einem Mal tot, und Aralee merkwürdig, aber am meisten wunderte sich Natara über sich selbst.
Vielleicht war die Welt die gleiche geblieben, nur Natara plötzlich eine andere. Mit fast schon so etwas wie Neugier sah sie der Totenmagd zu, wie sie Hester auszog und wusch und mit schimmerndem Öl einrieb, nicht nur, weil Aralee ihr aufgetragen hatte, dabei zu sein.
»Du hast heute so viel Schlimmes gesehen. Ich hätte dich nie mit der Toten dort unten allein lassen dürfen. Jetzt sollst du sehen, wie es weitergeht. Die Totenmägde nehmen dem Tod so viel von seinem Schrecken. Du wirst sehen, es ist nicht anders, als wenn eine Mutter ihr Kind auf eine Reise schickt.«
Natara nickte nur. Es war schon lange her, daß sie zuletzt etwas gesagt hatte, aber sie vermißte die Wörter nicht. So konnte sie sich zumindest nicht verraten. Sie versuchte sich vorzustellen, daß Hester nur auf einer Reise war, daß sie ihren Körper verlassen hatte wie Natara ihr Elternhaus, um einem fremden Ort etwas Neues zu erleben. Eine Mutter schickte ihr Kind auf eine Reise… Plötzlich mußte Natara daran denken, daß auch Aralee eine Mutter war. Plötzlich sah Hester, die so weiß auf einem weißen Tuch lag, aus wie der Engelsgeborene Alexander, und neben ihm kniete nicht mehr Lyda, sondern Aralee im Gewand einer Totenmagd, und ruhig, ohne eine Träne zu vergießen, strich sie ihrem Sohn über das Gesicht. Natara biß sich auf die Knöchel, um nicht vor Schreck zu schreien, um den Traum zu vertreiben.
Die Totenmagd blickte von ihrer Arbeit - von Hester - auf und zu Natara hinüber, und plötzlich, ohne daß man sagen konnte woher sie kamen in dieser mit Schweigen gefüllten Kammer, waren die Worte wieder da.
»Es tut mir leid«, flüsterte Natara. »Ich wollte Euch nicht stören.«
Die Totenmagd schüttelte den Kopf und stand auf, kam auf Natara zu und ergriff ihre Hände, nur einen Moment lang, aber es reichte aus, um Natara dieses Gefühl des Fremdseins zu nehmen. Plötzlich drängte alles aus ihr heraus: Die Tür und der Schlüssel und daß sie Hester die Nilomaran an den Hals gewünscht hatte und das Dunkel im Keller… Und dann hörte sie sich das sagen, was vorher noch nicht einmal ihr Kopf sich getraut hatte, zu Wörtern zu machen.
»Sie ist nicht die Kellertreppe hinuntergefallen«, sagte sie. »Jemand hat sie gestoßen. Niemand geht so tief in den Keller, ohne ein Licht mitzunehmen. Aber Hester hatte kein Licht. Ich habe danach gesucht, aber es war keines da. Also muß jemand bei ihr gewesen sein, der eine Lampe hatte. Und wenn Hester dann die Treppe nur hinuntergefallen wäre, hätte er ihr doch geholfen, oder? Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand so etwas Böses tun würde!« Das war gelogen. Sie hatte gelernt, sich das vorzustellen. Aber sie wünschte sich, sie könne es nicht.
Die Totenmagd blickte Natara scharf an. Sie sagte kein Wort, aber ihre Augen sprachen eine deutliche Sprache, nicht von Ärger oder Unglauben, sondern von Sorge. Sie blickte zur Tür hinüber, doch die war verschlossen. Dann beugte sie sich zu Natara hinunter, legte erst einen Finger auf ihren eigenen, dann auf Nataras Mund. Natara begriff.
»Ich soll niemandem etwas davon verraten?« Lyda nickte. »Überhaupt niemandem? Nicht einmal meinen Eltern oder Aralee?« Wieder nickte die Totenmagd, ihr Gesicht ernst. Natara fühlte, wie ihr Vertrauen in diese Frau wuchs, gerade weil sie nichts sagte. Sie mußte schweigen, weil es ihr Beruf war, aber wie eine Tänzerin konnte sie mit ihrem Gesicht, mit ihrem Körper so vieles sagen, und weil sie selbst eine Tänzerin war, konnte Natara sie verstehen.
Sie zögerte einen Moment. Dann schüttelte sie den Schlüssel aus ihrem Ärmel in ihre Handfläche. Im Keller hatte sie ihn nicht angesehen, nur hastig eingesteckt. Jetzt kam er ihr vor, als wäre er kleiner als der Schlüssel, den sie gestern Hester gegeben hatte, und blanker gerieben, und sie konnte nicht sagen, ob es derselbe Schlüssel war. Aber sie hielt ihn der Totenmagd hin.
»Den hatte Hester in ihrer Tasche. Ich habe ihn ihr weggenommen, weil ich dachte…« Sie brach ab und sah zu dem Häuflein hinüber, das Hesters zusammengefaltete Sachen waren. »Wenn ich ihn zurückgebe, und es ist der falsche, muß ich erzählen, woher ich ihn habe, und vielleicht bin ich dann auch in… in Gefahr.«
Die Totenmagd nickte und griff nach dem Schlüssel. Als sich ihre Hände berührten, merkte Natara, daß Lydas Hände nun viel, viel kälter waren als zuvor, klamm wie ihre eigenen.
»Vielleicht können wir ihn einfach in Hesters Tasche zurückstecken«, schlug Natara leise vor. »Ich will ihn nicht, und er gehört ihr doch irgendwie. Man darf den Toten nichts wegnehmen.«
Lyda hielt den Schlüssel einen Moment lang auf ihrer Handfläche vor sich. Dann schüttelte sie den Kopf und schob den Schlüssel in eine Falte, die auch eine verborgene Tasche sein konnte, ihres Gewandes. Natara widersprach ihr nicht. Was die Totenmagd tat, mußte richtig sein.
»Werdet Ihr darauf aufpassen?« fragte sie trotzdem, nur zur Sicherheit. »Und auf sie auch?« Sie blickte zu Hester hinüber.
Lyda nickte. Dann ergriff sie mit beiden Händen zwei Ecken des Tuches, auf dem Hester lag, und legte sie über den Körper des toten Mädchens, nahm die beiden anderen und tat mit ihnen das gleiche. Natara sah in einem Schälchen auf dem Boden eine Nadel liegen, und eine Schere, und Faden, und erst in diesem Moment begriff sie, daß Hester wirklich tot, daß Hester für immer fort war, daß sie sich niemals wiedersehen würden.
Als damals ihr kleiner Bruder starb, hatte sie noch nicht gewußt, was das bedeutete und wie man trauerte, daß es etwas anderes hieß, als traurig zu sein, aber sie hatte geweint, weil alle anderen auch weinten und das von ihr erwarteten. Jetzt weinte sie anders, richtig, sie wollte es nicht, aber ein Kloß stieg in ihrer Kehle auf, als sie daran dachte, wie Hester vor dem Portrait des toten Königs kniete, und dann, als sie begriff, daß man nirgends im Schloß ein Bild von Hester aufhängen würde, daß es bestimmt nicht einmal ein Bild von Hester gab - barst er.
Lyda ließ ihre Arbeit ruhen und legte Natara einen Arm um die Schultern, ließ sie sich anlehnen und hielt sie, und sie gab ihr ein sauberes Stück Stoff, um ihre Nase zu putzen. Als Natara sich endlich die Tränen aus den Augen rieb, sah sie die Totenmagd erleichtert lächeln.
»Danke«, flüsterte Natara, und: »Ich möchte jetzt lieber gehen.« Sie wollte nicht sehen, wie Hester für immer in einem Tuch verschwand, und sie wollte nicht dabei sein, wenn man die Tote in den Nilomar warf. Lyda ließ sie gehen, bedeutete ihr mit keiner Geste zu bleiben, sondern senkte nur den Kopf und wandte sich wieder Hester zu, kniete nieder, um ihre Nadel einzufädeln. Aber als Natara sich, mit dem Türknauf in der Hand noch einmal zu der Totenmagd umdrehte, blickte diese auf, lächelte, und legte dann wie zufällig ihre Hand auf jene Stelle ihres Gewandes, die den Schlüssel barg. Natara fühlte sich erleichtert, als sie im Flur stand - zumindest für den Augenblick, bevor Aralee in den Flur einbog.
Schon spürte Natara wieder das Drücken ihres Geheimnisses, die Angst, daß Aralee alles wußte und nun enttäuscht war, nicht wegen dem, was Natara getan hatte, sondern ihrem Mangel an Vertrauen. Und wenn sie Aralee nicht mehr trauen durfte - wem dann noch?
Aber Aralee hatte ganz andere Sachen im Sinn. »Ich sehe, daß du endlich geweint hast«, sagte sie freundlich. »Das ist gut. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Aber jetzt komm. Ich habe Bücher für dich hinaufkommen lassen - du mußt nie wieder in den Keller. Und jetzt komm mit. Es ist an der Zeit, daß du lesen lernst.«

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