Dreizehntes Kapitel

Halan erwachte mit der Erinnerung an einen seltsamen Traum, und das allein war schon merkwürdig, denn normalerweise hielten seine Träume nicht lang genug bis zum Aufwachen. Er fühlte sich schläfrig, hing auf der Schwelle zwischen Traum und Wachen und wunderte sich über sich selbst. Neblige Schwaden seines Traumes zogen noch immer durch seinen Kopf, wurden immer klarer, statt zu verblassen - und erst dann begriff Halan, daß das Bett, in dem er lag, nicht sein eigenes war. Das Kissen roch nach Anders. Die Decken rochen nach Anders. Und Anders, der neben Halan lag, roch so sehr nach Anders, daß Halan ganz schwindelig wurde.
So vorsichtig wie möglich rutschte Halan zur Bettkante hinüber, leise, um Anders nicht aufzuwecken. Dann schlich er auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Andres drehte sich um, murmelte etwas im Schlaf, doch er wachte nicht auf. Halan schlich rückwärts zur Tür, konnte den Blick nicht von Anders abwenden, dem zerwühlten schwarzen Haar auf dem weißen Kissen, dem glänzenden, im Schlaf entspanntem Gesicht. Er wußte, daß, wenn Anders wach war und es bemerkte, er ihn nicht mehr würde ansehen können.
Dann stieß er mit den Beinen gegen den längst kalten Badezuber. Es schepperte dumpf, und Halan sich gerade noch an der Wanne festhalten, bevor er auf dem rausgeschwappten Wasser ausrutschte. Seinen Oberschenkel, an dem er sicher einen prächtigen und in jedem Fall schmerzhaften Bluterguß bekommen würde, reibend, erreichte Halan die Tür. Jetzt beobachtete er Anders ängstlich. War er von dem Lärm wach geworden?
Anders murmelte und grummelte. »Ach, laß mir auch noch was von der Decke, ich liege ja bald im Freien!«
Erleichtert glitt Halan durch die Tür, durchquerte den Salon und kroch in seinem Schlafzimmer in sein eigenes Bett, wo er vergeblich Schlaf zu finden suchte, bis unaufhaltbar das Licht des Morgens durch die Fenster fiel. Er wollte schon aufstehen, sich eilig waschen und anziehen, als er hörte, wie sich Schritte, Anders‘ Schritte, seiner Tür näherten. Hastig rollte Halan sich in seine Decke und gab vor zu schlafen, während Anders ohne zu klopfen eintrat.
»Halan?« Anders Stimme klang kläglich. »Wieso bist du weggegangen, ohne etwas zu sagen?«
Halan rührte sich unter seiner Decke, murmelte nur etwas Verschlafenes und sah blinzelnd auf. Da stand Anders, barfuß, im Unterhemd, einige Schritte vom Bett entfernt, und blickte ihn anklagend an.
Halan zögerte einen Moment, bevor er langsam antwortete: »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Er erwartete irgendeinen Ausbruch von Anders, Zorn oder Tränen, aber der Junge blickte ihn nur einen Moment lang reglos an, dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Trotzdem wußte Halan, wie sehr er ihn verletzt hatte, und es tat ihm selbst weh. Aber es ging nicht anders. Es war die einzige Art, wie sie mit dem, was geschehen war, umgehen konnten.
Ruhig wusch Halan sich das Gesicht mit dem kalten Wasser in der Schüssel, was ihn angenehm erfrischte, doch es ließ ihn sich nicht weniger schmutzig fühlen. Er zog sich an und richtete sein Bett, wie er es an jedem Morgen tat, ganz so, als sei nichts gewesen. Dann trat er in den Salon, schob sich einen Sessel ans Fenster und wartete, ganz so, wie er es an jedem Morgen tat, seit sie hier waren, auf eine Nachricht vom König. Es war nichts geschehen. Alles in Ordnung.
Das Frühstück brachte ihnen ein junger Diener, nicht der kleine Davren vom Vortag, aber einer, der ihm ähnelte. An diesem Morgen gab es keine anzüglichen Blicke, nur peinliches Zubodenstarren. Halan wurde heiß vor Scham, als er daran denken mußte, was Davren seinem Herrn wohl erzählt hatte. Es war zu spät. Zu viele in diesem Schloß wußten, was in der Nacht nach den Schaukämpfen vorgefallen war, aber wenn Halan und Anders nun schnell und heimlich abreisten, würden sie die Gerüchte bestätigen, und Koristans Ruf, der Ruf seines Königs, war ein und für alle Mal dahin. Nein, sie mußten bleiben, jetzt erst recht, und lächeln, Würde bewahren, und alles als einen lachhaften Versuch boshafter Verleumdung abtun. Vielleicht konnte er lernen, eines Tages selbst daran zu glauben…
Es war schwer zu frühstücken, ohne Anders in die Augen zu blicken, denn der Junge rückte nah an ihn heran, versuchte immer wieder, ihn wie zufällig zu berühren, aber Halan schob sich immer weiter von ihm weg. Anders sagte nichts, aber ganz offensichtlich wollte er Halan zu einer Stellungnahme provozieren, oder zu… etwas anderem. Doch Halan blieb ruhig, auch wenn er mit jeder Sekunde, die er verstreichen ließ, einen Ausbruch mehr und mehr fürchtete.
Endlich warf Anders seine Gabel beiseite. »Du kannst so tun, als ob du dich an nichts erinnerst, aber wir wissen es besser, also - was ist los
Zu diesem Lächeln mußte Halan sich zwingen. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Du mußt geträumt haben.«
Anders sprang auf. »Nein!« schrie er. »Du lügst! Du lügst mich an! Selbst wenn du nichts mehr von mir wissen willst - das habe ich nicht verdient, daß du mich anlügst!« Er war bleich, und er bebte, doch er rührte sich nicht, versuchte nicht, Halan anzugreifen.
Halan begann zu zittern. Er ertrug diesen Blick nicht mehr, dieses Flehen in Anders’ Augen. Alles verschwamm um ihn herum. Er biß die Lippen zusammen, versuchte die Tränen, die hinausdrängen wollten, zurückzuhalten, aber er wußte, daß er verloren hatte, und Anders wußte es erst recht.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich wollte nicht…«
Anders’ Augen weiteten sich, und er streckte eine Hand aus, um sie zaghaft auf Halans zu legen. Doch Halan zog seine schnell zurück.
»Gestern tut mir leid«, sagte er. »Was gestern passiert ist, meine ich. Ich wollte… das nicht. Ich habe mich gehen lassen. Es darf«, er mußte schlucken, »es darf nie wieder vorkommen.«
Der letzte Rest Farbe wich aus Anders’ Gesicht. »Warum?«
Halan wand sich. »Wir hatten zuviel von diesem Wein getrunken… Es ist einfach über uns gekommen. Aber es… es war falsch, das weißt du, und das weiß ich, und darum wollen wir nicht mehr davon sprechen.«
Er konnte sehen, wie sich Anders’ Haare sträubten, langsam, fast schon eines nach dem anderen - es war ein beunruhigender Anblick, der Schlimmes fürchten ließ. Doch als Anders endlich die Sprache wiederfand, gelang es ihm, ruhig zu bleiben.
»Daß wir den Wein getrunken haben«, die Worte kamen so langsam, daß jedes von ihnen ein Satz hätte sein können, »ändert nichts an dem, was wir füreinander empfinden, weder gestern noch heute. Es hat nur gemacht, daß du deine Gefühle nicht mehr verstecken konntest, nicht vor mir und nicht vor dir. Jetzt kennen wir die Wahrheit. Du mußt sie nicht mehr verbergen.«
Halan schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber er wußte, daß das kindisch war.
»Sprich es aus!« sagte Anders, und jetzt klang er fast bedrohlich. »Gib es zu, dann gebe ich es auch zu!«
Halan schüttelte den Kopf heftiger. »Es ist falsch! Wir dürfen so nicht denken!« Seine Stimme klang fremd und schrill in seinen Ohren, und er merkte, daß er kurz davor stand zu schreien. »Wir sind von einem Blut! Wenn wir das machen« - er scheute sich, der Sache einen Namen zu geben - es war besser, wenn sie keinen hatte - »was wir gestern gemacht haben, sind wir nicht besser als Lorimanders Erben! Wir dürfen uns nicht mit ihnen auf eine Stufe stellen!«
»Halan, du verstehst das nicht! Sie bekommen Kinder mit ihren Cousinen, mit ihren Schwestern. Das tun wir nicht. Das können wir nicht einmal. Wir werden niemals Kinder miteinander haben, also warum -«
»Ich kann nicht«, flüsterte Halan. »Ich kann es wirklich nicht.« Die Tränen kamen zurück, aber er ließ sie nicht zu, zwang sie, dorthin zu gehen, wo der Rest seiner Gefühle lebte, in der Tiefe, wo er vor ihnen sicher war. »Das ist alles. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Mehr willst du dazu nicht sagen«, erwiderte Anders. »Aber wie du willst. Dann kannst du lange warten, bis ich es dir sage.« Er rieb sich die Augen, aus Müdigkeit oder nur als Reflex, denn Halan hatte keine Tränen darin gesehen. »Nein, ich will dir keine Vorwürfe machen. Du bist, wie du bist. Du brauchst mehr Zeit, bis du mit deinen Gefühlen so einfach leben kannst wie ich. Ich darf dich nicht ändern. Entweder du lernst es, oder wir werden uns zu sehr geduldigen Männern entwickeln.«
Halan hatte noch nie gehört, daß Anders sich selbst als Mann bezeichnete, und entgegen allem mußte er lächeln, auch wenn es ihm lieb gewesen wäre, er könnte Anders immer noch als den kleinen Jungen sehen, der er nun nie wieder sein konnte.
Anders erwiderte sein Lächeln. Dann sagte er leise: »Alles, um was ich dich jetzt bitte, ist, daß du bei mir bleibst, Halan. Du bleibst doch bei mir, oder? Ich brauche dich.«
Halan nickte. Er wußte, was Anders jetzt von ihm hören wollte - daß Halan auch ihn zumindest brauchte. Doch Halan sagte es nicht. Er beließ es bei einem Nicken. Und er wußte noch nicht einmal, ob selbst das überhaupt stimmte.
»Danke«, sagte Anders. Er tat Halan leid, aber es mußte so sein. Er würde darüber hinwegkommen. Es waren zu viele unerwartete Dinge geschehen, sie hatten zuviel von dem Leben, an das sie gewöhnt waren, verloren und waren jetzt aufeinander angewiesen, hatten sonst niemanden mehr - ihre Reaktionen, und Halan wollte sich da selbst nicht ausnehmen, waren nur zu verständlich. Anders war jemand, dem man nicht neutral gegenüberstehen konnte, man mußte ihn entweder abgrundtief hassen oder aus ganzem Herzen lieben - so war es immer schon gewesen, und so würde es wohl auch für immer sein, solange Anders nicht aufhörte zu sein, was er war - aber Anders so zu lieben, wie sie es gestern getan hatten, war falsch, war schändlich, und er würde es nie wieder tun. Und wenn es bedeutete, daß er Anders in Zukunft wieder hassen mußte… Halan beschloß, nicht mehr daran zu denken, nicht an Anders, und nicht an die Zukunft.
Anders stand vom Tisch auf, um wie ein geprügelter Hund in sein Zimmer zu schlurfen. Halan war sicher, daß er das mit Absicht machte, um zu zeigen, wie gekränkt er war, daß Halan ihn derart zurückwies, ihn demütigte und verletzte. Das meiste davon war nur gespielt. Anders wußte nicht, wie gut Halan ihn kannte.
Halan lehnte sich zurück, blickte zum Fenster und fragte sich, wie er diesen Tag durchstehen sollte, wenn nicht endlich der ersehnte Bote kam, um ein Treffen mit dem König anzukündigen.
Seine Sorgen waren unbegründet. Der Bote kam.

In Lorimanders Halle ragten keine marmornen Engel bis zur Decke, aber Säulen, zwei Reihen zu vier Stück, die einen luftigen Gang innerhalb des Saales bildeten. Die riesigen Fenster standen weit offen, und so war die Halle nicht nur mit Licht angefüllt, sondern auch von einem stetigen, erstaunlich kühlen Lufthauch durchzogen. Halan war erleichtert - er hatte befürchtet, in seinem schweren Brokatgewand noch mehr unter der Hitze leiden zu müssen als am Vortag. Wieder einmal kam er nicht umhin, die Architektur des Palastes, der ganzen Stadt, zu bewundern. Der Boden, mit schwarzen und weißen Fliesen belegt, glänzte so sehr, daß Halan sich und Anders darin sehen konnte, aber er wollte nicht nach unten blicken. Geradeaus - selbstbewußt und würdevoll, wie Anders.
Am Ende des Säulenganges stand ein Thron, auf dem saß, nur wenige Schritte von ihnen entfernt und endlich in greifbarer Nähe, der König. Diesmal war er wieder voll bekleidet, aber Halan wußte, daß er diesen Mann nach dem, was er gesehen hatte, niemals würde ernst nehmen können. Über seinem Kopf hing, von zwei goldenen Ketten gehalten, das Horn der Stärke. Der Blick, mit dem er Halan und Anders musterte, war neugierig und nicht unfreundlich und ohne jegliches Wissen, wer da vor ihm stand. Halan überlegte schon, ob er mit der Etikette brechen und sich und Anders vorstellen sollte, als sich eine schmale Tür am hinteren Ende des Saales öffnete und Harven von Lomar eintrat, mit schnellen, geraden Schritten und doch ein wenig so, als zöge ihn eine unsichtbare Leine. Ihm folgten zwei jüngere Männer, der eine schmächtig, der andere rund, beide wie auch Harven in prachtvolle, golddurchwirkte Roben aus blauem Brokat gekleidet, deren übermäßiger Prunk sich nur dadurch entschuldigen ließ, daß man den König selbst in juwelenbesetzte Gewänder gesteckt hatte, die aus purem Gold gewebt schienen. Anders kam, wenn er auch sein bestes Staatsgewand trug, um so vieles schlichter daher, daß er Halan leid tat. Natürlich war er unglaublich schön, und von Gold und Edelsteinen umgeben, hätte er nur lächerlich gewirkt - ganz abgesehen davon, daß die königlichen Farben von Koristan Schwarz, Blau und Silber waren - aber wenn es hier um ein Gespräch unter Gleichgestellten ging, schien Anders gerade wichtig genug für den niedersten der Berater.
Die drei Männer traten vor den Thron, verneigten sich kurz und bei weitem nicht tief genug und traten dann hinter den König, wo sie plötzlich, ihres eigenen Prunkes zum Trotz, mit so mit ihrer Umgebung zu verschmelzen schienen, daß Halan sich am liebsten die Augen gerieben hätte vor Erstaunen. Die Köpfe der beiden Unterberater traten zwar hinter der Lehne des Thrones hervor, ihre Münder nah an den Ohren des Königs, ihre Arme auf die Seitenteile gestützt - aber trotzdem fielen sie nicht weiter auf, schienen zum Raum zu gehören wie Möbel, nicht wie Menschen. Der König veränderte seine Haltung, als habe der den geflüsterten Befehl erhalten, gerade zu sitzen. Halan spitzte die Ohren. Er wollte sich nichts von dem, was da vorne gesprochen wurde, und sei es noch so leise, entgehen lassen. Endlich einmal konnte sich seine Gabe, die doch sonst mehr Last war denn Stütze, nützlich erweisen.
Aber bevor das nötig wurde, trat Harven noch einmal vor und ging auf Halan und Alexander zu, sein Lächeln so dünn und falsch wie bei den beiden letzten Gelegenheiten, und genauso siegesgewiß. Er hatte gut lächeln. Halan mochte es sich nur ungern eingestehen, aber tatsächlich war bei den vorangegangenen Begegnungen der Erfolg am Ende immer auf Harvens Seite gewesen.
Harvens knappe Verbeugung war kaum mehr als ein Nicken. »Prinz Alexander… ich sagte doch, ich würde mein Möglichstes tun, um Euch eine Audienz mit dem König zu ermöglichen.«
Halan, der gut daran tat, einen Schritt hinter Anders zu stehen, um ihm so zumindest ein Minimum an Würde zu geben, konnte das Gesicht seines Onkels nicht sehen, aber seine Nackenhaare sprachen Bände. Plötzlich bekam Halan Angst, Angst vor dem, was geschehen mochte, wenn Anders die Demütigung, die er am Morgen durch ihn erfahren hatte, nun am König von Loringaril oder seinen Beratern auslassen würde. Harven war zu gefährlich, er lauerte nur darauf, daß Anders einen Patzer beging, mit dem er sich politisch in die Nähe des Abgrunds brachte. Aber jetzt war es zu spät. Er konnte sich nicht mehr entschuldigen, nicht vor dieser Gruppe.
Anders sagte nur: »Ich danke Euch für Eure Bemühungen, Berater, und ich wünsche Euch, wie auch Euren Begleitern und Eurem König, einen guten Morgen.«
Halan mußte keine Gefühle lesen können, um den unbändigen Zorn in Anders’ Stimme zu fühlen. Ihm entging auch nicht das glitzernde Leuchten in Harvens Augen. Jetzt hatten sie verloren. Endgültig.
»Ja, auch Euch einen guten Morgen«, sagte Harven, leise, aber laut genug. »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht?« Sein Tonfall troff vor Anzüglichkeit. Halan fühlte, wie er unter seiner Schminke errötete.
»Danke, ich kann nicht klagen«, erwiderte Anders. Seine Stimme war wie junges Eis: Kalt, aber dünn und brüchig. Halan wußte, was darunter lag; er sah Anders zittern und wußte, daß sich dieser jeden Augenblick völlig unbeherrscht mit Fäusten auf den königlichen Berater stürzen konnte.
Halan sah Harven etwas breiter lächeln. Der Berater war nicht nur bestens informiert über die Vorgänge der vergangenen Nacht, er wußte auch um Anders’ Temperament; er wollte Anders zu einen Ausbruch verleiten, aber er würde es so anstellen, daß nicht er selbst das Opfer war, sondern sein König… Darauf sollte es hinauslaufen, von Anfang an, und Anders, mochte in ihm zehnmal das Blut des Engels der Weisheit fließen, merkte es nicht, würde geradewegs in die Falle marschieren…
»Es freut mich, daß unsere Gastfreundschaft Euch und Eurem Verwandten derart gut tut, Alexander«, sagte Harven liebenswürdig. »Vielleicht wollt Ihr sie nun erwidern und unserem König, Lorimander von Lorimanders Blute, möge sein Herz ewig schlagen, begrüßen, wie es ihm gebührt?«
In diesem Augenblick begriff Halan, daß es an ihm war, Anders zu retten, oder es zumindest zu versuchen. Wenn er nur schweigend dabei stand, den geduldigen und weisen Chronisten spielte wie immer, wenn ein Konflikt drohte, würde Anders bersten. Er mußte alles riskieren - und er mußte es sofort tun.
Halan trat vor, an Anders und Harven vorbei auf den König zu, ließ sich auf ein Knie sinken und rief auf Elomond: »Es tut mir leid, was ich heute früh gesagt habe. Wir waren glücklich in der letzten Nacht, und nichts daran war Unrecht.« Seine Augen waren auf den König gerichtet, und seine besonders ehrfurchtsvoll klingenden Worte wurden in Lorimanders Richtung gesprochen - doch ihr Sinn in der Sprache der Engel galt allein Anders. Halan betete, daß der König zu dumm war, um ihn zu verstehen, aber Lorimanders Lächeln erschien ehrlich und erfreut. Ohne die Stimme sinken zu lassen, fügte Halan in der Hochsprache hinzu: »Aus einem fremden Land kommen wir, o mächtiger König, Herr über Loringaril und die Stärke, würdiger Nachfahr eines mächtigen Engels, um Euch unsere Hochachtung zu erweisen.« Wieder wechselte Halan ins Elomond: »Ich liebe dich, und ich werde bei dir bleiben, bis der Himmel uns verschlingt, meine Seele.« Er wählte das letzte Wort mit Bedacht: Asamar - Seele - es war möglich, daß dieser Engelsgeborene tatsächlich ein paar Brocken Elomond verstand, und dann mochte dieses Wort darunter sein: Um so glaubwürdiger wirkte dann Halans nächster Satz wie eine Übersetzung des letzten. »Mögen die Elomaran ewig wachen über Eure Seele.«
Es wirkte. Der König beugte sich nach vorne und klatschte in die Hände. »O wunderbar!« rief er.
Halan atmete erleichtert auf. Aber es war nicht Lorimander, den er mit seinen Worten zu gewinnen suchte. Sehr vorsichtig, damit es nicht zu offensichtlich war, drehte er sich zu Anders zum und trat dabei einige Schritte zurück. Sein Blick fiel auf Harven, der mit belustigtem Gesicht betont langsam die Handflächen zusammenschlug. Dann erst traute er sich, Anders’ Gesicht zu begegnen. Er sah in große, weit aufgerissene Augen, in denen nichts zu lesen stand als Leere, große, einsame Leere. Am liebsten hätte er Anders in den Arm genommen und an sich gedrückt, aber natürlich tat er das nicht, denn diese Sprache hätte jeder im Saal verstanden. So traute er sich nur, sich neben Anders zu stellen, so nah, daß er die Wärme seines Körpers spüren konnte, aber ohne ihn zu berühren. Er hoffte, daß es ausreichte, daß Anders seine Gefühle teilen konnte, die in diesem Moment ungeschützt und offen direkt unter der Oberfläche lagen.
Anders sagte nichts. Man konnte ihn nicht einmal atmen hören. Diesmal waren es seine Gefühle, die in der Tiefe vergraben lagen. Aber zumindest sah er nicht mehr aus wie kurz vor einem Ausbruch.
»Sehr schön«, sagte Harven ungerührt. »Und nun - was ist Euer Anliegen an unserem Hof?«
Halan überlegte, ob er nun antworten sollte oder eine Reaktion von Anders abwarten, und hätte am liebsten vorgeschlagen, die eigentliche Unterredung in einen kleineren Raum zu verlegen, wo sie zumindest privater erscheinen würde, weil nicht zehn Schritte zwischen Frage und Antwort lagen - aber gerade da brach jenseits der Tür zur Eingangshalle ein Tumult aus.
Halan runzelte die Stirn. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte, was nun geschehen würde - der König schien so verwundert wie er selbst, die Berater begannen miteinander zu tuscheln, und noch bevor die mächtigen Doppelflügeltüren aufflogen, mit einem Krachen gegen die Wand geschmettert wurden, hatte Harven seinen Weg zurück in den Thronschatten gefunden.
Schwerter klirrten, Eisen auf Eisen, während ein Mann mit schwere Schritten in den Thronsaal trat. Er trug schwarze lederne Hosen, Stiefel und Wams ebenso wie schwärzliche Eisenplatten und einen Helm. Das Gesicht über dem kurzen schwarzen Bart war gerötet - es sah aus wie vor Anstrengung, aber da schnappte Anders an seiner Seite nach Luft, und Halan wollte lieber nicht wissen, was er da gefühlt hatte.
»Lorimander, ich verlange eine Erklärung!« brüllte der Mann, und drohend hob er sein Schwert, als sich ihm königliche Wachen näherten. »Oh nein, ihr werdet mich nicht angreifen, denn wenn noch ein doubladirischer Botschafter durch Loringarils Hände fällt, wird Vigilander seine Armee marschieren lassen, ohne noch eine Frage zu stellen.«
Mit einem Wink beförderte Harven seine Torwächter aus dem Saal. »Sagt, was Ihr zu sagen habt, Ansgar«, sagte er leise und drohend, »und dann verschwindet!«
Halan zuckte zusammen. Zwar hatte er den Schwarzbärtigen noch nie gesehen, zum Glück, aber es gab keinen Zweifel mehr, wer er sein mußte: Doubladir, als einziges Land, verfügte über einen Kriegsbotschafter, und der Name dieses Mannes war Ansgar. Vigilander war der Engel der Rache, Hüter des Schwertes, und vor zwei Wochen hatte man einen seiner Botschafter erschlagen hatte.
»Was hat -«, begann Ansgar mit grollender Stimme, aber weiter kam er nicht. Der König sprang auf.
»Nein!« rief er. »Ich will ihn nicht hören.«
»Aber Majestät«, sagte Harven leise, und daß ließ Halan aufhorchen, denn das bedeutete, daß der König Worte aus seinem eigenen Mund sprach, Worte, die niemand anderes vorher hineingelegt hatte. »Es ist wichtig. Ihr solltet zuhören.«
»Er soll warten«, entgegnete der König. »Erst ist mein Verbündeter an der Reihe.«
Es war nicht klar, wer von den Anwesenden entgeisterter reagierte, aber es war Ansgar, von dem der Ausruf »Was?« kam. Der König ließ sich nicht beirren. Plötzlich wirkte er nicht mehr wie eine Puppe, sondern stolz, sogar würdevoll.
»Mein Verbündeter, Alexander. Wir sind schon lange mit dem Wasser verbündet. Ich werde ihn nicht warten lassen.« Freudig lächelnd, als erwarte er ein Lob, drehte sich Lorimander zu seinen Beratern um. »Das war doch jetzt richtig, oder?«
Harven antwortete nicht, sondern drehte nur vielsagend die Augen nach oben und nickte Ansgar zu. In diesem Augenblick haßte Halan ihn mehr als jemals zuvor. Er hätte normalerweise ohne Zögern Doubladirs Botschafter als Verbündeten und Lorimander als Feind bezeichnet, aber jetzt überlegte er fast, diesen König zu verteidigen. Aber das zu tun hätte bedeutet, ihre Sache zu verraten -
»Lorimander hat Recht«, sagte Anders freundlich. »Euer Anliegen, und ich kann mir denken, welches es ist, mag wichtig sein, aber das meine ist nicht weniger dringend, und ich war vor Euch hier. Also seid so gut und verlaßt diese Halle«, hier wurde seine Stimme lauter, und härter, »und wartet draußen, bis der König und ich zuende gesprochen haben.«
Das, was in Ansgars Augen Anders entgegenfunkelte, wollte Halan nicht Haß nennen, aber er kannte kein anderes Wort dafür. »Welches Spiel Ihr spielt, Alexander, werdet Ihr mir noch erklären. Ich will wissen, was hier vorgeht.«
»Ihr werdet warten«, erwiderte Anders. »Ihr überschätzt euch und Euer Amt, daß Ihr hier aufmarschiert und erwartet, daß jeder Euch erkennt und sich furchtsam hinter den Wandbehängen versteckt, aber Ihr überseht, daß Ihr es hier mit Engelsgeborenen zu tun habt.«
Ansgar hob die Hände und rang sichtlich mit seiner Fassung. Danach sagte er ruhiger: »Eure Geburt bedeutet nichts in diesem Moment, Alexander, solange es darum geht, einen Toten zu rächen.«
Halan konnte sehen, wie Anders’ Zorn zurückkehrte mit einem Schlag. »Ihr wagt es nicht, mir das noch einmal ins Gesicht zu sagen!«
Ansgar achtete nicht auf die Zeichen - er mußte sie wahrnehmen, selbst ein Blinder hätte diese Wut sehen können. »Jetzt schweigt, zumindest solange, bis ich meine Frage gestellt habe - sie betrifft Euch genauso wie mich, und es ist gut, daß ich Euch beide an einem Ort treffe -«
Halan faßte Anders bei den Schultern, zog ihn dicht an sich und hielt ihn fest, hielt seine Arme fest, bevor er sich auf den Berater stürzen konnte, denn das wäre keinen Moment später geschehen. Er traute sich nicht, etwas zu sagen - er fühlte die Augen, die in diesem Moment auf ihm lagen, und es war schlimm genug, daß er wußte, was sie in diesem Moment dachten. Über Anders’ Schulter hinweg blickte er ins Nichts, sah weder den Jungen an noch einen der anderen, aber seine Nähe, seine Wärme spüren in diesem Moment… Halan wußte, daß es falsch war, schlimmer als jeder Fehler, den er in seinem Leben begangen hatte, denn diesmal wußte er es schon von Anfang an besser - aber er fühlte, was er nicht fühlen durfte. Halan schluckte, zwang sich, Anders ganz beiläufig festzuhalten, wie man es tat, um Zusammengehörigkeit auszudrücken, nicht mehr, und nicht weniger, und blickte dann von Harven zu Ansgar. »Zwischen uns soll keine Zwietracht herrschen, Kriegsbotschafter. Alexander und ich haben lange auf die Möglichkeit, mit Lorimander zu reden, gewartet, aber die Fragen, die wir ihm stellen werden, zielen in die gleiche Richtung wie die, welche Euch so sehr auf dem Herzen brennen.« Die Worte entspannten ihn. Halan spürte, wie er ruhiger wurde. »Also akzeptiert, daß Ihr erst als zweiter gekommen seid, aber laßt uns Eure Fragen an Eurer Statt stellen.«
Ansgar lachte mit einer Mischung aus Überraschung und Bitterkeit. »Oh ja, Ihr kennt meine Frage - schließlich wart Ihr selbst dabei, als es geschah, habt das Ganze selbst mitverschuldet, auch wenn Ihr es nicht für nötig gehalten habt, eine Erklärung, geschweige denn ein paar Zeilen des Bedauerns, an meinen König zu senden - also los, stellt meine Fragen!«
Anders brodelte immer noch unter Halans Händen - wenn er keine Gelegenheit zum Ausbrechen bekam, würde er lange so bleiben - aber Halan war ruhig, und ohne den Blick von Ansgar zu nehmen, sagte er: »König Lorimander, ein Mitglied Eurer Familie erschien als Gast zu meines Onkels Krönung, in Begleitung eines Beraters, Ember von Valon. Einen Diener, der mit ihnen kam, aber nicht mit ihnen ging, verdächtigen wir, in Embers Auftrag, oder in Eurem, Harven, Korisanders Krone der Weisheit gestohlen zu haben. Aber es besteht kein Zweifel, Lorimander, daß Euer Verwandter in dieser Nacht grundlos Selmar, den Botschafter von Doubladir, erschlug. Darum sind wir nun hier - um eine Auslieferung der Schuldigen zu fordern. Und da Vigilander seinen Kriegsbotschafter geschickt hat, wißt Ihr, was Euch andernfalls erwartet.«
Ansgar neigte den Kopf. »Ihr habt wohl gesprochen, Harold. Bitte entschuldigt meine etwas zu schroffen Worte. Aber Vigilander hält nichts von Heuchelei, und sei sie um des Blutes Willen.«
Danach herrschte Schweigen. Man hatte dem König noch keine geeignete Antwort eingegeben, und Harven, an dem nun alles hing, schien noch abzuwägen zwischen Lüge und Wahrheit. Noch nie zuvor hatten sie das Gesicht des Beraters so besorgt gesehen.
Harven kam auf sie zu, kopfschüttelnd. »Aber wenn Ihr das sofort bei Eurer Ankunft gesagt hättet, Alexander! Ich kann verstehen, daß Ihr aufgebracht seid, und auch Ihr, Ansgar - aber es so lange herauszuzögern, macht doch alles nur noch schlimmer, denn solange dieses Mißverständnis nicht aus der Welt geschafft ist, laufen die wahren Schuldigen ungestraft herum.«
»Mißverständnis?« Anders schrie dieses Wort nicht, aber er spie es Harven entgegen. »Mißverständnis nennt Ihr das?«
»Bitte«, sagte Harven. Sein Gesicht blieb bekümmert, und doch fehlte nicht mehr viel zu seinem lächeln. »Bitte, laßt mich ausreden. Wir brauchen Ruhe, um diesen Irrtum aufzuklären.« Er machte eine Pause, aber dieses Mal schwieg Anders, seine Muskeln unter Halans Händen hart wie Marmor. »So sehr wir dieses Versäumnis auch bedauern, ist doch kein Mitglied unseres königlichen Hauses bei Eurer so freudlos beendeten Krönung gewesen, Alexander. Und einen Berater mit Namen Ember von Valon hat es an diesem Hof nie gegeben.«
 

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