Halan erwachte mit der Erinnerung an einen seltsamen Traum, und
das allein war schon merkwürdig, denn normalerweise hielten
seine Träume nicht lang genug bis zum Aufwachen. Er
fühlte sich schläfrig, hing auf der Schwelle zwischen
Traum und Wachen und wunderte sich über sich selbst. Neblige
Schwaden seines Traumes zogen noch immer durch seinen Kopf, wurden
immer klarer, statt zu verblassen - und erst dann begriff Halan,
daß das Bett, in dem er lag, nicht sein eigenes war. Das
Kissen roch nach Anders. Die Decken rochen nach Anders. Und Anders,
der neben Halan lag, roch so sehr nach Anders, daß Halan ganz
schwindelig wurde.
So vorsichtig wie möglich rutschte Halan zur Bettkante
hinüber, leise, um Anders nicht aufzuwecken. Dann schlich er
auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Andres drehte sich um, murmelte
etwas im Schlaf, doch er wachte nicht auf. Halan schlich
rückwärts zur Tür, konnte den Blick nicht von Anders
abwenden, dem zerwühlten schwarzen Haar auf dem weißen
Kissen, dem glänzenden, im Schlaf entspanntem Gesicht. Er
wußte, daß, wenn Anders wach war und es bemerkte, er
ihn nicht mehr würde ansehen können.
Dann stieß er mit den Beinen gegen den längst kalten
Badezuber. Es schepperte dumpf, und Halan sich gerade noch an der
Wanne festhalten, bevor er auf dem rausgeschwappten Wasser
ausrutschte. Seinen Oberschenkel, an dem er sicher einen
prächtigen und in jedem Fall schmerzhaften Bluterguß
bekommen würde, reibend, erreichte Halan die Tür. Jetzt
beobachtete er Anders ängstlich. War er von dem Lärm wach
geworden?
Anders murmelte und grummelte. »Ach, laß mir auch noch
was von der Decke, ich liege ja bald im Freien!«
Erleichtert glitt Halan durch die Tür, durchquerte den Salon
und kroch in seinem Schlafzimmer in sein eigenes Bett, wo er
vergeblich Schlaf zu finden suchte, bis unaufhaltbar das Licht des
Morgens durch die Fenster fiel. Er wollte schon aufstehen, sich
eilig waschen und anziehen, als er hörte, wie sich Schritte,
Anders‘ Schritte, seiner Tür näherten. Hastig
rollte Halan sich in seine Decke und gab vor zu schlafen,
während Anders ohne zu klopfen eintrat.
»Halan?« Anders Stimme klang kläglich.
»Wieso bist du weggegangen, ohne etwas zu sagen?«
Halan rührte sich unter seiner Decke, murmelte nur etwas
Verschlafenes und sah blinzelnd auf. Da stand Anders, barfuß,
im Unterhemd, einige Schritte vom Bett entfernt, und blickte ihn
anklagend an.
Halan zögerte einen Moment, bevor er langsam antwortete:
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Er erwartete irgendeinen Ausbruch von Anders, Zorn oder
Tränen, aber der Junge blickte ihn nur einen Moment lang
reglos an, dann drehte er sich um und verließ das Zimmer.
Trotzdem wußte Halan, wie sehr er ihn verletzt hatte, und es
tat ihm selbst weh. Aber es ging nicht anders. Es war die einzige
Art, wie sie mit dem, was geschehen war, umgehen konnten.
Ruhig wusch Halan sich das Gesicht mit dem kalten Wasser in der
Schüssel, was ihn angenehm erfrischte, doch es ließ ihn
sich nicht weniger schmutzig fühlen. Er zog sich an und
richtete sein Bett, wie er es an jedem Morgen tat, ganz so, als sei
nichts gewesen. Dann trat er in den Salon, schob sich einen Sessel
ans Fenster und wartete, ganz so, wie er es an jedem Morgen tat,
seit sie hier waren, auf eine Nachricht vom König. Es war
nichts geschehen. Alles in Ordnung.
Das Frühstück brachte ihnen ein junger Diener, nicht der
kleine Davren vom Vortag, aber einer, der ihm ähnelte. An
diesem Morgen gab es keine anzüglichen Blicke, nur peinliches
Zubodenstarren. Halan wurde heiß vor Scham, als er daran
denken mußte, was Davren seinem Herrn wohl erzählt
hatte. Es war zu spät. Zu viele in diesem Schloß
wußten, was in der Nacht nach den Schaukämpfen
vorgefallen war, aber wenn Halan und Anders nun schnell und
heimlich abreisten, würden sie die Gerüchte
bestätigen, und Koristans Ruf, der Ruf seines Königs, war
ein und für alle Mal dahin. Nein, sie mußten bleiben,
jetzt erst recht, und lächeln, Würde bewahren, und alles
als einen lachhaften Versuch boshafter Verleumdung abtun.
Vielleicht konnte er lernen, eines Tages selbst daran zu
glauben…
Es war schwer zu frühstücken, ohne Anders in die Augen
zu blicken, denn der Junge rückte nah an ihn heran, versuchte
immer wieder, ihn wie zufällig zu berühren, aber Halan
schob sich immer weiter von ihm weg. Anders sagte nichts, aber ganz
offensichtlich wollte er Halan zu einer Stellungnahme provozieren,
oder zu… etwas anderem. Doch Halan blieb ruhig, auch wenn er
mit jeder Sekunde, die er verstreichen ließ, einen Ausbruch
mehr und mehr fürchtete.
Endlich warf Anders seine Gabel beiseite. »Du kannst so tun,
als ob du dich an nichts erinnerst, aber wir wissen es besser, also
- was ist los?«
Zu diesem Lächeln mußte Halan sich zwingen. »Ich
weiß es nicht«, sagte er leise. »Du mußt
geträumt haben.«
Anders sprang auf. »Nein!« schrie er. »Du
lügst! Du lügst mich an! Selbst wenn du nichts mehr von
mir wissen willst - das habe ich nicht verdient, daß du mich
anlügst!« Er war bleich, und er bebte, doch er
rührte sich nicht, versuchte nicht, Halan anzugreifen.
Halan begann zu zittern. Er ertrug diesen Blick nicht mehr, dieses
Flehen in Anders’ Augen. Alles verschwamm um ihn herum. Er
biß die Lippen zusammen, versuchte die Tränen, die
hinausdrängen wollten, zurückzuhalten, aber er
wußte, daß er verloren hatte, und Anders wußte es
erst recht.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich
wollte nicht…«
Anders’ Augen weiteten sich, und er streckte eine Hand aus,
um sie zaghaft auf Halans zu legen. Doch Halan zog seine schnell
zurück.
»Gestern tut mir leid«, sagte er. »Was gestern
passiert ist, meine ich. Ich wollte… das nicht. Ich habe
mich gehen lassen. Es darf«, er mußte schlucken,
»es darf nie wieder vorkommen.«
Der letzte Rest Farbe wich aus Anders’ Gesicht.
»Warum?«
Halan wand sich. »Wir hatten zuviel von diesem Wein
getrunken… Es ist einfach über uns gekommen. Aber
es… es war falsch, das weißt du, und das weiß
ich, und darum wollen wir nicht mehr davon sprechen.«
Er konnte sehen, wie sich Anders’ Haare sträubten,
langsam, fast schon eines nach dem anderen - es war ein
beunruhigender Anblick, der Schlimmes fürchten ließ.
Doch als Anders endlich die Sprache wiederfand, gelang es ihm,
ruhig zu bleiben.
»Daß wir den Wein getrunken haben«, die Worte
kamen so langsam, daß jedes von ihnen ein Satz hätte
sein können, »ändert nichts an dem, was wir
füreinander empfinden, weder gestern noch heute. Es hat nur
gemacht, daß du deine Gefühle nicht mehr verstecken
konntest, nicht vor mir und nicht vor dir. Jetzt kennen wir die
Wahrheit. Du mußt sie nicht mehr verbergen.«
Halan schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte er sich die
Ohren zugehalten, aber er wußte, daß das kindisch
war.
»Sprich es aus!« sagte Anders, und jetzt klang er fast
bedrohlich. »Gib es zu, dann gebe ich es auch zu!«
Halan schüttelte den Kopf heftiger. »Es ist falsch! Wir
dürfen so nicht denken!« Seine Stimme klang fremd und
schrill in seinen Ohren, und er merkte, daß er kurz davor
stand zu schreien. »Wir sind von einem Blut! Wenn wir das
machen« - er scheute sich, der Sache einen Namen zu geben -
es war besser, wenn sie keinen hatte - »was wir gestern
gemacht haben, sind wir nicht besser als Lorimanders Erben! Wir
dürfen uns nicht mit ihnen auf eine Stufe stellen!«
»Halan, du verstehst das nicht! Sie bekommen Kinder mit
ihren Cousinen, mit ihren Schwestern. Das tun wir nicht. Das
können wir nicht einmal. Wir werden niemals Kinder miteinander
haben, also warum -«
»Ich kann nicht«, flüsterte Halan. »Ich
kann es wirklich nicht.« Die Tränen kamen zurück,
aber er ließ sie nicht zu, zwang sie, dorthin zu gehen, wo
der Rest seiner Gefühle lebte, in der Tiefe, wo er vor ihnen
sicher war. »Das ist alles. Mehr kann ich dazu nicht
sagen.«
»Mehr willst du dazu nicht sagen«, erwiderte
Anders. »Aber wie du willst. Dann kannst du lange warten, bis
ich es dir sage.« Er rieb sich die Augen, aus Müdigkeit
oder nur als Reflex, denn Halan hatte keine Tränen darin
gesehen. »Nein, ich will dir keine Vorwürfe machen. Du
bist, wie du bist. Du brauchst mehr Zeit, bis du mit deinen
Gefühlen so einfach leben kannst wie ich. Ich darf dich nicht
ändern. Entweder du lernst es, oder wir werden uns zu sehr
geduldigen Männern entwickeln.«
Halan hatte noch nie gehört, daß Anders sich selbst als
Mann bezeichnete, und entgegen allem mußte er lächeln,
auch wenn es ihm lieb gewesen wäre, er könnte Anders
immer noch als den kleinen Jungen sehen, der er nun nie wieder sein
konnte.
Anders erwiderte sein Lächeln. Dann sagte er leise:
»Alles, um was ich dich jetzt bitte, ist, daß du bei
mir bleibst, Halan. Du bleibst doch bei mir, oder? Ich brauche
dich.«
Halan nickte. Er wußte, was Anders jetzt von ihm hören
wollte - daß Halan auch ihn zumindest brauchte. Doch Halan
sagte es nicht. Er beließ es bei einem Nicken. Und er
wußte noch nicht einmal, ob selbst das überhaupt
stimmte.
»Danke«, sagte Anders. Er tat Halan leid, aber es
mußte so sein. Er würde darüber hinwegkommen. Es
waren zu viele unerwartete Dinge geschehen, sie hatten zuviel von
dem Leben, an das sie gewöhnt waren, verloren und waren jetzt
aufeinander angewiesen, hatten sonst niemanden mehr - ihre
Reaktionen, und Halan wollte sich da selbst nicht ausnehmen, waren
nur zu verständlich. Anders war jemand, dem man nicht neutral
gegenüberstehen konnte, man mußte ihn entweder
abgrundtief hassen oder aus ganzem Herzen lieben - so war es immer
schon gewesen, und so würde es wohl auch für immer sein,
solange Anders nicht aufhörte zu sein, was er war - aber
Anders so zu lieben, wie sie es gestern getan hatten, war falsch,
war schändlich, und er würde es nie wieder tun. Und wenn
es bedeutete, daß er Anders in Zukunft wieder hassen
mußte… Halan beschloß, nicht mehr daran zu
denken, nicht an Anders, und nicht an die Zukunft.
Anders stand vom Tisch auf, um wie ein geprügelter Hund in
sein Zimmer zu schlurfen. Halan war sicher, daß er das mit
Absicht machte, um zu zeigen, wie gekränkt er war, daß
Halan ihn derart zurückwies, ihn demütigte und verletzte.
Das meiste davon war nur gespielt. Anders wußte nicht, wie
gut Halan ihn kannte.
Halan lehnte sich zurück, blickte zum Fenster und fragte
sich, wie er diesen Tag durchstehen sollte, wenn nicht endlich der
ersehnte Bote kam, um ein Treffen mit dem König
anzukündigen.
Seine Sorgen waren unbegründet. Der Bote kam.
In Lorimanders Halle ragten keine marmornen Engel bis zur Decke,
aber Säulen, zwei Reihen zu vier Stück, die einen
luftigen Gang innerhalb des Saales bildeten. Die riesigen Fenster
standen weit offen, und so war die Halle nicht nur mit Licht
angefüllt, sondern auch von einem stetigen, erstaunlich
kühlen Lufthauch durchzogen. Halan war erleichtert - er hatte
befürchtet, in seinem schweren Brokatgewand noch mehr unter
der Hitze leiden zu müssen als am Vortag. Wieder einmal kam er
nicht umhin, die Architektur des Palastes, der ganzen Stadt, zu
bewundern. Der Boden, mit schwarzen und weißen Fliesen
belegt, glänzte so sehr, daß Halan sich und Anders darin
sehen konnte, aber er wollte nicht nach unten blicken. Geradeaus -
selbstbewußt und würdevoll, wie Anders.
Am Ende des Säulenganges stand ein Thron, auf dem saß,
nur wenige Schritte von ihnen entfernt und endlich in greifbarer
Nähe, der König. Diesmal war er wieder voll bekleidet,
aber Halan wußte, daß er diesen Mann nach dem, was er
gesehen hatte, niemals würde ernst nehmen können.
Über seinem Kopf hing, von zwei goldenen Ketten gehalten, das
Horn der Stärke. Der Blick, mit dem er Halan und Anders
musterte, war neugierig und nicht unfreundlich und ohne jegliches
Wissen, wer da vor ihm stand. Halan überlegte schon, ob
er mit der Etikette brechen und sich und Anders vorstellen sollte,
als sich eine schmale Tür am hinteren Ende des Saales
öffnete und Harven von Lomar eintrat, mit schnellen, geraden
Schritten und doch ein wenig so, als zöge ihn eine unsichtbare
Leine. Ihm folgten zwei jüngere Männer, der eine
schmächtig, der andere rund, beide wie auch Harven in
prachtvolle, golddurchwirkte Roben aus blauem Brokat gekleidet,
deren übermäßiger Prunk sich nur dadurch
entschuldigen ließ, daß man den König selbst in
juwelenbesetzte Gewänder gesteckt hatte, die aus purem Gold
gewebt schienen. Anders kam, wenn er auch sein bestes Staatsgewand
trug, um so vieles schlichter daher, daß er Halan leid tat.
Natürlich war er unglaublich schön, und von Gold und
Edelsteinen umgeben, hätte er nur lächerlich gewirkt -
ganz abgesehen davon, daß die königlichen Farben von
Koristan Schwarz, Blau und Silber waren - aber wenn es hier um ein
Gespräch unter Gleichgestellten ging, schien Anders gerade
wichtig genug für den niedersten der Berater.
Die drei Männer traten vor den Thron, verneigten sich kurz
und bei weitem nicht tief genug und traten dann hinter den
König, wo sie plötzlich, ihres eigenen Prunkes zum Trotz,
mit so mit ihrer Umgebung zu verschmelzen schienen, daß Halan
sich am liebsten die Augen gerieben hätte vor Erstaunen. Die
Köpfe der beiden Unterberater traten zwar hinter der Lehne des
Thrones hervor, ihre Münder nah an den Ohren des Königs,
ihre Arme auf die Seitenteile gestützt - aber trotzdem fielen
sie nicht weiter auf, schienen zum Raum zu gehören wie
Möbel, nicht wie Menschen. Der König veränderte
seine Haltung, als habe der den geflüsterten Befehl erhalten,
gerade zu sitzen. Halan spitzte die Ohren. Er wollte sich nichts
von dem, was da vorne gesprochen wurde, und sei es noch so leise,
entgehen lassen. Endlich einmal konnte sich seine Gabe, die doch
sonst mehr Last war denn Stütze, nützlich erweisen.
Aber bevor das nötig wurde, trat Harven noch einmal vor und
ging auf Halan und Alexander zu, sein Lächeln so dünn und
falsch wie bei den beiden letzten Gelegenheiten, und genauso
siegesgewiß. Er hatte gut lächeln. Halan mochte es sich
nur ungern eingestehen, aber tatsächlich war bei den
vorangegangenen Begegnungen der Erfolg am Ende immer auf Harvens
Seite gewesen.
Harvens knappe Verbeugung war kaum mehr als ein Nicken.
»Prinz Alexander… ich sagte doch, ich würde mein
Möglichstes tun, um Euch eine Audienz mit dem König zu
ermöglichen.«
Halan, der gut daran tat, einen Schritt hinter Anders zu stehen,
um ihm so zumindest ein Minimum an Würde zu geben, konnte das
Gesicht seines Onkels nicht sehen, aber seine Nackenhaare sprachen
Bände. Plötzlich bekam Halan Angst, Angst vor dem, was
geschehen mochte, wenn Anders die Demütigung, die er am Morgen
durch ihn erfahren hatte, nun am König von Loringaril oder
seinen Beratern auslassen würde. Harven war zu
gefährlich, er lauerte nur darauf, daß Anders einen
Patzer beging, mit dem er sich politisch in die Nähe des
Abgrunds brachte. Aber jetzt war es zu spät. Er konnte sich
nicht mehr entschuldigen, nicht vor dieser Gruppe.
Anders sagte nur: »Ich danke Euch für Eure
Bemühungen, Berater, und ich wünsche Euch, wie auch Euren
Begleitern und Eurem König, einen guten Morgen.«
Halan mußte keine Gefühle lesen können, um den
unbändigen Zorn in Anders’ Stimme zu fühlen. Ihm
entging auch nicht das glitzernde Leuchten in Harvens Augen. Jetzt
hatten sie verloren. Endgültig.
»Ja, auch Euch einen guten Morgen«, sagte Harven,
leise, aber laut genug. »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme
Nacht?« Sein Tonfall troff vor Anzüglichkeit. Halan
fühlte, wie er unter seiner Schminke errötete.
»Danke, ich kann nicht klagen«, erwiderte Anders.
Seine Stimme war wie junges Eis: Kalt, aber dünn und
brüchig. Halan wußte, was darunter lag; er sah Anders
zittern und wußte, daß sich dieser jeden Augenblick
völlig unbeherrscht mit Fäusten auf den königlichen
Berater stürzen konnte.
Halan sah Harven etwas breiter lächeln. Der Berater war nicht
nur bestens informiert über die Vorgänge der vergangenen
Nacht, er wußte auch um Anders’ Temperament; er wollte
Anders zu einen Ausbruch verleiten, aber er würde es so
anstellen, daß nicht er selbst das Opfer war, sondern sein
König… Darauf sollte es hinauslaufen, von Anfang an,
und Anders, mochte in ihm zehnmal das Blut des Engels der Weisheit
fließen, merkte es nicht, würde geradewegs in die Falle
marschieren…
»Es freut mich, daß unsere Gastfreundschaft Euch und
Eurem Verwandten derart gut tut, Alexander«, sagte Harven
liebenswürdig. »Vielleicht wollt Ihr sie nun erwidern
und unserem König, Lorimander von Lorimanders Blute, möge
sein Herz ewig schlagen, begrüßen, wie es ihm
gebührt?«
In diesem Augenblick begriff Halan, daß es an ihm war,
Anders zu retten, oder es zumindest zu versuchen. Wenn er nur
schweigend dabei stand, den geduldigen und weisen Chronisten
spielte wie immer, wenn ein Konflikt drohte, würde Anders
bersten. Er mußte alles riskieren - und er mußte es
sofort tun.
Halan trat vor, an Anders und Harven vorbei auf den König zu,
ließ sich auf ein Knie sinken und rief auf Elomond: »Es
tut mir leid, was ich heute früh gesagt habe. Wir waren
glücklich in der letzten Nacht, und nichts daran war
Unrecht.« Seine Augen waren auf den König gerichtet, und
seine besonders ehrfurchtsvoll klingenden Worte wurden in
Lorimanders Richtung gesprochen - doch ihr Sinn in der Sprache der
Engel galt allein Anders. Halan betete, daß der König zu
dumm war, um ihn zu verstehen, aber Lorimanders Lächeln
erschien ehrlich und erfreut. Ohne die Stimme sinken zu lassen,
fügte Halan in der Hochsprache hinzu: »Aus einem fremden
Land kommen wir, o mächtiger König, Herr über
Loringaril und die Stärke, würdiger Nachfahr eines
mächtigen Engels, um Euch unsere Hochachtung zu
erweisen.« Wieder wechselte Halan ins Elomond: »Ich
liebe dich, und ich werde bei dir bleiben, bis der Himmel uns
verschlingt, meine Seele.« Er wählte das letzte Wort mit
Bedacht: Asamar - Seele - es war möglich, daß
dieser Engelsgeborene tatsächlich ein paar Brocken Elomond
verstand, und dann mochte dieses Wort darunter sein: Um so
glaubwürdiger wirkte dann Halans nächster Satz wie eine
Übersetzung des letzten. »Mögen die Elomaran ewig
wachen über Eure Seele.«
Es wirkte. Der König beugte sich nach vorne und klatschte in
die Hände. »O wunderbar!« rief er.
Halan atmete erleichtert auf. Aber es war nicht Lorimander, den er
mit seinen Worten zu gewinnen suchte. Sehr vorsichtig, damit es
nicht zu offensichtlich war, drehte er sich zu Anders zum und trat
dabei einige Schritte zurück. Sein Blick fiel auf Harven, der
mit belustigtem Gesicht betont langsam die Handflächen
zusammenschlug. Dann erst traute er sich, Anders’ Gesicht zu
begegnen. Er sah in große, weit aufgerissene Augen, in denen
nichts zu lesen stand als Leere, große, einsame Leere. Am
liebsten hätte er Anders in den Arm genommen und an sich
gedrückt, aber natürlich tat er das nicht, denn diese
Sprache hätte jeder im Saal verstanden. So traute er sich nur,
sich neben Anders zu stellen, so nah, daß er die Wärme
seines Körpers spüren konnte, aber ohne ihn zu
berühren. Er hoffte, daß es ausreichte, daß Anders
seine Gefühle teilen konnte, die in diesem Moment
ungeschützt und offen direkt unter der Oberfläche
lagen.
Anders sagte nichts. Man konnte ihn nicht einmal atmen hören.
Diesmal waren es seine Gefühle, die in der Tiefe vergraben
lagen. Aber zumindest sah er nicht mehr aus wie kurz vor einem
Ausbruch.
»Sehr schön«, sagte Harven ungerührt.
»Und nun - was ist Euer Anliegen an unserem Hof?«
Halan überlegte, ob er nun antworten sollte oder eine
Reaktion von Anders abwarten, und hätte am liebsten
vorgeschlagen, die eigentliche Unterredung in einen kleineren Raum
zu verlegen, wo sie zumindest privater erscheinen würde, weil
nicht zehn Schritte zwischen Frage und Antwort lagen - aber gerade
da brach jenseits der Tür zur Eingangshalle ein Tumult
aus.
Halan runzelte die Stirn. Er fragte sich, was das zu bedeuten
hatte, was nun geschehen würde - der König schien so
verwundert wie er selbst, die Berater begannen miteinander zu
tuscheln, und noch bevor die mächtigen
Doppelflügeltüren aufflogen, mit einem Krachen gegen die
Wand geschmettert wurden, hatte Harven seinen Weg zurück in
den Thronschatten gefunden.
Schwerter klirrten, Eisen auf Eisen, während ein Mann mit
schwere Schritten in den Thronsaal trat. Er trug schwarze lederne
Hosen, Stiefel und Wams ebenso wie schwärzliche Eisenplatten
und einen Helm. Das Gesicht über dem kurzen schwarzen Bart war
gerötet - es sah aus wie vor Anstrengung, aber da schnappte
Anders an seiner Seite nach Luft, und Halan wollte lieber nicht
wissen, was er da gefühlt hatte.
»Lorimander, ich verlange eine Erklärung!«
brüllte der Mann, und drohend hob er sein Schwert, als sich
ihm königliche Wachen näherten. »Oh nein, ihr
werdet mich nicht angreifen, denn wenn noch ein doubladirischer
Botschafter durch Loringarils Hände fällt, wird
Vigilander seine Armee marschieren lassen, ohne noch eine Frage zu
stellen.«
Mit einem Wink beförderte Harven seine Torwächter aus
dem Saal. »Sagt, was Ihr zu sagen habt, Ansgar«, sagte
er leise und drohend, »und dann verschwindet!«
Halan zuckte zusammen. Zwar hatte er den Schwarzbärtigen noch
nie gesehen, zum Glück, aber es gab keinen Zweifel mehr, wer
er sein mußte: Doubladir, als einziges Land, verfügte
über einen Kriegsbotschafter, und der Name dieses Mannes war
Ansgar. Vigilander war der Engel der Rache, Hüter des
Schwertes, und vor zwei Wochen hatte man einen seiner Botschafter
erschlagen hatte.
»Was hat -«, begann Ansgar mit grollender Stimme, aber
weiter kam er nicht. Der König sprang auf.
»Nein!« rief er. »Ich will ihn nicht
hören.«
»Aber Majestät«, sagte Harven leise, und
daß ließ Halan aufhorchen, denn das bedeutete,
daß der König Worte aus seinem eigenen Mund sprach,
Worte, die niemand anderes vorher hineingelegt hatte. »Es ist
wichtig. Ihr solltet zuhören.«
»Er soll warten«, entgegnete der König.
»Erst ist mein Verbündeter an der Reihe.«
Es war nicht klar, wer von den Anwesenden entgeisterter reagierte,
aber es war Ansgar, von dem der Ausruf »Was?«
kam. Der König ließ sich nicht beirren. Plötzlich
wirkte er nicht mehr wie eine Puppe, sondern stolz, sogar
würdevoll.
»Mein Verbündeter, Alexander. Wir sind schon lange mit
dem Wasser verbündet. Ich werde ihn nicht warten
lassen.« Freudig lächelnd, als erwarte er ein Lob,
drehte sich Lorimander zu seinen Beratern um. »Das war doch
jetzt richtig, oder?«
Harven antwortete nicht, sondern drehte nur vielsagend die Augen
nach oben und nickte Ansgar zu. In diesem Augenblick haßte
Halan ihn mehr als jemals zuvor. Er hätte normalerweise ohne
Zögern Doubladirs Botschafter als Verbündeten und
Lorimander als Feind bezeichnet, aber jetzt überlegte er fast,
diesen König zu verteidigen. Aber das zu tun hätte
bedeutet, ihre Sache zu verraten -
»Lorimander hat Recht«, sagte Anders freundlich.
»Euer Anliegen, und ich kann mir denken, welches es ist, mag
wichtig sein, aber das meine ist nicht weniger dringend, und
ich war vor Euch hier. Also seid so gut und verlaßt
diese Halle«, hier wurde seine Stimme lauter, und
härter, »und wartet draußen, bis der König
und ich zuende gesprochen haben.«
Das, was in Ansgars Augen Anders entgegenfunkelte, wollte Halan
nicht Haß nennen, aber er kannte kein anderes Wort
dafür. »Welches Spiel Ihr spielt, Alexander, werdet Ihr
mir noch erklären. Ich will wissen, was hier
vorgeht.«
»Ihr werdet warten«, erwiderte Anders. »Ihr
überschätzt euch und Euer Amt, daß Ihr hier
aufmarschiert und erwartet, daß jeder Euch erkennt und sich
furchtsam hinter den Wandbehängen versteckt, aber Ihr
überseht, daß Ihr es hier mit Engelsgeborenen zu tun
habt.«
Ansgar hob die Hände und rang sichtlich mit seiner Fassung.
Danach sagte er ruhiger: »Eure Geburt bedeutet nichts in
diesem Moment, Alexander, solange es darum geht, einen Toten zu
rächen.«
Halan konnte sehen, wie Anders’ Zorn zurückkehrte mit
einem Schlag. »Ihr wagt es nicht, mir das noch einmal ins
Gesicht zu sagen!«
Ansgar achtete nicht auf die Zeichen - er mußte sie
wahrnehmen, selbst ein Blinder hätte diese Wut sehen
können. »Jetzt schweigt, zumindest solange, bis ich
meine Frage gestellt habe - sie betrifft Euch genauso wie mich, und
es ist gut, daß ich Euch beide an einem Ort treffe
-«
Halan faßte Anders bei den Schultern, zog ihn dicht an sich
und hielt ihn fest, hielt seine Arme fest, bevor er sich auf den
Berater stürzen konnte, denn das wäre keinen Moment
später geschehen. Er traute sich nicht, etwas zu sagen - er
fühlte die Augen, die in diesem Moment auf ihm lagen, und es
war schlimm genug, daß er wußte, was sie in diesem
Moment dachten. Über Anders’ Schulter hinweg blickte er
ins Nichts, sah weder den Jungen an noch einen der anderen, aber
seine Nähe, seine Wärme spüren in diesem
Moment… Halan wußte, daß es falsch war,
schlimmer als jeder Fehler, den er in seinem Leben begangen hatte,
denn diesmal wußte er es schon von Anfang an besser - aber er
fühlte, was er nicht fühlen durfte. Halan schluckte,
zwang sich, Anders ganz beiläufig festzuhalten, wie man es
tat, um Zusammengehörigkeit auszudrücken, nicht mehr, und
nicht weniger, und blickte dann von Harven zu Ansgar.
»Zwischen uns soll keine Zwietracht herrschen,
Kriegsbotschafter. Alexander und ich haben lange auf die
Möglichkeit, mit Lorimander zu reden, gewartet, aber die
Fragen, die wir ihm stellen werden, zielen in die gleiche Richtung
wie die, welche Euch so sehr auf dem Herzen brennen.« Die
Worte entspannten ihn. Halan spürte, wie er ruhiger wurde.
»Also akzeptiert, daß Ihr erst als zweiter gekommen
seid, aber laßt uns Eure Fragen an Eurer Statt
stellen.«
Ansgar lachte mit einer Mischung aus Überraschung und
Bitterkeit. »Oh ja, Ihr kennt meine Frage - schließlich
wart Ihr selbst dabei, als es geschah, habt das Ganze selbst
mitverschuldet, auch wenn Ihr es nicht für nötig gehalten
habt, eine Erklärung, geschweige denn ein paar Zeilen des
Bedauerns, an meinen König zu senden - also los, stellt meine
Fragen!«
Anders brodelte immer noch unter Halans Händen - wenn er
keine Gelegenheit zum Ausbrechen bekam, würde er lange so
bleiben - aber Halan war ruhig, und ohne den Blick von Ansgar zu
nehmen, sagte er: »König Lorimander, ein Mitglied Eurer
Familie erschien als Gast zu meines Onkels Krönung, in
Begleitung eines Beraters, Ember von Valon. Einen Diener, der mit
ihnen kam, aber nicht mit ihnen ging, verdächtigen wir, in
Embers Auftrag, oder in Eurem, Harven, Korisanders Krone der
Weisheit gestohlen zu haben. Aber es besteht kein Zweifel,
Lorimander, daß Euer Verwandter in dieser Nacht grundlos
Selmar, den Botschafter von Doubladir, erschlug. Darum sind wir nun
hier - um eine Auslieferung der Schuldigen zu fordern. Und da
Vigilander seinen Kriegsbotschafter geschickt hat, wißt Ihr,
was Euch andernfalls erwartet.«
Ansgar neigte den Kopf. »Ihr habt wohl gesprochen, Harold.
Bitte entschuldigt meine etwas zu schroffen Worte. Aber Vigilander
hält nichts von Heuchelei, und sei sie um des Blutes
Willen.«
Danach herrschte Schweigen. Man hatte dem König noch keine
geeignete Antwort eingegeben, und Harven, an dem nun alles hing,
schien noch abzuwägen zwischen Lüge und Wahrheit. Noch
nie zuvor hatten sie das Gesicht des Beraters so besorgt
gesehen.
Harven kam auf sie zu, kopfschüttelnd. »Aber wenn Ihr
das sofort bei Eurer Ankunft gesagt hättet, Alexander! Ich
kann verstehen, daß Ihr aufgebracht seid, und auch Ihr,
Ansgar - aber es so lange herauszuzögern, macht doch alles nur
noch schlimmer, denn solange dieses Mißverständnis nicht
aus der Welt geschafft ist, laufen die wahren Schuldigen ungestraft
herum.«
»Mißverständnis?« Anders schrie
dieses Wort nicht, aber er spie es Harven entgegen.
»Mißverständnis nennt Ihr das?«
»Bitte«, sagte Harven. Sein Gesicht blieb
bekümmert, und doch fehlte nicht mehr viel zu seinem
lächeln. »Bitte, laßt mich ausreden. Wir brauchen
Ruhe, um diesen Irrtum aufzuklären.« Er machte eine
Pause, aber dieses Mal schwieg Anders, seine Muskeln unter Halans
Händen hart wie Marmor. »So sehr wir dieses
Versäumnis auch bedauern, ist doch kein Mitglied unseres
königlichen Hauses bei Eurer so freudlos beendeten
Krönung gewesen, Alexander. Und einen Berater mit Namen Ember
von Valon hat es an diesem Hof nie gegeben.«
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