Am Ende sah ich noch nicht einmal das Meer. Viele Berge sah ich,
nahe Berge, die ich erklomm, und ferne Berge, die ich von den
Gipfeln aus erblickte. Doch nie sah ich das Meer, und mir blieb
nichts als das Wissen, daß ich ihm so nah war wie noch nie in
meinem Leben. So ist es immer für mich: Was mir nah ist, ist
mir fern; nicht zum Sehen, nicht zum Anfassen, kurz: Nicht für
mich. Ich bekomme nicht, was ich will, daran bin ich gewöhnt -
aber was will ich?
Ich bin jung, noch, und diese Frage konnte ich immer vor mir
herschieben, wie auch ihre Antwort - plötzlich muß ich
sie mir stellen, und ich muß mich ihr stellen. Was will
ich?
Als ich an jenem Tag vom Berg hinabstieg, ahnte ich nichts von
dem, was in der Zwischenzeit passiert war, aber dem Schicksal ist
es Wurst, ob ein Mensch Bescheid weiß oder nicht. Bis dahin
dachte ich noch, dem Schicksal wäre schlichtweg alles Wurst,
mich eingeschlossen, aber das stimmt nicht. Mich haßt
das Schicksal. Und in diesen Tagen sollte es mir den Beweis
führen.
Nun ist es an der Zeit, das Tal zu verlassen und die Berge mit
ihm, so vieles ist geschehen, seit ich vom Berg hinunterstieg, so
viel Schreckliches - und doch berührte mich von allem am
meisten, daß ich das Meer nicht gesehen hatte. Ich konnte
mich dafür hassen, das ist etwas, worin ich geübt bin,
aber es änderte nichts daran: Ich bin nicht der Herr meines
Herzens; was mir etwas bedeutet und wer nicht, darauf habe ich
keinen Einfluß. Vielleicht ist es aber auch nur viel, viel
einfacher, nur wegen des Meeres bekümmert zu sein. Das Meer
kann man vergessen, das andere nicht. Nichts davon.
Vielleicht will ich mich drücken, vor der Verantwortung, vor
der Schuld, vor der Unschuld, was auch immer. Ich Engel des
Unwissens. Steigt auf einen Berg und läßt die Welt
untergehen… Wenn es darum geht, mich selbst zu beschimpfen,
dann bin ich richtig gut. Dabei mangelt es mir sonst an allen
Tugenden, die einen von Vigilanders Blut auszeichnen sollten: Nicht
stolz genug, nicht ehrgeizig, und vor allem viel zu wenig
rachsüchtig… Wenn ich nicht auch noch so aussähe
wie mein Vater und meine Geschwister, müßte ich
ernsthaft die Ehre und Sittsamkeit meiner Mutter anzweifeln. Aber
wer sagt mir denn, das es nicht in der langen Reihe meiner Ahninnen
eine gegeben hat, die dem Stallburschen näher zugetan war als
ihrem eigenen angetrauten König? Und wer bin ich denn, ihr das
dann vorzuwerfen?
Wenn es nach meinem Vater geht, darf schließlich jeder
Bastarde in die Welt setzen, soviel er will - und wenn er dann
selbst ein Bastard wäre, geschähe ihm das nur Recht.
Vigilanders Haus ausgestorben, seine Burg besiedelt von einem
Haufen anmaßender Bastarde - das wäre eine
Auflösung nach meinem Geschmack und paßt auch noch so
gut zu dem restlichen Betrug und den Fälschungen, mit denen
sich mein Haus seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten oder
Jahrhunderten, an der Macht gehalten hat…
Doch was immer ich denke, ich schweige. Ich hänge nicht an
meinem Haus, aber an meinem Hals, und ich will nicht dabei sein,
wenn Doubladirs Volk sich erhebt und sich daran macht, hieb- und
stichfest nachzuprüfen, ob wir auch wirklich von Vigilanders
Blut sind oder zumindest waren, nachdem sie es aus uns
rausgeprügelt haben - ich bin ein Lügenhüter wie
mein Vater. Ob er sich dafür haßt, kann ich nicht sagen
- zumindest es glauben oder mir vorstellen kann ich es jedenfalls
nicht. Das nehme ich ihm gerne ab, ich hasse ihn, hasse ihn schon
seit bald zwanzig Jahren, und mich dazu, wenn auch noch nicht so
lange.
Ich habe keine hohe Meinung von mir - in meinem Herzen werde ich
wohl immer nur ein dickes Kind bleiben. Eigentlich stieg ich auf
all diese Berge nur in der Hoffnung, das dicke Kind
abzuschütteln und irgendwo unterwegs zurückzulassen - das
Meer sollte nur die Belohnung sein und das Zeichen, daß ich
es geschafft hatte. Aber daraus wurde nichts; das Meer habe ich
nicht gesehen, und ein dickes Kind bin ich immer noch.
Natürlich, ich bin schon lange kein Kind mehr, und meine
Statur nennt man jetzt kräftig, oder stattlich, ich bin ein
gutaussehender muskelbepackter Meister mit dem Schwert, aber ich
weiß es besser, und ein dickes Kind bleibt man sein Leben
lang.
Ich habe einmal, ein einziges Mal, einen heiligen Racheeid
geschworen, damals, weil ich glaubte, es wäre meine Pflicht,
heilig wie mein Eid, der Ruf meines Blutes, blah blah blah, und als
ich merkte, daß ich nicht zum Rächer taugte, wurde ich
statt dessen ein dickes Kind. Ich war fünf Jahre alt, und, auf
meine Art, ein schlaues Arschloch - ich konnte einfach in die
Küche marschieren und tun, was immer ich wollte, mir vor allen
Köchen ein Stück Braten schnappen und in den Mund
schieben - was wollten sie tun, um mich zu hindern?
»Mein Vater hat uns einen Bastard ins Haus geholt«,
sagte ich. »Was wollt ihr mir dann verbieten?« Sprachs,
und aß weiter. Gesetze galten nicht mehr für
unseresgleichen, die Welt war aus den Fugen, und ich aß, was
immer ich bekommen konnte. Erst, weil ich groß und stark
werden wollte, wie mein Bruder und noch stärker, um ein
Schwert zu führen und mich an meinem Vater zu rächen,
oder zumindest, um meine Mutter zu rächen. Wie stellte ich mir
das vor? Wollte ich ihn umbringen? Vatermord ist doch bißchen
arg übertrieben, wenn es um etwas eigentlich so
lächerliches wie Ehebruch oder einen Bastard ging? Aber
übertrieben, das liegt uns eben im Blut, wenn es denn unser
Blut ist… Ich wollte groß und stark werden, und
irgendwann merkte ich, daß ich nirgendwo hinwuchs als in die
Breite, und dann habe ich das mit der Rache wohl aufgegeben und bin
ein dickes Kind geworden. Ein dickes Kind, über das alle
lachen und das niemand ernst nimmt oder gar respektiert - ich war
ein dickes Kind, als Mutter ging.
Meine Geschwister - damit meine ich die beiden, die älter
sind als ich; die anderen beiden zählen nicht: Der Bastard war
immer nur der Bastard und wird es immer bleiben, und wir tun gut
daran, ihn das fühlen zu lassen, er ist ein noch
größeres Arschloch als ich eines bin und noch dazu ein
Schleimscheißer, einer, der sich darauf versteht, sich beim
alten Mann lieb Kind zu machen; und Jaro, unseren Jüngsten,
nahm Mutter mit, als einzigen von uns, weil er doch so klein war
und Vater sich nicht für ihn interessierte - als ob er sich
sonst für einen von uns interessiert hätte! Meine
Geschwister jedenfalls nahmen das Ganze leichter, oder es waren die
ein, zwei Jahre, die sie mir voraus hatten: Jedenfalls wurde keiner
von ihnen dick, nur ich. Sie hänselten mich dafür,
natürlich, aber wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel,
zusammengeschmiedet gegen einen gemeinsamen Feind, der unser Bruder
sein sollte… Wenn ich jetzt daran denke, was daraus geworden
ist, wie das enden mußte, und wer sich am Schluß als
Feind herausstellen sollte - dann kommt mir die Galle hoch.
Geschwister sollen einander nicht hassen, aber was sollten wir tun,
bei einem Vater, der versäumt hatte, uns Freundschaft zu
lehren oder auch nur Liebe? Jetzt ist es zu spät, um noch
irgend etwas zu ändern, um neu anzufangen oder sich zu
entschuldigen, egal wer bei wem - Freunde kann man verlieren, sogar
Brüder, aber Feinde behält man. Wenigstens wußte
ich es diesmal besser, als nochmal Rache zu schwören! Es
reicht, daß ich einmal deswegen dick geworden bin. Und dick
geblieben bin, und in meinem Herzen immer bleiben werde.
Dicke Kinder haben es schwer und zugleich einfach: Alles was
schlimmes geschieht, geschieht, weil sie dick sind. Mutter ging
fort und nahm mich nicht mit, nur Jaro, und ich wußte,
natürlich will sie keinen dicken Sohn haben - was war das
für ein Glück! Was mußten sich mein großer
Bruder fragen, oder Leota? Die waren nicht dick, und doch hatte
Mutter auch sie zurückgelassen… Wer dann dünn ist,
kann die Schuld nur bei sich selbst suchen, muß Angst haben,
nicht geliebt zu werden um seiner selbst Willen, aber der Dicke
wird verachtet, weil er dick ist und aus sonst keinem Grund. Ich
konnte glauben, daß ich ein ganz toller Kerl war, irgendwo
unter meinem schützenden Speckpanzer, klug, gutaussehend,
stark, alles was ich tun muß, ist das Gewicht wieder
loszuwerden… Und das tat ich dann auch, durch hartes
Training und viel Arbeit und weil ich größer wurde - und
es war ein Fehler.
Kaum daß ich nur noch stattlich war, Frauen ins Bett
bekommen konnte und ein Held mit dem Schwert wurde, kamen die
Zweifel, an mir, an meinem Charakter, meinen Fähigkeiten, an
allem. Ich hatte mich besser gefühlt, als ich noch dick war,
zumindest auf gewisse Weise, und so half ich mir mit der
Erkenntnis, daß ich doch in Wahrheit immer dick sein
würde.
Was für ein Unsinn. Letzenendes ist es egal, für was ich
mich verachte, besser wär doch, ich bräuchte es nicht zu
tun. Niemand sollte sich in Selbstmitleid verlieren, solange er
nüchtern ist. Also stieg ich auf Berge.
Und ich wünschte, ich wäre auch auf dem Berg gewesen,
als der Bote kam.
Ob das die Schuld dieses Jungen
war? Nein, das glaube ich nicht. Niemand kann mein Leben ruinieren,
der nicht mit mir verwandt ist. Und das war dieser Junge,
Vigilander sei gepriesen, nicht, obwohl ich es ja fast erwartet
hatte - warum sonst schickte man meine Schwester und mich statt in
den Krieg zum Arsch der Welt, wenn nicht, um den nächsten
väterlichen Bastard aufzusammeln? Ich grollte, knirschte mit
den Zähnen und war bereit, mich meinem Schicksal zu
fügen, in grünbraune Augen unter dunklem Kraushaar zu
blicken und den lieben Bruder spielen zu müssen, doch ein
einziger Blick auf diesen Bengel verriet mir, daß ich zu
Unrecht gebangt hatte: Wir waren nicht verwandt, nicht ein
bißchen. Dieser Junge war dünn - alles an ihm war
dünn, auch wenn er Kraft haben mochte, war nicht klar, wo er
sie hernahm oder hinsteckte. Sein Haar war glatt und wirkte
strähnig, von so unbestimmbarer Farbe, daß man blond
dazu sagen konnte oder schlammfarben - ich tendiere zu aschblond,
aber gebt dem Burschen einen Tag im Badehaus, eh ich mich
entscheiden muß: Als ich ihn das erste Mal sah, hatte er sich
wohl eine Ewigkeit nicht mehr gewaschen, und ich war nicht in der
Stimmung, mich darüber aufzuregen. Eigentlich war ich nicht
einmal in der Stimmung, ihn zu sehen. Ich war in gar keiner
Stimmung für irgendwas.
Seine Terminplanung war beschissen. Wäre er nur zwei, drei
Tage früher angekommen - er hätte seine Familie noch
lebend angetroffen und auch mich in ganz anderer Verfassung, mit
freiem Kopf, und dann hätte er zusammen mit den anderen bei
dem Grubenunglück umkommen können, und ich hätte mir
meine Schwester geschnappt und Hauptmann Mendrion und wäre
heimgeritten, ein Problem weniger, Auftrag ausgeführt, Bursche
tot. Aber nein.
Er hätte auch zwei Tage später kommen können: Dann
wären Leota und ich längst abgereist, und von mir aus
hätte Mendrion sich dann noch mit ihm rumschlagen müssen,
können, dürfen, was auch immer, es wäre nicht mehr
mein Bier gewesen. Aber nein. Wenn es einen Engel der Schlechten
Zeiteinteilung gibt, dann war dieser Varyn sein Nachfahr. Er
mußte ausgerechnet am gleichen Tag ankommen wie der Bote.
Beide am gleichen Tag. Das Schicksal haßt mich.
Eigentlich war ich nicht wild darauf, den Jungen zu treffen -
wirklich, ich hatte andere Dinge im Kopf. Sollte ihn
begrüßen wer mochte, nicht ich; als er ankam, hatte ich
mich mit Leota auf ihrem Zimmer eingeschlossen, und was wir zu
besprechen hatten, ging niemanden etwas an, erst recht nicht diesen
aufdringlichen Hauptmann, der sich da Mendrion schimpft und sich
für einen besseren Freund von mir hält als ich ihn - und
ich wußte, wie sehr es ihn ärgerte, daß ich ihn
nicht einweihen wollte, aber wirklich, das war mir in dem Moment
egal. Ich wußte nicht, was ich machen sollte, und da war
Mendrion in diesem Moment mein allergeringstes Problem.
»Wir haben keine Wahl«, sagte Leota, »und es
gibt auch nichts zu diskutieren - wir satteln die Pferde und reiten
zurück zu Vater, sofort.«
»Morgen«, erwiderte ich. »Laß uns morgen
früh aufbrechen, den Rest vom Tag brauchen wir, um hier die
letzten Sachen zu regeln.« Und gleichzeitig wußte ich,
niemand in diesem Dorf hatte das geringste Interesse, irgendwelche
Sachen mit uns zu regeln. Wenn wir aufgebrochen wären, ohne
unsere Zeche beim Wirt zu bezahlen - an diesem Tag hätte sich
niemand darum geschert. Das ganze Dorf war in eine Starre
verfallen, hatte noch nicht einmal die Zeit gehabt zu erkennen,
welche Wunden das Bergwerksunglück ins Tal gerissen hatte, so
viele Leute auf einen Tag tot, ein Mann, seine Frau, vier Kinder -
und so groß war das Dorf nicht, daß sie den Verlust so
leicht wegstecken konnten. Und war es nicht wieder ein
persönlicher Arschtritt des Schicksals, daß ein Mann
dafür sorgt, daß sein Dorf nicht ausgehoben wird, und
dann sollen ausgerechnet die beiden, die trotzdem mit den Soldaten
gezogen sind, die einzigen Überlebenden seiner Familie sein?
Wirklich, ich kann das Schicksal nicht ausstehen, aber wenigstens
ist es wahrhaftiger als alles, was meine Sippe so treibt!
Leota schüttelte den Kopf. »Mendrion kann sich um alles
kümmern, überhaupt muß er hierbleiben, wir haben
immer noch einen Auftrag zu erfüllen.«
Ich fiel ihr ins Wort. »Es ist dein Auftrag, auf
ausdrücklichen Befehl - Mendrion hat seine Schuld längst
getan, der Rest geht ihn nichts an, da ist es besser du bleibst
hier, ich reite zurück…« Ich wollte nicht,
wirklich nicht, das alles hätte ich so gern auf einen anderen
abgewälzt, aber wenn ich jetzt allein zurück ritt, konnte
ich mir wenigstens Zeit lassen. »Du bleibst hier, schon wegen
der Moral«, redete ich weiter. Moral war etwas, damit konnte
man Leota eigentlich immer packen. »Wie sieht das aus, ein
Tal wird von einem schrecklichen Unglück heimgesucht und
Vigilanders Kinder suchen das Weite?«
Einen Moment lang dachte ich, Leota wollte mich schlagen, aber
auch wenn sie das nicht tat, wußte ich, daß daß
sie mich jetzt haßte. »Wage es nicht!«
flüsterte sie heiser. »Du schlachtest dieses
Unglück nicht aus, nur um dich vor deiner Pflicht zu
drücken.«
Ich konnte nur den Kopf schütteln. In Wirklichkeit war ich
auch nur gelähmt und hilflos wie sie. »Das meine ich
nicht«, murmelte ich. »Es ist nicht - es war nicht
meine Schuld, daß ich nicht da war.« Natürlich war
es meine Schuld, natürlich wußte Leota das - als ob ich
da mit Absicht losgezogen war, um mich zu drücken, wenn der
Berg zusammenbrach! Oder als ob er sonst nicht zusammengebrochen
wäre! Aber Leota war dabeigewesen und ich nicht, und das
verzieh sie mir nicht. Und darum hatte ich kein Recht auf Mitleid
oder Trauer oder sonst irgendetwas, das mit dem
Bergwerksunglück zu tun hatte. In Wirklichkeit hätte ich
den Leuten gerne geholfen, selbst jetzt noch, wo es nichts mehr zu
helfen gab. Aber all das zählte nicht. Ich war nicht da. Wenn
der Engel der Rache mein Vater war, war der Engel der Schlechten
Zeiteinteilung zumindest mein Onkel.
Leotas Gesicht blieb versteinert. Ich hatte sie in dieser Nacht
weinen gesehen, aber da war sie betrunken und nicht sie selbst,
Leota weinte niemals, auch jetzt nicht, sie war nur ernst.
Trotzdem, ich weinte auch nie, nicht einmal im Suff. »Wir
brechen auf«, sagte sie. »Wir haben keine Wahl. Wenn
wir eine hätten…«
»Der Junge ich wichtig«, versuchte ich es ein letztes
Mal. »Vater hätte nie und nimmer gewollt, daß
Mendrion sich allein darum kümmert, dem ist der Bursche schon
mal desertiert…« Der Junge war mir egal in dem Moment,
eigentlich war mir alles egal, sogar der Bote, oder Leota, oder
alles. Ich suchte nur nach Argumenten. »Morgen früh
reite ich los, versprochen, bei Sonnenaufgang, wenn ich wieder
nüchtern bin -« Ich hatte noch nicht einmal mit dem
Trinken angefangen an diesem Tag, aber wenn es eine Pflicht gab,
die ich verstand -
Leota wollte etwas sagen, natürlich, wollte die große
Schwester rauskehren und mir Befehle geben, ich kannte sie, aber
dazu kam sie nicht mehr. Es hämmerte an der Tür.
»Dannen, Leota - macht auf, verdammt!« Es war
Mendrion, und den Fluch hätte ich ihm nur allzu gern
zurückgegeben, was fiel dem Mann ein, uns jetzt zu
stören?
Ich blieb auf der Bettkante sitzen. »Verschwinde,
Mendrion!« rief ich zurück. »Ich hab gesagt,
laß uns allein!« Eigentlich stimmte das nicht, ich
hätte schon gern jemanden zum Reden gehabt, jemand anderes als
Leota, aber dann wieder…
»Ich weiß, ich weiß«, bellte Mendrion
zurück, verärgert oder aufgeregt. »Geht mich nichts
an, was ihr da zu besprechen habt, aber -«
»Aber was?« Leota stapfte zur Tür und riß
den Riegel auf. »Was stört Ihr uns dann?«
Mendrion war rot im Gesicht und außer Atem. »Die
Jungen sind wieder da!« rief er. »Gerade angekommen,
dachte, ihr wollt es wissen, der Schmiedejunge kam damit
an.«
»Der Schmiedejunge?« fragte ich höhnisch.
»Du hast sie also noch nicht mal mit eigenen Augen gesehen
und belästigst uns?« Aber mein Herz hämmerte vor
Aufregung, plötzlich fühlte ich mich wieder lebendig,
aber ich hoffte, daß Leota das nicht so schnell merken
würde.
Mendrion schnaubte. »Hätte ich es euch jetzt nicht als
allererstes gesagt, ihr würdet mir genauso den Kopf
abreißen.«
Er hatte ja Recht, und ich beschloß, daß es an der
Zeit war, die Klausur mit Leota zu beenden. Führte ohnehin zu
nichts mehr; was gesagt werden mußte, war gesagt, und wenn
wir uns schon im Kreis drehen mußten, wollte ich mich dabei
wenigstens betrinken können. Laut sagte ich: »Das trifft
sich gut, denn wir werden morgen früh aufbrechen, so oder so.
Den Jungen nehmen wir mit.«
»Wo ist er denn jetzt?« fragte Leota. »Und
weiß er es schon?«
Mendrion nickte, immer noch im Türrahmen stehend - in mein
Zimmer wäre er schon längst herein gekommen, aber das
hier war Leotas, und er wußte, was sich gehörte.
»Sie sind direkt zu ihrem Elternhaus«, sagte er dumpf.
»Der alte Latar war da mit seiner Frau, Totenwache halten,
die haben es ihnen wohl sagen müssen.« Er sah so
erleichtert aus, wie ich mich in dem Moment fühlte - wirklich,
wer die Totennachricht überbringen mußte, hatte eine
harte Aufgabe. Dem Boten hatte ich ein blaues Auge geschlagen, ich
hoffte, dem alten Bergmann erging es besser.
»Und wie haben sie es aufgenommen?« fragte ich
unnötigerweise.
Mendrion senkte den Blick, vielleicht ertrug er auch meinen nicht.
»Was weiß ich, ich war nicht dabei - schlecht, nehme
ich an, was erwartest du? Das sind zwei Jungen, ein halbes und ein
ganzes Kind, die haben gerade ihre Familie verloren -«
»Bring mich hin«, sagte ich. »Leota, du redest
mit dem Wirt, zahlst unsere Zeche, bereitest alles für unsere
Abreise vor, morgen früh, hörst du, nicht mehr heute, und
ich schau mir den Burschen an.« Es war ungerecht, ich
wußte es, eben hatte ich den Jungen noch zu Leotas alleiniger
Aufgabe erklärt, aber ich durfte mich auch mal umentscheiden,
und ich mußte raus, raus aus dieser engen Kammer.
»Wenn sie nicht längst über alle Berge
sind«, sagte Mendrion. »Gut, der Bengel vom Schmied hat
sie verpetzt, wollte ein paar Groschen dafür, aber die meisten
hier im Dorf stehen auf der Seite der Jungen, die sind längst
gewarnt, daß wir hinter ihnen her sind.«
Ich schüttelte den Kopf. Es tat fast gut, mir Gedanken
über diese Fremden machen zu können. »Die hauen
nicht ab. Nicht, bevor sie sich von ihren Toten verabschiedet
haben.« Mendrion fragte nicht, warum ich mir da so sicher
war, aber ich wußte es, als ob ich den Jungen und seinen
Bruder selbst schon lange kannte. »Und er wird sich nicht
freuen, daß wir ihn so schnell wieder mitnehmen, aber er hat
keine Wahl, und das ist besser so.« Heute waren sie noch
dumpf vor Schmerz, würden alles mit sich machen lassen - die
eigentliche Trauer kam erst später, mit der Besinnung, das
würde Tage brauchen, und dann waren wir lange unterwegs.
»Aber ich schnapp ihn mir, ehe jemand auf die Idee kommt, ihn
bei sich im Haus zu verstecken.«
Dann stand ich auf und Leota mit mir. »Ich komme mit«,
sagte sie.
»Nein!« Es war ein Befehl. Leota sollte sich besser
daran gewöhnen. Im Zweifelsfall mußte sie mir gehorchen.
»Du bleibst hier.«
»Aber -«, sagte Leota, und brach ab. Ihr Blick nannte
mich Arschloch, aber in Anwesenheit des Hauptmanns war sie
befangen. Oder doch froh, mich loszusein? Und überhaupt, sie
war nicht in der Verfassung, ausgerechnet jetzt auf den Jungen zu
treffen.
Ich ging mit Mendrion. »Wenn du weißt, wo er
ist«, sagte ich, »bring mich hin!«
Mendrion blickte sich um, als wir die Treppe hinunterstiegen -
nein, Leota folgte uns nicht. »Sagst du mir jetzt, was
passiert ist?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich entscheide, wann es
dich was angeht.« Jetzt noch nicht. Nicht, solange ich es
selbst noch nicht begriffen hatte, woran ich war. Ich verstand
nicht. Ich wollte nicht verstehen. Und solange das so war, war ich
doch froh um die Abwechslung.
»Wie du meinst«, erwiderte Mendrion. »Wenn es
wichtig ist, erfahre ich es aber noch, oder?«
Ich antwortete nicht. Mehr sagen als ‘Ich will nicht
darüber reden’ konnte ich auch nicht, und dann machte es
keinen Sinn.
»Zuletzt waren sie bei ihrem Elternhaus«, sagte
Mendrion. »Aber ich glaube nicht mal, daß der Junge vom
Schmied selbst da draußen war, er wird es auch nur
gehört haben. Aber weit weg können sie nicht
sein.«
»Wie auch immer«, erwiderte ich. Mendrion hatte mehr
Zeit als ich damit verbracht, die Dorfbevölkerung
kennenzulernen - während ich lieber die Berge erkundete, hatte
er zusammen mit meiner Schwester Nachforschungen angestellt, oder
was sie dafür hielten - am Ende wußten sie auch nur das,
was ich wußte… Ich schlug mir vor die Stirn.
»Jetzt muß ich nochmal zurück, ich habe vergessen,
Leota das mit dem Pferd zu sagen.« Mendrion blickte mich an,
als hätte ich ihn gemeint, und ich seufzte und erklärte
es ihm. »Wir brechen morgen früh auf, Leota muß
sich noch um ein Pferd für den Jungen kümmern - glaubst
du, er kann reiten?«
Mendrion schüttelte den Kopf, vielleicht sollte das ein
‘Nein’ sein, aber was er dabei sagte, war:
»Zwei.«
Ich zwinkerte. »Wie, zwei?«
»Zwei Pferde«, sagte Mendrion. »Eins für
Varyn, und eines für seinen Bruder.«
»Hast du das beschlossen?« fragte ich schroff.
Mendrion lachte, aber nur kurz. »Daß wir den Bruder
mitnehmen?«
Ich nickte. Bis dahin war davon nicht die Rede, zumindest nicht,
wenn ich dabei war - und von Leota kam der Vorschlag nicht.
»Haben wir eine Wahl?« fragte Mendrion. »Die
Jungen haben gerade alles verloren, wenn wir jetzt auch noch die
Brüder trennen -«
»Brüder trennt man besser zu früh als zu
spät!« brach es aus mir heraus, bevor ich die
Wörter zurückhalten konnte. »Ich meine«,
setzte ich schnell hinterher, bevor es zu spät war, »sie
werden sonst aneinanderklammern, und wir werden den Burschen nie
los, wenn wir einmal aus Courblaka raus sind - der Bruder
gehört hier ins Tal, es gibt doch auch bestimmt irgendeinen
Onkel, der ihn aufnimmt, du kannst mir nicht sagen, daß sie
hier nicht alle miteinander verwandt sind…« So redete
ich hilflos vor mich hin und hoffte, Mendrion ausreichend abgelenkt
zu haben, aber er blickte mich nur scharf an, ignorierte den Rest
und fragte eine seiner unangebracht vertraulichen Fragen:
»Ist irgendwas mit einem deiner Brüder?«
Ich konnte ihn nicht ohrfeigen, das wäre schon Antwort zuviel
gewesen. So schnaubte ich nur. »Brüder - glaub mir, ich
kann darauf verzichten, auf jeden einzelnen von ihnen.« Auf
manchen mehr und auf manchen weniger, aber das sagte ich nicht.
Nur: »Und es geht dich nichts an.« Mendrion hatte keine
Brüder, er hätte es sowieso nicht verstanden. Aber ich
hoffte, er würde endlich, endlich, endlich mit dem Fragen
aufhören.
Er zuckte nur die Schultern. »Zwei Pferde«, sagte er.
»Warte, bis du sie siehst, dann verstehst du. Wenn sich Varyn
von irgend jemandem etwas sagen läßt -« Er brach
ab. »Gut, er hört auf mich, vermutlich auch mehr als auf
den Bruder, ich hab ihn mir erzogen, aber das war hart genug. Ich
sage das besser so: Dieser kleine Gaven ist der einzige, der ihn
wirklich gern hat und keine Angst vor ihm. Und so einen werdet ihr
brauchen - weiß ja nicht, was ihr mit Varyn vorhabt, aber ich
stehe nicht als Kindermädchen zur Verfügung.«
Vorhaben? Was sollten wir schon groß vorhaben mit dem
Jungen? Das Einfachste war doch sicher, ihn einzusperren, bevor er
noch irgendwelchen Ärger machen konnte - aber darüber
wollte nicht ich entscheiden müssen. »Ich liefere ihn
bei meinem alten Herren ab«, sagte ich nur. »Der soll
sich dann darum kümmern.« Zu diesem Zeitpunkt dachte ich
ja immer noch, daß wir es in Wirklichkeit mit einem
hundsnormalen Bastard zu tun hatten. »Mir ist es
gleich.« Das war es nicht, und das wußten wir auch
beide - aber ich hatte keine Pläne mit dem Jungen und nicht
mit mir, und selbst wenn ich welche gemacht hätte, im
Zweifelsfall ging mir doch wieder das Schicksal dazwischen, so wie
an diesem Tag. Überhaupt, was sollte ich noch planen - von
jetzt an war mir alles vorherbestimmt.
»Mir kann es gleich sein«, sagte Mendrion,
»solange ich nichts damit zu tun habe. Aber wart es nur ab,
gleich sind wir da, und dann weißt du endlich, von was ich
rede.«
Ich nickte nur. Plötzlich war es mir gar nicht mehr lieb,
Mendrion dabei zu haben - der kannte die Jungen schon, würde
das Reden übernehmen und mich wie einen Trottel aussehen
lassen, wenn ich nicht genau wußte, was ich sagen sollte - da
waren ein paar Jungen, die gerade vom Tod ihrer Familie erfahren
hatten, und wenn mir nach einem nicht zumute war, dann Mitleid. Ich
grinste ärgerlich. Mendrion sollte das wissen. »Kein
Mitleid«, sagte ich. »Überlaß das
Trösten den Leuten hier. Und die beiden müssen auch nicht
wissen, was du alles versucht hast, um ihre Familie zu retten. Sie
werden mich für das letzte Arschloch halten, dann sollen sie
das auch von dir denken.«
Mendrion schnaubte. »Das werden sie schon, keine
Sorge.«
Aber obwohl ich wußte, daß ich noch nie gescheitert
war bei dem Versuch, mich wie ein Hundsfott zu gebärden,
sollte es anders kommen. Denn als wir das Haus erreichten, in dem
einmal eine achtköpfige Bergmannsfamilie gewohnt hatte - acht
Personen, was für eine Vorstellung, und ich hatte so eine
riesige kalte Burg wie Car Lamathul praktisch für mich allein
- war von dem gefürchteten gehaßten geheimnisvollen
Varyn nichts zu sehen. Statt dessen traf ich auf den Jungen, der
sein Bruder sein wollte.
Ich sah keine Ähnlichkeit zu dem, was Mendrion mir
erzählt hatte - nur einen ziemlich kleinen, ziemlich
dürren, ziemlich häßlichen Burschen. Niemand ist
schön, der gerade seine ganze Familie verloren hat, und der
kleine Gaven machte da keine Ausnahme mit roten Augen und dem
naßglänzenden Gesicht von einem, der gerade Rotz und
Wasser heult, aber selbst wenn man das wegdachte, blieben noch eine
breite krumme Nase, die man ihm mindestens einmal gebrochen hatte,
und ein durch und durch schäbiges Aussehen - die
Landstraße hatte ihre Spuren an diesem Jungen hinterlassen,
aber trotzdem war er jeder Zoll sein Vater. Das war das eigentlich
Unangenehme. Ich will diesen Anblick vergessen von seinem Vater mit
dem toten Kind auf dem Arm, wie er an mir vorbeiging bevor er sich
umbrachte und ich ihn gehen ließ, aber in diesem Moment war
alles wieder da. Die gleichen Augen. Die gleiche tote Verzweiflung.
Das gleiche Wissen, das alles vorüber war. Der Anblick eines
Toten, eingesperrt in einem lebenden Körper. Daß der
Junge noch weinen konnte war gut - dann würde er auch
darüber hinweg kommen… Was dachte ich da? Kein Mitleid.
Und auch kein Neid. Ich würde niemanden um seine Tränen
beneiden, nur weil sie mir selbst nicht kommen mochten.
Der Junge war allein im Hof, und er beachtete uns nicht, auch wenn
er in unsere Richtung blickte. Er stand einfach nur da, mitten im
Hof, und heulte. In seinen Händen hielt er eine große
Schaufel, viel zu groß für so einen kleinen Kerl - das
war das eigentlich Herzzerreißende an diesem Anblick, und ich
neige eigentlich nicht wirklich zum Herzzerreißen. So wurde
ich statt dessen wütend, auf diesen Varyn, der ein Bruder sein
wollte und sich doch so schändlich aus dem Staub gemacht hatte
und den Kleinen allein ließ, wo der ihn am dringendsten
gebraucht hätte… Nein, das war kein Mitleid. Das war
Zorn. Zorn auf alle Brüder, die im entscheidenden Moment
verschwinden mußten. Immer dann, wenn man sie am dringendsten
brauchte… Ich schluckte, und dann starrte ich wieder auf den
kleinen Burschen mit der Schaufel, der im Hof stand, als ob er dort
seine ganze Familie mit eigenen Händen begraben wollte. Keinen
einen Spatenstich hatte er getan, wie lang auch immer er dort
stehen mochte. Ich konnte seine Lähmung verstehen. Sie war
meine in diesem Moment.
Ich hätte ihn nicht angesprochen, zu sehr hatte ich seinen
Vater vor Augen, ich hörte mich noch seinen Namen rufen und
zwischen den Bergen ersterben, die Stimme erreichte ihn nicht und
ich beließ es dabei und ließ ihn ziehen, direkt in den
Tod - was immer für eine Last auf Mendrion liegen mochte,
dieses Blut klebte an meinen Händen. Mendrion hatte zumindest
getan, was er konnte, während ich nur meines Weges ging. Wenn
ich an jenem Morgen nicht…
Doch ich wußte es besser, der Bergmann hätte sich
umgebracht, so so so … Aber wenn wir ihn gezwungen
hätten, am Leben zu bleiben, nur bis heute, bis seine
Söhne wiederkehrten - dann wären sie jetzt am Leben, alle
drei, und würden einander Trost spenden. Statt dessen war der
Mann tot, der eine Sohn abgehauen, und der andere hielt eine
Schaufel. Ich stand in seiner Schuld, tiefer als tiefer, aber ich
wollte nicht, daß er das jemals erfuhr.
»Gaven!« rief er, und mir wurde übel, als ich an
meinen Befahl dachte, das Arschloch rauszukehren - konnte er das
jetzt etwa tatsächlich? Mir war gerade alles Hundsfottwesen
vergangen… »Komm her, Gaven! Sofort!« Seine
Stimme war ein hartes Bellen, königlicher Hauptmann durch und
durch.
Aber der Junge hörte es. Ein Zittern durchlief seinen
Körper; er ließ die Schaufel zu Boden fallen, und
ungläubig sah ich ihn dann zu Mendrion hinstürmen, ich
dachte schon an wüste Schläge aus verzweifelten kleinen
Fäusten - doch statt dessen schlang er beide Arme um den Mann
und drückte sich schluchzend an ihn.
Mendrion konnte jetzt eigentlich nur instinktiv reagieren -
entweder wegstoßen, als Hauptmann, oder oder in den Arm
nehmen, als Freund. Oder dastehen wie ein nasser Sack und sich
naßheulen lassen… Aber Mendrion lag wohl doch einiges
an dem Jungen, zuviel, um ihm jetzt eine Ohrfeige, gleich welcher
Art, zu geben. Er klopfte Gaven auf den Rücken - als ob das
die Aufmunterung war, die der jetzt brauchte! Wirklich,
Aufmunterung war in so einer Situation das Letzte! Wenn Mendrion
gleich noch ein ‘Kopf hoch, es wird alles wieder gut’
aussprach, würde er sich solche Prügel
einfangen…
»Reiß dich zusammen!« fuhr ich den völlig
aufgelösten Jungen an. »Und hör auf zu
heulen!«
Einen Moment lang blickte er auf, zeigte mir zwei
haßerfüllte kleine rotschwarze Augen. Haß war gut,
Haß hält einen Mann am Leben, während Trauer ihn
umbringt - aber dann fing der Junge wieder an zu schluchzen.
Immerhin, Mendrion löste die Umarmung und schob das Kind auf
Armeslänge von sich.
»Es ändert nichts!« bellte ich. »Glaubst
du, wenn du nur lang und laut genug flennst, haben die Engel ein
Mitleid und erwecken sie wieder zum Leben? Sie sind tot und bleiben
das auch, du kannst sie nicht zurückbringen. Du kannst nur
versuchen, sie stolz zu machen - und glaubst du, dein Heulen macht
sie stolz?«
Unter Zorn und Tränen fauchte der Junge zurück.
»Halt den Mund! Du hast sie nicht gekannt, was weißt du
schon?« Er schnappte verzweifelt nach Luft. »Und du
kennst mich nicht, und ich kenne dich nicht…«
»Du wirst mich noch kennenlernen«, sagte ich - was
hätte es gebracht, ihn jetzt aufzuklären? ‘Ich bin
der Sohn des Königs, du Wurm, geh gefälligst auf die
Knie’? Nein, dann wäre er ganz verstummt und hätte
sich nicht mehr getraut, mich zu hassen. »Wo ist -«
‘dein Bruder’, hätte ich fast gefragt und
biß mir auf die Zunge. Der Junge hatte mehr als einen Bruder,
und zwei davon lagen nur wenige Schritt entfernt in der Hütte
aufgebahrt und boten keinen schönen Anblick, und ich hoffte,
daß der alte Latar oder seine Frau die Jungen hatten mit der
Wahrheit abfangen und im Freien halten können, bevor sie
nichtsahnend in ein Haus voller Toter traten! »Wo ist
Varyn?« fragte ich.
Gaven spuckte aus, die erste Regung von ihm, bei der man nicht
gleichzeitig heulen konnte. »Weggerannt«, murmelte er
dann und setzte hinterher: »Und das geht keinen was
an!«
»Uns geht es an«, sagte Mendrion, endlich wieder sein
altes ruhiges Selbst, aber jetzt wurde er ja auch nicht mehr
naßgeweint. »Und wenn Varyn abgehauen ist und dich hier
allein gelassen hat, bekommt er jetzt solchen Ärger von mir
-«
»Er kann sich in den Abgrund scheren!« schrie er
Junge. »Es ist mir egal! Und wenn er stirbt!« Er
zitterte, am ganzen am ganzen Körper und die Lippe besonders.
Gleich würde es wieder losgehen. »Er ist nur irgend so
ein blöder alter Bastard - aber meine Familie…«
Und dann, ganz wie ich es geahnt hatte, heulte er wieder los.
»Wo ist Varyn?« fragte ich nochmals, obwohl mir ganz
andere Dinge auf den Lippen lagen - daß der Junge kein Recht
hatte, Varyn einen Bastard zu nennen; wenn, durfte nur ich das, ich
wußte, wie es sich wirklich anfühlte, einen Bastard in
der Familie zu haben, noch dazu als Bruder! Während Gaven mit
Varyn überhaupt nicht verwandt war, kein Stück, der
gleiche Mann hatte sie großgezogen, aber das war auch schon
alles und eigentlich sogar ziemlich viel.
Der Junge schüttelte den Kopf und zog die Nase hoch.
»Warum willst du das wissen? Und wer bist du
überhaupt?«
»Das ist D-«, fing Mendion an, daß ich ihn
gerade noch mit einem »Halt’s Maul!« davon
abhalten konnte, mich zu verraten. Aber es hatte seltsame
Auswirkung auf Gaven: Der Junge wurde von einem Augenblick auf den
anderen leichenblaß, stolperte rückwärts und
starrte erst mich, dann den Hauptmann, dann wieder mich an.
»Heißt das, Ihr habt…«, stammelte er,
wohl eher in Mendrions Richtung als in meine, »Ihr habt ihn
gefunden?«
Mendrion, genau wie ich, verstand ihn nicht. »Nein, wir sind
auf der Suche nach ihm, wo ist er hingerannt?«
»Und du, Freundchen«, sagte ich grimmig, »wenn
du uns nicht gleich antwortest, vergessen wir deine Jugend und was
deiner Familie zugestoßen ist und behandeln dich wie jeden
anderen Deserteur.«
Aber Gaven schüttelte nur den Kopf. »Das glaube ich
nicht«, krächzte er. »Das ist er nicht… Das
ist er nicht in wirklich, oder?« Er ging nah an Mendrion
heran und flüsterte: »Sagt nicht, das ist… das
ist… Dyrk?«
Mendrion hatte diesen Namen offenbar noch nie gehört, oder
was ihm ähnlicher sah, sich nicht gemerkt, aber ich
wußte sofort, welchen Dyrk der Junge meinte. Und ich konnte
nicht verhindern, daß mir vor entrüsteter
Verblüffung die Kinnlade entglitt. Dyrk war, soviel hatte
Leota herausgefunden, der Name von Varyns Vater. Oder zumindest der
Name, unter dem man ihn hier im Dorf kannte, wieviel das auch immer
heißen mochte. Aber ich… Daß der Junge
mich… Varyn war fünfzehn Jahre alt oder inzwischen
sechzehn, und ich war erst vierundzwanzig - ich konnte doch nicht
so alt aussehen, daß ich einen Sohn…
Aber während ich noch nach den richtigen Worten suchte, zu
baff zum Antworten, verstand Gaven mein Schweigen offenbar als
stille Zustimmung. »Du Dreckskerl, das werd ich dir
heimzahlen!« brüllte er, und dann stürmte er auf
mich zu, Kopf voran.
Nun war es ja durchaus meine Absicht, den Jungen wütend zu
machen, aber nicht in meiner Magengrube, und genau dort
landete er seinen Schädel, bevor ich reagieren konnte. Man
bedenke bitte, daß ich ein wirklich geübter Kämpfer
bin und in jeder Hinsicht größer und breiter als diese
halbe Portion, aber da hatte er mich schlichtweg überrumpelt,
daß ich hustend rückwärts stolperte. Im
nächsten Moment hatte ich mich wieder soweit unter Kontrolle,
daß ich, immer noch röchelnd, dem Knaben eine Ohrfeige
verpassen und ihn am Schlafittchen packen konnte.
»Für wie alt hältst du mich?« schrie ich.
»Sehe ich vielleicht aus wie vierzig? Also beherrsch
dich!«
Gaven starrte zu Boden, aber viel anderes konnte er auch nicht
tun, so wie ich ihn hielt. Er murmelte etwas, das eine
Entschuldigung ebensogut sein konnte wie eine weitere Beleidigung,
aber das konnte mir egal sein.
»Wo ist Varyn?« fragte ich, ein letztes Mal.
»Was weiß ich? Will ich gar nicht wissen. Hat sich
eine Hacke geschnappt und ist weggerannt.«
Eine Hacke. Bei den Worten wurde mir kalt. So wie sein Vater sich
eine Hacke genommen hatte… Ich schüttelte die Starre
ab. Der Junge mußte nicht wissen, wie gut ich diesen Anblick
kannte.
»Und in welche Richtung?« fragte Mendrion, aber ich
winkte ab. Ich wußte jetzt, wo wir Varyn finden würden,
wußte es besser, als mir lieb war.
»Und dann hast du dir die Schaufel genommen?« fragte
ich statt dessen.
Gaven nickte stumm.
»Und warum benutzt du sie dann nicht?« fragte ich
weiter. Es klang herzlos, aber während der Vater und die
Schwestern vom Berg begraben waren, lagen beide Brüder und die
arme Mutter noch immer über die Erde. »Fang an zu
Graben!«
Ich war nicht abergläubisch, aber ich wußte, wie sehr
die Leute auf dem Land es waren - dem Abgrund, was des Abgrunds
war, und das waren die toten Körper: Wenn man den Nilomaran
nicht gab, was ihnen zustand, würden sie selbst kommen und es
sich holen. Und da es hier keine Pforten zum Abgrund gibt - zum
Glück, muß ich sagen - bleibt den Doubladai nichts
anders übrig, als ihre Toten in der Erde zu vergraben, so
tief, daß sie nicht mehr von selbst wieder herauskommen
können, selbst wenn ein Nilomaran in sie hineinfahren
sollte.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte
der Junge, und wieder begann er auf diese ganz spezielle Weise zu
zittern. »Ich weiß es nicht…«
Mir kam ein Einfall, noch dazu ein sehr gelungener.
»Mendrion hier hilft dir graben«, sagte ich. »Und
ich kümmere mich in der Zwischenzeit um Varyn.« Ich fing
einen Blick des Hauptmanns auf - keinen glücklichen, ich
wußte gut, wie sehr ihm die Arme schmerzten von dem ganzen
Gestein, daß er am Unglückstag geschleppt hatte, und ein
Loch ausheben war das letzte, was er wollte, geschweige denn ihrer
drei.
Gaven schüttelte den Kopf. »Ich hab nur die eine
Schaufel.«
Ich schnaubte. »Ist es Mendrions Familie oder deine? Du
gräbst. Mendrion achtet nur darauf, daß du es richtig
machst.«
Mendrion nickte; wenn er ärgerlich war, daß ich allein
zu Varyn gehen wollte, hatte ich ihm doch das Buddeln erspart.
»Worauf wartest du noch?« Das war der Mendrion, den ich
hören wollte, der Hauptmann, der niemanden tröstete und
auch niemandem auf den Rücken klopfte. »Fang endlich
an!«
Ich wußte, ich konnte die beiden allein lassen, sie
würden einander gut tun und die Arbeit noch dazu. Arbeiten und
vergessen und geradeaus blicken… Nur einen Moment lang
wünschte ich mir eine Schaufel. Dann machte ich mich auf die
Suche nach Varyn. Zumindest hatte ich eine genaue Vorstellung, wo
ich ihn finden konnte.
Die Spitzhacke hatte es mir verraten.
Ich ging zügig, aber ich
rannte nicht. Wenn ich zu spät kommen sollte, kam ich zu
spät, aber ich glaubte es nicht. Was Varyn auch vorhaben
mochte, er hatte längst ausreichend Vorsprung dafür, da
kam es auf einen Moment mehr oder weniger auch nicht mehr an. Aber
da ich ahnte, daß dieser Junge anstrengend war und Arbeit
bedeutete, war es besser, wenn ich mir meine Kraft aufsparte. Ich
neige dazu, aggressiv zu werden, wenn ich außer Atem und
abgehetzt bin - noch ein Grund mehr, ruhig zu gehen. Wenn ich mich
aufrege, entgleitet mir die Kontrolle, über mich und die
Situation, und vor allem letzteres war jetzt wichtig.
Ich wußte, daß Varyn mit der Hacke zum Berg marschiert
war, und ich wußte, welchen Weg er genommen haben
mußte: Er folgte den Schritten seines Vaters, und ich
hörte das Klirren von Stahl auf Stein, lange bevor ich den
Todesstollen erreichte. Und da fand ich ihn.
Als Tamrik sich das Leben nahm, als er die alten Stützbalken
zerschlug und den Gang über sich zusammenbrechen ließ,
wußte er, was er tat, und er leistete ganze Arbeit. Jetzt war
nicht mehr viel davon zu erkennen, daß dort einmal ein
Bergwerk gewesen war - kein dunkel gähnender
Höhleneingang mehr, sondern nur ein Haufen Geröll,
schwarze Gesteinsbrocken, die förmlich aus dem Berg
hinauszuquellen schienen. Seit Mendrion und ich dort standen und
den Zusammenbruch mit eigenen Augen sehen mußten, war noch
viel nachgerutscht, als hätte der Berg nur darauf
gewartet.
Ich kannte diesen Anblick schon, es war mein erster Weg, nachdem
ich mich am Morgen aufgerappelt hatte, lange bevor ich Leota oder
Mendrion aus dem Bett warf und lange, bevor der Bote kam. Aber ich
mußte das einfach sehen, bei Licht, um nicht in den
Träumen meiner Zukunft von etwas vagem, dunklem heimgesucht zu
werden. Und das war gut, denn bei Licht sah es wirklich nicht
schrecklich aus, der Tod war im Berg verborgen und tat niemandem
mehr etwas an. Nicht einmal die Schrift neben dem Eingang, die mir
in der Nacht aufgefallen war, konnte man noch lesen. Dabei
hätte ich mich gerne noch einmal davon vergewissert, daß
ich richtig gesehen hatte - daß die Zeichen in Mendrions
Soldliste kein Zufall waren, daß der Junge wirklich Elomond
beherrschte und auch kein Geheimnis daraus machte - aber nichts
mehr davon. Der Berg hatte alle Zeichen getilgt.
Es war gut, daß ich mir all das bereits vorher angeschaut
hatte - denn jetzt hätte ich nichts mehr davon wahrgenommen.
Jetzt sah ich nur den Jungen.
Ich hatte mir im Kopf bereits ein Bild zurechtgelegt von dem, was
mich erwartete, aber in diesem Augenblick warf ich alles über
den Haufen. Ich sah Trauer und Zorn, Wahnsinn und Besessenheit,
Verzweiflung und Raserei, alles in einem Moment. Ich sah einen
dünnen Jungen. Und in meinem Weltbild gibt es keine besseren
Worte, um ihn zu beschreiben: Ein dünner Junge, das bedeutet
das genaue Gegenteil von mir. Alles in einem Moment, noch bevor ich
sein Gesicht gesehen hatte.
Aber was sah ich? Ich sah einen Jungen, der eine Spitzhacke
schwang mit mehr Kraft, als ich sie je in einem Mann gesehen hatte,
und schneller waren seine Bewegungen, als meine Augen ihnen folgen
konnten - es war, als versuche man dem Flügelschlag eines
Falken zu folgen. Seine Hiebe waren so zornig und laut, daß
mir die Ohren dröhnten und das lose Gestein um ihn herum zu
tanzen schien. Aber wenn ich gedacht hatte, er versuche die Leichen
von Tamrik und dem Kind zu bergen, damit sie mit dem Rest der
Familie begraben werden konnten, hatte ich mich geirrt. Der Junge
haute nicht dort, wo der Einsturz war, wo der Gang anfing, sondern
ein paar Schritte daneben, an einer Stelle, wo nichts war als Fels.
Und ich mußte kein Bergmann sein, um zu erkennen, daß
seine Schläge nicht nur unglaublich schnell und kraftvoll
waren - sondern auch planlos. Varyn schlug keinen neuen Stollen in
den Berg. Er drosch einfach nur auf den Fels ein, blind und von
Sinnen. Der Schmerz, der den Jüngeren gelähmt hatte,
wurde hier zur Raserei, und eines wie das andere war
tödlich.
Ich hatte lange überlegt, was ich sagen sollte, wenn ich auf
Varyn traf - auf Elomond wollte ich ihn ansprechen, damit ich sah,
wie er darauf reagierte, und ich betete, daß er nicht in der
gleichen Sprache antworten mochte, denn dann mußte ich mir
die Blöße geben und zeigen, daß ich diese Sprache
kaum beherrschte, zwar gut genug, um einen Satz auswendig zu lernen
oder zurechtzulegen, lesen konnte ich es auch so
einigermaßen, aber nie und nimmer eine unterhaltung darin
führen - mit wem auch, wenn schließlich jeder ebensogut
die Gemeinsprache konnte? Trotzdem, hier wollte ich es auf Elomond
versuchen -
Statt dessen brüllte ich: »Hör auf!« Ich
hätte es auf Elomond gebrüllt, aber mir fielen die
Worte nicht ein - es war egal. Der Junge reagierte nicht; es war
fraglich, ob er mich überhaupt hörte, von dem Krach, den
sein Toben veranstaltete, konnte man ja taub werden.
Ich trat etwas näher. »Hör auf!«
brüllte ich noch einmal und mit nicht mehr Erfolg als beim
ersten Mal; er hielt nicht inne, zuckte nicht zusammen; in diesem
Moment gab es für ihn nur den Berg und sich selbst. Ich
fühlte eine Kraft von ihm ausgehen, aber es war keine gute
Kraft - es war völlig außer Kontrolle, und es wuchs. Es
hüllte den Jungen ein wie eine Wolke, es besaß einen
eigenen Willen, und ich konnte es sehen. Ich glaubte es nicht. Ich
war nüchtern und verspürte das dringende Bedürfnis,
das zu ändern, aber meine Augen sahen einen dünnen
Jungen, von dem eine fremde Dunkelheit ausging. Er würde nicht
aufhören, egal wie laut ich brüllte. Und selbst wenn er
mich gehört hätte. Und selbst wenn er es gewollt
hätte. Er würde nicht aufhören.
In diesem Moment verstand ich, warum es keine Hochzeiten zwischen
den engelsgeborenen Häusern gibt und erst recht nicht zwiwchen
Doubladir und Lavaliria - wenn man Vigilanders
haßerfüllte Rachsucht mit Irianders wildem Zorn kreuzte,
dann mußte so etwas dabei herauskommen. Ich war einmal in
Lavaliria gewesen, zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder,
aber diese Reise war ohne Erfolg, der Herrscher dieses Landes
weigerte sich, uns zu empfangen, seine Insel zu verlassen oder uns
einen Fuß darauf setzen zu lassen. Ich war enttäuscht,
ich wollte wissen, wie ein Wahnsinniger aussah - jetzt wußte
ich es.
»Hör auf!« brüllte ich ein letztes Mal und
wartete vergeblich, daß ihm die Arme müde wurden,
daß die Kraft ihn verließ - aber so ging das nicht,
Worte halfen nicht, und das konnte mir recht sein, mit anderen
Dingen war ich besser als mit Worten. Mit dem Schwert, zum
Beispiel, und wie gut, daß ich meines immer mit mir
führen mußte! Aber wenn man den Jungen wie ein Gegner
beobachtete und die Hacke wie eine Waffe, dann war er diejenige Art
von Feind, auf die man die Bogenschützen ansetzte. Und
Schützen, natürlich, hatte ich keine.
Aber da er keine Anstalten machte, mich zu bemerken, konnte ich
diesen Effekt auch zu meinem Vorteil nutzen, seine Bewegungen
studieren und nach einem Schwachpunkt suchen, einer Öffnung -
und dann sah ich es, sah, was vom ersten Augenblick an
offensichtlich hätte sein müssen: Schon in dem Moment,
als ich seine Bewegungen mit dem Flügelschlag eines Vogels
verglich. Denn ebenso wie ein Vogel im Flug die Beine ruhig unter
dem Körper hält, lag auch bei Varyn aller Schwung in den
Armen, den Schultern, dem Oberkörper - unterhalb der
Hüfte hätte er selbst aus Stein sein können, so fest
hatte er seine Füße in den Boden gestemmt. Wenn ich ihn
bei den Beinen zu packen bekam…
Aber nicht von hinten, das konnte ich vergessen. Varyn holte mit
der Hacke so weit nach hinten aus, daß mir Angst und Bang
werden konnte, und das mit nicht weniger Wucht als beim Schlagen.
Dann ging es wieder vorwärts, wie ein mörderisches
Pendel: Von hinten durfte ich mich ihm nicht nähern. Blieben
die Seiten.
Ich trat im Bogen von links an ihn heran - schleichen mußte
ich nicht; was das anging, hätte ich stampfen und trampeln
können, ohne daß der Junge mich bemerkte. Ich
beobachtete ihn noch einen Moment lang, eigentlich nur, um mir
seinen Rhythmus einzuprägen, um den richtigen Augenblick
abzupassen, aber dabei sah ich dann sein Gesicht, und das schlug
mich so in seinen Bann, daß es ein sehr langer Moment wurde.
Dieses Gesicht fesselte mich.
Welcher Engel auch immer Varyn erschaffen hatte, es war seine
erklärte Absicht, daß man den Jungen im Profil
betrachten sollte, anders konnte ich mir diese Wirkung nicht
erklären - so ein klares, scharf geschnittenes Profil hatte
ich noch nie gesehen, außer an Engelsstatuen. Die Haare
hingen glatt und strähnig nach hinten und betonten die Stirn,
das Kinn, die Wangenknochen, und vor allem die Augen. Die Augen
waren das Schlimmste, blicklos aufgerissen und viel zu groß
für das bleiche Gesicht. Diese Augen, und ihre völlige
Ausdruckslosigkeit - ich hatte ein verzerrtes Gesicht erwartet, von
all den Gefühlen, die ich in den Bewegungen gesehen hatte,
oder von Anstrengung - aber nichts davon. Das Gesicht war so leer
und reglos wie das einer Statue.
Und er sah, aber das nahm ich in dem Moment nur am Rande wahr und
doch mit einiger Erleichterung, überhaupt nicht so aus wie ich
oder sonst einer aus meiner Familie. Wessen Bastard er auch immer
sein mochte, von uns war er nicht. Aber er war, und in diesem
Moment verwunderte es mich nicht und machte mir auch keine Angst,
in jedem Fall ein Engelsgeborener. Ich bin selbst einer. Ich
erkenne das, wenn ich es sehe.
War das Gesicht schön? Das kann ich nicht beurteilen, nicht
bei Männern, zumindest, und ich achtete nicht wirklich darauf,
schön, häßlich, es war egal, es war furchterregend,
und ich war froh, es nur von der Seite sehen zu können und
nicht von vorn, ich wollte nicht in diese Augen blicken, und noch
weniger wollte ich, daß sie in mich blicken sollten.
Direkt vor mir zerbarst Gestein unter der mörderischen Hacke,
deren Spitze beinahe glühte, sie schlug Funken, Steinsplitter
schossen mir ins Gesicht, daß ich die Augen abschirmen
mußte und doch weiter wie gebannt hinsehen, der Lärm
dröhnte und klingelte in meinen Ohren, es machte mich ganz
taub - aber ich war ruhig. Und furchtlos. Ich zwinkerte und
riß mich von diesem Bild los, holte tief Luft, paßte
meinen Atem seinen Bewegungen an und warf mich vorwärts.
Ich sprang ihm seitlich mit einem Fußhaken in die Beine und
packte gleichzeitig mit beiden Händen den Stil der Hacke,
während ich den Jungen mit der ganzen Kraft und dem ganzen
Gewicht meines Körpers zu Boden riß.
»Hör auf!« brüllte ich dabei ein letztes
Mal, aber jetzt lag das nicht mehr in Varyns Hand, jetzt war es nur
noch ein Kampfschrei wie jeder andere.
Aber wenn ich geglaubt hatte, daß dies der Raserei ein Ende
setzen konnte, hatte ich mich geirrt. Varyn ging nicht zu Boden wie
ein gefällter Baum und blieb dort liegen - er wehrte sich. Und
wie.
»Laß mich los!« schrie er. »Laß mich
los! Ich muß -«
Ich hätte ihn gerne geohrfeigt, aber das ging nicht - meine
Hände brauchte ich beide, um ihn auch nur halbwegs am Boden zu
halten, während wir rangen. Er war stärker als ich, ich
gebe das nicht gerne zu, und ich war froh, daß niemand meine
Bemühungen sah, seinen Kopf zwischen meinen Knien
einzuklemmen, während wir uns am Boden wälzten.
»Nein!« rief ich. »Du wirst mir
zuhören!« Und es war immer noch kein Wort Elomond dabei.
Selbst auswendiggelernte Sätze liegen mir nicht auf der Zunge,
während ich mich prügle.
Für einen Moment gelang es mir, seinen Kopf zu packen und
festzuhalten, aber dabei blickte ich direkt in seine Augen und
ließ vor Schreck wieder los. Wirklich, ich habe schon viele
Engelsgeborene gesehen und kenne ihre Augen, aber das hier war
mehr; Augen grau wie der Stein und tief wie die Berge, daß
ich förmlich von ihnen verschüttet, erschlagen wurde -
nein, davon hatte Mendrion mir nicht erzählt: Einen Moment
lang blickte ich in die Augen eines Engels.
Im nächsten Augenblick, kaum daß ich meinen Haltegriff
lockerte, bekam der Junge mich zu packen, ich war abgelenkt und
hatte zu wenig Hände. Etwas schlug mir gegen den Kopf - ich
glaube, es war der Boden. Dann verschwand die Welt um mich herum in
tiefer grauer Dunkelheit.
Als ich wieder zu mir kam,
rüttelte mich meine Schwester an der Schulter. Der Himmel
mochte wissen, wo sie so plötzlich herkam - ich konnte nicht
lange bewußtlos gewesen sein, dessen war ich mir sicher.
Vermutlich war Leota mir gefolgt, genug Zeit dafür hatte ich
ihr allemal gelassen. Aber daß ausgerechnet sie mich
ausgerechnet so finden mußte… Der Scham trieb mir das
Blut in den Kopf, aber da blieb es dann auch: Ich war wenigstens
nicht verletzt, von einer Beule mal abgesehen, und nach meiner
Planung sollte mein Schädel am anderen Tag so oder so
brummen.
Ich zwinkerte und rappelte mich auf. Nachdem ich einmal die Augen
aufgeschlagen hatte und somit noch Leben in mir war, konnte ich von
Leota keine weitere Hilfe erwarten und dankte ihr dafür, indem
ich sie anschnauzte.
»Was ist? Was hast du hier zu suchen?«
Leota schnaubte. »Dich, was sonst? Ist das dein
Ich-werde-das-schon-regeln? Daß du dich hier zusammenschlagen
läßt?«
Ich klopfte mir den Dreck ab oder versuchte es zumindest.
»Er hat mich nicht zusammengeschlagen«, sagte ich
leise. Der Junge mußte noch in der Nähe sein, auch wenn
ich die Hacke in diesem Moment nicht hören konnte, ich
wußte es - dann war nicht alles für seine Ohren
bestimmt. »Er hatte Glück, ich hatte Pech.« Ich
rieb mir den Hinterkopf - kein Beule, noch nicht, und auch nichts
klebriges: Ich kenne meinen Dickschädel. Das wird schon
wieder.
Leota schüttelte den Kopf. »Ich habe von dir nichts
besseres erwartet«, sagte sie schroff - längst vergessen
waren die Zeiten, als sie mir näher stand als meine anderen
Geschwister. »Dann übernehme ich ab hier wieder. Du
kannst zum Gasthaus zurückgehen.«
»Nein«, antwortete ich. Sie sollte ihren Machtkampf
haben, wenn sie darauf bestand, aber nicht jetzt. Nicht hier. Jetzt
und hier war ich derjeninge, der die Befehle gab, ihr und dem
Jungen. »Ich habe das angefangen, ich bringe das
zuende.« Wie ein Mann. Einmal im Leben mußte ich etwas
erledigen können wie ein Mann. »Du gehst zurück. Du
hast hier nichts verloren.«
Endlich hatten meine Augen den Jungen wiedergefunden. Er stand ein
Stückweit entfernt, in der Nähe des eingestürzten
Ganges, das Gesicht gegen den Stein gepreßt, und rührte
sich nicht, zumindest für den Augenblick - dann, als habe er
gemerkt, daß ich ihn wieder beobachtete, löste er sich
aus der Starre, nahm den Kopf nach hinten und schlug ihn dann,
Stirn zuvorderst, wieder gegen den Fels. Zumindest hatte ich ihm
die Hacke wegnehmen können. Aber das war bei dem Anblick nur
ein schwacher Trost.
Der Junge stand wieder still; ich wußte nicht, für wie
lange, ich mußte eine Entscheidung treffen und wußte
nicht, wie.
»Geh«, sagte ich zu Leota. »Wenn ich befehle,
hast du zu gehorchen.« Es war kein Wunder, daß sie mir
nicht mehr nahestehen mochte. Der größte Kotzbrocken war
ich immer noch gegen die, die mir eigentlich am Herzen lagen.
»Verschwinde hier. Warte am Gasthaus auf mich. Ich bringe den
Jungen mit.«
Ich sah, daß Varyn mir zuhörte, sah es daran, wie seine
Schultern sich senkten und hoben, während ich sprach. Er
mußte nicht zu uns hinsehen - diesmal wußte er,
daß ich da war. Und wenigstens schlug er nicht noch einmal
mit dem Kopf gegen den Stein. Nicht, bevor Leota wieder
verschwand.
»Du wirst noch sehen, was du davon hast«, sagte sie
noch mit einer Stimme, die ganz leise war und ganz dunkel vor Zorn.
»Majestät.«
Aber dann verschwand sie auf dem einzigen Weg, der nach hier hin
und von hier wegführte, und ich war endlich allein mit diesem
Jungen, dem ich nur allzu gern die Schuld für mein verpatztes
Leben gegeben hätte. Und diesmal wußte er, daß es
mich gab.
»Varyn«, sagte ich - aber das hatte ich schon ein
paarmal gesagt, darauf reagierte er nicht. Ich schluckte, atmete
durch, mein Schädel dröhnte - selbst wenn ich jetzt etwas
auf Elomond hätte sagen mögen, mir fielen die Worte nicht
ein. Bis auf eines. Ich sagte: »Varyniel.« Ich
haßte mich dafür - hatten wir nicht ausgemacht, meine
Schwester und ich, ihn niemals so zu nennen, immer nur Varyn, weil
das noch eher wie ein Name klang und nicht wie ein satz, nicht wie
Frevel? Aber jetzt sprach ich es aus, Varyniel, nicht wie
einen Namen, sondern als ob es mir ernst war, als ob ich es so
meinte - und diesmal reagierte er.
Er fuhr herum und blickte mich an. In seinen Augen wurde ich von
einer Anwesenheit zu einer Person. Er hatte sich mit mir
geprügelt, mich sogar niedergeschlagen und bewußtlos
liegenlassen - aber erst in diesme Moment sah er mich, und sah mich
an.
»Laßt mich in Frieden«, sagte er, und ich
hätte fast vor Hohn lachen müssen ob dieser Worte,
Frieden, ausgerechnet. Seine Stimme war rauh, leise, fast tonlos.
Wer den halben Tag damit verbracht hatte, einen Berg anzuschreien,
der wurde heiser dabei, und für was?
»Schickt sie dich?« fragte er. »Sie soll sich in
den Abgrund scheren!«
Seine Worte verblüfften mich, doch ich bleckte die Zähne
und ließ mir nichts anmerken, besser erst einmal das
Gespräch ans Laufen bringen, als mit noch einer Beule am Boden
zu landen.
»Das wünsche ich mir auch manchmal«, antwortete
ich. »Aber sie ist immer noch meine Schwester!« Hatten
die beiden miteinander geredet, während ich bewußtlos
war und es nicht hörte?
Seine Augen weiteten sich und wurden wieder schmal, als er mich
musterte. Von seiner Stirn rann ein schmaler Faden Blut über
sein Gesicht. »Das glaube ich nicht«, sagte er.
»Und das ist Euer Glück.« Seine Hände
spannten sich zu knöchelweißen Fäusten. Falls er
mir drohen wollte - ich hatte immer noch mein Schwert!
Ich schüttelte den Kopf. Ebensogut mochte er eine andere Frau
meinen, was wußte ich schon, was in seinem Kopf vorging?
»Reden wir nicht von den Frauen«, sagte ich.
»Reden wir von dir.«
»Da gibt es nichts zu reden«, entgegnete er dumpf.
Hätte man mir nicht gesagt, daß er bestenfalls sechzehn
Jahre alt sein konnte - ich hätte ihn für doppelt so alt
gehalten, nur an seiner Stimme.
»Doch, das gibt es«, erwiderte ich fest und sah ihm
dabei direkt in die Augen. Hunde kneifen erst den Schwanz ein, wenn
man das mit ihnen macht, weichen zurück, und dann beißen
sie. Ich war vorbereitet. »An wem willst du dich
rächen?«
Mit der Frage hatte er nicht gerechnet. Er erwiderte meinen Blick,
doch er antwortete nicht.
»Laß die Hacke liegen«, sagte ich, ohne zu
blinzeln. Er hielt sie nicht mehr in Händen, vermutlich lag
sie noch irgendwo bei der Stelle, wo wir uns geprügelt hatten,
und da sollte sie auch bleiben. »Wenn du dich nur am Berg
rächen willst, ist das zu billig. Und du triffst den
Falschen.«
»Wer sagt, daß ich mich rächen will?«
fragte der Junge und spießte mich mit seinem Blick
förmlich auf. Aber ich hatte mich noch nie niederstarren
lassen. Lieber ließ ich mich beißen, als den Blick
abzuwenden! Oder zu blinzeln…
»Deine Augen sagen es mir«, antwortete ich und merkte
während ich sprach, daß mein Tonfall genau wie seiner
war, leise, heiser und dumpf. »Und deine Hacke. Und dieser
Ort. Dein Vater ist hier gestorben.« Nicht blinzeln. Gleich
hatte ich ihn soweit. »Nur, daß er nicht dein Vater
war.«
Jetzt kam der Moment, wo er zubeißen mußte. Doch er
biß nicht. Er fuhr mich nur an. »Was versteht Ihr schon
davon?«
»Mehr als du denkst!« spie ich zurück.
»Glaub mir, ich weiß genau, was gerade in dir vorgeht -
deine Familie ist gestorben, und die Welt verlangt, daß du
trauerst, aber du kannst nicht einmal trauern, alles was du kannst,
ist hassen.«
Er starrte mich an, und die Verletztheit in seinem Blick verriet
ihn. Er war zu jung, um zu verbergen, wenn er sich hatte ertappen
lassen. Doch er blickte nicht zu Boden. Er starrte mich weiter
an.
»Du haßt den Berg«, sagte ich und trat einen
Schritt auf Varyn zu. »Du haßt dich selbst, weil du
einen Tag zu spät gekommen bist. Und du haßt deinen
Bruder, weil er um sie trauern kann und du nicht.«
Er zitterte, biß die Lippen zusammen, doch sein Blick blieb
da, wo er war - in meinen gebohrt. Ich sah Schmerz und Zorn und
Haß in seinen Augen. Aber das, was ich bei Gaven gesehen
hatte, fehlte.
»Weil es deinem Blut egal ist«, sagte ich nicht ohne
Triumph. »Weil sich dein Körper nicht so fühlte,
als ob man gerade Stücke aus ihm herausgerissen hätte.
Euch hat nichts verbunden als die Gewohnheit. Dies ist nicht
länger dein Berg, oder dein Tal. Du hast verloren,
Varyniel.«
Fand ich das gut? Machte es mir Spaß, einen armen Jungen so
zu quälen? Nein. Spaß war das falsche Wort. Aber ich
fühlte eine seltsame Form von Zufriedenheit, oder Genugtuung.
Lange konnte ich diesem Blick nicht mehr standhalten, aber
ich würde nicht derjenige sein, der nachgab. Ich nicht.
Nie wieder.
Er schwieg, starrte mich an, zornig, trotzig, doch er hatte
verloren, und das wußten wir beide, es war nur noch eine
Frage der Zeit. Ich sah es an seinen Augen: Was immer diesen Jungen
die letzten Tage, Wochen, Monate über am Leben gehalten hatte:
Jetzt war es zerbrochen. Varyns Welt lag in Trümmern wie der
eingestürzte Gang, oder wie mein eigenes Leben. Aber mich
hatte das Schicksal einmal zu oft gebrochen. Wenn nichts mehr zum
Zerbrechen übrig war, tat es auch nicht mehr weh. Hoffte ich.
Und wünschte mir gleichzeitig, daß meine Augen niemals
so aussehen mochten wie Varyns, als er endlich, endlich, endlich
den Blick senkte und zu Boden ssh.
»Du wirst mit uns kommen, Varyniel«, sagte ich und
verbesserte mich dann, noch im selben Augenblick: »Mit
mir.« Ich entschied. Mein Wille, mein Wort. Kein Wir mehr.
Von nun an war ich mein eigener Mann.
Varyn leistete keinen Widerstand mehr, wie ein Tier, dessen Willen
man brechen mußte, ehe man es zähmen kann. Ich
weiß nicht, wie ich das geschafft hatte, woran einer wie der
Hauptmann Mendrion wochenlang gescheitert war und das halbe Dorf
ein Leben lang, aber ich war stolz darauf. Der Dicke Junge hatte
den Dünnen Jungen bezwungen… Es fühlte sich
kläglich an, das war die Wahrheit, und ich haßte mich
dafür, als prügelte ich auf einen Sterbenden ein.
»Warum?« fragte er dumpf, ein Warum, das alles
umfassen konnte und nichts.
Und so zusammenhanglos wie er fragte, konnte ich ihm nun auch
antworten, ihm etwas von meiner Schuld zurückzahlen und das
mit ihm teilen, was ich sonst an diesem Tag noch mit niemandem
geteilt hatte als mit meiner Schwester, die ein Opfer war wie
ich.
»Weil meine Welt heute auch untergegangen ist«, sagte
ich leise. »Mein Bruder ist tot, mein verdammter großer
Bruder.«
Und wo Gerrat mir nicht im Leben das Herz aus der Brust gerissen
hatte, tat er es nun im Tod.
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