Erstes Kapitel

Die Stimmen waren nicht für Hanas Ohren bestimmt. Sie kamen von weither, und hinterher vermochte Hana nicht einmal zu sagen, wem sie denn nun gehörten.
»Wir dürfen es ihr nicht sagen«, flüsterte die erste Stimme. »Die Aufregung ist zuviel für sie in ihrem Zustand, nachher verliert sie noch das Kind.«
Die zweite Stimme erwiderte ruhiger und noch leiser: »Und wenn? Dann wäre es doch für alle am besten, am allermeisten für sie selbst.«
Da wußte Hana, daß er tot war.
Aber sie regte sich nicht auf, nicht in diesem Moment und nicht später. Sie setzte sich nur auf, wiederholte bei sich selbst ‘Jetzt ist er tot’, und wunderte sich, warum sie nichts fühlte. Jeder erwartete, daß ihr das Herz brach vor Gram - warum brach es dann nicht? Warum fühlte sie sich nicht, als sei mit Gerrat auch ein Teil von ihr gestorben? Als ihr Vater starb, nachdem sie drei Tage und Nächte nur dann von seiner Seite gewichen war, um die Tiere zu versorgen, da hätte man Hana gleich mit ihm begraben können. Als sie ihre Mutter verlor, fühlte es sich auch anders an - Hana war noch klein, hatte sie kaum gekannt, nur ihr Leben lang, aber das war zu kurz zum Erinnern - wußte sie nichts über Trauer und nichts übers Sterben, aber sie vermisste ihre Mutter noch Jahre später wieder und wieder, vermisste sie für all die Zeit, die sie nicht miteinander verbringen konnten. Vielleicht war es das? Hana hatte selbst ihre Mutter länger gekannt als Gerrat, was war schon ein Jahr? Er würde ihr fehlen, immer und immer wieder, in all den kommenden Jahren, an jedem Tag, an dem sie ihr Kind ohne Vater aufwachsen sah, aber jetzt? Er war so fern. Sein Tod war so fern. Fern wie der Krieg - unfühlbar, unwirklich. Gerrat war im Krieg gestorben, nicht im Bett. Hana und der Krieg waren verschiedene Welten, aber Hana konnte ihn sich vorstellen.
Gemetzel.
Hana war Falknerin, sie wußte, wie Gemetzel aussah. Wenn der Falke mit Schnabel und Klauen über sein Futter herfiel, Küken, Kaninchen, seit sie bei Hofe lebten, mußten sie nicht mehr wildern gehen, war das blutig und grausam, aber es mußte so sein, und Hana fand nichts dabei. Fleisch war Fleisch, Blut war Blut, Gemetzel war Gemetzel - aber in Hanas Vorstellung überlappten sich die Bilder. Gerrat, zerfleischt, erschlagen, aufgeschlitzt, durchbohrt. Knochen splitterten, Blut floß, Schlamm spritzte, Haare, Hautfetzen, Gedärme überall, und alles war Gerrat…
Hana erbrach sich heftig und hoffte, daß das endlich die Trauer war. Sie hatte sich seit sechs Wochen nicht mehr übergeben müssen, nicht mehr häufig zumindest, es war also nicht wegen der Schwangerschaft, aber es fühlte sich an, als ob sich das Kind in ihr vor Schmerzen zusammenkrümmte. Schmerzen oder Trauer, was machte das schon?
»Gib Ruhe«, sagte Hana. »Du stirbst nicht.« Es fühlte sich seltsam an. Hana sprach sonst nie mit dem Kind. Vögel brüteten ihre Eier aus, aber sie sangen ihnen keine Lieder. Das Kind war zwar lebendiger als ein Ei, aber es hatte kein Gesicht, keine Stimme - es lebte, lebte in Hana, doch es war fremd. Es hatte keinen Namen. Hana war nicht so gut mit Namen. Der Falke hatte keinen. Wenn sie denn einen brauchte, die paar Male, wo es nötig war, nannte Hana sie Mädchen - was sollte sie tun, wenn das Kind auch eines war? Angeblich konnten Frauen fühlen, ob sie Junge oder Mädchen trugen, aber Hana wußte es nicht zu sagen. Sie kannte auch zu wenige Mütter und schwangere Frauen, um zu sagen, ob überhaupt etwas daran war. Engel, sie kannte noch nicht einmal genug Kinder, um jetzt selbst eines zu haben!
Gerrat war tot. Hana wiederholte den Gedanken, bis er wieder für sich allein stand, bis er losgelöst war von den Bildern von blutigem Fleisch, bis er endlich wieder fern war und kühl und Hana versuchen konnte zu trauern, statt sich zu grausen. Gerrat war tot. Ob er nun im fernen Loringaril gefallen war oder unter ihrer Hand eingeschlafen, sie würde ihn nicht wiedersehen. Niemals, niemals, niemals - es ging nicht. Wenn sie versuchte zu trauern, füllte sich ihr Kopf mit Bildern von zerfetzten Kadavern. Und wenn sie all diese Bilder verbannte, fühlte sie sich nur befreit.
Die letzten Wochen, sogar die letzten Monate über, aber vor allem, seitdem sie das Kind erwartete, war Hana nicht mehr Herrin ihres eigenen Lebens. Sie hatte dem Kind die Schuld daran gegeben, aber jetzt, wo es vorüber war, mußte Hana zugeben, daß es in Wirklichkeit Gerrat war. Sie hatte sich Gerrat selbst ausgesucht, hätte Nein sagen können, es besser wissen, vielleicht war er es sogar wert - aber Freiheit war mindestens soviel wert, wenn nicht mehr. Gerrat war gutaussehend, gescheit, bezaubernd, lieb; er hatte ein einnehmendes Wesen, und auch Hana hatte er eingenommen, so wie man eine feindliche Burg einnahm oder ein Land, und plötzlich hatte Hana keine Wahl mehr, und keine Freiheit. Bis jetzt. Gerrat war tot, und Hana war frei, seltsam frei, so frei man mit einem Kind im Leib nur sein konnte, frei, ihren Körper zu nehmen und zu gehen, wohin sie nur wollte. Und Hana wußte, wohin sie gehen wollte. Gehen mußte, bevor sie irgendwo anders hinging.
Sie nahm nur ihren Mantel, als sie das Zimmer verließ. Sonst brauchte sie nichts, und sie wollte auch nichts - die Kleider, die Gerrat ihr geschenkt hatte, fühlten sich nicht an, als würden sie ihr gehören, und das Gleiche galt für die Dienerschaft - Hana wollte nicht, daß jemand ihre Sachen packte, sie wollte nicht, daß jemand ihr diente. Es schmeichelte ihr nicht, wenn drei Frauen um sie herumscharwenzelten, es beschämte sie nur. Nicht einmal Leota, die immerhin hochgeboren war, hatte so viele Dienerinnen und bestand darauf, sich allein anzukleiden, und so hatten all ihre abgelegten Dienerinnen nun in Hana ein unwilliges Opfer gefunden, und seitdem Leota fort war, gab es auch niemanden mehr, der ihr zur Seite stehen konnte. Alle waren fort. Es gab niemanden mehr in der Burg außer Hana und dem Gesinde, und sie fühlte sich in niemandens Schuld. Nur ihren Mantel nehmen, ein Pferd satteln und losreiten, so allein, wie sie von nun an immer sein sollte.
Mit dem Mantel über dem Arm schlich Hana über den Flur und fragte sich, vor wem sie sich da zu verbergen suchte - sie war niemandem Rechenschaft schuldig, nicht in dieser Burg, nur sich selbst, dem Kind und dem Falken. Niemand hatte sich ihr in den Weg zu stellen, wenn sie aufbrach, um Gerrat zu sehen. Denn das mußte sie, und das würde sie - so schwanger konnte sie gar nicht sein, daß es sie davon abhielte, Gerrat zu sehen. Zu sehen, daß er tot war, aber noch an einem Stück, und daß er seinen Frieden hatte.
Hoffte sie. Hana wußte genug über Kadaver, um sich ausmalen zu können, wie Gerrat aussah, bis sie da war - erst mußte die Botentaube zu ihr nach Caer Diuree kommen und dann Hana selbst zu Gerrat nach Loringaril - aber selbst wenn sie Gerrat inzwischen beisetzten, wenn Hana ihn mit den eigenen Händen aus dem Abgrund zerren mußte, sie würde sich von ihm verabschieden.
So schlimm konnte die Wirklichkeit gar nicht sein, daß sie an die Bilder hinter Hanas Stirn heran reichte. Mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Händen fühlen, daß er tot war, damit sie es wußte, damit der böse Traum endlich endete und nichts mehr blieb als die Wirklichkeit. Hana konnte nicht glauben, daß er tot war. Eigentlich konnte sie an gar nichts glauben…
Sie stahl sich den Gang entlang, schnell zu den Ställen, irgendein Pferd mußte es tun, keines davon gehörte Hana, es war egal, alles egal… Aber Hana kam nicht weit.
»He, Mädchen, halt! Wo willst du hin?«
Hana blieb stehen, nicht weil sie sich angesprochen fühlte - Frau hätte es vielleicht getroffen, aber als Mädchen fühlte sie sich schon lange nicht mehr - sondern weil sonst niemand da war, der gemeint sein konnte. Sie drehte sich nach der fremden Stimme um, halb verärgert, halb neugierig. »Was ist?« fragte sie schroff.
»Hm«, sagte die Frau, die hinter Hana den ganzen Flur mit ihrer Anwesenheit ausfüllte. Sie war nicht groß, kleiner noch als Hana, die selbst nicht die großgewachsenste aller Frauen war, vor allem neben so stattlichen Erscheinungen wie Leota. Auch diese Frau war stattlich, aber auf andere Weise - sie war recht dick, aber das allein war es nicht, es war viel mehr der Rest, ihre Art, ihre Stimme, und natürlich das Alter, das ihre kurzgeschnittenen lockigen Haare silbern gefärbt hatte. Hana sah ihr Gesicht zum ersten Mal und hatte es doch an anderer Stelle schon so oft gesehen… Hana erstarrte. Sie wußte, wo.
»Hm«, sagte die Frau. »Du bist also sein Mädchen, so? Schwanger bist du? Siehst mir nicht danach aus. Sicher, daß sie dich auch anständig füttern, hm?«
Hana konnte nicht antworten, sie nicht anschreien, wie sie auch nur an Essen denken konnte an einem Tag wie diesem… Alles in ihr krampfte sich zusammen vor jähen Schmerzen - es sollte ihr Herz sein, es mußte ihr Herz sein, das durfte schmerzen, aber wenn es das nicht war, wenn es ihr Unterleib war, würde sie ihr Kind gebären, jetzt, sofort, hier auf diesem kalten kargen Flur. Sie schluchzte und ging auf die Knie vor Schmerzen und Schmerz.
Die Frau schüttelte den Kopf mitleidlos. »Stell dich nicht an, Mädchen, du bist nicht seine Witwe, nur schwanger, und zum Schluchzen wirst du noch Grund genug bekommen - jetzt steh auf und laß dich anschauen.« Ihre Stimme war an Befehle gewöhnt, nicht an Widerspruch, und Hana leistete keinen.
»Wer seid Ihr?« würgte sie statt dessen schwach hervor. Sie wußte es, oder glaubte es zu wissen aber sie hatte keine Ahnung, wie sie diese Frau anreden sollte - Majestät? Oder Mutter?
Die Frau schnaubte. »Daß du dir das nicht selbst denken kannst!«
Hana suchte ihren Kampfgeist und fand ihn nicht - es war soviel leichter, sich gegen einen Mann zu behaupten: So viele Männer waren gewöhnt, eine Frau von oben herab zu behandeln, daß Hana ihnen aufrecht entgegentreten und sie in die Schranken weisen konnte - aber dies war selbst eine Frau, und die machte es ebenso, setzte sich durch gegen Männer und Frauen und hatte soviel mehr Erfahrung darin, daß Hana sich ganz klein und hilflos fühlte. Aber sie schaffte es, sich wieder aufzurichten und der Frau ins Gesicht zu blicken.
»Ihr seid Gerrats Mutter«, sagte sie und setzte hinterher: »Aber das ist weder Name noch Titel.«
War das ein Lächeln? »Heißt das, du kennst noch nicht einmal meinen Namen?«
»Ihr kennt meinen doch auch nicht.« Langsam kehrte das Leben doch zu Hana zurück, und es tat gut - kämpfen lag Hana mehr, als sich bemitleiden zu lassen.
»Wenn du mir beweist, daß du einen Namen verdienst, sollst du einen haben«, sagte die Frau. »Bis dahin freu dich, daß du für mich noch Gerrats Mädchen bist und nicht irgendeine schwangere Schlampe.«
»Ich bin aber kein Mädchen«, sagte Hana, »und ich gehöre mir selbst, nicht Gerrat - und das müßtet Ihr am besten wissen.«
Vor zwanzig Jahren wäre es so einfach gewesen - da war diese Frau noch eine Königin, die Burg gehörte ihr, alles war ohne jeden Zweifel. Aber dann hatte sie den König verlassen, und so war sie heute weder Königin noch Hausherrin: Hana hatte keine Ahnung, welchen Titel eine ehemalige König trug, oder ob sie irgendein Recht hatte, so mit Hana zu reden - nein, das wußte Hana schon lange: Niemand hatte dieses Recht. Aber das schien die Frau nicht zu wissen.
»Ich«, sagte sie, »bin die Freifrau Elorna. Freifrau, hörst du? Und du, Mädchen, wirst jetzt mit mir kommen.«
»Das werde ich nicht tun«, entgegnete Hana, ihre Stimme wieder fester. »Ich wollte meinen Weg an der Seite Eures Sohnes gehen, aber jetzt gehe ich ihn allein, und es ist nicht an Euch, über mein Leben -«
»Du wirst mit mir kommen«, sagte die Freifrau schneidend, »schon weil du es meinem Sohn schuldig bist! Ich werde dieses Geschwätz von dir nicht dulden, Mädchen - vergiß nicht, ich habe heute meinen Sohn verloren, also hüte deine Zunge! Glaub nicht, nur weil ich mich nicht heulend am Boden winde, daß ich nicht trauere!«
»Es tut mir Leid«, sagte Hana, und das tat es. An diesem Tag fiel es ihr schwer zu glauben, daß es außer ihr noch andere Menschen auf der Welt gab… Dabei hatte sie sich immer wieder gewünscht, Gerrats Mutter einmal kennenzulernen, aber unter allen erdenklichen anderen Umständen - wenn sie ihr jetzt sagte, wieviel sie ihr verdankte, die Freifrau würde ihr weder Glauben noch Interesse schenken. Dabei stimmte es: Ohne das Schicksal der Königin hätte Hana niemals eingewilligt, Gerrat zu heiraten - aber wenn eine Königin in der Lage war, ihre Sachen zu packen und zu gehen, dann galt das auch für Hana. Dann konnte sie sehen, wie lange es gutging, und wenn es nicht mehr gutging, gehen… Jetzt konnte sie es nicht mehr sagen. Daß sie jemals auch nur daran gedacht hatte, Gerrat zu verlassen, mußte jetzt ein Geheimnis bleiben.
»Es tut mir Leid«, konnte Hana sagen. Aber eine Berührung, eine Umarmung gar, kam nicht in Frage. Auch wenn das Gerrats Mutter war, auch wenn sie eine Mutter für Hana hätte werden können - jetzt stand sie dort als eine Fremde, zu stark und zu fern und niemand, der umarmt werden konnte, sollte, wollte, durfte. Hana hob die Hand, um zumindest flüchtig tröstend den Arm der Frau zu berühren, und ließ sie wieder sinken. Wenn, dann mußte diese Geste von der Freifrau ausgehen - aber die stand nur da, klein und stark und unnahbar.
»Und wo willst du jetzt hin, Mädchen?« fragte sie. »Willst dich aus dem Staub machen, was? Dein Kind irgendwo in einer Hütte zur Welt bringen, heimlich?«
Hana schüttelte den Kopf, kaum merklich - die Starrheit der Freifrau griff auf sie über, lähmte sie. Fast konnte sie unter der Forschheit den Schmerz fühlen, der nicht geteilt werden konnte und wollte. Ihre Stimme zitterte wieder. »Wenn Ihr den gleichen Weg habt wie ich… Ich muß nach Loringaril, ich will Gerrat sehen, ein letztes Mal.« Die Freifrau blickte sie nur an, und Hana redete weiter, etwas heftiger: »Und sagt mir nicht, ich bin schwanger und kann es nicht - ich bin nicht mehr so schwanger, daß ich jeden Tag brechen muß, und noch nicht so sehr, als daß ich mich nicht mehr bewegen könnte: Wenn ich es einmal tun kann, dann jetzt, und wenn ich es einmal tun muß, dann jetzt.«
Die Freifrau blickte sie an, aber vielleicht änderte sich dabei etwas in ihren Augen - Hana konnte es nur raten, sie hielt diesem Blick nicht stand, sah der Frau auf den Mund und nicht in die Augen, und dem Mund war ein Lächeln fern. Irgendwann sagte Elorna: »Du glaubst also, du bist stark?«
»Ich bin stark«, antwortete Hana und wußte, daß es nicht stimmte, nicht in diesem Moment. »Glaubt Ihr, nur Ihr seid stark, weil Ihr Euren Mann verlassen habt? Ich bin stark genug, um bei meinem zu bleiben.«
Die Freifrau lachte leise, höhnisch und heiser. »Bei ihm bleiben, wie stellst du dir das vor… Willst du dich mit ihm begraben lassen?« Sie schüttelte den Kopf, bevor Hana noch etwas erwidern konnte. »Nein, stark mußt du wohl sein, denn klug bist du nicht, und irgendwas muß mein Sohn ja an dir gefunden haben.«
»Ich bin klüger als Ihr meint«, sagte Hana und war erstaunt, wie selbstverständlich die Freifrau zwischen klug und stark abwägte, ohne dabei einen Gedanken an Schönheit zu verschwenden. Es stimmte, Gerrat liebte Hana nicht um ihrer Schönheit Willen, das unterschied ihn von so vielen anderen Menschen und Hana von all den schönen Frauen, die Gerrat vor ihr gehabt hatte und nach ihr hätte haben können…
»Klug kannst du nicht sein«, sagte die Freifrau, »sonst wärst du nicht hier. Willst du zu deinem toten Liebhaber reiten wie ein aufgescheuchtes Huhn - was glaubst du denn, geschieht dort in Doubladir mit seiner Leiche, sollen sie die so lange liegen lassen, bis sein schwangeres Frauchen es schafft, dort aufzuschlagen? Oder ihn in der Ferne verscharren? Noch während du und ich hier stehen, ist Gerrat auf dem Weg hierher. Sein Körper wird in Caer Diuree beigesetzt, im Schoß der Familie, so wie alle anderen.«
Hana stand wie versteinert und wußte nichts mehr zu sagen. Nein, diese Idee war ihr nie gekommen - aber was wußte sie auch über die Totenbräuche bei Hofe? Sie starrte zu Boden.
»Und darum wirst du hübsch hier bleiben, Mädchen«, redete die Freifrau weiter und erlöste sie damit zumindest aus dem Schweigen. »Was dann aus dir wird, oder aus deinem unseligen Kind, wird sich nach der Beisetzung zeigen. Bis dahin werde ich hier bei dir bleiben, ein Auge auf dich haben -«
»Das müßt Ihr nicht«, fiel Hana ihr ins Wort. »Bleibt, um auf Euren Sohn zu warten, damit Ihr gebührend Abschied nehmen könnt - aber bleibt nicht um meinetwillen.«
»Du verstehst nicht«, sagte die Freifrau, »und ich glaube, du willst auch nicht verstehen, darum werde ich keine weitere Zeit damit verschwenden, mit dir zu streiten. Ich werde hier bei dir bleiben - meine Gründe können dir egal sein, aber du brauchst im Moment jeden Beistand, den du irgendwie bekommen kannst - und ob du ihn willst oder nicht, ist mir egal.«
Hana war es mehr so, als würde sie Beistand gegen die Freifrau brauchen, aber sie schwieg. Wenn es sein mußte, würde sie eben so lange hier auf der Burg warten, und vielleicht war Elorna bessere Gesellschaft als niemand - aber wenn sie einmal von Gerrat Abschied genommen hatte, dann sollte niemand sie mehr an diesem Ort halten können.

Bis zu jenem Tag hatte Hana, die den besten Teil ihres Lebens in einer kleinen Kate verbracht hatte, die Burg für einen erdrückend großen Ort gehalten, an dem sich eine Familie wochenlang aus dem Weg gehen konnte, statt miteinander zu leben - groß, aber kalt, mit Platz, aber ohne Freiheiten. Doch jetzt, wo die Freifrau wieder Einzug gehalten hatte an diesem Hof, der einst ihrer war, hatte sich das geändert: Plötzlich war aller Platz fort, war die Anwesenheit der anderen Frau über allem und zuerst, nahm Hana die Luft zum Atmen und den Raum zum Trauern.
Hana fragte nicht, was Elorna von ihr erhoffte, welche Regung sie sehen wollte, welches Verhalten - es war ihr egal, sie wollte nicht gefallen, nicht einer Frau, der ihr eigenes Gefallen vor Hana mindestens so egal war. Sie wollte nur etwas Zeit für sich, für ihr Kind, ihren Falken und für Gerrat, aber es ging nicht mehr. Wo immer sie sein wollte, war Elorna schon vor ihr, eine Stickerei auf den Knien, ohne viele Worte zu verlieren, aber schon ihre Anwesenheit genügte, um Hana das Leben wegzuatmen. Es gab viel, über das sie sich hätten unterhalten können - in einer anderen Welt, in einem anderen Leben vielleicht. Hana wollte sich nicht unterhalten und nicht unterhalten. Sie wollte ihr Leben leben. Sie wollte trauern. Sie wollte Gerrat wiederhaben. Aber nicht so. Nicht auf einem schwarzverhängten Fuhrwerk.
Schlimmer als das Eintreffen von Gerrats Leiche war das Warten darauf. Hana wußte nicht, wie weit es bis Loringaril war war - wie weit für eine Brieftaube, wie weit für einen Reiter, und wie weit für einen Leichenzug. Jeden Tag stand sie am Fenster, wartete auf das, was sie so sehr fürchtete - aber jeden Tag, den sie wartete, keimte in ihr dieses gräßliche bißchen Hoffnung: Daß die Kutsche kam und Gerrat herausstieg, verwundet vielleicht, aber am Leben. Oder daß man ihr einen Toten zeigte, sie einen Blick darauf warf und dann sagen konnte ‘Aber das ist er gar nicht!’. Die Hoffnung war tückisch, und sie schmerzte so viel mehr als die Gewißheit.
Es waren schreckliche, quälende Tage, und als sie zur Woche wurden und zu zwei Wochen, drei Wochen, und als sie dann immer noch mehr wurden und immer länger und länger… Es war Hana, als säße sie schon ihr ganzes Leben lang mit der Freifrau auf der Burg und hätte ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan als warten und warten und sich wünschen, weit weit fort zu sein. Dieses Leben wäre schon mit Gerrat schwer zu ertragen gewesen. Ohne ihn war es doppelt schrecklich.
Fast atmete Hana erleichtert auf, als endlich das Fuhrwerk des Todes in den Burghof einbog; sie floh von ihrem Fenstersitz und eilte hinunter, schneller als es sich für sie geziemte und als die Freifrau ihr folgen konnte. Dies war Gerrat, ihr Gerrat, sie wollte, mußte die erste sein, die ihn sah -
Wie lange war er jetzt tot? Drei Wochen, vier Wochen? Es mußte ein entsetzlicher Anblick sein, und doch nicht halb so schlimm wie das, was sie in ihren Träumen heimsuchen mochte. Sie mußte dem toten Gerrat ein Gesicht geben, selbst wenn er keines mehr haben sollte, selbst wenn nur noch Knochen von ihm zurückgeblieben waren -
Da lag Gerrat hinter dem schwarzen Tuch. Lag, als ob er erst gestern gestorben wäre, und war doch ohne jeden Zweifel tot. Seine Haut war so gelb wie alte Milch und glänzte wächsern, seine Augen waren geschlossen, seine Wangen eingefallen. Seine schönen dunklen Locken klebten zusammen wie nach einem langen Ritt; sein Bart war sauber gestutzt, nirgends auch nur ein Tropfen Blut zu sehen - Hana zog das Tuch fort, das Gerrats Körper bedeckte, er trug seine Rüstung darunter oder eine, die man ihm angezogen hatte, damit man die Wunden nicht sah. Seine Hände waren über dem Herzen gefaltet. Es war ein friedlicher Anblick, der nicht passen mochte zu einem Mann, der sein Leben im Krieg gelassen hatte - kein schöner Anblick, es gab keine Schönheit im Tod, nur stille Perfektion. Aber daß er so dalag, als ob keine Zeit für ihn vergangen wäre und für sie -
Hana hörte sich noch laut aufschluchzen. Dann gaben die Beine unter ihr nach, wurde es schwarz um sie vor all den Tränen, die sie nicht hatte weinen können. Hana lag auf den Knien und schrie sich den Schmerz und den Gram vom Leibe, doch wo er herkam, war nur immer noch mehr, als gebe es keinen Anfang und kein Ende. Wie eine Frau, die von Sinnen ist, konnte Hana nichts anderes mehr tun als weinen - so viel wollte sie noch tun, sie wollte Gerrats kalte Hand halten, Gerrats kalte Wangen kosen, Gerrats kalte Lippen küssen, und still, schweigend für immer Abschied von ihm nehmen: Sie konnte es nicht.
Die andere Frau nahm sie wortlos in den Arm und tröstete sie, still, geduldig und selbstverständlich. Hana fragte nicht, wo sie so plötzlich herkam oder wer sie war, sie ließ sich nur halten und trank diese ruhige Wärme, bis die Schluchzer langsam in ihr erstarben und der Atem zu ihr zurückkehrte. Dann straffte sie sich und richtete sich wieder auf - aus den Fenstern fühlte sie sich beobachtet, die Freifrau sah ihr zu, und obwohl es Hana nichts ausmachte, in diesem Moment Schwäche zu zeigen vor jedem anderen, ging es nicht. Und mußte es nicht mehr - was hinaus wollte, war hinaus, und alles andere machte Gerrat nicht wieder lebendig. Hana mußte und wollte immer stark sein, aber nicht für diesen Moment.
»Danke«, sagte sie dann zu der Frau. Wer immer sie war, es tat gut, daß sie da war - bei niemandem hatte Hana sich in den vergangenen Wochen so geborgen gefühlt. Die Frau war klein und hager, mit grauem Haar und einem einfachen, formlosen grauen Kleid - keine Kriegerin und erst recht niemand, der zum Hof gehörte. Hana hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie mußte mit der Leiche gekommen sein. »Wer seid Ihr?« fragte Hana, und als die Frau nicht antwortete und sie nur still aus großen grauen Augen anblickte, gab sie sich gleich selbst die Antwort. »Ihr seid eine Totenmagd?«
Hana war noch nie einer Totenmagd begegnet. Vielleicht, als ihre Mutter starb, aber daran erinnerte sie sich nicht. Und an solchen Trost hätte sie sich erinnert. Es gab Totenmägde in den großen Städten, aber nicht auf dem Land, nicht in jedem Dorf - aber daß eine Totenmagd bei Gerrat war, noch jetzt, Wochen nach seinem Tod - daß sie Trost spendete - und daß sie immer noch kein Wort sagte… Hana wußte, daß Totenmägde an der Seite der Toten schwiegen, aber wochenlang kein Wort zu sprechen, Tag und Nacht, nicht ein Wort - und dabei hatte diese Frau Gerrat nicht einmal gekannt - und was konnte Hana selbst für Gerrat tun? Nichts. Gar nichts. Und erst recht nicht für sich selbst.
»Hm«, schnaubte die Freifrau, als Hana ihr mehr aus Verlegenheit und Höflichkeit von ihren Überlegungen erzählte, denn mit irgend jemandem mußte sie schließlich reden, und die Freifrau wollte ihr nicht mehr von der Seite weichen, erst recht nicht mehr nach Eintreffen der Leiche. Und mit der Totenmagd konnte sie nicht reden. »Hm, natürlich ist eine Totenmagd dabei. Was denkst du dir denn? Erwartest du immer noch, daß er einfach verscharrt wird? Er mag ja vielleicht dir gegenüber getan haben, als wäre er ein niedriggeborenes Ding wie du, aber er ist immer noch ein Engelsgeborener, er gehört hier bestattet, in der Gruft, neben seinen Ahnen.«
»Und das macht die Totenmagd?« fragte Hana - es war immer noch eine seltsame Vorstellung, daß eine Frau diesen ganzen Weg zurücklegen sollte für einen einzigen Mann, wenn sie doch im Krieg gebraucht wurde. Die Totenmägde gehörten nicht den Engelsgeborenen, und im Krieg starben jeden Tag so viele Männer, hatten die etwa niemanden verdient, der an ihrer Seite schwieg? Konnte man keine Totenmagd aus Caer Diuree nehmen?
»Die Totenmagd«, sagte die Freifrau so langsam, als spräche sie mit einem Kleinkind oder jemandem, der nicht bei Verstand war, »die Totenmagd sorgt dafür, daß er auch da liegen bleibt. Engelsgeborene Körper sind zu kostbar, nicht nur, um Lösegeld zu erpressen.«
Hana hatte wieder Gerrats Körper vor Augen, wie er war, als er lebte - sein schönes Gesicht, seine makellose Haut - und wie er nun war, da er nicht zerfallen wollte wie andere Tote… Sie hatte nie glauben mögen, daß an den Engelsgeborenen etwas Wahres dran war, daß sie anders waren als normale Menschen: Gerrat hatte sich wie einer verhalten, und seine Brüder und Schwester ebenso. Aber vielleicht… Und plötzlich wurde Hana wieder schlecht, begann sie sich vor ihrem eigenen Kind zu fürchten. Ihr Kind war ebenfalls engelsblütig - engelsgeboren wollte sie es nicht nennen, nicht bevor es auf der Welt war, und gebären würde sie es immer noch selbst. Engel her, Engel hin - aber die Vorstellung, daß es am Ende ein noch fremderes Wesen sein sollte, als es ohnehin schon war, erschreckte sie.
Hana blieb mit ihren Gedanken allein, und in ihren Gedanken. Sie konnte sich mit niemandem teilen - am Ende saß sie allein in der Nacht mit dem Falken auf der Hand und weinte. Der Falke schlief, und selbst wenn nicht, er gab keine Antworten. Es war nicht mehr wie früher, als sie nur einander hatten. Der Falke und sie waren einander fremd geworden; während seiner Ausbildung hatte Hana jeden Tag mit dem Vogel verbracht, aber dann war Gerrat in ihr Leben getreten und der Falke in den Hintergrund, und der königliche Falkner hatte die tägliche Versorgung übernommen - und ebenso wie Hana beinahe irgend eine Frau geworden war, war der Falke beinahe nur noch irgend ein Falke. Aber er kannte sie noch, und er schlief auf ihrer Hand, und sie konnte mit ihm sprechen. Es war gut. Es war der Abend nach Gerrats Beisetzung. Sie würde ihn niemals wiedersehen.
Schrecklicher als der Anblick des Toten selbst war der Anblick der Gruft, in der er nun lag. Ein erdrückendes Gemäuer, tief unter der Burg, beinahe schon im Abgrund selbst, so tief führte die Treppe hinunter, und je tiefer es ging, desto näher rückte der Winter. Es war kalt und feucht dort unten, es war dunkel, und es roch nach Schnee - beängstigender als der Geruch nach Moder, Tod oder Verwesung, weil es so fremd war an einem Ort wie diesem. Die Kälte kroch ihr in die Knochen und wollte dort bleiben bis es wieder Frühling war oder zumindest bis die warme warme Sonne wieder auf sie schien. Unten gab es kein Licht bis auf die Fackeln, die sie mitgebracht hatten und die an der niedrigen Trommeldecke ihre rußigen Spuren hinterließen. In ihrem Schein wirkten die steinernen Särge wie eine endlose Reihe wartender Gräber. Wie viele von ihnen noch leer waren und in wie vielen schon jemand lag, Gerrats stille Ahnen, Sarg an Sarg, Seite an Seite, und mehr von ihnen waren wie Gerrat in einem Krieg gestorben als in ihrem Bett. Die groben Ketten, die den Sarg für alle Zeiten verschlossen hielten, wirkten abschreckend und bedrohlich, aber noch bedrohlicher waren die Särge im Dunkel, die Ketten haben mochten oder nicht. Es war kein Ort, den man gerne besuchte, nicht einmal, um sich zu erinnern. Es gab Orte, um Gerrats zu gedenken, aber sie lagen alle über der Erde.
Hana wollte fort, als sie Gerrat in die steinerne Kiste legten wie eine schlaffe Puppe, und als die Totenmagd ein graues Tuch über sein Gesicht zog, das im Fackelschein ebenso hätte schwarz sein mögen oder rot, es gab hier keine Farben, ebenso wenig wie Licht und Leben. Hana wollte fort, sie war froh, daß sie weit hinten stand und nicht vorne am Sarg, als sie die schwere Platte wieder darüber schoben. Fehlte nur noch der Schmied, damit er auch Gerrats Sarg in Eisen legte, daß nichts mehr hinauskommen sollte und nichts hinein… Vorne, da standen der König und seine Söhne, die zwei, die mit ihm lebend aus dem Krieg gekommen waren, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Erst hatte Hana gedacht, daß sie mit dem Leichenwagen geritten waren, denn sie tauchten kurz danach am Hof auf, doch so lang wollten sie den Krieg wohl nicht allein lassen: Sie kamen auf schnellen Pferden und hatten noch zwei Wochen oder mehr weiter gekämpft, bevor sie sich auf den Weg in die Heimat machten. Hana blickte sie nicht an, ebensowenig wie einer von ihnen Hana anblickte oder gar ein Wort an sie richtete. Sie waren nicht glücklich über Hanas Anwesenheit, mehr noch, über Hanas Existenz. Aber gehen lassen - gehen lassen würde man sie nicht, auch nicht, als es vorbei war, als die letzte Ansprache gehalten war und die letzte Fackel verloschen, als sie aus dem dunklen Keller traten in eine Welt, in der die Sonne längst untergegangen war.
Dann erst kam der König zu Hana, aber nicht, damit sie ihren Kummer teilen konnten. Der König hatte die Trauer hinter sich, er hatte Zeit dafür gehabt im Krieg und in der Zeit, als sie dem Leichenzug folgten. Nun war er nur noch der harte Mann, der er zuvor schon war.
Erst klang er noch freundlich und versöhnlich. »Kind«, sagte er - so nannte er sie meistens, wenn er mit ihr redete: Wie auch die Freifrau schien er zu glauben, daß Hana weder einen Namen brauchte, noch eine erwachsene Frau war - »das wird jetzt nicht leicht für uns.«
Hana machte den Fehler zu glauben, daß sie selbst in diesem ‘uns’ enthalten war, nickte, und ließ den König weiterreden.
»Du sollst wissen, daß ich dich gern als meine Tochter gesehen hätte. Ich wollte immer, daß meine Söhne mal aus Liebe heiraten, sollen nicht so enden wie ich, mich hat nie jemand gefragt, ob ich dieses Ungeheuer heiraten will…« Offenbar war die Beisetzung die erste Begegnung seit Jahren zwischen dem König und der Freifrau. Und ebenso offensichtlich hatte der König getrunken.
Hana blieb still und sagte nichts. Wenn der König einmal anfing, über seine frühere Gemahlin zu poltern, hörte er am schnellsten dann wieder damit auf, wenn niemand darauf einging. Aber solche Worte waren unangebracht an einem Tag wie diesem, und insgeheim hoffte Hana, daß die Freifrau selbst dem König den Kopf dafür zurechtrücken würde. Doch es war nicht an ihr.
Da änderte der König auch schon das Thema. »Aber wenn es nach mir gegangen wäre, hättet ihr schon längst geheiratet. Was müßt ihr noch lange warten, bis du so schwanger bist, daß man es auf hundert Schritt sehen kann und sich alle das Maul zerreißen?« Jetzt wurde er lauter. »Wirklich, mir ist egal, was die Leute reden, ich bin König, ich habe das letzte Wort, aber ich habe auch gesagt, ihr sollt heiraten! Und wenn du dich nicht so geziert hättest - ja schau mich nicht so an, ich weiß, daß es deine Schuld ist! Gerrat hätte dich vom Fleck weg geheiratet, so vernarrt war er in dich - nicht, daß du es verdient hättest! Das haben wir jetzt davon, müssen uns überlegen, was wir mit dir machen, und glaub ja nicht, daß wir nicht Besseres zu tun hätten…«
Er meint es nicht so, versuchte Hana den König noch zu entschuldigen. Er hat gerade seinen Sohn begraben, er ist aufgebracht, nicht mehr ganz nüchtern… Aber in Wirklichkeit hätte sie ihn am liebsten geohrfeigt, und wenn er zehnmal König war. Sie tat es nicht, um Gerrats Willen. Obwohl es sicher nicht immer einfach war mit ihm, hatte Gerrat doch sehr an seinem Vater gehangen. Hana verstand nicht, warum, aber sie schwieg, Gerrat zuliebe.
»Ihr müßt Euch nicht um mein Schicksal sorgen«, sagte sie leise, als die das Gefühl hatte, der König könne sich langsam wieder abgekühlt haben. »Ich gehe fort, und Ihr werdet nie mehr Scherereien haben mit mir.« Es stimmte, es war ihre eigene Schuld, daß sie noch nicht verheiratet war. Sie wollte nichts überstürzen; verlobt zu sein war eine Sache, aber gleich verheiratet… Hana wollte Bedenkzeit. Hana wollte noch Nein sagen dürfen. Und die Konsequenzen daraus sollten ihre eigenen Probleme sein, nicht die von anderen Leuten. Verlobt - verwitwet - für sie machte es keinen Unterschied mehr. Gerrat war fort, so oder so.
»Das hättest du wohl gern!« dröhnte der König, daß es laut durch die Nacht hallte. »Dich einfach so davonstehlen, das hätte ich mir ja denken können! Damit sich am Ende herausstellt, daß dein Bankert von sonstwem ist und nicht von Gerrat! Was meinst du wohl, Gerrat hat noch Glück gehabt, daß ihm das erspart bleibt…«
Bebend vor Wut fuhr Hana den König an. »Ihr geht zu weit! Ihr geht zu weit, und Ihr werdet Euch dafür entschuldigen, und wenn nicht bei mir, dann bei Eurem toten Sohn -« Sie versuchte sich zu beruhigen, wollte nicht schreien, wollte nicht heulen - an jedem anderen Tag hätte sie ihrem Zorn freien Lauf gelassen, aber jetzt durfte sie das nicht, wenn sie nicht alles noch schlimmer machen wollte. Der König war nicht auf Frieden aus.
»So, jetzt bist du also tugendhaft!« schnaubte er. »Stünde dir ja gut an, wollen wir hoffen, daß es auch stimmt - ich will nichts mehr davon hören, Gerrat hätte besseres verdient als dich, aber ich weiß es besser, als mich mit dir herumzuschlagen… Du wirst diese Burg nicht verlassen, bis wir über deine Zukunft entschieden haben.«
»Wie wollt Ihr mich aufhalten?« fragte Hana scharf. »Wollt Ihr mich anbinden?«
»Wenn du uns keine andere Wahl läßt, müssen wir dich festsetzen.« Der König scherzte nicht. Sie scherzten beide nicht. »Und wenn du versuchst du verschwinden - wir finden dich, wir holen dich zurück. Bedank dich bei dir selbst, du hättest ja nicht schwanger werden müssen.«
Hana seufzte. Sie würde am anderen Tag aus der Burg verschwinden, aber das behielt sie für sich - jetzt wußte sie, woran sie war. »Es ist mein Leben, nicht Eures«, entgegnete sie immer noch kämpferisch. »Entscheidet das nicht ohne mich.«
Der König lachte bitter. »Ich entscheide das nicht ohne meine Söhne. Und auf den einen wirst du warten müssen, mein nichtsnutziger Zweitgeborener treibt sich ja lieber noch herum, als seinem Bruder die letzte Ehre zu erweisen - aber wir finden eine Lösung für dich, und selbst wenn du es nicht wert bist, ich verspreche dir, es wird das Beste für dich sein…«
Hana widersprach nicht mehr und wartete nur noch, bis der König zuende geredet hatte und ging, um mit seinen Söhnen weiter die Trauer zu feiern und auf den Ältesten zu trinken. Hana blieb allein, erst mit sich selbst und dann mit ihrem Falken, mit der Nacht und mit ihrer Trauer. Sie blieb lange wach, und die Dämmerung war nicht mehr fern, als sie endlich den Falken zurück brachte in seinen Käfig und sich selbst zurückzog auf ihr Gemach.
Aber sie wäre besser noch in jener Nacht aufgebrochen. Denn als sie am anderen Vormittag aufstand, fand sie ihre Zimmertür verschlossen. Die Burg wollte sie nicht mehr gehen lassen.

Von da an lebte Hana endgültig als Gefangene auf der Burg. Es war wie in einem schlechten Traum - einem völlig verdrehten schlechtem Traum, in dem eine Wache vor der Tür einer schwangeren Frau stand, um mit einem Schwert dafür zu sorgen, daß sie nicht entkam. Meinten sie das ernst? Sollte man sie niederstrecken, wenn sie auch nur einen Schritt zuviel tat? Wenn man ihr das früher so erzählt hätte, nicht einmal, daß sie dieses Schicksal erwartete, sondern irgend eine Frau - Hana hätte es nicht geglaubt. Sie war nicht bewaffnet, nicht gefährlich, und wurde dieser Mann nicht anderswo gebraucht? Aber da stand er vor ihrer Tür, grimmig und geduldig, und so wütend Hana auch sein mochte, sie hatte plötzlich wenig Lust, es darauf ankommen zu lassen. War Doubladir ein Land, in dem Wachen eine schwangere Frau niederstreckten?
Aber es half nichts, ob Hana sich auch darüber aufregte oder resigniert den Kopf hängen ließ, sie saß als Gefangene in ihrem Zimmer und konnte nichts dagegen unternehmen. Und daß sie einmal die Freifrau als willkommene Gesellschaft angesehen hätte, auch damit hätte sie nie gerechnet.
»So, und jetzt verstehst du, warum ich da bin«, sagte die Frau - so resolut sie auch sein mochte, sie konnte keinen Einfluß darauf nehmen, daß Hana freigelassen wurde, wenn sie es denn überhaupt versuchte. »Nicht, daß du es verdient hättest, aber ich kann und werde keine Frau mit dem Mannsvolk aus meiner Familie allein lassen, und erst recht nicht mit dem Vater meiner Söhne.« Sie seufzte. »Hättest du nur ein bißchen besser aufgepaßt, wär uns das alles erspart geblieben.« Ihr Leben konnte nicht viel angenehmer sein als Hanas - außer, daß sie sich frei bewegen durfte - aber sie wurde am Hofe wie ein Eindringling behandelt, jetzt wo der Herr des Hauses wieder da war, und die einzige Person, die sie noch herumkommandieren konnte, war Hana. Aber sie wirkte grau und eingefallen, und wann immer Hana sie sah, schien sie noch kleiner geworden zu sein.
»Wie lange, denkt Ihr, werde ich noch warten müssen?« fragte Hana. Das fragte sie jeden, die Freifrau, die Wache vor der Tür, sich selbst… niemand konnte ihr eine vernünftige Antwort darauf geben.
»So lange, wie Dannen braucht, seinen faulen Hintern hierherzuschleppen«, antwortete die Freifrau wenig damenhaft. »Und glaub mir, Kind, ich hätte auch lieber, wenn das heute wäre statt morgen. Die Männer wollen zurück in den Krieg, sie geben dir die Schuld daran, daß sie noch nicht wieder dorthin zurück können - das ist das einzige, für das ich dir wirklich dankbar bin, solange sie hier herumsitzen, wird zumindest nicht noch einer von meinen Söhnen in Stücke gehauen. Aber niemand weiß, wie lange Dannen braucht, bis er hier ist. Und dann gibt es sicher immer noch viel zu bereden, ehe du wieder einen Fuß vor die Tür setzen kannst.«
»Nein!« rief Hana heftig. »Das könnt Ihr nicht zulassen! Ich muß selbst dabeisein, wenn über meine Zukunft entschieden wird, ich lasse nicht irgend jemand anderen darüber entscheiden!« Sie hatten diese Diskussion zu oft, und jedesmal wurde Hana lauter dabei.
»Fürs erste solltest du dankbar sein, daß ich dabeisitzen werde«, erwiderte die Freifrau. »Und wenn du Glück hast, kann auch Leota zu deinen Gunsten sprechen - da werde ich dir aber nichts versprechen, denn als ich meine Tochter das letzte Mal sah, war sie noch eine Frau, ich habe keine Ahnung, was mein feiner Herr Gemahl und der Krieg aus ihr gemacht haben.«
Und das war noch die tröstlichste Aussicht, mit der sich Hana die Zeit vertreiben durfte - und mit der Aussicht, daß ausgerechnet die Männer, die sie am meisten verabscheute, den Schlüssel zu ihrem weiteren Schicksal in der Hand hielten. Der König, und Dannen. Was die anderen Söhne sagen mochten, was irrelevant, sie hatten bislang nichts brauchbares gesagt und würden das auch weiter nicht; keiner von ihnen kam, um Hana zu fragen, wie es ihr ging oder dem Kind, oder was sie wollte - sie interessierten sich nicht für Hana, und das war noch das beste, was man über die beiden sagen konnte. Der König, der war eine Sache für sich, aber was Hana am meisten erzürnte, war der Anteil, den Dannen daran spielen sollte.
Als sie den Zweitgeborenen, der jetzt ausgerechnet Thronfolger sein sollte, kennenlernte, da hielt sie ihn noch für einen etwas unbeholfenen, linkischen jungen Mann, nicht einmal unsympathisch; einer, mit dem man ein paar Worte wechseln konnte, und damit hatte es sich eigentlich auch schon. Hana mußte ihm dankbar sein, denn er hatte sie beim Wildern in seinen Ländereien erwischt und alles Gesetz auf seiner Seite, sie davonzujagen, den Falken zu beschlagnahmen oder Schlimmeres. Er tat es nicht, vielleicht weil ihm seine Ländereien egal waren, er vielleicht auch, weil ihm Hana gefiel - es war eine Menge wert, ihn ein wenig näher kennenzulernen, wollte sie jemals als Falknerin hinaus aus ihrer Waldhütte und mehr als einen Vogel hüten. Daß sie über ihn Gerrat kennenlernte, war ein Glücksgriff. Aber was danach kam, war unschön.
Jedesmal, wenn sie Dannen traf, kam ein wenig mehr von seinem wahren Gesicht zum Vorschein. Dannen war launisch und eigenbrötlerisch, er fraß seine Wut in sich hinein, war offensichtlich der Ansicht, daß Hana ihm zugestanden hätte und nicht Gerrat, als ob er jemals auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte! Und alles, was er machte, war nach innen gerichtet, daß man nur warten konnte auf den Tag, an dem das alles mit Gewalt aus ihm hinausbrechen würde. Selbstverliebt und kindisch konnte er ruhig sein, das waren viele Männer und vielleicht alle, aber Dannen erschien Hana wie die Art von Kerl, der eine Frau schlagen würde. Sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe haben, nicht wenn er schmollte und grummelte, aber vor allem nicht in dem Moment, in dem er alle Masken fallen ließ und das, was sich in zwanzig Jahren in ihm aufgestaut hatte, hinausbrechen würde wie ein wütendes Tier.
Und ausgerechnet dieser Mann hielt nun Hanas Leben in der Hand! Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, seine Ankunft herbeisehnen oder fürchten. Tief in ihrem Innersten fühlte sie, daß seine Entscheidung schlimmer für sie ausfallen konnte als dieser Stubenarrest.
Vielleicht, wenn sie eine Gelegenheit bekommen konnte, vorher noch mit ihm zu sprechen - nicht, daß sie darauf erpicht war, aber vielleicht konnte man so das übelste vermeiden - und ihn dazu bringen, sie einfach laufen zu lassen, mit ein paar schönen Augen vielleicht… Aber Hana war nicht nach schönen Augen zumute, nicht für Dannen und auch sonst für keinen Mann, und sie ahnte, daß je mehr Dannen davon zu sehen bekommen würde, desto unwahrscheinlicher war es, daß er sie dann einfach so ziehen ließ. Und so wartete sie einfach nur, fühlte wie die Zeit verging, bis sie nicht mehr sagen konnte, wieviele Tage vergangen waren und wieviele Wochen, seit sie von Gerrats Tod erfahren hatte, fühlte, wie das Kind in ihr lebte und heranwuchs, und fühlte, wie sie selbst immer weniger wurde dabei, bis endlich der Tag eintraf, an dem Dannen mit seinem Gefolge in der Burg ankam.
Hana wußte nichts genaues, und egal wie weit sie versuchte, den Kopf aus dem Fenster zu strecken oder wie fest an der Tür zu lauschen, sie erfuhr keine Details über Dannens Ankunft - sie wußte ja nicht einmal, warum er mit Leota überhaupt aufgebrochen war, denn obwohl Hana die Königstochter ohne allzu langes Zögern als ihre Freundin bezeichnet hätte, hatte die doch nichts darüber verraten, worum es ging. Nur, daß der König sie fort schickte und sie tausendmal lieber mit ihm und den Brüdern in den Krieg gezogen wäre. Hana konnte sie nicht verstehen, alles erschien ihr besser als der Krieg, aber so war es nunmal mit Leota, die mit dem Schwert in der Hand aufgewachsen war…
Hana blieb also nichts anderes übrig, als die Dienerinnen zu belauschen, die kamen, um ihr das Bett zu richten, frisches Waschwasser zu bringen und, was wohl das wichtigste von allem war, ihren Nachttopf, der hier drinnen genauso ein Tagtopf war, zu leeren. Man konnte mit den Dienerinnen nicht reden, sie taten immerzu so, als ob Hana gar nicht da war, aber gerade darum konnte man sie umso besser abhören, wenn es irgend etwas neues gab - mit gebührender Verzögerung und dem Wissen, daß nur noch die Hälfte davon wahr war, bis es bei den Dienstmädchen ankam.
»Sie sollen ja Gefangene gemacht haben«, sagte die eine. »Zwei Männer, die haben sie in Eisen gelegt, und jetzt sitzen sie im Kerker!«
»Da hab ich aber was ganz was anderes gehört«, entgegnete die andere. »Der eine, der soll nämlich der Bräutigam sein für unsere Königstochter - ich hab ihn ja nicht selbst gesehen, aber die Mairi, die stand wohl am Fenster, als sie die hereingeführt haben, und sie sagt, so einen schönen Kerl hat sie ihr Lebtag noch nicht gesehen, und schöne Kerle haben wir hier ja eigentlich zuhauf mit unseren Engelsgeborenen!«
»Ja, und der andere? Das waren doch zwei!«
»Wird wohl dem sein Diener sein«, entgegnete das Mädchen gleichmütig. »Denk dir mal, wenn das ein fremdländischer Prinz ist, der wird doch wohl noch einen Diener brauchen.«
»Ja, wenn wir dem nicht gut genug sind…« Und mehr war nicht mehr zu hören, denn die beiden hatten ihre Arbeit getan und huschten wieder davon. Sie ließ der Schwertmann an der Tür passieren - wenn er denn noch da stand. Hana hatte längst aufgegeben, mit ihm diskutieren zu wollen, und da man in der Zwischenzeit einen Riegel an ihrer Tür angebracht hatte, mochte der Mann wieder auf seinem gewohnten Posten stehen. Hana zuckte die Schultern und begann ihr Haar zu flechten. Sie hatte immer noch keine Ahnung, um was es bei alldem ging und welches Mädchen nun recht hatte - aber sie wollte wie eine erwachsene Frau aussehen, wenn man sie denn hinausließ, und nicht wie ein flatterhaftes junges Ding mit losem Haar.
Sie gab nicht viel auf die Gerüchte. Und doch ertappte sie sich dabei, sich diesen fremdländischen Prinzen vorzustellen, den man vielleicht am Ende in Eisen gelegt und in den Kerker geworfen hatte.

Die Zeit, die verging, bis Hana endlich wieder etwas von der königlichen Familie hörte, verging unerträglich langsam und mit viel Angst und Unruhe. Hana knibbelte nervös an ihre Fingern herum, ging im Zimmer auf und ab, und wann immer es vor ihrer Tür auch nur das leiseste Geräusch gab, sprang sie auf, bereit, sich in den Thronsaal führen zu lassen oder wo immer die Besprechung stattfinden sollte, und zitterte bei der Vorstellung, daß sie vielleicht schon längst zusammen saßen und sich berieten, ohne daß sie selbst dabei sein durfte.
Wie lange sollte es denn noch dauern? Saß nicht der König auf glühenden Kohlen, hatte die rasche Ankunft seines Sohnes herbeigebetet, um endlich die Frage nach Hanas Verbleib zu klären und dann weiterkämpfen zu können? Worauf warteten sie denn? Aber tatsächlich dauerte es zwei Tage, zwei lange Tage, in denen es dunkel wurde und wieder hell, Tage, die Hana sich nicht einfach nur einbildete, Tage, an denen nichts geschah und sie nichts erfuhr. Dann, endlich, am dritten Tag, erschien die Freifrau wieder in Hanas Zimmer.
»So, Mädchen«, sagte sie. »Du kannst mit mir kommen. Es war ein zähes Ringen, aber dann habe ich mich doch durchsetzen können, daß du zumindest ein Anhörungsrecht haben sollst.«
Fast hätte Hana die Frau in überschwänglicher Begeisterung umarmt, doch dafür stand doch zuviel zwischen ihnen, und wenn es Hanas inzwischen spürbar schwangerer Bauch war. Sie fragte sich, ob dieses ‘zähe Ringen’ zwei Tage lang gedauert hatte, und ob ‘Änhörungsrecht’ bedeutete, daß man sie anhören würde, oder daß sie sich alles anhören durfte. Aber in dem Moment brachte sie vor Aufregung keinen Ton hervor. Ihr wurde schwindelig, daß sie sich mit der einen Hand an den Kopf, mit der anderen an den Leib faßte und sich erst einmal von der Freifrau aufs Bett setzen lassen mußte, ehe sie einen kurzen Augenblick später in der Lage war, das Zimmer mit ihr zu verlassen.
»Rechne nicht damit, daß du als freie Frau da wieder raus kommst«, sagte die Freifrau mit ihrem üblichen unnachgiebigen Ton. »Freu dich, wenn du am Leben bleibst. Es sind schon Frauen für weniger gestorben. Aber das hättest du dir überlegen können, ehe du mit meinem Sohn ins Bett gestiegen bist. Wenn er es denn war…«
An diese Sprüche hatte sich Hana inzwischen gewöhnt, und wenn sie es auch immer noch nicht gern hörte, widersprach sie nicht mehr. Das konnte sie sich alles noch für nachher aufsparen - und sie würde sich zu Wort melden, das wußte sie, und wenn man sie hinterher an ihren Haaren aus dem Saal schleifen würde, sie würde Gehör finden.
Und dann wurde sie tatsächlich in den königlichen Besprechungssaal geführt. Hier versammelte der König seine Generäle, hier wurden Kriege geplant und Provinzen verschachert, er war viel zu groß für ein Familientreffen, und viel zu groß war auch der Tisch, an dem sie alle versammelt waren: Der König am Kopf, Dannen an seiner rechten Seite - er sah seltsam falsch dort aus, es war immer Gerrats Platz gewesen, und das spürte Hana jetzt noch, obwohl sie niemals an einer solchen Beredung hatte teilnehmen dürfen oder wollen. Aber so ähnlich sich Dannen und Gerrat auch sehen mochten, vor allem jetzt, seit sich Dannen hatte einen Bart wachsen lassen, das, was Hana an Gerrat geliebt hatte, fehlte im Gesicht des Bruders. Da, wo immer Gerrats Lächeln saß, war bei Dannen nur ein verstockter, trotziger Zug, und seine Augen waren ohne Liebe, selbst nun, da sie Hana schamlos musterten. Auf der anderen Seite des Tisches saß Jaro, blickte Hana wie üblich nicht an, sondern auf die Tischkante - es waren nur ein oder zwei Gelegenheiten gewesen, daß Hana sich mit dem Jüngsten unterhalten hatte, und jedesmal hatte er das Gefühl vermittelt, am liebsten wegrennen zu wollen. Er wirkte am Hof noch deplatzierter als Hana, falls das möglich war, vielleicht, weil er bei seiner Mutter aufgewachsen war. Und auch Rul der Bastard fehlte nicht, er saß auf Jaros Seite, mußte aber einen Platz Abstand halten, wenn er sich nicht freiwillig dorthin gesetzt hatte. Das einzige Augenpaar am Tisch, auf das Hana sich ernsthaft freute, gehörte Leota, die an Dannens Seite saß und härter aussah, als Hana sie in Erinnerung hatte - aber sie wußte ja auch nicht, was auf der Reise der Geschwister geschehen war.
»Du wirst hier sitzen«, sagte die Freifrau und führte Hana zu einem Platz am anderen Ende der Tafel, nicht gegenüber des Königs, der Platz stand ihr nicht zu, aber doch so weit von ihm entfernt, wie das nur irgend möglich war. Vielleicht war es gut so. Hana konnte den König so erzürnen, ohne daß er ihr gleich an die Gurgel gehen oder das Schwert in den Körper stoßen konnte.
Sie fühlte immer noch Dannens Blick auf sich, so bohrend, daß sie sich zwingen mußte, ihn zu erwidern - er zog sie nicht mit Blicken aus, wie Männer es schon mal taten, sondern er schnitt ihr mit seinen Augen das Kind aus dem Leib. Es war so widerwärtig, daß Hana schlecht davon wurde, und sie war froh, als sie saß und ihr Körper größtenteils vom Tisch verdeckt wurde. Dann zählte sie die Weinkrüge auf dem Tisch und war froh, als sie zu dem Schluß kam, daß der König und seine Familie doch wohl nüchtern waren, wie es der Tageszeit angemessen erschien. Sie hatte schon befürchtet, von einem Haufen halbbetrunkener Streithähne verschachert zu werden, aber bei allem Durst, den die Königsfamilie sonst an den Tag legen mochten, waren sie sich hier offenbar der Schwere der Situation bewußt und der Bedeutung, die ein klarer Kopf für solche Entscheidungen hatte. Hana war auch froh, daß kein solcher Kelch vor ihr abgestellt wurde. Schon bei dem Gedanken an Wein wurde ihr übel, und sie hatte auch nicht das Gefühl, daß es ihrem Kind gut tun würde. Ihrem Kind - sie hatte die letzten Tage damit verbringen können, sich mit dem Gedanken endlich vertraut zu machen. Jetzt, wo sie vor die Richter ihrer Zukunft trat, hatte sie nicht mehr das Gefühl, einen Fremdkörper in sich zu tragen. Es war Gerrats Kind, und es war gut so.
»Und wo werdet Ihr sitzen?« fragte sie leise die hinter ihr stehende Freifrau, doch die schnaubte nur.
»Ich mich setzen? Das kommt nicht in Frage. Ich kenne meinen Platz an diesem Tisch, und den habe ich schon vor Jahren aufgegeben - nun trage ich die Konsequenzen und stehe lieber.« Etwas, das nah an ein Lächeln kam, umspielte ihre Züge. »Zumindest heißt das, ich bin als erste an der Tür - oder die erste, um eine verdiente Ohrfeige auszuteilen.«
»Genug jetzt!« dröhnte der König vom hinteren Ende des Raumes. Heute würde jeder brüllen müssen, schon um beim Ohr des anderen anzukommen. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit und wichtigeres zu besprechen! Steh auf, Mädchen!«
Hana, die sich gerade erst gesetzt hatte, seufzte bei sich und stand auf, nicht zu hastig, damit ihr nicht noch einmal schlecht wurde.
»Und jetzt dreh dich zur Seite!« befahl der König.
Wieder gehorchte Hana. Wenn alle Welt sehen sollte, wie schwanger sie nun war, bitte, aber ihr Kleid würde sie anlassen, egal was diese Kerle sagten. Sie sah, wie Dannen an seinem Ende des Tisches das Kinn in die Hand stützte und sich interessiert vorbeugte - das konnte dem so gefallen! Hana beschloß, daß sie genug gesehen hatten, und setzte sich wieder hin.
»Ich sehe«, sagte Dannen. »Nicht, daß ich das nicht schon früher gewußt hätte, aber jetzt wird es langsam wirklich offensichtlich. Es ist an der Zeit, daß wir etwas tun.« Gefiel ihm das, dazusitzen als nächster Thronanwärter und direkt nach dem König zu sprechen? Hana fragte sich, ob er Gerrat vermißte oder ob er nicht vielmehr mit Freude auf den Tod des Bruders reagiert hatte. Nach allem, was Hana von den beiden mitbekommen hatte, konnten sie sich nicht mehr besonders gut ausstehen - und Gerrats Tod konnte das nur schwerlich geändert haben.
»Und was würdest du jetzt tun?« fragte der König. »Oder ihr, Jaro, Rul, Leota?« Hana sah Leota einen Moment lang das Gesicht verziehen, als sie nach dem Bastard genannt wurde, aber so war nun mal die Reihenfolge - sie war eben nur eine Frau.
Dannen legte den Kopf schief. »Es wird in diesem Land keine Bastarde mehr geben«, sagte er leise, und seine Stimme klang seltsam belegt, als er den Blick von Hana nahm und statt dessen seinen Halbbruder geringschätzig musterte. »Das hast du selbst versprochen, Vater. Willst du dein Versprechen jetzt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit brechen?«
Hana konnte nicht sehen, wie Rul auf diesen direkten Angriff reagierte, er saß auf der gleichen Tischseite wie sie, aber zumindest sagte er darauf nichts. Nur Leota ergriff das Wort und ging ihren Bruder mit scharfer Stimme an. »Was willst du damit sagen? Daß wir das Kind töten sollen?«
Dannen verzog den Mund zu dem abscheulichsten Lächeln, zu dem er wohl fähig war. »Nach den Buchstaben des Gesetzes«, sagte er, »ist es bereits zu spät, wenn das Kind auch nur das Licht der Welt erblickt.«
Alles in Hana krampfte sich zusammen, und einen Augenblick lang war es ihr, als würde sie das Kind jetzt, sofort, mitten im Saal, gebären, aber es waren doch nur Schmerzen, keine Wehen. Trotzdem, sie klappte in sich zusammen, eine Hand gegen ihren Bauch gepreßt, und fühlte, wie alles sie anstarrte.
Alles drehte sich in ihr und um sie, bis sie von weither die Stimme des Königs fragen hörte: »Ist das dein Ernst, Dannen?«
»Nein«, antwortete Dannen schnell genug, daß Hana wieder atmen konnte. »Ich sagte nur: Nach den Buchstaben des Gesetzes. Die Gesetze habe ich nicht gemacht. Ich bin nicht der König.«
»Und was willst du damit sagen?« fragte sein Vater weiter.
Dannen schnaubte. »Ich will sagen, daß du schon wieder großspurig etwas von dir gegeben hast, ohne dir jemals Gedanken über die Konsequenzen zu machen.«
Langsam begann Hana zu verstehen, warum der König keine freundlichen Worte gebrauchte, wenn er von seinem Zweitgeborenen redete. Sie war selbst nie dabei gewesen, wenn die beiden aufeinander trafen, aber wenn das immer so ablief… Nur wußte sie jetzt gar nicht mehr, was sie denken sollte und was erwarten - es ging hier nicht um einen alten Groll zwischen Vater und Sohn, sondern immer noch um sie! Und so scherte sich Hana nicht um Regeln und Protokoll, sondern ergriff kurzerhand das Wort, bevor der König Dannen ohrfeigen konnte oder sie sonstwie vom Thema abkamen. »Ich möchte etwas sagen.« Es wirkte, einen Augenblick lang blickten alle zu ihr hin. »Ich werde mich nicht von Euch ermorden lassen«, sagte sie laut in den Raum hinein. »Und es kann kein Gesetz geben, das so etwas vorschreiben würde - nicht, solange dieses Land von einem Engel beherrscht wird, der einen jeden unrechtmäßigen Todesfall persönlich ahndet!« Sie fühlte sich zittern, während sie sprach, und hoffte, daß niemand es vom anderen Ende der Tafel aus sehen konnte. Schnell setzte sie sich wieder hin, hoffte, daß es Wut war, die sie zittern ließ, und nicht Angst. Niemand würde sie umbringen, und niemand ihr Kind -
»Was glaubst du, wer dieses Land regiert?« fragte der König schroff und mit einem Unterton, den Hana für Hohn hielt, »der Engel, oder ich?«
Hana erbleichte noch weiter und konnte nicht anders, als den König anstarren. Es denken, war eine Sache, aber es aussprechen -
Dannen lachte sie aus. »Wir sind hier unter uns, kein Grund, Spielchen zu spielen. Wenn Vigilander Interesse daran hätte, was hier vor sich geht, dann säße er in seiner ganzen geflügelten Pracht auf dem Thron. Wir herrschen in seinem Interesse - aber da wir ihn nicht fragen können, müssen wir manchmal selbst entscheiden, was genau sein Interesse wäre.«
»Aber es wäre niemals in seinem Interesse, eine unschuldige Frau zu töten!« Wieder war es Leota, die für Hana aufstand - aber solange nur sie das tat und niemand auf sie hörte, war Hana nicht gerettet.
»Unschuldig? Wo ist sie denn unschuldig?« Hana mochte Dannen nicht, aber sie hätte nie erwartet, daß er hier in diesem Maße gegen sie argumentieren würde - was war das, seine Rache? Wollte er sie tot sehen, zusammen mit seinem Bruder? Das konnte er nicht, das durfte er nicht… Aber die Wahrheit war, Hana hatte keine Ahnung, wie sie ihn einschätzen sollte. »Wir leben in Zeiten, da sind Leute schon für viel weniger gestorben! Es geht um nicht mehr und nicht weniger als das Gesicht unseres Hauses - sollten wir das verlieren, verlieren wir schnell auch alles andere - oder muß ich euch daran erinnern, was in Koristan passiert ist?«
Hana wußte nicht, was in Koristan passiert war. Über Politik sprach Gerrat nicht mit ihr, vielleicht glaubte er, daß es sie nicht interessierte oder sie es nicht verstand, und sie fragte nicht danach, froh, daß es noch eine Zeit gab, in der nicht ihr ganzes Leben Politik war.
»Aber was ist -«, fing Rul an und verstummte wieder, als Dannen ihm ein »Und du bist ganz still, Bastard!« zuranzte.
»Das genügt jetzt, Dannen!« sagte er König. »Ich habe gesagt, ich will deine Meinung hören, nicht, daß ich als König zurücktrete und du von jetzt an das Sagen hast! Es ist schlimm genug, daß du mir irgendwann nachfolgen sollst, aber jetzt weiß ich wenigstens, was mich dann erwartet, und was das Land.«
Dannen setzte ein sehr garstiges Lächeln auf. »Wenn du ohne mich entscheiden könntest, hättest du das schon längst getan, Vater. Aber du hast mich nach meiner Meinung gefragt, und das ist es, was ich gesagt habe: Wenn du den Buchstaben deines eigenen Gesetzes folgst, hast du keine andere Wahl, als dieses arme hübsche Ding hinrichten zu lassen, oder du mußt damit rechnen, daß sich dein eigenes Volk gegen dich erhebt, weil es genug von der Herumgehurerei in Vigilanders Haus hat.«
»Das ist keine Meinung!« dröhnte der König. »Das ist nur Gesetzverdreherei! Was du denkst, will ich wissen!«
»Was denkst du denn?« gab Dannen zurück.
Hana an ihrem Ende des Tisches wurde immer kleiner und wünschte sich plötzlich, doch nicht bei diesem schrecklichen Gespräch dabei sein zu müssen - war es nicht besser, am Ende vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, als hier zu sitzen und vor Entsetzen nicht zu wissen, was sie sagen sollte, und alles mitanzuhören, wie man ihr Leben dem guten Ruf eines Hauses opfern sollte! Sie konnte sich nur schützen, indem sie versuchte, nichts von alldem zu glauben, oder sich einzureden, daß sie da über eine andere Frau sprachen, nicht über sie… Aber es half nichts. Hana hatte schon viele bedrohliche Gelegenheiten erlebt in ihrem jungen, wilden Leben, aber dies war der erste Moment, in dem sie Todesangst verspürte. Es war nicht mehr in ihrer eigenen Hand, ihr Leben zu retten. Der König trug sein Schwert mit sich, wie immer. Wenn er beschloß, daß sie sterben sollte, dann würde sie diesen Saal nicht mehr lebend verlassen.
Aber der König seufzte. »Glaubst du vielleicht, ich will das Mädchen töten? Hätt sie gern zur Schwiegertochter genommen, das weißt du, und ich will weder sie umbringen noch ihr Kind. Aber wenn wir sie gehen lassen, und in fünfzehn, zwanzig Jahren kommt ihr Sohn an und hat ein Heer von Bauern hinter sich - das können wir nicht riskieren, nicht, bevor wir nicht wissen, was es mit dem Burschen jetzt auf sich hat. Ich sitze in einer Zwickmühle, was soll ich machen?«
»Einkerkern?« sagte, ganz leise, mit immer noch gesenktem Haupt, der junge Jaro. Ein schwacher Trost, immerhin schrie er nicht nach ihrem Kopf - trotzdem fing Hana bei dem Wort an zu weinen und wandte schnell den Blick ab, bevor jemand es sehen konnte. Tot oder ein Leben im Kerker - da wollte Hana noch lieber sterben, schon für ihr Kind. Sie konnte sich wenigstens an die Freiheit erinnern, aber ein Kind, das kein anderes Leben kennen sollte als das hinter Gitterstäben…
»Dann sterbe ich lieber!« Sie begriff nicht, daß sie das tatsächlich sagte - leben wollte sie, leben und nichts anderes, und das in Freiheit! - aber es brach einfach aus ihr heraus.
»Dann setze ich diesem Unfug jetzt ein Ende«, sagte Dannen und stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch, als wollte er sich schon zum Gehen wenden. »Vater, du gestattest, daß ich eine Entscheidung treffe?«
»Was willst du?« fragte der König.
Dannen nickte erst ihm zu, dann Hana, und das Widerwärtigste war, daß er ihr dabei zuzwinkerte. »Es geht darum, daß dieses Kind nicht als Bastard geboren werden darf«, sagte er. »Vigilanders Haus kann egal sein, wer der Vater ist, Hauptsache, die Frau ist zur Geburt ins Haus eingeheiratet. Da ist es doch ganz einfach. Ich heirate Hana.« Er lächelte ihr zu und konnte froh sein, daß Hana außerstande war, über den ganzen Tisch zu spucken.
»Gut«, antwortete der König, stand auf und klopfte Dannen auf den Rücken. »Natürlich, das macht alles einfacher. Hätte die Idee auch selber haben können, aber wirklich, ich habe schon mehr als genug eigene Kinder.«
Hana saß wie versteinert. Freiheit. Sie wollte Freiheit. Die Vorstellung, mit Dannen verheiratet sein zu müssen, war noch schlimmer als der Kerker. Wenn sie nicht jetzt die Beine in die Hand nahm und floh, solange sie noch laufen konnte, wenn sie ihre Kleider zurück ließ und ihren Falken und sich heute noch davonmachte, aus diesem Saal heraus gleichwegs hinaus in die Welt -
Aber da war der König schon bei ihr, und bevor sie sich wehren konnte, hatte er sie schon gepackt und an seine breitgebaute Brust gedrückt. »So nenne ich dich jetzt zum zweiten Mal Tochter!« Seine Stimme füllte Hanas ganzen Kopf, daß ihr der Schädel dröhnte und sie nichts anderes mehr denken konnte, geschweige denn fliehen. »Aber nochmal riskiere ich nicht, daß du als ledige Witwe endest, Mädchen! Dannen begleitet mich in wenigen Tagen zurück an die Front, und von mir aus darfst du hoffen, daß er nicht lebendig zurückkehrt, wir wissen ja beide, daß mir der falsche Sohn gestorben ist - aber egal. Vorher wird geheiratet.«
Und aus seinen Armen hinaus fiel Hana in Ohnmacht.

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