All
die Zeit über, in der Varyn sich davor gefürchtet hatte,
den Verstand zu verlieren - jetzt wünschte er sich, er wäre
es. Und alles, was er gesehen hatte nichts als ein Wahn, keine
Wirklichkeit, niemals. Varyn suchte Bilder in seinem Kopf, so wie sie
früher immer gekommen waren, ob er wollte oder nicht - jetzt
sollten sie ihm seine Familie zeigen, gesund, lebendig, so wie es
sein mußte. So wie es immer war. Aber sie kamen nicht, egal,
wie fest Varyn seine Augen auch zukneifen mochte, egal, ob er
versuchte zu schlafen oder drei Tage hindurch zu wachen: An dem Tag,
da seine Familie starb, spie der Wahnsinn Varyn aus, als hätte
es ihn nie gegeben.
Er
konnte schäumen, er konnte fluchen, er konnte sich tief in sich
zurückziehen, aber er konnte nicht mehr für sich allein
sein, und solange er das nicht konnte, würde er auch den
Dämmervogel nicht wiedertreffen - und das war ihr Glück.
Denn wenn sie sich das nächste Mal gegenüberstanden, Varyn
würde ihr ihren schönen bleichen Hals umdrehen, so wahr er
Varyn war. Er wußte genau, daß sie seine Familie
umgebracht hatte, sie und ihre Schwestern: Solange sie sich sein
Schicksal nannten, waren sie auch Schuld an allem, was ihm widerfuhr,
und das mit Absicht - aber Varyn konnte nichts machen. Er konnte nur
auf einem Pferd sitzen und sich vorstellen, sein Körper wäre
weit, weit entfernt von ihm und er nur ein stiller Geist, den nichts
berühren konnte. Aber es ging nie für lange. Früher
oder später würde jemand ihn ansprechen oder anstoßen,
und meistens war das dann Gaven, und er mußte wieder ein Bruder
sein und sich kümmern und versuchen, die Leere im Herzen eines
anderen zu füllen, wo er es bei sich selbst nicht konnte.
Varyn
verstand nicht, was mit ihm geschah, er sah nur keinen Sinn mehr
darin, sich zu wehren. Ob es ihn nordwärts jagte oder südwärts
trieb, ob er sich für einen freien Mann hielt oder ein
Gefangener in Ketten war, es änderte nichts. Das Schicksal würde
mit ihm machen, was es wollte. Was sie wollten.
Wenn
ihm das früher einmal jemand gesagt hätte - daß eines
Tages eine Königstochter kommen würde, um ihn mitzunehmen
auf ihre ferne Burg - ja, dann hätte Varyn gelacht und gesagt
‘So wird das wohl sein, ich bin halt was ganz besonderes!’
Aber nun war es so weit, und Varyn wollte weder die Königstochter,
noch etwas Besonderes sein. Dabei war die Königstochter nicht
einmal häßlich, wenn man davon absah, daß sie gut
und gern zehn Jahre älter als Varyn sein mochte: Aber es
bedeutete ihm nichts mehr. Ebensogut hätte sie abstoßend
häßlich sein mögen. Sie redete nicht viel, das war
Varyn ganz recht, und nach allem, was er über sie gehört
hatte, war sie noch unter denen gewesen, die versucht hatten, seine
Familie zu retten, sie und der Hauptmann. Varyn konnte sich nicht
dafür bedanken. Es hätte von Herzen kommen müssen -
und wofür danken, wenn es ihnen doch nicht geglückt war?
Wenn er schon so weit war, sich für einen Versuch zu bedanken,
mußte er auch sich selbst nicht mehr hassen, denn hatte er
nicht noch versucht, alle zu warnen? Nein, es ging nicht. Varyn
konnte sich nicht bedanken und sich selbst nicht verzeihen.
»Iß
wenigstens irgendwas«, sagte der Hauptmann. »Für was
hältst du mich, Junge, bin ich dein Kindermädchen, muß
ich dich füttern?«
Aber
Varyn reagierte nicht darauf. Essen - was sollte er essen? Wofür?
Am liebsten hätte er sich Stück für Stück
aufgelöst, seinen Körper einfach hinter sich gelassen wie
Sand, der aus einer Tasche rieselte. Vielleicht hatte er Hunger, aber
er gab nichts mehr darauf. »Gebt es Gaven«, murmelte er.
Manchmal glaubte er, Gaven war der einzige Grund, daß er
überhaupt noch am Leben war, aber konnte der Junge nicht
ebensogut auf sich selbst aufpassen und besser?
»Gaven
ißt schon«, sagte der Hauptmann. »Jeder von uns ißt
schon, jetzt mach dein verdammtes Maul auf und stell dich nicht so
an.«
»Laß
ihn«, unterbrach ihn Dannen. »Wenn er nicht will, werd
ich es essen, es hilft nichts, der wird sein Leben lang dünn
sein.« Wo man sich noch vorstellen konnte, daß Leota eine
Königstochter war, so stolz und aufrecht, wie sie auf ihrem
Pferd saß, keine Frau aus dem Dorf hätte ihren Kopf so
gehalten und ihren Nacken, war das bei ihrem Bruder schwerer. Wichtig
war immer der erste Moment, und Varyn hatte ihn als Dannen
kennengelernt, nicht als Königssohn oder sonstwas. Wenn es ihm
nichts ausmachte, ein Dannen zu sein, dann ging das für Varyn in
Ordnung - im Moment kam er mit dem Mann noch am besten klar von
allen, denn er schien nichts von ihm zu erwarten. Der Hauptmann würde
immer der Hauptmann sein, das hatte sich in Varyn eingebrannt und
würde sich auch nicht mehr ändern, egal was passierte. Und
die Königstochter war auch, was sie war, ein hohes Geschöpf,
das man nicht schräg ansehen durfte, wollte man nicht
Bekanntschaft mit ihrem Schwert machen - nicht, daß das Varyn
so gegangen wäre, aber ihr Blick reichte dafür schon aus.
Nur Dannen war nichts und konnte nichts und verlangte nichts, als daß
Varyn und Gaven mit ihnen kamen. Varyn konnte nicht sagen, ob er ihn
mochte - er mochte nichts und niemanden in dieser Zeit, es war nichts
mehr übrig in ihm, daß irgendwas oder irgendwen hätte
lieben oder auch nur mögen können, aber das war in Ordnung.
»Warum
läßt du dir das gefallen?« flüsterte Gaven ihm
manchmal nachts ins Ohr, wenn sie beide nicht schlafen konnten und
Varyn wieder die Vergangenheit suchte, um sie durch ein Loch in der
Zeit in die Gegenwart zu ziehen. »Du bist stärker als sie
alle drei zusammen, warum machst du sie nicht einfach fertig und
suchst das Weite?«
»Such
du es doch«, murmelte Varyn dann. Er war nicht mehr Gavens
starker großer Bruder, er war nur noch ein Mensch oder nicht
mal mehr das. Er stellte keine Fragen mehr, er, der früher in
allem und jedem einen Sinn hatte suchen und finden müssen. Sie
wollten ihn haben? Dann sollten sie das. Viel Aufwand für einen
armen Deserteur? Dann würden sie wohl auch wissen, daß
Varyn engelsblütig war. Jetzt, wo es heraus war, wußten es
wahrscheinlich alles, aber was bedeutete das noch? Wofür wollten
sie ihn? Varyn fragte nicht. Sie konnten mit ihm machen, was sie
wollten, er würde sich nicht wehren. Vielleicht sah er dann
eines Tages, wie sie alle starben, aber er würde sich nichts
mehr draus machen. Dann starben sie eben. Und wenn alle Menschen
starben oder die ganze Welt - es war ein Anblick, an den er sich nur
gewöhnen mußte. Ändern? Ändern konnte er ohnehin
nichts.
»Wirklich,
Gaven«, sagte er und versuchte, wieder erwachsen und vernünftig
zu klingen, »bring dich in Sicherheit, sie werden dir nicht
hinterher kommen, es geht ihnen nur um mich. Ich glaube nicht, daß
sie gutes mit mir vorhaben, und wenn du bei mir bleibst, machen sie
das gleiche mit dir - es wäre mir wohler bei dem Gedanken, dich
irgendwo weit weg zu wissen, wo es dir gut geht.«
Gaven
lachte, dieses heisere hohle Lachen, das er sich angewöhnt hatte
seit dem… Unglück und das zwanzig Jahre zu alt für
ihn klang. »Und wo soll ich hin, deiner Meinung nach? Unter
einen Berg, damit nichts mehr an mich drankommen kann?« Er
sprach wenigstens davon, das hatte er Varyn voraus. Oder sprach er
nur davon, um Varyn mit dem Gesicht voran in seine eigene Schuld zu
stoßen? Varyn fragte nicht danach. Er brauchte keine Hilfe, um
sich schlecht zu fühlen.
Varyn
zählte die Tage nicht, die sie auf der Landstraße
verbrachten, zählte nicht die Schritte, die sie sich für
immer vom Tal entfernten - es waren die Schritte des Pferdes, nicht
seine eigenen, und er war seltsam losgelöst von allem und froh
darum. Nicht einmal Gaven, der doch Pferde mehr mochte als alles
andere und früher seinen rechten Arm gegeben hätte für
die Aussicht, einmal an der Seite eines echten Hauptmanns auf einem
echten schwarzen Pferd zu reiten, sagte jemals ein Wort darüber
oder über die müden Hinterteile am Ende eines Tages - es
war auch nicht anders, als wenn einem die Füße weh taten
nach einem Marsch, und irgendwo mußten ihre Körper ja
erschöpft sein, sonst hätten sie am Ende gar keinen Schlaf
und keine Ruhe mehr gefunden.
Die
Abende waren das Schlimmste, wenn sie in einem Gasthof einkehrten.
Etwas anderes konnte Varyn nicht erwarten, niemand durfte verlangen,
daß eine Königstochter oder ein Dannen in einem feuchten
zugigen Zelt schliefen oder gar ganz im Freien, unter einem Baum.
Aber für Varyn war es der Abgrund, im wahrsten Sinne des Wortes.
Wenn sie tranken, ob es nun ein Bier war oder mehr, allein der
Gedanke zerrte an ihm. Da war sein Eid, den er nicht brechen durfte -
aber wie süß und tröstlich erschien ihm selbst das
Ende, das ihm winkte, wenn er den Eid brechen sollte? Gab es etwas
besseres für ihn, als direkt vom Abgrund verschlungen zu werden,
und alles hatte ein Ende? Und wo der Abgrund ihn nicht verschlang,
tat es der Alkohol…
Aber
unter den wachsamen Augen des Hauptmanns blieb Varyn tapfer. Wem
wollte er es beweisen? Es tat nichts zur Sache. Tief in seinem
Inneren wußte Varyn, daß es besser war, wenn er nüchtern
blieb. Selbst wenn es zu seinem eigenen Leidwesen war, und zu Gavens.
»Wenigstens
ein Bier könnten sie mich doch mittrinken lassen«, murrte
er. Aber solange Varyn nichts anrührte und der Hauptmann ihm
extra und nicht ohne vielsagend dabei zu grinsen einen Krug
Brunnenwasser kommen ließ, wurde auch für Gaven nur ein
weiterer Becher hingestellt, und damit hatte er sich zu begnügen.
Und das war das einzige, was diese Abende ein bißchen
erträglicher machte. Der Gedanke, jetzt auch noch Gaven
betrunken zu sehen, hätte Varyn den Rest gegeben. Also sprach er
ein Verbot aus, mehr gegen sich als gegen seinen Bruder, und wenn er
es gekonnt hätte, auch gegen alle anderen. Aber was sollte er
machen, sich vor sie hinstellen und sagen ‘Ich bin ein
Engelsgeborener, und ich befehle euch -’ Er wäre nicht mal
mehr bis zur Tür gekommen.
Und
irgendwie brachten sie die Reise hinter sich, Varyn in stumpfen
Brüten und Gaven in Trauer, die er mit niemandem teilen konnte,
wofür Varyn wiederum sich haßte, ihm aber nicht helfen
konnte. Vielleicht hatte Dannen ja Recht. Vielleicht konnte man nur
um die trauernd, die wirklich mit einem verwandt waren. Vielleicht
hatte Varyn sich nur einmal zu oft ganz allein auf der Welt gefühlt.
Vielleicht hätte ein halbes Maß an Schnaps den Damm
gebrochen - es war, wie es war. In Varyn war zuviel stumpfer Haß
auf sich selbst, um Trauer einen Raum zu geben. Sollte Dannen doch
mit Gaven trauern, oder die Königstochter, aber die blieben
unter sich, was ihre Trauer anging, und selbst wenn, wer hatte schon
Interesse an einem unnützen kleinen Jungen wie Gaven, der nicht
engelsblütig war und nicht wichtig und nur dabei war, weil er
sonst niemanden hatte und Varyn sich sonst in das nächstbeste
Schwert gestürzt hätte?
Aber
es war egal. Sie erreichten Caer Diuree. Und während sich
zumindest Gaven schon wieder genug gefangen hatte, um sich mit großen
Augen umzusehen und zu begreifen, daß dies die größte
Stadt war, die er wohl in seinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen
würde, nahm Varyn das wohl wahr, aber es bewegte nichts mehr in
ihm. Dann war es eben eine Stadt. Dann war sie eben groß. Dann
hatte sie eben die höchsten und dicksten Stadtmauern - wenn das
Schicksal es wollte, würde sie genau so zusammenbrechen wie der
Rest der Welt.
»Jetzt
haben wir ein Problem«, sagte Dannen, und man merkte, daß
die letzten Tage ihrer Reise ihn bedrückt hatten, oder das Ziel,
das sie nun endlich erreicht hatten. »Ich habe jetzt erstmal
Familiensachen zu erledigen - Leota auch, aber bei mir wird es ganz
hart. Ich habe in ein paar Fußstapfen zu treten, niemand fragt
mich, ob ich das will, ich habe keine Wahl.« Seine Worte
klangen seltsam offen für einen Mann, der von nun an Erbe eines
ganzen Königreiches sein sollte und der sich in Gesellschaft von
zwei schmutzigen Kohlenjungen befand, aber sie hatten schon einen so
langen Weg zurückgelegt und blickten gemeinsam auf ein so hartes
Schicksal zurück, daß diese Grenzen längst verwaschen
waren, und selbst der kalte Panzer, in den sich seine Schwester
hüllte, konnte keinem anderen Schutz dienen als ihrem eigenen.
»Du
meinst, wohin mit den beiden Jungen?« fragte sie, und Dannen
nickte.
»Wir
können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Mir ist mein Blut
herzlich egal, und bevor ich nicht weiß, was Varyn ist, werde
ich nicht vor ihm niederknien, solange er sich den Scheiß bei
mir spart, Hauptsache, er ist kein verhinderter Bruder von uns - aber
hier in der Stadt gelten andere Regeln, und wenn wir erst mal in der
Burg sind, erst recht. Wenn ich erstmal gebadet bin und wieder Fürst
Dannen statt Kumpel Dannen, kann ich nicht einfach so freundlich mit
euch umgehen wie bisher.«
»Warum
denn nicht?« fragte Gaven. »Wir haben doch nichts getan!«
Seine Stimme klang trotzig, sie klang eigentlich immer trotzig, wo
sie früher auch mal vergnügt gewesen war - Varyn fragte
sich, wie sehr man ihm selbst anmerkte, daß er nicht mehr der
Alte war. Aber allein schon, daß er seinen zukünftigen
König so direkt von der Seite anquatschte, gab Dannen auf der
ganzen Linie Recht. Wenn er sich jemals Ehrfurcht verschaffen wollte,
mußte er spätestens hier damit anfangen.
»Weil
wir im Krieg sind«, schnaubte Dannen. »Und ihr zwei seid
bestensfalls Deserteure, schlimmstenfalls feindliche Spione, und
allerschlimmstenfalls etwas, das wir noch gar nicht kennen - der gute
Hauptmann kann ein Gästequartier auf der Burg haben, bevor es
für ihn an die Front geht, endlich, ich wette, er zählt die
Tage schon rückwärts, aber für euch zwei… da
fällt mir nichts anderes ein als das Burgverlies.«
Varyn
zuckte die Schultern. »Dann eben das Burgverlies«, sagte
er.
»Bist
du bescheuert?« fauchte Gaven ihn an. »Die können
uns doch nicht so einfach einsperren! Wenn wir da erstmal drin
sitzen, als nächstes kommen sie und wollen uns hinrichten, hast
du daran schon mal gedacht?«
Varyn
blinzelte müde. »Haben wir euer Wort, daß ihr uns
nicht hinrichtet?«
Dannen
zuckte die Schultern. »Hängt davon ab, was unser Vater mit
euch vorhat - aber ich denke mal, wenn er euch zwei tot sehen wollte,
hätten wir euch jetzt nicht quer durch ganz Doubladir schleppen
müssen.«
Das
genügte Varyn, und darum hatte es auch Gaven zu genügen -
Varyn war es nicht nach einer langen Diskussion. Er wollte nur seine
Ruhe, sonst nichts, und wenn er die im Kerker haben sollte, konnte es
ihm recht sein. Den eigentlichen Kerker trug er in sich. Und was
seinem Körper in der Zwischenzeit passierte, passierte eben.
»Es
wird schon nicht für lang sein«, sagte Leota. »Spätestens
wenn Vater euch sehen will, werdet ihr heraus geholt.«
»Ihr
ist gut!« Gaven hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem
trägen Jungen, für den man ihn früher manchmal halten
konnte, sein Verstand war wach und flink, und meistens dachte er
jetzt für Varyn mit, weil dem selbst daran die Lust vergangen
war. »Ihr seid in Wirklichkeit doch nur an Varyn interessiert!
Und mich werdet ihr da unten vergessen!«
Dannen
lachte und griff Gaven beherzt in die Haare, schon weil jeder sich
denken können mußte, daß der das haßte. »Da
mach dir mal keine Sorgen - so laut, wie du immer herum schreist,
wird dich so schnell keiner vergessen.« Aber die Wahrheit
kannten sie alle: Wenn Gaven sich nicht selbst bemerkbar machte,
immer und immer wieder, blieb er auf der Strecke, und niemand würde
sich jemals auch nur daran erinnern, daß es ihn einmal gegeben
hatte. So wie er in Varyns Träumen fehlte und die
Schicksalsschwestern ihn nicht haben wollten - wie lange würde
es dauern, bis Varyn alles über ihn vergessen hatte?
Es
durfte nicht passieren. Gaven war Varyns ganze Vergangenheit, das
Tal, der Fluß, der Berg, die Familie. Vielleicht waren der
Dämmervogel und ihre Schwestern Varyns Zukunft. Aber zumindest
über seine Vergangenheit sollten sie keine Macht haben.
Erst
in der Zelle merkte Varyn, wie nah der Winter schon war. Er kam nicht
von Oben mit Schnee und Eis, er kam von unten aus dem Stein
gekrochen, aus dem Abgrund, und hier, tief unter der Burg, fing er
damit an. Die Burg war auf den Felsen gebaut - so sah das zumindest
aus, wenn man sich ihr näherte: In Wirklichkeit saß sie im
Felsen, so wie Moos und Flechten ins Gestein hineinwuchsen, und
nichts konnte sie dort jemals wieder herausreißen. Wenn irgend
etwas in der letzten Zeit jemals Eindruck auf Varyn gemacht hatte,
dann war es dieses Bauwerk, das von außen so groß aussah
und innen doch so eng war, weil die Mauern außen so dick waren,
daß Varyn nicht von einem Ende zum anderen greifen konnte. Und
wenn die Erde bebte, dieses Haus würde stehen bleiben. Den Stein
zu behauen, die Mauern zu errichten, Lage für Lage, das ganze
mußte hundert Jahre gedauert haben oder mehr. Keine Armee der
Welt konnte gegen diese Wände anrennen. Wen fürchteten
Vigilanders Erben so sehr, daß sie solche Mauern gegen ihn
errichteten?
»Es
sind harte Zeiten für die Engelsgeborenen«, hatte Dannen
gesagt. »Seit Koristan weiß keiner mehr, woran er ist.«
Und
doch, obwohl es so war, obwohl sie nicht wußten, ob es Varyn
war, den sie fürchten mußten, führten sie ihn ihn ins
Innere der Burg, über die Zugbrücke, unter dem Fallgitter
durch mit seinem beindicken Gestänge, durch das Portal, bis die
Außenmauern um ihn waren und er so nah am Herzen des Königs,
daß er nur hätte danach greifen brauchen… Wenn sie
wirklich glaubten, daß Varyn eine Gefahr für sie
darstellte - und Varyn gab ihnen keinen Grund dazu - konnten sie
nichts falscheres tun, als ihn in ihren eigenen Kerker zu werfen.
Dort teilten sie nur die Sicherheit ihrer Burg mit ihm. Aber wenn er
ihnen wirklich gefährlich werden sollte… Varyn schüttelte
sich. Warum sollte er?
Was
in Koristan geschehen war, hatte er sich erzählen lassen,
zumindest die Teile, die bekannt waren: Aber wer dem nächstbesten
Kind, nur weil es eine verlorene Krone gefunden hatte, dieselbe
gleich auf das viel zu kleine Haupt drücken mußte, war
selbst Schuld und hatte es nicht besser verdient. Und was in Koristan
die Krone war, das war in Doubladir das Schwert - und das befand sich
genau da, wo es hingehörte: Nämlich direkt am Gürtel
des Königs, wenn er es nicht gerade in der Hand trug. Wie es da
verlorengehen sollte, konnte sich Varyn nicht vorstellen. Aber
natürlich mußten die Engelsgeborenen vorsichtig sein, wenn
plötzlich in allen Ländern neue von ihrer Sorte auftauchten
und keiner wußte, woher. Varyn wußte nicht, wie viele von
seiner Sorte es gab, aber er hoffte, daß es nicht zu viele
waren - nicht, weil er dieses Blut für sich allein haben wollte,
sondern aus Mitleid. Sein Leben wünschte er niemandem sonst.
»Wollen
wir ihn nicht zuerst Vater vorführen?« fragte Leota ihren
Bruder, doch der schüttelte den Kopf.
»Es
geht um Vater - glaubst du, der kann an mehr als eine Sache
gleichzeitig denken? Und meinst du nicht, die Tatsache, daß wir
einen Bruder verloren haben, geht in dem Moment vor?« Er sagte
es mit so leichtem Tonfall, daß es Varyn nicht gewundert hätte,
wenn Leota ihn dafür geohrfeigt hätte. Varyn selbst drehte
es leicht den Magen um - was, wenn er selbst irgendwann anfing, so
vom Tod seiner Familie zu reden? Dannen und sein Bruder, das mußte
so gewesen sein wie Varyn und Edrik - die waren auch nicht die besten
Freunde, und vor allem die letzten paar Monate über war ihre
Beziehung ziemlich scheußlich: Und jetzt, wo Edrik tot war,
konnte sich Varyn an der Felswand den Schädel einschlagen dafür,
daß sie sich nicht noch wenigstens vertragen hatten oder er
sich verabschiedet, bevor er mit den Soldaten ging. Aber Dannen war
so seltsam, manchmal hatte man das Gefühl, daß er sich aus
anderen Menschen rein gar nichts machte, und mindestens die Hälfte
seiner Kaltschnäuzigkeit war nur gespielt - Varyn wurde nicht
schlau aus ihm und vermutete, das wurde er selbst auch nicht.
So
landeten also Varyn und Gaven schließlich in der Zelle, tief im
kalten Gestein unter der Burg. Oder, um es genauer zu sagen: In zwei
getrennten Zellen.
»Es
wird schon nicht für lang sein«, sagte Dannen. »Aber
wenn schon, machen wir das richtig, und es käme überhaupt
nicht in Frage, zwei gefährliche Verschwörer zusammen in
eine Zelle zu stecken, damit sie sich nur noch weiter verschwören
können. Meine Vorfahren haben genug von diesen Löchern
angelegt, das müssen wir ruhig mal ausnutzen, und ein paar Tage
werdet ihr das schon aushalten.«
Am
Anfang dachte Varyn noch unentwegt an Gaven. Ob es ihm auch gut gingg
in diesem kalten Loch, wo man nicht auf dem Boden liegen konnte ohne
die Angst zu haben, festzufrieren, und sich darum lieber auf die
kleine Pritsche legte, die an der Wand befestigt war, auch wenn sie
schmal war und viel zu kurz. Und wo ein Krug mit Wasser zu Eis werden
wollte, nicht von oben aus, wie Wasser sonst gefror, sondern vom
Boden aus. Wo es kein Fenster gab, das einem Licht geschenkt hätte,
und die Tür so dick war, daß sich auch keine Ratte
hindurch nagen konnte. Armer Gaven. Ob sie ihn auch anständig
fütterten? Einmal am Tag gab es eine Schale Grütze, die
Varyn sehr an das erinnerte, was auch der Arme verfüttert wurde,
wenn man nochmal die gleiche Menge Wasser hinzu goß. Bei
Gefangenen war es nicht so wichtig, sie bei Kräften zu halten.
Ob das Essen wirklich einmal am Tag kam oder seltener, konnte Varyn
noch nicht mal sagen, denn es war so dunkel, andauernd, daß die
Tage doppelt so lang hätten dauern können, ohne daß
er es merkte.
Aber
auf seine eigene Weise war es gut. Die Dunkelheit, die Enge, die
Stille - vor allem die Stille. Nicht Mauern trennten die Zellen
voneinander, sondern Fels, und was dort auch vor sich gehen mochte,
es kam nicht bei Varyn an. Hier unten saß er in seiner eigenen
kleinen Welt, wie im Toten Mann oder im Königreich der Stille.
Varyn fragte sich, ob dieser Ort auch so tödlich war wie die
beiden anderen, und ob es auf der ganzen Welt etwas gefährlicheres
gab als Stille, aber es genoß sie. Sie gab ihm, zum ersten Mal
wieder seit so vielen Wochen, allein mit sich zu sein, so allein, wie
er sich immer fühlte. Langsam sickerte Gaven aus seinem
Bewußtsein, vom Vorderkopf in den Hinterkopf und von dort
weiter ins Vergessen, oder zumindest fast…
In
seiner Tasche fand Varyn ein Stück Kreide, rundgeschliffen von
der langen Reise und von viel grauem Mehl umgeben; es war ein Fehler
gewesen, den Brocken zusammen mit einem Stück Schutt von der
Abraumhalde zusammengepackt zu haben, aber wenigstens hatte ihm das
nie jemand abgenommen. Seit seinem Aufbruch hatte Varyn seine Zeichen
nicht vermißt, und wenn doch, war nie die Gelegenheit, neue zu
malen, außer im Königreich der Stille, wo man mit Wörtern
malte und mit Atem - aber hier unten, wo nichts lebte außer ihm
und dem Winter, begann Varyn wieder zu malen. Er schrieb seine Schuld
an die Wand, wie er früher seine Bilder geschrieben hatte, und
die Kreide verschwand, kaum daß sie die Wand berührte,
wurde aufgesogen von dem Gestein. Und obwohl das erste Zeichen, das
Varyn an die Wand malte, eine Sonne war, so wie er immer als erstes
eine Sonne malte, egal so, wurde es um und für ihn kein bißchen
heller oder wärmer.
Dafür
kehrten hier unten die Träume zurück - und mit ihnen der
Dämmervogel.
Diesmal
hatte Varyn sie nicht gerufen, aber er wußte, daß sie
kommen würde, als die enge Zelle begann, sich mit Zwielicht zu
füllen. Erst konnte er nicht sagen, wo es herkam, aber als er
merkte, daß es um ihn herum immer kälter und kälter
wurde, begriff er, daß es sein eigener Atem war, der zu grauem
Nebel erstarrte und darin das bißchen Licht fing, das unter der
Türritze durchsickern mochte. Er schlang die Arme um sich und
versuchte, sich irgendwie aufzuwärmen, aber es war so wenig
Leben in ihm, so wenig Wärme, daß er schneller zu Eis
erstarren konnte, als daß auch nur sein Herz schlug. Die Kälte
schien aus ihm selbst hinaus zu kommen. Es machte ihm Angst, aber nur
langsam - alles war langsam, bevor sie kam. Varyn wußte, daß
sie jetzt jeden Augenblick auftauchen konnte, irgendwo im Nebel, aber
er fühlte sich unfähig, sich auch nur zu rühren.
»Dämmervogel«,
sagte er in den Frost hinein, »bleib wo du bist. Ich will dich
nicht sehen.« Nicht jetzt. Nicht hier. Hier unten gab es kein
Wegrennen, kein Entkommen - wenn ihm bis dahin der Dämmervogel
erschienen war, dann gab es immer noch einen Ort um Varyn, wo sie
nicht war - im Toten Mann den Ausgang, im Königreich der Stille
den Fluß, und auch in ihrem seltsamen Haus in den Steinen von
Sharaz war mehr Weite, als drei Frauen brauchen konnten.
Varyns
Angst wuchs, ohne daß er etwas dagegen tun konnte - vor allem
die Angst, daß er in dem Nebel wieder Dinge sehen würde,
Dinge, die noch nicht passiert waren, sich aber nicht mehr abwenden
ließen. Es gab noch so viele Menschen auf dieser Welt, die alle
sterben konnten… Varyn erzitterte von innen heraus. Er wollte
sich schütteln, die Angst abschütteln, aber es ging nicht.
Und wenn der Dämmervogel nun kam, konnte er nichts von dem tun,
was er sich geschworen hatte, wenn sie ihm das nächste Mal unter
die Augen trat.
»Varyniel.«
Er spürte ihre Stimme, bevor er sie hörte, es brachte
Bewegung in den Nebel, und das Zwielicht wurde noch etwas dichter.
Dann nahm ihr dunkler Schemen Form an. »Sei ohne Sorge,
Varyniel. Ich bin bei dir.«
Varyn
schnaubte. »Und dann soll ich mich nicht sorgen?« Es
hatte eine Zeit gegeben, da liebte er sie fast. Da hätte er viel
gegeben, um den Klang ihrer Stimme zu hören und vielleicht sogar
einen Hauch von ihrem Gesicht zu erhaschen, das schöner sein
mußte als alle Gesichter auf der Welt, aber diese Zeit war
vergangen, war unter einem Berg zusammengebrochen und hatte nichts
als kalten Haß zurückgelassen. »Geh dorthin, wo du
hergekommen bist, und nimm deinen verdammten Nebel mit, ehe ich mich
vergesse!«
»Vielleicht
solltest du genau das tun?« fragte der Dämmervogel. Ihre
Stimme war immer noch dunkel und süß, immer noch lockend,
aber es war zu spät. Seit Varyn ihr Gesicht gesehen hatte,
seitdem er ihren Namen kannte, hatte sie begonnen, die Macht über
ihn zu verlieren, Stück für Stück. »Dein Geist
sitzt in der Vergangenheit, Varyniel. Schau geradeaus.«
»Es
gibt kein geradeaus«, erwiderte Varyn und fragte sich, warum er
überhaupt auf sie einging - sollte er sie nicht besser einfach
auflaufen lassen und ignorieren, damit sie wieder verschwand?
»Ich
weiß, es ist schwer für dich«, sagte der
Dämmervogel, und wenn Varyn auch nur einen Knochen am Leib hätte
rühren können, er hätte sie packen und gegen die
Felswand schleudern mögen. »So ein harter Verlust - du
hast alle verloren, die du geliebt hast. Glaub mir, ich weiß,
wie sich das anfühlt.«
»Nichts
weißt du!« spie Varyn ihr entgegen. »Nicht wie sich
Liebe anfühlt, oder Verlust, und auch nicht, daß einer
überlebt hat, mein Bruder Gaven!« Aber warum konnte er ihr
das Entscheidende nicht sagen - daß er glaubte, daß
alles, was geschehen war, ihre Schuld war und die ihrer Schwestern?
Und nicht nur Schuld, sondern sogar Absicht? Er brachte es nicht
heraus, und auch nicht, daß er sie haßte.
»Einer
mehr oder weniger«, sagte der Dämmervogel leise, »macht
das so einen Unterschied?«
»Ja!«
schrie Varyn, so laut, daß man es in jeder Zelle hätte
hören müssen, wenn Varyn denn noch in seiner Zelle war und
nicht längst in irgendeiner Zwischenwelt, in der es immer Winter
war. »Ja, das macht einen Unterschied! Ich würde mein
Leben geben dafür, wenn auch nur einer von ihnen nicht gestorben
wäre!«
»Gut«,
sagte der Dämmervogel sanft und nahm damit die Luft aus allem,
was Varyn ihr noch hätte an den Kopf werfen mögen. »Wer
weiß, vielleicht wirst du noch eine Gelegenheit dazu haben…«
»Wozu?«
fragte Varyn kalt. »Mein Leben zu geben? Das kannst du haben,
besser gleich als später.« Da stand sie vor ihm, ein Nebel
dort, wo ihr Gesicht hätte sein sollen - Varyn wußte, sie
war nicht wirklich da, nur ein Traumbild, daß sie durch Raum
und Zeit schicken konnte, unsterblich und unlebendig, mit Augen, die
sahen, aber ohne ein Gesicht. Selbst wenn er sie hätte schlagen
können, in Wirklichkeit hätte sie das nicht getroffen, sie
war in Sicherheit bei ihren Schwestern… Kurz fragte sich
Varyn, was ihr Körper tat, während ihr Geist bei ihm war,
ob sie dabei schlafen mußte, oder ob sie das so nebenbei
machte, vielleicht während sie den Boden fegte oder Gemüse
kleinschnitt - aber er wußte nicht einmal, ob sie jemals
schlief oder aß.
»Ja«,
sagte sie. »Das weiß ich. Du bist auf keinem guten Weg,
Varyniel - weißt du, wohin er dich führt?«
Varyn
lächelte in den Nebel. »In eine Sackgasse. Diese Zelle hat
einen Eingang, aber keinen hinaus.« Dort an der Wand konnte sie
das Zeichen sehen, wenn sie sich danach umdrehte, Sackgasse, als ob
das noch etwas bedeutete.
»Nein«,
antwortete der Dämmervogel. »Du bist auf dem Weg in die
Stille, bei lebendigem Leibe. Ich bin hier, damit du nicht stirbst.
Ich bin immer hier, damit du nicht stirbst.« War sie jemals zu
ihm gekommen, wenn er nicht gerade dabei war, sich zugrunde zu
richten?
»Diesmal
nicht«, sagte Varyn. »Ich trinke nicht mehr.«
»Das
macht diesmal keinen Unterschied.« Die Stimme des Dämmervogels
war so ernst wie bedauernd. »Diesmal stirbst du von innen nach
außen. Ich bin hier, weil deine Seele so gut wie tot ist, egal,
ob dein Körper sich noch bewegt, und das nur, weil du nicht mehr
leben willst.«
»Wo
du recht hast…«, sagte Varyn. Sollte sie ihn diesmal vor
die gleiche Entscheidung stellen wie beim letzten Mal, er brauchte
nicht mehr zu antworten. Tot gefiel er sich besser als lebendig, und
wer konnte sagen, ob er nicht auf der anderen Seite seine Familie
wiedersehen sollte, und bei ihnen um Vergebung bitten, wo er es im
Leben nicht mehr konnte? Wenn er denn in den Himmel kam. Varyn fühlte
sich mehr wie eine Kreatur des Abgrunds, dunkel und scheußlich.
»Ich
lasse nicht zu, daß du stirbst«, sagte der Dämmervogel.
Hatte sie das nicht schonmal gesagt? »Wenn du dir jetzt dein
Herz vergiften läßt, dann haben sie gewonnen.«
»Sie?«
fragte Varyn zurück, und zum ersten Mal verspürte er so
etwas wie Interesse. »Deine Schwestern?« Bis dahin hatte
er gedacht, daß die drei eine unzertrennbare Einheit
darstellten, die nur immer den Dämmervogel als Boten und
Sprachrohr benutzten. Aber wenn sie in Wirklichkeit ein
unterschiedliches Spiel spielten… Wenn der Dämmervogel
ihn nun warnen wollte -
»Natürlich
nicht!« Die Stimme peitschte durch den Nebel wie eine Ohrfeige.
»Glaubst du, wir sind deine Feinde? Denk nochmal!«
Varyn
spürte wieder, wie ein unbestimmbares Zittern in ihm aufstieg.
»Ich habe keine Feinde«, wollte er sagen. Außer den
Schwestern. »Und auch nicht Dannen und Leota…« Er
fühlte sich dumm und gleichzeitig zornig. Es brauchte keinen
Dämmervogel, um ihn vor der Welt zu warnen, und wer sein Gegner
war, wollte Varyn immer noch selbst entscheiden dürfen.
Statt
dessen fühlte er eine Berührung, wie eine Hand, die ihm
übers Gesicht strich. Eine warme Hand wäre angenehm
gewesen, aber diese war so kühl wie der Nebel und sperrte Varyn
nur noch tiefer in seinem Körper ein. »Sie sind jedermanns
Feinde, aber deine am allermeisten. Sie hassen das Leben, sie hassen
das Licht, sie hassen alles, was auf dieser Seite der Welt ist, sie
hassen die Elomaran, und sie hassen alle, die von ihrem Blut sind.«
»Die…
Nilomaran?« fragte Varyn tonlos. Er hatte diesen Namen noch nie
ausgesprochen - für ihn waren sie nur ein Kinderschreck, er
brauchte keine undefinierbaren Geschöpfe, die im Abgrund
lauerten; der Abgrund allein reichte ihm schon völlig aus, um
Angst davor zu haben.
Diesmal
strich die Hand über sein Haar. Nicht ganz so schlimm wie in
seinem Gesicht, aber trotzdem. Die Stimme war ganz leise, als sie
fragte: »Wer, glaubst du, hat deine Familie getötet? Und
warum, glaubst du, fehlt mir die Kraft, um als mehr als ein Geist vor
dir zu stehen?«
Varyn
sagte nichts. Halb fühlte sich das Ganze für ihn wie ein
Trick an - seine Meinung über den Dämmervogel hatte sich zu
sehr ins Negative verändert, jetzt wollte sie, daß er sie
wieder gern hatte, oder Mitleid… Aber wenn er nichts sagte,
würde sie weiterreden, und dann wußte er vielleicht
besser, woran er war. Gerade eben wußte er jedenfalls nicht,
was er denken sollte.
»Es
gibt vieles, was wir dir nicht erzählt haben«, sagte der
Dämmervogel. »Nicht, weil wir nicht wollen, daß du
es erfährst, sondern weil wir dachten, daß es noch zu früh
für dich wäre. Wir wissen sehr viel. Nicht alles, aber sehr
viel, und von vielem wissen wir, daß es passieren wird, weil
wir das Schicksal kennen. Das ist nicht schön, du weißt
es. Aber das, was du manchmal gesehen hast, sehen wir jeden Tag. Du
hast gesehen, was mit deiner Familie passieren würde, und hast
ihnen nichts erzählt, um ihnen keine Angst zu machen und weil du
im Grunde deines Herzens nicht geglaubt hast, daß es wirklich
passieren würde. So geht es uns auch - wir wissen, doch wir
wünschen, es wäre nicht. Darum haben wir dir nichts gesagt.
Wir haben dich nach Sharaz kommen lassen, um zu sehen, ob du schon in
der Lage bist, von dir aus Aufgaben zu meistern und Hindernisse zu
überwinden -«
Varyn
schüttelte den Kopf, zumindest soviel, wie er es konnte, die
Lähmung und Kälte fielen nicht von ihm ab, so sehr er es
sich auch wünschte. »Ich kenne euren Grund«, sagte
er. »Du mußt mich nicht anlügen. Von mir aus
verschweig mir alles, aber lüg mich nicht an.« Er wunderte
sich, daß er es schaffte, so ruhig zu bleiben dabei. Sie hatten
ihn schon angelogen, alle drei, und genauso würden sie es wieder
tun. »Ihr wolltet, daß ich nicht dabei bin, wenn…
es geschieht.« Er schluckte.
»Ja«,
sagte der Dämmervogel. »Das ist wahr. Wir kennen den
Grund, warum das Bergwerk zusammengebrochen ist, und wir wissen auch,
wer das eigentliche Ziel sein sollte. Nämlich du.«
»Ich
weiß«, sagte Varyn wieder. Er hätte dort sterben
sollen. Und darum fühlte sich sein Leben seither falsch an, als
gehöre es einem anderen. Von Rechts wegen war Varyn tot, und
Gaven auch. Aber Gaven wußte das nicht, Varyn schon.
»Es
tut mir Leid«, sagte der Dämmervogel. »Alles. Es tut
mir so Leid, Varyniel.« Ihre Stimme war zu leise, als daß
man sagen konnte, wie aufrichtig sie es meinte, und sie war zu fern,
als daß Varyn sich in sie hineinfühlen konnte. »Wir
haben gekämpft. Wir haben es wirklich versucht.«
»Ich
verstehe das nicht«, sagte Varyn. »Angefangen damit, was
ich bin und warum ich so wichtig sein soll, für euch, für
die Nilomaran - du meinst doch, sie wollen mich tot haben? Warum
machen sie sich die Mühe, und warum ihr? Die ganze Welt ist
voller Engelsgeborenen, sie sind daran gewöhnt, gut ausgebildet
und alles, sie können kämpfen - warum pickt ihr euch dann
gerade mich heraus und laßt mich nicht einfach ein normales
Leben haben?« Und bevor sie antworten konnte, denn auf die
Frage würde sie ohnehin nur wieder die gleichen Dinge sagen wie
sonst, so einfach war das eben nicht, und er war ein Kind des Engels
des Schicksals oder zumindest von dessen Blute, und so weiter,
stellte er die Frage, die ihm wirklich auf der Seele brannte. »Wenn
die Nilomaran mich umbringen wollen - warum nehmen sie dann
ausgerechnet den Moment, wo ich nicht da bin? Sie hätten
fünfzehn Jahre gehabt, wo ich das Tal nie verlassen habe. Oder
ein paar Tage warten, dann wär ich wieder zuhause gewesen. Aber
wenn ich ihr Ziel bin, warum bringen sie dann nur alle anderen um und
nicht mich?«
Fast
fühlte es sich an, als ob der Nebel um ihn herum lächelte
und der Dämmervogel mit ihm. »Schicksal«, sagte sie,
und allein für dieses Wort hätte er sie erschlagen können,
»ist manchmal mächtiger als der Abgrund selbst. Und dein
Schicksal war es, daß du überleben solltest.«
»Aber…
ihr habt nachgeholfen?« fragte Varyn dumpf. Die Frage konnte
alles heißen - nachgeholfen, daß er überlebte, oder
nachgeholfen, daß alle anderen starben. Vielleicht antwortete
der Dämmervogel deswegen nicht darauf.
»Die
Nilomaran sind nicht dumm«, sagte sie. »Und was immer du
tust, mach niemals den Fehler, sie zu unterschätzen. Sie haben
nur eine Schwäche, noch. Sie können nicht sehen, was auf
dieser Seite der Welt passiert. Sie sind die Augen des Abgrunds,
ebenso wie die Elomaran die Augen des Himmels sind.«
»Noch?«
fragte Varyn. Ein Noch an dieser
Stelle machte immer Angst, selbst jemandem, der fast nichts mehr
fühlen konnte.
»Noch«,
wiederholte der Dämmervogel, und dann redete sie weiter, daß
Varyn sich schnell wünschte, sie hätte es nicht getan. »Wir
sehen mehr als du, Varyn, und wir sehen es nicht gerne, aber bald
wird ein Bote des Abgrunds auf der Welt wandeln, größer
und mächtiger als alle, derer sie sich bis jetzt bedient haben.
Und die Welt wird vor ihm erzittern, Häuser werden fallen und
das Alte aufhören zu sein. Darum bist du da, Varyniel.«
Es
war, als greife eine kalte Hand durch Varyns Brustkasten und halte
sein Herz an, nur für einen Moment und doch schrecklich genug.
»Und dieser Bote…«, fragte Varyn tonlos, »der
soll ich sein?« Er wußte es. Er hatte es immer schon
gewußt. Seit er sich zum ersten Mal dem Abgrund gegenüber
sah in seiner eigenen Seele und sie einander erkannten, wußte
er, daß er dem Abgrund gehörte. Er konnte sich noch so
sehr wünschen, daß alles gut werden würde - in ihm
war alles schwarz und tief und unendlich. Plötzlich paßte
alles so gut zusammen -
»Nein«,
sagte der Dämmervogel. »Das bist nicht du. Der Abgrund hat
seinen Boten bereits, und wir können nichts dagegen unternehmen.
Er wird kommen, auch das ist Schicksal. Wir haben in den Nilomar
geblickt und wissen, wer ihm entsteigen wird. Aber du, Varyniel, du
hast eine andere Aufgabe. Du bist derjenige, der sich ihm
entgegenstellen wird.«
Varyn
verstand nicht, und etwas in ihm meinte, daß das auch ganz gut
so war, wenn er nicht wollte, daß ihm der Schädel platzte.
»Ihr seid auch Engelsgeborene, nicht wahr?« sagte er. Das
war eine Ablenkung, die einzige, die ihm einfiel. Er gegen den
Abgrund, allein? Das war das Ende der Welt, sonst nichts. »Von
Sharazanders Blut, wie ich?«
Sie
antwortete nicht auf diese Frage, aber das mußte sie wohl auch
nicht mehr. Die Antwort lag auf der Hand, auch wenn die Schwestern
Varyn nicht halb so ähnlich sagen wie die Vigilanderskinder
einander. Aber das waren auch echte Geschwister, während Varyn
irgendwann mal einen Engel unter seinen Vorfahren hatte…
Ebenso wie Dannen und Leota, sagte er sich dann und mußte fast
lachen, wäre ihm nicht gleichzeitig so übel gewesen. Ein
Engel von dem man wußte, und man wurde König. Ein Engel,
von dem niemand wußte, und man wurde Bergmann. Wie einfach die
Welt doch war, und wie seltsam!
»Hast
du mir zugehört?« fragte der Dämmervogel direkt in
Varyns tröstlich abschweifende Gedanken hinein. »Ich habe
dir gerade etwas verraten, was du unmöglich jetzt schon erfahren
solltest, aber du läßt mir keine Wahl.«
Gegen
seinen Willen mußte Varyn nicken. Es war nur ein Traum. Wenn er
aufwachte, hatte er vielleicht alles wieder vergessen. Hoffentlich.
Aber er vergaß seine Träume niemals, und dieser würde
keine Ausnahme machen. »Warum?« fragte er. Es waren so
viele Warums in einem. Warum er? Warum jetzt? Warum keine Wahl?
»Weil
du dabei bist, in die Stille zu driften«, sagte der
Dämmervogel. »Und wenn du das tust, gibt es niemanden
mehr.«
»Nein«,
sagte Varyn. Hatte er ihr jemals Nein gesagt? Es fühlte sich
gern an. »Die Welt ist nicht auf mich angewiesen. Es gibt so
viele Menschen, die sie lieben und den Abgrund hassen. Wenn ich nicht
mehr da bin, wird jemand anders die Aufgabe übernehmen,
freiwillig, und sie besser machen als ich.« Wie stellte sich
ein einzelner Mensch dem Abgrund entgegen, und warum sollte er, wenn
es auf der ganzen Welt Tausende von Menschen gab, die das ebensogut
zusammen tun konnten? Wenn nur ein einziger aufstand, hatte der
Abgrund längst gewonnen.
»Du
wirst nicht allein sein, Varyniel«, sagte sie. »Hinter
dir stehen viele, schon jetzt.«
Aber
das waren seltsame Worte an jemanden, der in einer Zelle saß,
nicht viel größer als der Grund eines Brunnenschachtes.
Varyn hörte sie sich an, aber sie rührten ihn nicht - sie
klangen einfach nicht so, als wären sie für ihn bestimmt.
Im Moment machte ihm noch nicht einmal wirklich Angst, daß der
Abgrund sich erheben sollte - und wenn er es tat, und wenn er es
schon getan hatte, das Schlimmste war längst geschehen und nicht
mehr ungeschehen zu machen. Da hätte sich Varyn dem Abgrund
entgegenstellen müssen, bevor der seine Familie verschlang - was
sollte er jetzt noch tun? Rache schwören am Abgrund? Er hatte
bereits versucht, sich am Berg zu rächen, ohne Erfolg: Der
Abgrund würde noch viel weniger darauf reagieren. »Ich
habe dich gehört«, sagte Varyn zum Dämmervogel, »aber
ich glaube nicht, daß ich dir glauben kann. Und deine Worte
prallen an mir ab. Vielleicht solltest du ein Andermal mit ihnen
wiederkommen?«
Ihr
Schemen schüttelte den Kopf. »Eigentlich«, sagte
sie, »bin ich gar nicht gekommen, um mit dir zu reden. Ich will
dir etwas zeigen.«
»Zeigen?«
Varyns Lippen verzog es zu einem reglosen Lächeln. »Hier
unten?«
»Ich
werde dich mitnehmen«, sagte der Dämmervogel. »Dafür
habe ich mir meine letzte Kraft aufgespart. Wenn du einverstanden
bist, gib mir deine Hand.«
Varyn
behielt seine Hand lieber für sich. »Wenn du keine Kraft
mehr hast«, sagte er vorsichtig, »wie soll ich wissen,
daß ich dann hierher zurückkehren kann?« Er wußte,
wie es war, außerhalb des eigenen Körpers zu sein und den
Weg hinein nicht mehr zu finden. Es war nichts, was er gerne noch
einmal so erleben wollte. Und wenn der Dämmervogel verhindern
wollte, daß Varyns Seele verloren ging, sollte sie ihn besser
nicht einfach so mitnehmen!
»Dafür
wirst du schon selbst sorgen«, sagte sie ruhig. »Und wo
nicht du, dann meine Schwestern. Gib mir deine Hand!«
Und
obwohl Varyn immer noch vom Gegenteil überzeugt war, gehorchte
er.
Aus
seinem Körper gezogen zu werden, war seltsam befreiend. Das
Gefühl der Eiseskälte, das ihn eben noch fest in seinem
Griff gehabt hatte, verschwand und löste sich auf, und mit ihm
der Winter, die Zelle, und alles andere, was Varyn an die Welt der
Lebenden band. Er konnte wieder frei atmen, auch wenn er es nicht
mehr mußte, er konnte sich bewegen wohin er wollte, und die
einzige Sorge, die er noch mit sich nahm, war die, daß sein
Körper steifgefroren sein würde, bis er wieder bei ihm war.
Ansonsten war alles leicht, so leicht wie ein Traum, und Varyn
hoffte, daß es wirklich nichts anderes war. Dann war das graue
Zwielicht um ihn, machte ihn blind für einen Augenblick, und als
er wieder sehen konnte, war er an einem anderen Ort.
Neben
ihm stand der Dämmervogel, diesmal nicht verschwommen und
durchscheinend, sondern in ihrer menschlichen Gestalt, von der Varyn
nicht wußte, ob sie auch nur einen Deut wirklicher war als die
anderen, die er kannte. »Du bist gekommen«, sagte sie.
»Wo
bin ich hier?« fragte Varyn. »Ist das Sharaz?« Es
mußte es sein. Er kannte den Ort wieder, die weiten hellen
Wände, der glänzende Boden - er sah an sich hinunter und
stellte fest, daß er jetzt auch nicht mehr seine alten Sachen
trug, mit denen man ihn in die Zelle geworfen hatte ohne auch nur ein
Hemd zum Wechseln, sondern die lange Robe, in die ihn die Schwestern
schon bei seinem ersten Besuch gezwungen hatten. Aber diesmal war es
nur eine Traumrobe, damit konnte er leben.
»Beinahe«,
sagte der Dämmervogel. »Denk dir, daß es ein
Spiegelbild von Sharaz ist, das trifft es am besten. Aber nun komm
mit. Ich möchte dir jemanden zeigen.«
»Deine
Schwestern?« fragte Varyn und hoffte, daß sie doch unter
sich bleiben konnten. Nicht, daß er die Schwestern nicht mochte
- doch, eigentlich stimmte auch das - aber wenn sie dabei waren,
wurde aus dem Dämmervogel eine Frau mit Namen Brionvah, und das
machte sie zu jemand Fremden.
»Sie
sind nicht hier«, antwortete der Dämmervogel. »Sie
sind im wahren Sharaz und führen uns, damit wir hier in
Sicherheit sind und dir nichts geschieht. Dieser Ort ist
zerbrechlicher als die Wirklichkeit -«
»Wir
sind im Inneren eurer Kugel«, sagte Varyn. »Nicht wahr?«
»Für
meine Schwestern, ja«, antwortete der Dämmervogel. »Für
dich, nein. Und nun komm, Varyniel. Wir dürfen nicht zuviel Zeit
verlieren.«
Varyn
folgte ihr durch die Halle und einen hellen Gang hinunter. Er hatte
immer noch keine Vorstellung davon, wie groß das Heim der
Schwestern wirklich war, aber vielleicht hatte es einfach keinen
Anfang und kein Ende, wie die Zeit selbst oder das Schicksal, und die
Räume tauchten dann und dort auf, wie sie gebraucht wurden. Das
machte es einfacher - er mußte nicht mehr versuchen, sich einen
Weg einzuprägen, wenn der Rückweg ganz anders aussehen
konnte als das Hinweg. Schließlich blieb der Dämmervogel
vor einer verschlossenen Tür stehen.
»Bitte
bleib jetzt ganz ruhig. Du wirst gleich etwas sehen, was dich sehr
erschrecken wird - aber bleib ruhig, denn ein zu großer
Schrecken wird dich von hier fortreißen und in deinem Körper
wieder aufwachen lassen, und was ich dir noch zu sagen habe, ist
wichtig. Du bist gewarnt.«
»Kannst
du mir nicht sagen, was hinter der Tür ist?« fragte Varyn.
»Ich verspreche dir, ich werde nicht -«
Und
in dem Moment öffnete der Dämmervogel die Tür, und
Varyn erstarrte. Er blickte in einen Raum, fensterlos wie alles in
Sharaz und in seltsames bleiches Licht gehüllt. Der Raum war
leer bis auf eine steinerne Liege, ohne Decke und Kissen, mehr wie
ein Tisch denn wie ein Bett, und darauf lag Noran, seine Große
Schwester.
Sie
lag so gerade ausgestreckt wie kein lebender Mensch schlief. Ihre
Augen waren geschlossen, ihre Haut bleich, und ihre schwarzen Haare
stachen wie ein dunkler Fleck hervor. Aber es war Noran, ohne jeden
Zweifel, Varyn erkannte seine Schwester, selbst hier, wo sie niemals
hingehörte. Noran gehörte nirgendwo mehr hin. Sie war tot.
Varyn
konnte nichts sagen. Er wollte den Dämmervogel anblicken,
verwirrt, verzweifelnd, fragend, aber er konnte seine Augen nicht von
diesem Anblick losreißen. Sie sah so wirklich aus…
»Nur
zu, tritt ein«, sagte der Dämmervogel - aber Varyn blieb
auf der Schwelle stehen. Zu groß war die Angst, dieses Bild zu
zerstören - daß Noran verschwand, wenn er sich ihr nur
näherte. So still… so friedlich…
»Ist
sie - tot?« flüsterte Varyn schließlich. Früher
oder später mußte er das fragen.
»Sie
schwebt zwischen Leben und Tod«, antwortete der Dämmervogel.
»Was du hier siehst, ist nur ein Abbild, aber sie ist in
Sharaz, bei meinen Schwestern. Du erinnerst dich, was ich dir von
Sharaz erzählt habe? Daß an diesem Ort die Zeit still
steht? Das ist der Grund, warum das Mädchen nicht tot ist. Aber
sie ist auch nicht lebendig.«
»Noran«,
sagte Varyn. »Sie hat einen Namen. Bitte benutzt ihn.«
Immer noch traute er sich nicht näherzutreten. An dem Tag, als
sie ins Tal zurückkehrten, Gaven und er, und erfuhren, daß
ihre Familie tot war, konnten sie Abschied nehmen von der Tante und
den Brüdern, die im Haus lagen, weil das ganze Dorf zu gelähmt
war, um sie auch nur zu begraben. Aber Varyn konnte das Haus nicht
betreten. Er war vor der Tür stehengeblieben, genau wie hier, er
hatte hineingeblickt, aber er war unfähig, sich den Toten zu
nähern. Als hätte er Angst, daß sie aufstehen würden
und sagen ‘Wir sind tot, Varyn, und das ist deine Schuld’.
Doch es war immer noch besser, daß sie da waren, wo man sie
noch ein letztes Mal sehen konnte, daß man ihnen ein würdiges
Begräbnis zukommen lassen konnte - später, als Gaven und
Varyn schon mit Hauptmann Mendrion und seinen Leuten davonreiten
mußten; es war schlimm genug, daß sie nicht mehr dabei
sein konnten. Aber der Onkel und Alsa waren nicht dabei, sie lagen im
Toten Mann, der ein und für alle mal eingestürzt war, und
niemand konnte sie dort wieder herausholen, ohne sein eigenes Leben
zu riskieren. Nur Noran fehlte. Als der Stollen zusammenbrach, hatte
er sie verschlungen, für immer - und nun lag sie einfach hier,
zerschunden, aber an einem Stück, als schliefe sie nur.
»Wir
haben sie dem Abgrund entrungen«, sagte der Dämmervogel an
seiner Seite, doch Varyn konnte nicht einmal zu ihr hinblicken.
»Warum?«
fragte Varyn. Wie immer, wenn er ‘Warum’ fragte, hieß
es alles. Warum Noran? Warum nur sie? Warum nicht alle anderen?
»Die
anderen hätten wir nicht retten können«, sagte der
Dämmervogel. »Aber sie hat gekämpft - sie wollte
unbedingt zurück ins Leben - wir haben beobachtet, was geschah,
weil wir wußten, was geschehen würde. Nicht aus Neugier,
mehr aus Pflichtbewußtsein, weil du selbst nicht dabei sein
konntest. Wir hätten nicht eingreifen dürfen. Das Schicksal
muß seinen Weg gehen, und wenn wir es aus Mitleid oder
Menschenliebe verändern dürften, dann müßte kein
einziger Mensch auf der Welt mehr sterben und erst recht kein Kind.
Du darfst uns grausam nennen, aber wir haben keine Wahl.«
»Und
warum…?« fragte Varyn nochmal.
»Weil
sie sich so ans Leben geklammert hat«, sagte der Dämmervogel
leise und liebevoll. »Sie hat gegen den Abgrund gekämpft,
wie ich lange keinen Menschen mehr habe kämpfen sehen. Ich sagte
dir, wir dürfen nicht eingreifen, aber wir können es. Und
es gibt Momente, da muß auch ein Verbot gebrochen werden, wenn
man dafür ein kostbares Leben retten kann.«
Varyn
fragte nicht, wie sie es getan hatten, ob sie Noran aus ihrer Kugel
hinaus gezogen hatten oder ob die Schwestern selbst in den
Todesstollen gegangen waren, um das Mädchen mitzunehmen, Noran
war jetzt hier, das genügte.
»Und
jetzt?« fragte er. »Was muß ich tun, damit sie
wieder aufwacht?« Er wußte, daß es seine Aufgabe
war. Wenn es in der Hand der Schicksalsschwestern gelegen hätte,
oder in ihrem Willen, dann hätte Noran jetzt lebend vor ihm
gestanden. Aber wenn ihn der Dämmervogel hierhin brachte, dann
nicht ohne Absicht. Ein Würgereiz stieg in Varyn auf. Er fühlte
sich plötzlich erpreßt, auf die allerschmutzigste Weise.
Der Dämmervogel mochte freundlich sein und nur das Beste wollen,
aber egal was sie nun sagte, es schmeckte wie ‘Wir haben deine
Schwester, und wenn du willst, daß sie lebt, dann tust du von
jetzt an alles, was wir von dir verlangen.’ Er schluckte.
»Wenn
ich wüßte, wie du sie retten kannst, hätte ich dir
das längst gesagt«, antwortete der Dämmervogel. »Die
Hälfte ihrer Seele ist noch in ihrem Körper, die andere
irrt verloren umher und kann nicht in den Himmel, weil sie nicht mehr
an einem Stück ist. Der Abgrund will sie haben, alle
unvollständigen Seelen gehören ihm, früher oder
später, aber wir halten sie zwischen den Zeiten fest, damit das
nicht geschieht.«
Varyns
Augen füllten sich mit Tränen, und es half nichts, daß
er sich sagte, daß er außerhalb seines Körpers gar
nicht weinen konnte, er tat es trotzdem. Es waren die ersten Tränen,
die er für seine Familie weinte. »Und wenn… ihr sie
freigebt?« brachte er hervor, und jedes Wort wäre lieber
in ihn zurück gekrochen, als diese Wahrheit auszusprechen: Es
war grausam, Noran zwischen Leben und Tod zu halten. Vielleicht war
sie besser tot, mit einer ganzen Seele, die in den Himmel konnte…
Varyn konnte nichts mehr sagen.
»Es
war ihre Entscheidung, nicht unsere«, antwortete der
Dämmervogel ruhig, und Varyn war froh, daß sie nichts tat,
um ihn zu trösten. Er wollte keinen Trost. Es war gut, daß
er endlich weinen durfte, und wenn es im Traum war. »Wir
schützen sie vor dem Abgrund, nicht vor dem Himmel. Aber wenn es
eine Möglichkeit gibt, sie ins Leben zurückzuholen, und
wenn sie noch so klein wär - würdest du sie nutzen?«
Da
war sie, die Erpressung, und sie kam so, wie Varyn sie erwartet
hatte, in einem freundlichen Gewand. Keine Gewalt, kein Druck, nur
ein ‘Wenn’… Er mußte ‘Nein’
sagen. Es ging nicht anders. Wenn er jetzt ‘Ja’ sagte,
dann gehörte er den Schwestern für immer, mit Haut und
Haar, Leib und Seele, und Noran mußte hier liegen und leiden…
Varyn krampfte die Hände zu Fäusten. Wenn es eine Chance
gab, irgendeine Chance… Er hatte schon alle anderen zum Tod
verdammt, weil er nicht im richtigen Moment das richtige sagte. Alsa
und Harkon und Edrik. Die Tante und den Onkel. Und jetzt lag Norans
Leben in seiner Hand… Varyn zitterte. Er konnte nichts sagen.
Es gab keine richtige Antwort. Beides war falsch.
»Du
darfst nicht glauben, daß das hier nur eine leere Hülle
ist«, sagte der Dämmervogel. »Es ist immer noch
etwas von deiner Schwester darin. Von Noran.« War das die Frau,
die vor kurzem noch über Gaven gesagt hatte ‘Er ist nicht
dein Bruder’ und ‘Du hast keine Geschwister’? Was
für ein Spiel spielte sie? Hatte Varyn Familie oder nicht, je
nachdem, was der Dämmervogel gerade wollte? Varyn straffte sich,
während ein Schauder durch sein Rückgrat fuhr. Es war seine
Familie, immer. Und Noran war seine Schwester, so wie Gaven sein
Bruder war. Und er würde alles für sie tun. Er wußte
es, und schlimmer noch: Der Dämmervogel wußte das auch.
»Sie
träumt«, sagte der Dämmervogel. »Sie schläft
nicht, aber sie träumt. Sie ist da, wo alle träumenden
Seelen hingehen. Du mußt dich nicht um sie sorgen. Sie leidet
nicht.« Dann fragte sie nochmals, vielleicht mit etwas mehr
Nachdruck: »Wenn du sie retten könntest, was würdest
du tun?«
»Alles!«
Varyn spie das Wort förmlich aus. »Ich würde alles
tun, um sie zu retten, oder irgend einen der anderen! Jetzt sag mir
nur, was ich tun muß, damit ich es auch tun kann!«
»Zunächst
einmal«, sagte der Dämmervogel, »mußt du
leben. Du hilfst niemanden, nicht dir selbst und nicht deiner
Schwester, wenn du das Leben aufgibst.«
»Und
dann?« fragte Varyn - als ob Leben selbst schon nicht schwer
genug war!
»Mußt
du dein Schicksal erfüllen«, antwortete sie, und Varyn war
froh, ihr Gesicht dabei nicht sehen zu müssen - wie
selbstgefällig es jetzt wohl war! Am liebsten wäre Varyn
vorgestürmt, hätte sich Noran geschnappt und sie von hier
fortgebracht, in Sicherheit: Aber er wußte es besser; wenn sie
Sharaz verließ, lief die Zeit für sie weiter, und dann
würde sie sterben und für alle Zeit tot bleiben. Er mußte
an früher denken, als die Kinder immer Witze darüber
gemacht hatten, daß er einmal Noran heiraten würde - und
sie beide wußten, daß das nicht in Frage kam. Sie waren
und blieben Geschwister. Und manchmal, als es bergab ging mit Varyn
und niemand ihn mehr verstehen konnte und alle Welt ihn haßte,
war sie ihm von allen seinen Geschwistern das liebste, weil sie ihn
niemals beschimpfte und sich bemühte, ruhig zu bleiben und die
verständige Schwester zu spielen. Er hatte sie genauso schlecht
behandelt wie alle anderen, jetzt war er ihr soviel schuldig…
Noran hatte fort gewollt aus dem Tal, so wie sie alle. Aber nun war
sie von ihnen allen dem Tal am fernsten. Und wenn er die Möglichkeit
hatte, irgendwann, würde er sie dorthin zurückbringen. Wenn
sie lebte, dann lebend. Aber wenn sie sterben sollte, dann verdiente
sie es immer noch, im Tal begraben zu werden, bei den anderen.
»Mein
Schicksal?« fragte Varyn. »Habe ich eine andere Wahl, als
das zu tun?«
»Wenn
du dagegen ankämpfst«, sagte der Dämmervogel, »wenn
du alles daransetzt, zu sterben statt zu leben, wenn du wieder
versuchst, davonzurennen, dann hat dein Schicksal es schwer mit dir.
Aber wenn du Noran jemals eine Chance geben können willst, dann
mußt du deinen Teil erfüllen.«
Varyn
wußte, daß er keine Wahl hatte. Als er damals dem Alkohol
abschwor und sich dem Abgrund versprach, war es ihm leicht gefallen -
es war seine eigene Entscheidung. Aber jetzt hatte er sich erpressbar
gemacht und erpressen lassen, und von nun an würde es genau so
weitergehen - nur damit Noran lebte. Varyn schluckte. Er konnte es
noch nicht einmal Gaven erzählen, das war vielleicht das
Schlimmste, Gaven hatte ein Anrecht zu wissen, was mit Noran war,
aber es ging nicht, er hätte es nicht verstanden…
Varyn
nickte. und er wußte, daß er mit diesem Nicken seine
Seele weggab, noch bevor er in der Zelle wieder aufwachte, und in
seinem Körper.
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