Zweites Kapitel

All die Zeit über, in der Varyn sich davor gefürchtet hatte, den Verstand zu verlieren - jetzt wünschte er sich, er wäre es. Und alles, was er gesehen hatte nichts als ein Wahn, keine Wirklichkeit, niemals. Varyn suchte Bilder in seinem Kopf, so wie sie früher immer gekommen waren, ob er wollte oder nicht - jetzt sollten sie ihm seine Familie zeigen, gesund, lebendig, so wie es sein mußte. So wie es immer war. Aber sie kamen nicht, egal, wie fest Varyn seine Augen auch zukneifen mochte, egal, ob er versuchte zu schlafen oder drei Tage hindurch zu wachen: An dem Tag, da seine Familie starb, spie der Wahnsinn Varyn aus, als hätte es ihn nie gegeben.
Er konnte schäumen, er konnte fluchen, er konnte sich tief in sich zurückziehen, aber er konnte nicht mehr für sich allein sein, und solange er das nicht konnte, würde er auch den Dämmervogel nicht wiedertreffen - und das war ihr Glück. Denn wenn sie sich das nächste Mal gegenüberstanden, Varyn würde ihr ihren schönen bleichen Hals umdrehen, so wahr er Varyn war. Er wußte genau, daß sie seine Familie umgebracht hatte, sie und ihre Schwestern: Solange sie sich sein Schicksal nannten, waren sie auch Schuld an allem, was ihm widerfuhr, und das mit Absicht - aber Varyn konnte nichts machen. Er konnte nur auf einem Pferd sitzen und sich vorstellen, sein Körper wäre weit, weit entfernt von ihm und er nur ein stiller Geist, den nichts berühren konnte. Aber es ging nie für lange. Früher oder später würde jemand ihn ansprechen oder anstoßen, und meistens war das dann Gaven, und er mußte wieder ein Bruder sein und sich kümmern und versuchen, die Leere im Herzen eines anderen zu füllen, wo er es bei sich selbst nicht konnte.
Varyn verstand nicht, was mit ihm geschah, er sah nur keinen Sinn mehr darin, sich zu wehren. Ob es ihn nordwärts jagte oder südwärts trieb, ob er sich für einen freien Mann hielt oder ein Gefangener in Ketten war, es änderte nichts. Das Schicksal würde mit ihm machen, was es wollte. Was sie wollten.
Wenn ihm das früher einmal jemand gesagt hätte - daß eines Tages eine Königstochter kommen würde, um ihn mitzunehmen auf ihre ferne Burg - ja, dann hätte Varyn gelacht und gesagt ‘So wird das wohl sein, ich bin halt was ganz besonderes!’ Aber nun war es so weit, und Varyn wollte weder die Königstochter, noch etwas Besonderes sein. Dabei war die Königstochter nicht einmal häßlich, wenn man davon absah, daß sie gut und gern zehn Jahre älter als Varyn sein mochte: Aber es bedeutete ihm nichts mehr. Ebensogut hätte sie abstoßend häßlich sein mögen. Sie redete nicht viel, das war Varyn ganz recht, und nach allem, was er über sie gehört hatte, war sie noch unter denen gewesen, die versucht hatten, seine Familie zu retten, sie und der Hauptmann. Varyn konnte sich nicht dafür bedanken. Es hätte von Herzen kommen müssen - und wofür danken, wenn es ihnen doch nicht geglückt war? Wenn er schon so weit war, sich für einen Versuch zu bedanken, mußte er auch sich selbst nicht mehr hassen, denn hatte er nicht noch versucht, alle zu warnen? Nein, es ging nicht. Varyn konnte sich nicht bedanken und sich selbst nicht verzeihen.
»Iß wenigstens irgendwas«, sagte der Hauptmann. »Für was hältst du mich, Junge, bin ich dein Kindermädchen, muß ich dich füttern?«
Aber Varyn reagierte nicht darauf. Essen - was sollte er essen? Wofür? Am liebsten hätte er sich Stück für Stück aufgelöst, seinen Körper einfach hinter sich gelassen wie Sand, der aus einer Tasche rieselte. Vielleicht hatte er Hunger, aber er gab nichts mehr darauf. »Gebt es Gaven«, murmelte er. Manchmal glaubte er, Gaven war der einzige Grund, daß er überhaupt noch am Leben war, aber konnte der Junge nicht ebensogut auf sich selbst aufpassen und besser?
»Gaven ißt schon«, sagte der Hauptmann. »Jeder von uns ißt schon, jetzt mach dein verdammtes Maul auf und stell dich nicht so an.«
»Laß ihn«, unterbrach ihn Dannen. »Wenn er nicht will, werd ich es essen, es hilft nichts, der wird sein Leben lang dünn sein.« Wo man sich noch vorstellen konnte, daß Leota eine Königstochter war, so stolz und aufrecht, wie sie auf ihrem Pferd saß, keine Frau aus dem Dorf hätte ihren Kopf so gehalten und ihren Nacken, war das bei ihrem Bruder schwerer. Wichtig war immer der erste Moment, und Varyn hatte ihn als Dannen kennengelernt, nicht als Königssohn oder sonstwas. Wenn es ihm nichts ausmachte, ein Dannen zu sein, dann ging das für Varyn in Ordnung - im Moment kam er mit dem Mann noch am besten klar von allen, denn er schien nichts von ihm zu erwarten. Der Hauptmann würde immer der Hauptmann sein, das hatte sich in Varyn eingebrannt und würde sich auch nicht mehr ändern, egal was passierte. Und die Königstochter war auch, was sie war, ein hohes Geschöpf, das man nicht schräg ansehen durfte, wollte man nicht Bekanntschaft mit ihrem Schwert machen - nicht, daß das Varyn so gegangen wäre, aber ihr Blick reichte dafür schon aus. Nur Dannen war nichts und konnte nichts und verlangte nichts, als daß Varyn und Gaven mit ihnen kamen. Varyn konnte nicht sagen, ob er ihn mochte - er mochte nichts und niemanden in dieser Zeit, es war nichts mehr übrig in ihm, daß irgendwas oder irgendwen hätte lieben oder auch nur mögen können, aber das war in Ordnung.
»Warum läßt du dir das gefallen?« flüsterte Gaven ihm manchmal nachts ins Ohr, wenn sie beide nicht schlafen konnten und Varyn wieder die Vergangenheit suchte, um sie durch ein Loch in der Zeit in die Gegenwart zu ziehen. »Du bist stärker als sie alle drei zusammen, warum machst du sie nicht einfach fertig und suchst das Weite?«
»Such du es doch«, murmelte Varyn dann. Er war nicht mehr Gavens starker großer Bruder, er war nur noch ein Mensch oder nicht mal mehr das. Er stellte keine Fragen mehr, er, der früher in allem und jedem einen Sinn hatte suchen und finden müssen. Sie wollten ihn haben? Dann sollten sie das. Viel Aufwand für einen armen Deserteur? Dann würden sie wohl auch wissen, daß Varyn engelsblütig war. Jetzt, wo es heraus war, wußten es wahrscheinlich alles, aber was bedeutete das noch? Wofür wollten sie ihn? Varyn fragte nicht. Sie konnten mit ihm machen, was sie wollten, er würde sich nicht wehren. Vielleicht sah er dann eines Tages, wie sie alle starben, aber er würde sich nichts mehr draus machen. Dann starben sie eben. Und wenn alle Menschen starben oder die ganze Welt - es war ein Anblick, an den er sich nur gewöhnen mußte. Ändern? Ändern konnte er ohnehin nichts.
»Wirklich, Gaven«, sagte er und versuchte, wieder erwachsen und vernünftig zu klingen, »bring dich in Sicherheit, sie werden dir nicht hinterher kommen, es geht ihnen nur um mich. Ich glaube nicht, daß sie gutes mit mir vorhaben, und wenn du bei mir bleibst, machen sie das gleiche mit dir - es wäre mir wohler bei dem Gedanken, dich irgendwo weit weg zu wissen, wo es dir gut geht.«
Gaven lachte, dieses heisere hohle Lachen, das er sich angewöhnt hatte seit dem… Unglück und das zwanzig Jahre zu alt für ihn klang. »Und wo soll ich hin, deiner Meinung nach? Unter einen Berg, damit nichts mehr an mich drankommen kann?« Er sprach wenigstens davon, das hatte er Varyn voraus. Oder sprach er nur davon, um Varyn mit dem Gesicht voran in seine eigene Schuld zu stoßen? Varyn fragte nicht danach. Er brauchte keine Hilfe, um sich schlecht zu fühlen.

Varyn zählte die Tage nicht, die sie auf der Landstraße verbrachten, zählte nicht die Schritte, die sie sich für immer vom Tal entfernten - es waren die Schritte des Pferdes, nicht seine eigenen, und er war seltsam losgelöst von allem und froh darum. Nicht einmal Gaven, der doch Pferde mehr mochte als alles andere und früher seinen rechten Arm gegeben hätte für die Aussicht, einmal an der Seite eines echten Hauptmanns auf einem echten schwarzen Pferd zu reiten, sagte jemals ein Wort darüber oder über die müden Hinterteile am Ende eines Tages - es war auch nicht anders, als wenn einem die Füße weh taten nach einem Marsch, und irgendwo mußten ihre Körper ja erschöpft sein, sonst hätten sie am Ende gar keinen Schlaf und keine Ruhe mehr gefunden.
Die Abende waren das Schlimmste, wenn sie in einem Gasthof einkehrten. Etwas anderes konnte Varyn nicht erwarten, niemand durfte verlangen, daß eine Königstochter oder ein Dannen in einem feuchten zugigen Zelt schliefen oder gar ganz im Freien, unter einem Baum. Aber für Varyn war es der Abgrund, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sie tranken, ob es nun ein Bier war oder mehr, allein der Gedanke zerrte an ihm. Da war sein Eid, den er nicht brechen durfte - aber wie süß und tröstlich erschien ihm selbst das Ende, das ihm winkte, wenn er den Eid brechen sollte? Gab es etwas besseres für ihn, als direkt vom Abgrund verschlungen zu werden, und alles hatte ein Ende? Und wo der Abgrund ihn nicht verschlang, tat es der Alkohol…
Aber unter den wachsamen Augen des Hauptmanns blieb Varyn tapfer. Wem wollte er es beweisen? Es tat nichts zur Sache. Tief in seinem Inneren wußte Varyn, daß es besser war, wenn er nüchtern blieb. Selbst wenn es zu seinem eigenen Leidwesen war, und zu Gavens.
»Wenigstens ein Bier könnten sie mich doch mittrinken lassen«, murrte er. Aber solange Varyn nichts anrührte und der Hauptmann ihm extra und nicht ohne vielsagend dabei zu grinsen einen Krug Brunnenwasser kommen ließ, wurde auch für Gaven nur ein weiterer Becher hingestellt, und damit hatte er sich zu begnügen. Und das war das einzige, was diese Abende ein bißchen erträglicher machte. Der Gedanke, jetzt auch noch Gaven betrunken zu sehen, hätte Varyn den Rest gegeben. Also sprach er ein Verbot aus, mehr gegen sich als gegen seinen Bruder, und wenn er es gekonnt hätte, auch gegen alle anderen. Aber was sollte er machen, sich vor sie hinstellen und sagen ‘Ich bin ein Engelsgeborener, und ich befehle euch -’ Er wäre nicht mal mehr bis zur Tür gekommen.
Und irgendwie brachten sie die Reise hinter sich, Varyn in stumpfen Brüten und Gaven in Trauer, die er mit niemandem teilen konnte, wofür Varyn wiederum sich haßte, ihm aber nicht helfen konnte. Vielleicht hatte Dannen ja Recht. Vielleicht konnte man nur um die trauernd, die wirklich mit einem verwandt waren. Vielleicht hatte Varyn sich nur einmal zu oft ganz allein auf der Welt gefühlt. Vielleicht hätte ein halbes Maß an Schnaps den Damm gebrochen - es war, wie es war. In Varyn war zuviel stumpfer Haß auf sich selbst, um Trauer einen Raum zu geben. Sollte Dannen doch mit Gaven trauern, oder die Königstochter, aber die blieben unter sich, was ihre Trauer anging, und selbst wenn, wer hatte schon Interesse an einem unnützen kleinen Jungen wie Gaven, der nicht engelsblütig war und nicht wichtig und nur dabei war, weil er sonst niemanden hatte und Varyn sich sonst in das nächstbeste Schwert gestürzt hätte?
Aber es war egal. Sie erreichten Caer Diuree. Und während sich zumindest Gaven schon wieder genug gefangen hatte, um sich mit großen Augen umzusehen und zu begreifen, daß dies die größte Stadt war, die er wohl in seinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen würde, nahm Varyn das wohl wahr, aber es bewegte nichts mehr in ihm. Dann war es eben eine Stadt. Dann war sie eben groß. Dann hatte sie eben die höchsten und dicksten Stadtmauern - wenn das Schicksal es wollte, würde sie genau so zusammenbrechen wie der Rest der Welt.
»Jetzt haben wir ein Problem«, sagte Dannen, und man merkte, daß die letzten Tage ihrer Reise ihn bedrückt hatten, oder das Ziel, das sie nun endlich erreicht hatten. »Ich habe jetzt erstmal Familiensachen zu erledigen - Leota auch, aber bei mir wird es ganz hart. Ich habe in ein paar Fußstapfen zu treten, niemand fragt mich, ob ich das will, ich habe keine Wahl.« Seine Worte klangen seltsam offen für einen Mann, der von nun an Erbe eines ganzen Königreiches sein sollte und der sich in Gesellschaft von zwei schmutzigen Kohlenjungen befand, aber sie hatten schon einen so langen Weg zurückgelegt und blickten gemeinsam auf ein so hartes Schicksal zurück, daß diese Grenzen längst verwaschen waren, und selbst der kalte Panzer, in den sich seine Schwester hüllte, konnte keinem anderen Schutz dienen als ihrem eigenen.
»Du meinst, wohin mit den beiden Jungen?« fragte sie, und Dannen nickte.
»Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Mir ist mein Blut herzlich egal, und bevor ich nicht weiß, was Varyn ist, werde ich nicht vor ihm niederknien, solange er sich den Scheiß bei mir spart, Hauptsache, er ist kein verhinderter Bruder von uns - aber hier in der Stadt gelten andere Regeln, und wenn wir erst mal in der Burg sind, erst recht. Wenn ich erstmal gebadet bin und wieder Fürst Dannen statt Kumpel Dannen, kann ich nicht einfach so freundlich mit euch umgehen wie bisher.«
»Warum denn nicht?« fragte Gaven. »Wir haben doch nichts getan!« Seine Stimme klang trotzig, sie klang eigentlich immer trotzig, wo sie früher auch mal vergnügt gewesen war - Varyn fragte sich, wie sehr man ihm selbst anmerkte, daß er nicht mehr der Alte war. Aber allein schon, daß er seinen zukünftigen König so direkt von der Seite anquatschte, gab Dannen auf der ganzen Linie Recht. Wenn er sich jemals Ehrfurcht verschaffen wollte, mußte er spätestens hier damit anfangen.
»Weil wir im Krieg sind«, schnaubte Dannen. »Und ihr zwei seid bestensfalls Deserteure, schlimmstenfalls feindliche Spione, und allerschlimmstenfalls etwas, das wir noch gar nicht kennen - der gute Hauptmann kann ein Gästequartier auf der Burg haben, bevor es für ihn an die Front geht, endlich, ich wette, er zählt die Tage schon rückwärts, aber für euch zwei… da fällt mir nichts anderes ein als das Burgverlies.«
Varyn zuckte die Schultern. »Dann eben das Burgverlies«, sagte er.
»Bist du bescheuert?« fauchte Gaven ihn an. »Die können uns doch nicht so einfach einsperren! Wenn wir da erstmal drin sitzen, als nächstes kommen sie und wollen uns hinrichten, hast du daran schon mal gedacht?«
Varyn blinzelte müde. »Haben wir euer Wort, daß ihr uns nicht hinrichtet?«
Dannen zuckte die Schultern. »Hängt davon ab, was unser Vater mit euch vorhat - aber ich denke mal, wenn er euch zwei tot sehen wollte, hätten wir euch jetzt nicht quer durch ganz Doubladir schleppen müssen.«
Das genügte Varyn, und darum hatte es auch Gaven zu genügen - Varyn war es nicht nach einer langen Diskussion. Er wollte nur seine Ruhe, sonst nichts, und wenn er die im Kerker haben sollte, konnte es ihm recht sein. Den eigentlichen Kerker trug er in sich. Und was seinem Körper in der Zwischenzeit passierte, passierte eben.
»Es wird schon nicht für lang sein«, sagte Leota. »Spätestens wenn Vater euch sehen will, werdet ihr heraus geholt.«
»Ihr ist gut!« Gaven hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem trägen Jungen, für den man ihn früher manchmal halten konnte, sein Verstand war wach und flink, und meistens dachte er jetzt für Varyn mit, weil dem selbst daran die Lust vergangen war. »Ihr seid in Wirklichkeit doch nur an Varyn interessiert! Und mich werdet ihr da unten vergessen!«
Dannen lachte und griff Gaven beherzt in die Haare, schon weil jeder sich denken können mußte, daß der das haßte. »Da mach dir mal keine Sorgen - so laut, wie du immer herum schreist, wird dich so schnell keiner vergessen.« Aber die Wahrheit kannten sie alle: Wenn Gaven sich nicht selbst bemerkbar machte, immer und immer wieder, blieb er auf der Strecke, und niemand würde sich jemals auch nur daran erinnern, daß es ihn einmal gegeben hatte. So wie er in Varyns Träumen fehlte und die Schicksalsschwestern ihn nicht haben wollten - wie lange würde es dauern, bis Varyn alles über ihn vergessen hatte?
Es durfte nicht passieren. Gaven war Varyns ganze Vergangenheit, das Tal, der Fluß, der Berg, die Familie. Vielleicht waren der Dämmervogel und ihre Schwestern Varyns Zukunft. Aber zumindest über seine Vergangenheit sollten sie keine Macht haben.

Erst in der Zelle merkte Varyn, wie nah der Winter schon war. Er kam nicht von Oben mit Schnee und Eis, er kam von unten aus dem Stein gekrochen, aus dem Abgrund, und hier, tief unter der Burg, fing er damit an. Die Burg war auf den Felsen gebaut - so sah das zumindest aus, wenn man sich ihr näherte: In Wirklichkeit saß sie im Felsen, so wie Moos und Flechten ins Gestein hineinwuchsen, und nichts konnte sie dort jemals wieder herausreißen. Wenn irgend etwas in der letzten Zeit jemals Eindruck auf Varyn gemacht hatte, dann war es dieses Bauwerk, das von außen so groß aussah und innen doch so eng war, weil die Mauern außen so dick waren, daß Varyn nicht von einem Ende zum anderen greifen konnte. Und wenn die Erde bebte, dieses Haus würde stehen bleiben. Den Stein zu behauen, die Mauern zu errichten, Lage für Lage, das ganze mußte hundert Jahre gedauert haben oder mehr. Keine Armee der Welt konnte gegen diese Wände anrennen. Wen fürchteten Vigilanders Erben so sehr, daß sie solche Mauern gegen ihn errichteten?
»Es sind harte Zeiten für die Engelsgeborenen«, hatte Dannen gesagt. »Seit Koristan weiß keiner mehr, woran er ist.«
Und doch, obwohl es so war, obwohl sie nicht wußten, ob es Varyn war, den sie fürchten mußten, führten sie ihn ihn ins Innere der Burg, über die Zugbrücke, unter dem Fallgitter durch mit seinem beindicken Gestänge, durch das Portal, bis die Außenmauern um ihn waren und er so nah am Herzen des Königs, daß er nur hätte danach greifen brauchen… Wenn sie wirklich glaubten, daß Varyn eine Gefahr für sie darstellte - und Varyn gab ihnen keinen Grund dazu - konnten sie nichts falscheres tun, als ihn in ihren eigenen Kerker zu werfen. Dort teilten sie nur die Sicherheit ihrer Burg mit ihm. Aber wenn er ihnen wirklich gefährlich werden sollte… Varyn schüttelte sich. Warum sollte er?
Was in Koristan geschehen war, hatte er sich erzählen lassen, zumindest die Teile, die bekannt waren: Aber wer dem nächstbesten Kind, nur weil es eine verlorene Krone gefunden hatte, dieselbe gleich auf das viel zu kleine Haupt drücken mußte, war selbst Schuld und hatte es nicht besser verdient. Und was in Koristan die Krone war, das war in Doubladir das Schwert - und das befand sich genau da, wo es hingehörte: Nämlich direkt am Gürtel des Königs, wenn er es nicht gerade in der Hand trug. Wie es da verlorengehen sollte, konnte sich Varyn nicht vorstellen. Aber natürlich mußten die Engelsgeborenen vorsichtig sein, wenn plötzlich in allen Ländern neue von ihrer Sorte auftauchten und keiner wußte, woher. Varyn wußte nicht, wie viele von seiner Sorte es gab, aber er hoffte, daß es nicht zu viele waren - nicht, weil er dieses Blut für sich allein haben wollte, sondern aus Mitleid. Sein Leben wünschte er niemandem sonst.
»Wollen wir ihn nicht zuerst Vater vorführen?« fragte Leota ihren Bruder, doch der schüttelte den Kopf.
»Es geht um Vater - glaubst du, der kann an mehr als eine Sache gleichzeitig denken? Und meinst du nicht, die Tatsache, daß wir einen Bruder verloren haben, geht in dem Moment vor?« Er sagte es mit so leichtem Tonfall, daß es Varyn nicht gewundert hätte, wenn Leota ihn dafür geohrfeigt hätte. Varyn selbst drehte es leicht den Magen um - was, wenn er selbst irgendwann anfing, so vom Tod seiner Familie zu reden? Dannen und sein Bruder, das mußte so gewesen sein wie Varyn und Edrik - die waren auch nicht die besten Freunde, und vor allem die letzten paar Monate über war ihre Beziehung ziemlich scheußlich: Und jetzt, wo Edrik tot war, konnte sich Varyn an der Felswand den Schädel einschlagen dafür, daß sie sich nicht noch wenigstens vertragen hatten oder er sich verabschiedet, bevor er mit den Soldaten ging. Aber Dannen war so seltsam, manchmal hatte man das Gefühl, daß er sich aus anderen Menschen rein gar nichts machte, und mindestens die Hälfte seiner Kaltschnäuzigkeit war nur gespielt - Varyn wurde nicht schlau aus ihm und vermutete, das wurde er selbst auch nicht.
So landeten also Varyn und Gaven schließlich in der Zelle, tief im kalten Gestein unter der Burg. Oder, um es genauer zu sagen: In zwei getrennten Zellen.
»Es wird schon nicht für lang sein«, sagte Dannen. »Aber wenn schon, machen wir das richtig, und es käme überhaupt nicht in Frage, zwei gefährliche Verschwörer zusammen in eine Zelle zu stecken, damit sie sich nur noch weiter verschwören können. Meine Vorfahren haben genug von diesen Löchern angelegt, das müssen wir ruhig mal ausnutzen, und ein paar Tage werdet ihr das schon aushalten.«
Am Anfang dachte Varyn noch unentwegt an Gaven. Ob es ihm auch gut gingg in diesem kalten Loch, wo man nicht auf dem Boden liegen konnte ohne die Angst zu haben, festzufrieren, und sich darum lieber auf die kleine Pritsche legte, die an der Wand befestigt war, auch wenn sie schmal war und viel zu kurz. Und wo ein Krug mit Wasser zu Eis werden wollte, nicht von oben aus, wie Wasser sonst gefror, sondern vom Boden aus. Wo es kein Fenster gab, das einem Licht geschenkt hätte, und die Tür so dick war, daß sich auch keine Ratte hindurch nagen konnte. Armer Gaven. Ob sie ihn auch anständig fütterten? Einmal am Tag gab es eine Schale Grütze, die Varyn sehr an das erinnerte, was auch der Arme verfüttert wurde, wenn man nochmal die gleiche Menge Wasser hinzu goß. Bei Gefangenen war es nicht so wichtig, sie bei Kräften zu halten. Ob das Essen wirklich einmal am Tag kam oder seltener, konnte Varyn noch nicht mal sagen, denn es war so dunkel, andauernd, daß die Tage doppelt so lang hätten dauern können, ohne daß er es merkte.
Aber auf seine eigene Weise war es gut. Die Dunkelheit, die Enge, die Stille - vor allem die Stille. Nicht Mauern trennten die Zellen voneinander, sondern Fels, und was dort auch vor sich gehen mochte, es kam nicht bei Varyn an. Hier unten saß er in seiner eigenen kleinen Welt, wie im Toten Mann oder im Königreich der Stille. Varyn fragte sich, ob dieser Ort auch so tödlich war wie die beiden anderen, und ob es auf der ganzen Welt etwas gefährlicheres gab als Stille, aber es genoß sie. Sie gab ihm, zum ersten Mal wieder seit so vielen Wochen, allein mit sich zu sein, so allein, wie er sich immer fühlte. Langsam sickerte Gaven aus seinem Bewußtsein, vom Vorderkopf in den Hinterkopf und von dort weiter ins Vergessen, oder zumindest fast…
In seiner Tasche fand Varyn ein Stück Kreide, rundgeschliffen von der langen Reise und von viel grauem Mehl umgeben; es war ein Fehler gewesen, den Brocken zusammen mit einem Stück Schutt von der Abraumhalde zusammengepackt zu haben, aber wenigstens hatte ihm das nie jemand abgenommen. Seit seinem Aufbruch hatte Varyn seine Zeichen nicht vermißt, und wenn doch, war nie die Gelegenheit, neue zu malen, außer im Königreich der Stille, wo man mit Wörtern malte und mit Atem - aber hier unten, wo nichts lebte außer ihm und dem Winter, begann Varyn wieder zu malen. Er schrieb seine Schuld an die Wand, wie er früher seine Bilder geschrieben hatte, und die Kreide verschwand, kaum daß sie die Wand berührte, wurde aufgesogen von dem Gestein. Und obwohl das erste Zeichen, das Varyn an die Wand malte, eine Sonne war, so wie er immer als erstes eine Sonne malte, egal so, wurde es um und für ihn kein bißchen heller oder wärmer.
Dafür kehrten hier unten die Träume zurück - und mit ihnen der Dämmervogel.

Diesmal hatte Varyn sie nicht gerufen, aber er wußte, daß sie kommen würde, als die enge Zelle begann, sich mit Zwielicht zu füllen. Erst konnte er nicht sagen, wo es herkam, aber als er merkte, daß es um ihn herum immer kälter und kälter wurde, begriff er, daß es sein eigener Atem war, der zu grauem Nebel erstarrte und darin das bißchen Licht fing, das unter der Türritze durchsickern mochte. Er schlang die Arme um sich und versuchte, sich irgendwie aufzuwärmen, aber es war so wenig Leben in ihm, so wenig Wärme, daß er schneller zu Eis erstarren konnte, als daß auch nur sein Herz schlug. Die Kälte schien aus ihm selbst hinaus zu kommen. Es machte ihm Angst, aber nur langsam - alles war langsam, bevor sie kam. Varyn wußte, daß sie jetzt jeden Augenblick auftauchen konnte, irgendwo im Nebel, aber er fühlte sich unfähig, sich auch nur zu rühren.
»Dämmervogel«, sagte er in den Frost hinein, »bleib wo du bist. Ich will dich nicht sehen.« Nicht jetzt. Nicht hier. Hier unten gab es kein Wegrennen, kein Entkommen - wenn ihm bis dahin der Dämmervogel erschienen war, dann gab es immer noch einen Ort um Varyn, wo sie nicht war - im Toten Mann den Ausgang, im Königreich der Stille den Fluß, und auch in ihrem seltsamen Haus in den Steinen von Sharaz war mehr Weite, als drei Frauen brauchen konnten.
Varyns Angst wuchs, ohne daß er etwas dagegen tun konnte - vor allem die Angst, daß er in dem Nebel wieder Dinge sehen würde, Dinge, die noch nicht passiert waren, sich aber nicht mehr abwenden ließen. Es gab noch so viele Menschen auf dieser Welt, die alle sterben konnten… Varyn erzitterte von innen heraus. Er wollte sich schütteln, die Angst abschütteln, aber es ging nicht. Und wenn der Dämmervogel nun kam, konnte er nichts von dem tun, was er sich geschworen hatte, wenn sie ihm das nächste Mal unter die Augen trat.
»Varyniel.« Er spürte ihre Stimme, bevor er sie hörte, es brachte Bewegung in den Nebel, und das Zwielicht wurde noch etwas dichter. Dann nahm ihr dunkler Schemen Form an. »Sei ohne Sorge, Varyniel. Ich bin bei dir.«
Varyn schnaubte. »Und dann soll ich mich nicht sorgen?« Es hatte eine Zeit gegeben, da liebte er sie fast. Da hätte er viel gegeben, um den Klang ihrer Stimme zu hören und vielleicht sogar einen Hauch von ihrem Gesicht zu erhaschen, das schöner sein mußte als alle Gesichter auf der Welt, aber diese Zeit war vergangen, war unter einem Berg zusammengebrochen und hatte nichts als kalten Haß zurückgelassen. »Geh dorthin, wo du hergekommen bist, und nimm deinen verdammten Nebel mit, ehe ich mich vergesse!«
»Vielleicht solltest du genau das tun?« fragte der Dämmervogel. Ihre Stimme war immer noch dunkel und süß, immer noch lockend, aber es war zu spät. Seit Varyn ihr Gesicht gesehen hatte, seitdem er ihren Namen kannte, hatte sie begonnen, die Macht über ihn zu verlieren, Stück für Stück. »Dein Geist sitzt in der Vergangenheit, Varyniel. Schau geradeaus.«
»Es gibt kein geradeaus«, erwiderte Varyn und fragte sich, warum er überhaupt auf sie einging - sollte er sie nicht besser einfach auflaufen lassen und ignorieren, damit sie wieder verschwand?
»Ich weiß, es ist schwer für dich«, sagte der Dämmervogel, und wenn Varyn auch nur einen Knochen am Leib hätte rühren können, er hätte sie packen und gegen die Felswand schleudern mögen. »So ein harter Verlust - du hast alle verloren, die du geliebt hast. Glaub mir, ich weiß, wie sich das anfühlt.«
»Nichts weißt du!« spie Varyn ihr entgegen. »Nicht wie sich Liebe anfühlt, oder Verlust, und auch nicht, daß einer überlebt hat, mein Bruder Gaven!« Aber warum konnte er ihr das Entscheidende nicht sagen - daß er glaubte, daß alles, was geschehen war, ihre Schuld war und die ihrer Schwestern? Und nicht nur Schuld, sondern sogar Absicht? Er brachte es nicht heraus, und auch nicht, daß er sie haßte.
»Einer mehr oder weniger«, sagte der Dämmervogel leise, »macht das so einen Unterschied?«
»Ja!« schrie Varyn, so laut, daß man es in jeder Zelle hätte hören müssen, wenn Varyn denn noch in seiner Zelle war und nicht längst in irgendeiner Zwischenwelt, in der es immer Winter war. »Ja, das macht einen Unterschied! Ich würde mein Leben geben dafür, wenn auch nur einer von ihnen nicht gestorben wäre!«
»Gut«, sagte der Dämmervogel sanft und nahm damit die Luft aus allem, was Varyn ihr noch hätte an den Kopf werfen mögen. »Wer weiß, vielleicht wirst du noch eine Gelegenheit dazu haben…«
»Wozu?« fragte Varyn kalt. »Mein Leben zu geben? Das kannst du haben, besser gleich als später.« Da stand sie vor ihm, ein Nebel dort, wo ihr Gesicht hätte sein sollen - Varyn wußte, sie war nicht wirklich da, nur ein Traumbild, daß sie durch Raum und Zeit schicken konnte, unsterblich und unlebendig, mit Augen, die sahen, aber ohne ein Gesicht. Selbst wenn er sie hätte schlagen können, in Wirklichkeit hätte sie das nicht getroffen, sie war in Sicherheit bei ihren Schwestern… Kurz fragte sich Varyn, was ihr Körper tat, während ihr Geist bei ihm war, ob sie dabei schlafen mußte, oder ob sie das so nebenbei machte, vielleicht während sie den Boden fegte oder Gemüse kleinschnitt - aber er wußte nicht einmal, ob sie jemals schlief oder aß.
»Ja«, sagte sie. »Das weiß ich. Du bist auf keinem guten Weg, Varyniel - weißt du, wohin er dich führt?«
Varyn lächelte in den Nebel. »In eine Sackgasse. Diese Zelle hat einen Eingang, aber keinen hinaus.« Dort an der Wand konnte sie das Zeichen sehen, wenn sie sich danach umdrehte, Sackgasse, als ob das noch etwas bedeutete.
»Nein«, antwortete der Dämmervogel. »Du bist auf dem Weg in die Stille, bei lebendigem Leibe. Ich bin hier, damit du nicht stirbst. Ich bin immer hier, damit du nicht stirbst.« War sie jemals zu ihm gekommen, wenn er nicht gerade dabei war, sich zugrunde zu richten?
»Diesmal nicht«, sagte Varyn. »Ich trinke nicht mehr.«
»Das macht diesmal keinen Unterschied.« Die Stimme des Dämmervogels war so ernst wie bedauernd. »Diesmal stirbst du von innen nach außen. Ich bin hier, weil deine Seele so gut wie tot ist, egal, ob dein Körper sich noch bewegt, und das nur, weil du nicht mehr leben willst.«
»Wo du recht hast…«, sagte Varyn. Sollte sie ihn diesmal vor die gleiche Entscheidung stellen wie beim letzten Mal, er brauchte nicht mehr zu antworten. Tot gefiel er sich besser als lebendig, und wer konnte sagen, ob er nicht auf der anderen Seite seine Familie wiedersehen sollte, und bei ihnen um Vergebung bitten, wo er es im Leben nicht mehr konnte? Wenn er denn in den Himmel kam. Varyn fühlte sich mehr wie eine Kreatur des Abgrunds, dunkel und scheußlich.
»Ich lasse nicht zu, daß du stirbst«, sagte der Dämmervogel. Hatte sie das nicht schonmal gesagt? »Wenn du dir jetzt dein Herz vergiften läßt, dann haben sie gewonnen.«
»Sie?« fragte Varyn zurück, und zum ersten Mal verspürte er so etwas wie Interesse. »Deine Schwestern?« Bis dahin hatte er gedacht, daß die drei eine unzertrennbare Einheit darstellten, die nur immer den Dämmervogel als Boten und Sprachrohr benutzten. Aber wenn sie in Wirklichkeit ein unterschiedliches Spiel spielten… Wenn der Dämmervogel ihn nun warnen wollte -
»Natürlich nicht!« Die Stimme peitschte durch den Nebel wie eine Ohrfeige. »Glaubst du, wir sind deine Feinde? Denk nochmal!«
Varyn spürte wieder, wie ein unbestimmbares Zittern in ihm aufstieg. »Ich habe keine Feinde«, wollte er sagen. Außer den Schwestern. »Und auch nicht Dannen und Leota…« Er fühlte sich dumm und gleichzeitig zornig. Es brauchte keinen Dämmervogel, um ihn vor der Welt zu warnen, und wer sein Gegner war, wollte Varyn immer noch selbst entscheiden dürfen.
Statt dessen fühlte er eine Berührung, wie eine Hand, die ihm übers Gesicht strich. Eine warme Hand wäre angenehm gewesen, aber diese war so kühl wie der Nebel und sperrte Varyn nur noch tiefer in seinem Körper ein. »Sie sind jedermanns Feinde, aber deine am allermeisten. Sie hassen das Leben, sie hassen das Licht, sie hassen alles, was auf dieser Seite der Welt ist, sie hassen die Elomaran, und sie hassen alle, die von ihrem Blut sind.«
»Die… Nilomaran?« fragte Varyn tonlos. Er hatte diesen Namen noch nie ausgesprochen - für ihn waren sie nur ein Kinderschreck, er brauchte keine undefinierbaren Geschöpfe, die im Abgrund lauerten; der Abgrund allein reichte ihm schon völlig aus, um Angst davor zu haben.
Diesmal strich die Hand über sein Haar. Nicht ganz so schlimm wie in seinem Gesicht, aber trotzdem. Die Stimme war ganz leise, als sie fragte: »Wer, glaubst du, hat deine Familie getötet? Und warum, glaubst du, fehlt mir die Kraft, um als mehr als ein Geist vor dir zu stehen?«
Varyn sagte nichts. Halb fühlte sich das Ganze für ihn wie ein Trick an - seine Meinung über den Dämmervogel hatte sich zu sehr ins Negative verändert, jetzt wollte sie, daß er sie wieder gern hatte, oder Mitleid… Aber wenn er nichts sagte, würde sie weiterreden, und dann wußte er vielleicht besser, woran er war. Gerade eben wußte er jedenfalls nicht, was er denken sollte.
»Es gibt vieles, was wir dir nicht erzählt haben«, sagte der Dämmervogel. »Nicht, weil wir nicht wollen, daß du es erfährst, sondern weil wir dachten, daß es noch zu früh für dich wäre. Wir wissen sehr viel. Nicht alles, aber sehr viel, und von vielem wissen wir, daß es passieren wird, weil wir das Schicksal kennen. Das ist nicht schön, du weißt es. Aber das, was du manchmal gesehen hast, sehen wir jeden Tag. Du hast gesehen, was mit deiner Familie passieren würde, und hast ihnen nichts erzählt, um ihnen keine Angst zu machen und weil du im Grunde deines Herzens nicht geglaubt hast, daß es wirklich passieren würde. So geht es uns auch - wir wissen, doch wir wünschen, es wäre nicht. Darum haben wir dir nichts gesagt. Wir haben dich nach Sharaz kommen lassen, um zu sehen, ob du schon in der Lage bist, von dir aus Aufgaben zu meistern und Hindernisse zu überwinden -«
Varyn schüttelte den Kopf, zumindest soviel, wie er es konnte, die Lähmung und Kälte fielen nicht von ihm ab, so sehr er es sich auch wünschte. »Ich kenne euren Grund«, sagte er. »Du mußt mich nicht anlügen. Von mir aus verschweig mir alles, aber lüg mich nicht an.« Er wunderte sich, daß er es schaffte, so ruhig zu bleiben dabei. Sie hatten ihn schon angelogen, alle drei, und genauso würden sie es wieder tun. »Ihr wolltet, daß ich nicht dabei bin, wenn… es geschieht.« Er schluckte.
»Ja«, sagte der Dämmervogel. »Das ist wahr. Wir kennen den Grund, warum das Bergwerk zusammengebrochen ist, und wir wissen auch, wer das eigentliche Ziel sein sollte. Nämlich du.«
»Ich weiß«, sagte Varyn wieder. Er hätte dort sterben sollen. Und darum fühlte sich sein Leben seither falsch an, als gehöre es einem anderen. Von Rechts wegen war Varyn tot, und Gaven auch. Aber Gaven wußte das nicht, Varyn schon.
»Es tut mir Leid«, sagte der Dämmervogel. »Alles. Es tut mir so Leid, Varyniel.« Ihre Stimme war zu leise, als daß man sagen konnte, wie aufrichtig sie es meinte, und sie war zu fern, als daß Varyn sich in sie hineinfühlen konnte. »Wir haben gekämpft. Wir haben es wirklich versucht.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Varyn. »Angefangen damit, was ich bin und warum ich so wichtig sein soll, für euch, für die Nilomaran - du meinst doch, sie wollen mich tot haben? Warum machen sie sich die Mühe, und warum ihr? Die ganze Welt ist voller Engelsgeborenen, sie sind daran gewöhnt, gut ausgebildet und alles, sie können kämpfen - warum pickt ihr euch dann gerade mich heraus und laßt mich nicht einfach ein normales Leben haben?« Und bevor sie antworten konnte, denn auf die Frage würde sie ohnehin nur wieder die gleichen Dinge sagen wie sonst, so einfach war das eben nicht, und er war ein Kind des Engels des Schicksals oder zumindest von dessen Blute, und so weiter, stellte er die Frage, die ihm wirklich auf der Seele brannte. »Wenn die Nilomaran mich umbringen wollen - warum nehmen sie dann ausgerechnet den Moment, wo ich nicht da bin? Sie hätten fünfzehn Jahre gehabt, wo ich das Tal nie verlassen habe. Oder ein paar Tage warten, dann wär ich wieder zuhause gewesen. Aber wenn ich ihr Ziel bin, warum bringen sie dann nur alle anderen um und nicht mich?«
Fast fühlte es sich an, als ob der Nebel um ihn herum lächelte und der Dämmervogel mit ihm. »Schicksal«, sagte sie, und allein für dieses Wort hätte er sie erschlagen können, »ist manchmal mächtiger als der Abgrund selbst. Und dein Schicksal war es, daß du überleben solltest.«
»Aber… ihr habt nachgeholfen?« fragte Varyn dumpf. Die Frage konnte alles heißen - nachgeholfen, daß er überlebte, oder nachgeholfen, daß alle anderen starben. Vielleicht antwortete der Dämmervogel deswegen nicht darauf.
»Die Nilomaran sind nicht dumm«, sagte sie. »Und was immer du tust, mach niemals den Fehler, sie zu unterschätzen. Sie haben nur eine Schwäche, noch. Sie können nicht sehen, was auf dieser Seite der Welt passiert. Sie sind die Augen des Abgrunds, ebenso wie die Elomaran die Augen des Himmels sind.«
»Noch?« fragte Varyn. Ein Noch an dieser Stelle machte immer Angst, selbst jemandem, der fast nichts mehr fühlen konnte.
»Noch«, wiederholte der Dämmervogel, und dann redete sie weiter, daß Varyn sich schnell wünschte, sie hätte es nicht getan. »Wir sehen mehr als du, Varyn, und wir sehen es nicht gerne, aber bald wird ein Bote des Abgrunds auf der Welt wandeln, größer und mächtiger als alle, derer sie sich bis jetzt bedient haben. Und die Welt wird vor ihm erzittern, Häuser werden fallen und das Alte aufhören zu sein. Darum bist du da, Varyniel.«
Es war, als greife eine kalte Hand durch Varyns Brustkasten und halte sein Herz an, nur für einen Moment und doch schrecklich genug. »Und dieser Bote…«, fragte Varyn tonlos, »der soll ich sein?« Er wußte es. Er hatte es immer schon gewußt. Seit er sich zum ersten Mal dem Abgrund gegenüber sah in seiner eigenen Seele und sie einander erkannten, wußte er, daß er dem Abgrund gehörte. Er konnte sich noch so sehr wünschen, daß alles gut werden würde - in ihm war alles schwarz und tief und unendlich. Plötzlich paßte alles so gut zusammen - »Nein«, sagte der Dämmervogel. »Das bist nicht du. Der Abgrund hat seinen Boten bereits, und wir können nichts dagegen unternehmen. Er wird kommen, auch das ist Schicksal. Wir haben in den Nilomar geblickt und wissen, wer ihm entsteigen wird. Aber du, Varyniel, du hast eine andere Aufgabe. Du bist derjenige, der sich ihm entgegenstellen wird.«
Varyn verstand nicht, und etwas in ihm meinte, daß das auch ganz gut so war, wenn er nicht wollte, daß ihm der Schädel platzte. »Ihr seid auch Engelsgeborene, nicht wahr?« sagte er. Das war eine Ablenkung, die einzige, die ihm einfiel. Er gegen den Abgrund, allein? Das war das Ende der Welt, sonst nichts. »Von Sharazanders Blut, wie ich?«
Sie antwortete nicht auf diese Frage, aber das mußte sie wohl auch nicht mehr. Die Antwort lag auf der Hand, auch wenn die Schwestern Varyn nicht halb so ähnlich sagen wie die Vigilanderskinder einander. Aber das waren auch echte Geschwister, während Varyn irgendwann mal einen Engel unter seinen Vorfahren hatte… Ebenso wie Dannen und Leota, sagte er sich dann und mußte fast lachen, wäre ihm nicht gleichzeitig so übel gewesen. Ein Engel von dem man wußte, und man wurde König. Ein Engel, von dem niemand wußte, und man wurde Bergmann. Wie einfach die Welt doch war, und wie seltsam!
»Hast du mir zugehört?« fragte der Dämmervogel direkt in Varyns tröstlich abschweifende Gedanken hinein. »Ich habe dir gerade etwas verraten, was du unmöglich jetzt schon erfahren solltest, aber du läßt mir keine Wahl.«
Gegen seinen Willen mußte Varyn nicken. Es war nur ein Traum. Wenn er aufwachte, hatte er vielleicht alles wieder vergessen. Hoffentlich. Aber er vergaß seine Träume niemals, und dieser würde keine Ausnahme machen. »Warum?« fragte er. Es waren so viele Warums in einem. Warum er? Warum jetzt? Warum keine Wahl?
»Weil du dabei bist, in die Stille zu driften«, sagte der Dämmervogel. »Und wenn du das tust, gibt es niemanden mehr.«
»Nein«, sagte Varyn. Hatte er ihr jemals Nein gesagt? Es fühlte sich gern an. »Die Welt ist nicht auf mich angewiesen. Es gibt so viele Menschen, die sie lieben und den Abgrund hassen. Wenn ich nicht mehr da bin, wird jemand anders die Aufgabe übernehmen, freiwillig, und sie besser machen als ich.« Wie stellte sich ein einzelner Mensch dem Abgrund entgegen, und warum sollte er, wenn es auf der ganzen Welt Tausende von Menschen gab, die das ebensogut zusammen tun konnten? Wenn nur ein einziger aufstand, hatte der Abgrund längst gewonnen.
»Du wirst nicht allein sein, Varyniel«, sagte sie. »Hinter dir stehen viele, schon jetzt.«
Aber das waren seltsame Worte an jemanden, der in einer Zelle saß, nicht viel größer als der Grund eines Brunnenschachtes. Varyn hörte sie sich an, aber sie rührten ihn nicht - sie klangen einfach nicht so, als wären sie für ihn bestimmt. Im Moment machte ihm noch nicht einmal wirklich Angst, daß der Abgrund sich erheben sollte - und wenn er es tat, und wenn er es schon getan hatte, das Schlimmste war längst geschehen und nicht mehr ungeschehen zu machen. Da hätte sich Varyn dem Abgrund entgegenstellen müssen, bevor der seine Familie verschlang - was sollte er jetzt noch tun? Rache schwören am Abgrund? Er hatte bereits versucht, sich am Berg zu rächen, ohne Erfolg: Der Abgrund würde noch viel weniger darauf reagieren. »Ich habe dich gehört«, sagte Varyn zum Dämmervogel, »aber ich glaube nicht, daß ich dir glauben kann. Und deine Worte prallen an mir ab. Vielleicht solltest du ein Andermal mit ihnen wiederkommen?«
Ihr Schemen schüttelte den Kopf. »Eigentlich«, sagte sie, »bin ich gar nicht gekommen, um mit dir zu reden. Ich will dir etwas zeigen.«
»Zeigen?« Varyns Lippen verzog es zu einem reglosen Lächeln. »Hier unten?«
»Ich werde dich mitnehmen«, sagte der Dämmervogel. »Dafür habe ich mir meine letzte Kraft aufgespart. Wenn du einverstanden bist, gib mir deine Hand.«
Varyn behielt seine Hand lieber für sich. »Wenn du keine Kraft mehr hast«, sagte er vorsichtig, »wie soll ich wissen, daß ich dann hierher zurückkehren kann?« Er wußte, wie es war, außerhalb des eigenen Körpers zu sein und den Weg hinein nicht mehr zu finden. Es war nichts, was er gerne noch einmal so erleben wollte. Und wenn der Dämmervogel verhindern wollte, daß Varyns Seele verloren ging, sollte sie ihn besser nicht einfach so mitnehmen!
»Dafür wirst du schon selbst sorgen«, sagte sie ruhig. »Und wo nicht du, dann meine Schwestern. Gib mir deine Hand!«
Und obwohl Varyn immer noch vom Gegenteil überzeugt war, gehorchte er.

Aus seinem Körper gezogen zu werden, war seltsam befreiend. Das Gefühl der Eiseskälte, das ihn eben noch fest in seinem Griff gehabt hatte, verschwand und löste sich auf, und mit ihm der Winter, die Zelle, und alles andere, was Varyn an die Welt der Lebenden band. Er konnte wieder frei atmen, auch wenn er es nicht mehr mußte, er konnte sich bewegen wohin er wollte, und die einzige Sorge, die er noch mit sich nahm, war die, daß sein Körper steifgefroren sein würde, bis er wieder bei ihm war. Ansonsten war alles leicht, so leicht wie ein Traum, und Varyn hoffte, daß es wirklich nichts anderes war. Dann war das graue Zwielicht um ihn, machte ihn blind für einen Augenblick, und als er wieder sehen konnte, war er an einem anderen Ort.
Neben ihm stand der Dämmervogel, diesmal nicht verschwommen und durchscheinend, sondern in ihrer menschlichen Gestalt, von der Varyn nicht wußte, ob sie auch nur einen Deut wirklicher war als die anderen, die er kannte. »Du bist gekommen«, sagte sie.
»Wo bin ich hier?« fragte Varyn. »Ist das Sharaz?« Es mußte es sein. Er kannte den Ort wieder, die weiten hellen Wände, der glänzende Boden - er sah an sich hinunter und stellte fest, daß er jetzt auch nicht mehr seine alten Sachen trug, mit denen man ihn in die Zelle geworfen hatte ohne auch nur ein Hemd zum Wechseln, sondern die lange Robe, in die ihn die Schwestern schon bei seinem ersten Besuch gezwungen hatten. Aber diesmal war es nur eine Traumrobe, damit konnte er leben.
»Beinahe«, sagte der Dämmervogel. »Denk dir, daß es ein Spiegelbild von Sharaz ist, das trifft es am besten. Aber nun komm mit. Ich möchte dir jemanden zeigen.«
»Deine Schwestern?« fragte Varyn und hoffte, daß sie doch unter sich bleiben konnten. Nicht, daß er die Schwestern nicht mochte - doch, eigentlich stimmte auch das - aber wenn sie dabei waren, wurde aus dem Dämmervogel eine Frau mit Namen Brionvah, und das machte sie zu jemand Fremden.
»Sie sind nicht hier«, antwortete der Dämmervogel. »Sie sind im wahren Sharaz und führen uns, damit wir hier in Sicherheit sind und dir nichts geschieht. Dieser Ort ist zerbrechlicher als die Wirklichkeit -«
»Wir sind im Inneren eurer Kugel«, sagte Varyn. »Nicht wahr?«
»Für meine Schwestern, ja«, antwortete der Dämmervogel. »Für dich, nein. Und nun komm, Varyniel. Wir dürfen nicht zuviel Zeit verlieren.«
Varyn folgte ihr durch die Halle und einen hellen Gang hinunter. Er hatte immer noch keine Vorstellung davon, wie groß das Heim der Schwestern wirklich war, aber vielleicht hatte es einfach keinen Anfang und kein Ende, wie die Zeit selbst oder das Schicksal, und die Räume tauchten dann und dort auf, wie sie gebraucht wurden. Das machte es einfacher - er mußte nicht mehr versuchen, sich einen Weg einzuprägen, wenn der Rückweg ganz anders aussehen konnte als das Hinweg. Schließlich blieb der Dämmervogel vor einer verschlossenen Tür stehen.
»Bitte bleib jetzt ganz ruhig. Du wirst gleich etwas sehen, was dich sehr erschrecken wird - aber bleib ruhig, denn ein zu großer Schrecken wird dich von hier fortreißen und in deinem Körper wieder aufwachen lassen, und was ich dir noch zu sagen habe, ist wichtig. Du bist gewarnt.«
»Kannst du mir nicht sagen, was hinter der Tür ist?« fragte Varyn. »Ich verspreche dir, ich werde nicht -«
Und in dem Moment öffnete der Dämmervogel die Tür, und Varyn erstarrte. Er blickte in einen Raum, fensterlos wie alles in Sharaz und in seltsames bleiches Licht gehüllt. Der Raum war leer bis auf eine steinerne Liege, ohne Decke und Kissen, mehr wie ein Tisch denn wie ein Bett, und darauf lag Noran, seine Große Schwester.
Sie lag so gerade ausgestreckt wie kein lebender Mensch schlief. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Haut bleich, und ihre schwarzen Haare stachen wie ein dunkler Fleck hervor. Aber es war Noran, ohne jeden Zweifel, Varyn erkannte seine Schwester, selbst hier, wo sie niemals hingehörte. Noran gehörte nirgendwo mehr hin. Sie war tot.
Varyn konnte nichts sagen. Er wollte den Dämmervogel anblicken, verwirrt, verzweifelnd, fragend, aber er konnte seine Augen nicht von diesem Anblick losreißen. Sie sah so wirklich aus…
»Nur zu, tritt ein«, sagte der Dämmervogel - aber Varyn blieb auf der Schwelle stehen. Zu groß war die Angst, dieses Bild zu zerstören - daß Noran verschwand, wenn er sich ihr nur näherte. So still… so friedlich…
»Ist sie - tot?« flüsterte Varyn schließlich. Früher oder später mußte er das fragen.
»Sie schwebt zwischen Leben und Tod«, antwortete der Dämmervogel. »Was du hier siehst, ist nur ein Abbild, aber sie ist in Sharaz, bei meinen Schwestern. Du erinnerst dich, was ich dir von Sharaz erzählt habe? Daß an diesem Ort die Zeit still steht? Das ist der Grund, warum das Mädchen nicht tot ist. Aber sie ist auch nicht lebendig.«
»Noran«, sagte Varyn. »Sie hat einen Namen. Bitte benutzt ihn.« Immer noch traute er sich nicht näherzutreten. An dem Tag, als sie ins Tal zurückkehrten, Gaven und er, und erfuhren, daß ihre Familie tot war, konnten sie Abschied nehmen von der Tante und den Brüdern, die im Haus lagen, weil das ganze Dorf zu gelähmt war, um sie auch nur zu begraben. Aber Varyn konnte das Haus nicht betreten. Er war vor der Tür stehengeblieben, genau wie hier, er hatte hineingeblickt, aber er war unfähig, sich den Toten zu nähern. Als hätte er Angst, daß sie aufstehen würden und sagen ‘Wir sind tot, Varyn, und das ist deine Schuld’. Doch es war immer noch besser, daß sie da waren, wo man sie noch ein letztes Mal sehen konnte, daß man ihnen ein würdiges Begräbnis zukommen lassen konnte - später, als Gaven und Varyn schon mit Hauptmann Mendrion und seinen Leuten davonreiten mußten; es war schlimm genug, daß sie nicht mehr dabei sein konnten. Aber der Onkel und Alsa waren nicht dabei, sie lagen im Toten Mann, der ein und für alle mal eingestürzt war, und niemand konnte sie dort wieder herausholen, ohne sein eigenes Leben zu riskieren. Nur Noran fehlte. Als der Stollen zusammenbrach, hatte er sie verschlungen, für immer - und nun lag sie einfach hier, zerschunden, aber an einem Stück, als schliefe sie nur.
»Wir haben sie dem Abgrund entrungen«, sagte der Dämmervogel an seiner Seite, doch Varyn konnte nicht einmal zu ihr hinblicken.
»Warum?« fragte Varyn. Wie immer, wenn er ‘Warum’ fragte, hieß es alles. Warum Noran? Warum nur sie? Warum nicht alle anderen?
»Die anderen hätten wir nicht retten können«, sagte der Dämmervogel. »Aber sie hat gekämpft - sie wollte unbedingt zurück ins Leben - wir haben beobachtet, was geschah, weil wir wußten, was geschehen würde. Nicht aus Neugier, mehr aus Pflichtbewußtsein, weil du selbst nicht dabei sein konntest. Wir hätten nicht eingreifen dürfen. Das Schicksal muß seinen Weg gehen, und wenn wir es aus Mitleid oder Menschenliebe verändern dürften, dann müßte kein einziger Mensch auf der Welt mehr sterben und erst recht kein Kind. Du darfst uns grausam nennen, aber wir haben keine Wahl.«
»Und warum…?« fragte Varyn nochmal.
»Weil sie sich so ans Leben geklammert hat«, sagte der Dämmervogel leise und liebevoll. »Sie hat gegen den Abgrund gekämpft, wie ich lange keinen Menschen mehr habe kämpfen sehen. Ich sagte dir, wir dürfen nicht eingreifen, aber wir können es. Und es gibt Momente, da muß auch ein Verbot gebrochen werden, wenn man dafür ein kostbares Leben retten kann.«
Varyn fragte nicht, wie sie es getan hatten, ob sie Noran aus ihrer Kugel hinaus gezogen hatten oder ob die Schwestern selbst in den Todesstollen gegangen waren, um das Mädchen mitzunehmen, Noran war jetzt hier, das genügte.
»Und jetzt?« fragte er. »Was muß ich tun, damit sie wieder aufwacht?« Er wußte, daß es seine Aufgabe war. Wenn es in der Hand der Schicksalsschwestern gelegen hätte, oder in ihrem Willen, dann hätte Noran jetzt lebend vor ihm gestanden. Aber wenn ihn der Dämmervogel hierhin brachte, dann nicht ohne Absicht. Ein Würgereiz stieg in Varyn auf. Er fühlte sich plötzlich erpreßt, auf die allerschmutzigste Weise. Der Dämmervogel mochte freundlich sein und nur das Beste wollen, aber egal was sie nun sagte, es schmeckte wie ‘Wir haben deine Schwester, und wenn du willst, daß sie lebt, dann tust du von jetzt an alles, was wir von dir verlangen.’ Er schluckte.
»Wenn ich wüßte, wie du sie retten kannst, hätte ich dir das längst gesagt«, antwortete der Dämmervogel. »Die Hälfte ihrer Seele ist noch in ihrem Körper, die andere irrt verloren umher und kann nicht in den Himmel, weil sie nicht mehr an einem Stück ist. Der Abgrund will sie haben, alle unvollständigen Seelen gehören ihm, früher oder später, aber wir halten sie zwischen den Zeiten fest, damit das nicht geschieht.«
Varyns Augen füllten sich mit Tränen, und es half nichts, daß er sich sagte, daß er außerhalb seines Körpers gar nicht weinen konnte, er tat es trotzdem. Es waren die ersten Tränen, die er für seine Familie weinte. »Und wenn… ihr sie freigebt?« brachte er hervor, und jedes Wort wäre lieber in ihn zurück gekrochen, als diese Wahrheit auszusprechen: Es war grausam, Noran zwischen Leben und Tod zu halten. Vielleicht war sie besser tot, mit einer ganzen Seele, die in den Himmel konnte… Varyn konnte nichts mehr sagen.
»Es war ihre Entscheidung, nicht unsere«, antwortete der Dämmervogel ruhig, und Varyn war froh, daß sie nichts tat, um ihn zu trösten. Er wollte keinen Trost. Es war gut, daß er endlich weinen durfte, und wenn es im Traum war. »Wir schützen sie vor dem Abgrund, nicht vor dem Himmel. Aber wenn es eine Möglichkeit gibt, sie ins Leben zurückzuholen, und wenn sie noch so klein wär - würdest du sie nutzen?«
Da war sie, die Erpressung, und sie kam so, wie Varyn sie erwartet hatte, in einem freundlichen Gewand. Keine Gewalt, kein Druck, nur ein ‘Wenn’… Er mußte ‘Nein’ sagen. Es ging nicht anders. Wenn er jetzt ‘Ja’ sagte, dann gehörte er den Schwestern für immer, mit Haut und Haar, Leib und Seele, und Noran mußte hier liegen und leiden… Varyn krampfte die Hände zu Fäusten. Wenn es eine Chance gab, irgendeine Chance… Er hatte schon alle anderen zum Tod verdammt, weil er nicht im richtigen Moment das richtige sagte. Alsa und Harkon und Edrik. Die Tante und den Onkel. Und jetzt lag Norans Leben in seiner Hand… Varyn zitterte. Er konnte nichts sagen. Es gab keine richtige Antwort. Beides war falsch.
»Du darfst nicht glauben, daß das hier nur eine leere Hülle ist«, sagte der Dämmervogel. »Es ist immer noch etwas von deiner Schwester darin. Von Noran.« War das die Frau, die vor kurzem noch über Gaven gesagt hatte ‘Er ist nicht dein Bruder’ und ‘Du hast keine Geschwister’? Was für ein Spiel spielte sie? Hatte Varyn Familie oder nicht, je nachdem, was der Dämmervogel gerade wollte? Varyn straffte sich, während ein Schauder durch sein Rückgrat fuhr. Es war seine Familie, immer. Und Noran war seine Schwester, so wie Gaven sein Bruder war. Und er würde alles für sie tun. Er wußte es, und schlimmer noch: Der Dämmervogel wußte das auch.
»Sie träumt«, sagte der Dämmervogel. »Sie schläft nicht, aber sie träumt. Sie ist da, wo alle träumenden Seelen hingehen. Du mußt dich nicht um sie sorgen. Sie leidet nicht.« Dann fragte sie nochmals, vielleicht mit etwas mehr Nachdruck: »Wenn du sie retten könntest, was würdest du tun?«
»Alles!« Varyn spie das Wort förmlich aus. »Ich würde alles tun, um sie zu retten, oder irgend einen der anderen! Jetzt sag mir nur, was ich tun muß, damit ich es auch tun kann!«
»Zunächst einmal«, sagte der Dämmervogel, »mußt du leben. Du hilfst niemanden, nicht dir selbst und nicht deiner Schwester, wenn du das Leben aufgibst.«
»Und dann?« fragte Varyn - als ob Leben selbst schon nicht schwer genug war!
»Mußt du dein Schicksal erfüllen«, antwortete sie, und Varyn war froh, ihr Gesicht dabei nicht sehen zu müssen - wie selbstgefällig es jetzt wohl war! Am liebsten wäre Varyn vorgestürmt, hätte sich Noran geschnappt und sie von hier fortgebracht, in Sicherheit: Aber er wußte es besser; wenn sie Sharaz verließ, lief die Zeit für sie weiter, und dann würde sie sterben und für alle Zeit tot bleiben. Er mußte an früher denken, als die Kinder immer Witze darüber gemacht hatten, daß er einmal Noran heiraten würde - und sie beide wußten, daß das nicht in Frage kam. Sie waren und blieben Geschwister. Und manchmal, als es bergab ging mit Varyn und niemand ihn mehr verstehen konnte und alle Welt ihn haßte, war sie ihm von allen seinen Geschwistern das liebste, weil sie ihn niemals beschimpfte und sich bemühte, ruhig zu bleiben und die verständige Schwester zu spielen. Er hatte sie genauso schlecht behandelt wie alle anderen, jetzt war er ihr soviel schuldig… Noran hatte fort gewollt aus dem Tal, so wie sie alle. Aber nun war sie von ihnen allen dem Tal am fernsten. Und wenn er die Möglichkeit hatte, irgendwann, würde er sie dorthin zurückbringen. Wenn sie lebte, dann lebend. Aber wenn sie sterben sollte, dann verdiente sie es immer noch, im Tal begraben zu werden, bei den anderen.
»Mein Schicksal?« fragte Varyn. »Habe ich eine andere Wahl, als das zu tun?«
»Wenn du dagegen ankämpfst«, sagte der Dämmervogel, »wenn du alles daransetzt, zu sterben statt zu leben, wenn du wieder versuchst, davonzurennen, dann hat dein Schicksal es schwer mit dir. Aber wenn du Noran jemals eine Chance geben können willst, dann mußt du deinen Teil erfüllen.«
Varyn wußte, daß er keine Wahl hatte. Als er damals dem Alkohol abschwor und sich dem Abgrund versprach, war es ihm leicht gefallen - es war seine eigene Entscheidung. Aber jetzt hatte er sich erpressbar gemacht und erpressen lassen, und von nun an würde es genau so weitergehen - nur damit Noran lebte. Varyn schluckte. Er konnte es noch nicht einmal Gaven erzählen, das war vielleicht das Schlimmste, Gaven hatte ein Anrecht zu wissen, was mit Noran war, aber es ging nicht, er hätte es nicht verstanden…
Varyn nickte. und er wußte, daß er mit diesem Nicken seine Seele weggab, noch bevor er in der Zelle wieder aufwachte, und in seinem Körper.

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