Viertes Kapitel

Irgendwo da draußen, irgendwo zwischen Doubladir und Loringaril, fand gerade ein Krieg statt ohne Hauptmann Mendrion. Man konnte sich darüber freuen, immerhin erhöhte es seine Chance zu überleben enorm, aber Mendrion wußte, wohin er gehörte, und wußte es mit jedem Tag mehr. ‘Haltet Euch bereit, Mendrion’, war das, was der König ihm mitteilte an dem Tag, da sie aus den Bergen zurück kamen, und seitdem hielt Mendrion sich bereit und wußte sonst nicht viel mit sich anzufangen. Sicher, die Burg hielt gute Quartiere bereit für die Offiziere, die Verpflegung war besser als an der Front, und er konnte sich an der Nähe der königlichen Familie etwas auf sich einbilden, aber er hatte nichts zu tun. Alle paar Tage mit Dannen ein Bier trinken zählte nicht, und ansonsten war Mendrion zum Herumsitzen nicht geschaffen. Er verbrachte viel Zeit damit, Varyn zu verfluchen, der ihm das eingebrockt hatte - solange sie unterwegs waren, ging es ja noch; wer den ganzen Tag auf dem Pferderücken verbrachte, hatte besseres zu tun als zu meckern, und es war nicht so, daß Mendrion das Abenteuer in Elad Courblaka bereute - andere Sachen, die bereute er wirklich, aber da war nichts mehr zu machen - er bereute nur, daß er jetzt einfach völlig nutzlos war. Der Krieg kam ohne Hauptmann Mendrion aus und vermißte ihn nicht einmal.
Um so glücklicher war Mendrion, als er dann doch endlich durch einen Boten in den Thronsaal bestellt wurde. Er machte sich direkt auf den Weg, sich bereit halten hieß auch, immer anständig gewaschen und gestutzt sein, um den König nicht warten zu lassen, und er hoffte auf eine gute Nachricht, die Worte wie ‘Einheit anführen’ oder ‘Beförderung’ beinhalten sollte. Mendrion rechnete mit dem König, und vermutlich auch mit Dannen, der zuletzt nicht mehr viel Zeit für ihn hatte - zuletzt hatte er ihn auf der Hochzeit gesehen, und außer daß er hoffte, daß Dannen inzwischen wieder nüchtern sein würde, hatte er nichts mehr von ihm gehört. Halb rechnete er auch noch mit Leota, aber er machte sich keine großen Hoffnungen mehr auf sie - aber der erste, den er sah, als er in den Thronsaal geführt wurde, war der Richter.
Nicht, daß er jemals im Leben einen Richter gebraucht hätte, aber Mendrion erkannte den Mann nach der Hochzeit natürlich sofort wieder. Das änderte natürlich alles. Wofür brauchte man einen Richter? Um über Verbrecher zu urteilen, aber Mendrion wußte, daß er nichts verbrochen hatte. Und zum Heiraten - da stand Leota, ein Stück hinter dem Dannen und dem König, vielleicht wollte der jetzt doch endlich ernst machen und zusehen, daß all seine Kinder verheiratet wurden, ehe sie alle wieder im Krieg verschwanden? Mendrion schüttelte den Kopf bei sich, die Hochzeit konnte er vergessen, das würde nichts mehr, nicht in diesem Leben. Er hatte Monate an Leotas Seite zugebracht, und das beste, was er jetzt über ihre Beziehung sagen konnte, war, daß die Königstochter einen ganz anständigen Kerl abgab. Ebensogut hätte man versuchen können, ihn mit Dannen oder einem von den anderen Jungs zu verheiraten: Es würde nicht passieren und machte auch keinen Sinn.
»Da habt Ihr den Hauptmann«, sagte der König mürrisch. »Seid Ihr jetzt zufrieden?«
Der Richter lächelte ein dünnes Lächeln. »Hauptmann Mendrion?« fragte er. Die Stimmung im Saal war drückend und angespannt. Definitiv keine Hochzeit. Mendrion nickte. »Ihr wißt, worum es geht?« fragte der Richter.
Rechtzeitig fiel Mendrion noch ein, dem König gegenüber zumindest eine Verbeugung anzudeuten, er mußte sich ja nicht gleich die Nase mit den Bodendielen putzen, aber ein Minimum an Respekt wurde doch verlangt. »Hoheit…« Dann erst schüttelte er für den Richter den Kopf. »Ich bin direkt hergekommen.« Das paßte zwar nicht zur Frage, klang aber zumindest eifrig. Mit Richtern sollte man es sich ebenso wenig verscherzen wie mit Königen.
»Bei meinem Aufenthalt hier anläßlich der zu schließenden Hochzeit«, sagte der Richter etwas zu umständlich, »erlangte ich Kenntnis von einem jungen Mann, der ohne Urteil oder Anklage im Kerker der Burg festgehalten wird.«
»Und ich sagte Euch schon«, fiel ihm der König ins Wort, »daß es ein Fall ist, mit dem Ihr nichts zu schaffen habt, er ist ein Deserteur, und Deserteure fallen unters Kriegsrecht.«
Der Richter schüttelte sanft den Kopf. »Es gibt weder Friedens- noch Kriegsrecht. Es gibt nur Recht und Unrecht. Für das Recht bin ich zuständig. Und Ihr?«
Wenigstens sprang der König auf die Beleidigung nicht an, aber man merkte, daß zwischen den beiden Männern keine Freundschaft herrschte. Mendrion überlegte, sich zu Dannen zu stellen, um sich kurz mit dem zu beraten, ließ es aber dann doch sein. Er mußte zeigen, daß er wußte, wo sein Platz war, vor allem jetzt, wo Dannen zum Thronfolger aufgestiegen war. »Wir hängen Deserteure an den nächsten Baum, schon immer«, sagte der König. »Und Ihr könnt nichts dagegen tun, so sind unsere Gesetze. Deserteure werden mit dem Tod bestraft.«
»Wenn er ein Deserteur ist«, sagte der Richter, »werde ich das schnell wissen und Euch gestatten, Anklage gegen ihn zu erheben. Darum ist auch der Hauptmann hier.«
Mendrion verstand nicht so recht. Was hatte er verpaßt? Seit wann war die Rede davon, Varyn hinzurichten? Sicher, er wußte, was für eine Gefahr Dannen und Leota in dem Jungen zuweilen sahen, aber ihn gleich aufhängen? Dafür mußten sie ihn und seinen Bruder erst quer durchs halbe Land schaffen? Mendrion seufzte. »Es ist wahr, er ist mir desertiert.« Gaven erwähnte er lieber nicht. Der Gedanke, einen kleinen Burschen von dreizehn Jahren aufzuhängen, gefiel ihm noch weniger, vor allem, weil der niemandem etwas getan hatte, und weil es Mendrions Idee gewesen war, ihn überhaupt erst in die Soldliste einzuschreiben.
Der Richter nickte. »Ich habe den Beschuldigten gesehen, und er machte auf mich noch einen recht jungen Eindruck. Wißt Ihr, Hauptmann, wie alt dieser Varyn ist?«
Mendrion sah Dannen, der ihm irgend etwas zuraunte, aber er konnte nichts verstehen, und er war nicht gut darin, von den Lippen abzulesen - das konnte alles heißen, von ‘Achtzehn’ bis ‘Abendessen’, was immer letzteres aus bedeutet hätte. Aber Mendrion brauchte nicht Dannen, um mehr über Varyn zu wissen, als ihm eigentlich lieb war. »Er ist jetzt sechzehn«, sagte er. Sah zwar beileibe älter aus, der Bursche, und hatte tüchtig gelogen, als er sich einschrieb, aber sie wußten es besser.
»Jetzt sechzehn?« wiederholte der Richter mit einer seltsamen Betonung auf dem ‘jetzt’, und fragte weiter: »Wie alt war er dann, als er desertiert ist?«
Mendrion lächelte. Jetzt wußte er, wie der Hase hoppelte, und er hatte plötzlich nicht mehr die geringste Lust zu lügen, wie sehr Dannen auch grimassieren mochte. »Da war er noch fünfzehn«, antwortete er ruhig und machte einen Schritt zurück, nur zur Sicherheit.
Das Gesicht des Richters verfinsterte sich, als er nun den König anblickte. »Das heißt, er hatte noch nicht das Alter erreicht, um der Armee rechtmäßig beizutreten«, sagte er. »Sprich, er hatte im Krieg nichts verloren und konnte folglich auch nicht desertieren.«
Der Blick des Königs sagte Mendrion, daß er sein Ziel, eines Tages mehr zu sein als nur ein Hauptmann, besser zu Grabe tragen sollte. »Der Krieg hat noch nie nach dem Alter gefragt«, knurrte er.
»Richtig.« Der Richter blieb so ruhig, daß er das fast zu genießen schien. »Darum sollte ja auch Ihr das tun.«
Mendrion täuschte ein Husten vor, um hinter vorgehaltener Hand zu schmunzeln. Wenn es danach ging, konnte er seine halbe Einheit wieder nach Hause schicken - nicht, daß sie alle so jung waren wie Mendrion, die meisten hatten schon das richtige Alter, aber niemand konnte nachprüfen, ob diese Burschen beim Einschreiben die Wahrheit gesagt hatten. Nach seinem Eintrag in der Soldliste sollte Varyn wie alt sein, neunzehn? Der Schreiber glaubte doch alles, was man ihm sagte! Plötzlich vermißte Mendrion seinen Krieg gleich viel weniger.
»Im Kerker«, redete der Richter weiter, »stieß ich ferner noch auf einen jüngeren Knaben, von dem Euer Kerkermeister mir sagte, es handele sich um den Bruder dieses Varyns - offensichtlich ein jüngerer Bruder, und damit haben beide in Eurem Kerker nichts verloren, es sei denn, ihnen sei etwas anderes vorzuweisen. Aber das hättet Ihr mir ja bereits gesagt, statt nur zu betonen, daß es sich um Deserteure und Fälle für Euer ‘Kriegsrecht’ handelt.« Oh, so ein breites Grinsen. Vermutlich hatte der Richter keine Frau zuhause, und solche Momente waren ihm der Ersatz dafür. »Ihr werdet sie also freilassen müssen. Unter diesen Umständen werde ich keine Anklage gegen sie akzeptieren.«
»Herzlichen Dank, Hauptmann Mendrion«, sagte der König, »Ihr wart uns sehr hilfreich. Ihr dürft Euch jetzt entfernen.« Nur nicht zu weit, sagten seine Augen - denn sonst würde er einen Grund finden, Mendrion wegen Desertierens anzuklagen. Und der war älter als sechzehn.
Mendrion nickte, und seufzte, und ging wieder. Jetzt hieß es wieder, sich bereit zu halten - für wie lange diesmal? Er hoffte, daß der König ihm verzeihen würde, oder zumindest Dannen - der konnte doch unmöglich so versessen darauf sein, Varyn tot zu sehen! - und es bald für sie alle in den Krieg ging. Und was sie nun mit Varyn und Gaven machen würden… Das war ihre Sache, damit hatte Mendrion nichts mehr zu schaffen. Aber zumindest wußte er, daß es in der Burg noch genug Quartiere gab, für Generäle, Hauptmänner, und ganz normale Soldaten. Egal, wie alt sie waren.

Mendrion war froh, daß er nicht hinunter in den Kerker mußte, als er ein paar Tage später die Brüder in ihrem neuen Quartier aufsuchte. Er war zufrieden, daß es endlich weitergehen konnte, und daher machte es ihm auch nicht so viel aus, Varyn und Gaven jetzt selbst die Ergebnisse mitzuteilen, auch wenn das eigentlich die Aufgabe eines Dannen gewesen wäre, oder noch eigentlicher die des Königs. Es ging zurück in den Krieg - oder überhaupt endlich erst hinein.
Mendrion klopfte kurz an, ehe er eintrat: Soviel Höflichkeit konnte ein Fußsoldat sonst nicht von seinem Hauptmann erwarten, aber noch waren sie nicht an der Front, und in der Burg waren sie am Ende alle nur Gäste. Varyn öffnete die Tür so schnell, als hätte er auf der anderen Seite nur gewartet - er konnte froh sein, daß er nicht mehr eingesperrt war, vielleicht verbrachte er darum jetzt seine Zeit damit, die Tür auf und zu zu machen, einem narrischen Kerl wie ihm war das durchaus zuzutrauen. Aber als er in das Gesicht des Jungen blickte, war Mendrion doch erschrocken, obwohl er eigentlich dachte, er wüßte, womit er zu rechnen hatte.
Als er Varyn kennenlernte - wie lang war das jetzt her? Irgendwann im Frühsommer… - sah der schon nicht aus wie das blühende Leben. Schon damals schlief und aß er zuwenig und trank zuviel. Das Trinken sollte er inzwischen eingestellt haben, und man konnte meinen, daß dann auch die Augenringe irgendwann verschwanden und die Farbe ins Gesicht zurückkehrte, vor allem, da Varyn seitdem viel Zeit an der Luft verbracht hatte und nicht mehr in irgendwelchen lichtlosen Stollen, wenn man von den letzten Tagen absah. Aber konnten die ausreichen, um einen Jungen so herunterkommen zu lassen? Die Wangen erschienen noch hohler und fahler als sonst, die Augen noch größer, und hätte Mendrion es nicht genau gewußt, er wäre nie mehr auf die Idee gekommen, ein halbes Kind vor sich zu haben.
»Hauptmann«, sagte Varyn leise. »Kommt herein.« Seine Stimme war leise und höflich, sehr distanziert, als hätten sie nicht vor kurzem noch Wochen gemeinsam auf der Landstraße verbracht. Fast unterwürfig klang der Junge jetzt, kein Vergleich mehr mit dem aufmüpfigen Angeber, der Mendrion und dem Rest der Einheit das Leben schwer gemacht hätte.
»Froh, wieder draußen zu sein?« fragte Mendrion und setzte ein Grinsen auf. Froh hatte er Varyn nicht mehr gesehen, seitdem die Brüder erfahren hatten, was im Berggeschehen war, und so schrecklich das auch sein mochte, sie konnten nichts dran ändern, Eltern starben nun einmal und Geschwister manchmal auch, und Wochen später sollte man schon langsam darüber hinwegkommen.
Varyn zuckte die Schultern. »Gaven ging es da unten schlechter als mir«, sagte er ohne jede Regung. »Er ist auch hier, falls Ihr ihn sehen wollt.«
»Ich bin wegen euch beiden hier«, antwortete Mendrion und trat endlich ein. Gaven wohlbehalten wiederzusehen war eine Erleichterung, es hatte Mendrion gar nicht gefallen, daß man ihn einfach so eingekerkert hatte, aber hier saß er auf der Bettkante und sah zumindest nicht schlechter aus als vorher, als er aufstand, um zu sehen, wer da zu Besuch kam. »Habt ihr inzwischen eigentlich den König mal gesehen?«
Gaven lachte laut. »Wo denn? Der hat Schiß vor uns, das wißt Ihr doch!«
»Gaven, sei still!« herrschte Varyn ihn an. »Entschuldigt ihn, Hauptmann.«
Mendrion legte den Kopf schief. »Ebensogut müßte ich den König entschuldigen.« Er sah keine Fußsoldaten, wenn er die beiden Jungen ansah, keine namenlosen Burschen, die man dem Krieg opfern konnte - er sah Varyn und Gaven. Sie fühlten sich noch nicht einmal mehr wie Untergebene an, und es half sehr, daß Varyn sich zumindest so verhielt: Solange er noch den Hauptmann in Mendrion sah, war noch nicht alles verloren. Aber sie hatten Gesichter bekommen, und das war nicht mehr rückgängig zu machen, und daß Mendrion über die beiden mehr wußte als über die meisten seiner Freunde auch nicht.
»Ich kann ihm nicht verdenken, daß er Angst hat«, sagte Varyn leise. »Es ist so vieles geschehen, nicht nur hier… Ich würde ihm ja sagen, daß er nichts zu befürchten hat, aber ich denke nicht, daß er mir glauben würde.« Er lächelte ein wenig. »Daß Ihr jetzt hier erscheint, Hauptmann, sagt mir, daß zumindest irgend eine Entscheidung gefallen ist. Und da Ihr es seid, denke ich, die Antwort ist nicht, daß wir wieder zurück dürfen?«
Mendrion seufzte. Er hatte ein Ohr für Untertöne, und daß Varyn nur ‘zurück’ sagte und nicht ‘nach Hause’, fiel ihm natürlich auf, aber er sagte dazu nichts. »Du kannst vor Glück sagen, daß du zu jung warst, um wirklich ein Deserteur zu sein.« Das mit der Hinrichtung erwähnte er auch lieber nicht. Der König mußte wirklich Angst haben. »Jetzt gehört ihr beiden wieder zu mir.«
»Was heißt das?« fragte Gaven, und wieder warf ihm Varyn einen Blick zu, der ihm das Wort im Munde gefrieren lassen konnte. Trotzdem, Gaven war nicht so leicht stillzukriegen. »Ziehen wir in den Krieg? Bekommen wir Schwerter?« Er schien sich redliche Mühe zu geben, aufgeregt und vergnügt zu klingen, aber es war nicht mehr so echt wie früher. Mendrion hatte Gaven unterwegs beobachten können, hatte gesehen, wie der Kleine seinen eigenen Kummer hinunterschluckte, um den Größeren aufmuntern zu können und dabei jedesmal auf Stein gebissen war.
Mendrion fletschte die Zähne. »Schwerter! Träumt weiter!« Er hatte von Anfang an gesagt, daß es nicht seine Aufgabe war, die Wunden dieser Jungen zu versorgen, ob sie nun innen sitzen mochten oder außen. Er war Hauptmann, kein Kindermädchen, und so dringend die zwei vielleicht eine Schulter brauchen konnten, um sich daran auszuheulen, es war nicht Mendrions. Nicht, wenn er wollte, daß sie ihn irgendwie noch jemals als Hauptmann respektieren konnten. »Oder habt ihr Geld, um euch Schwerter zu kaufen? Ich wüßte nicht!«
Gaven biß die Lippen zusammen und starrte Varyn an, so lange, bis dieser den Kopf schüttelte und sagte: »Das, was ich verdient habe, reicht nicht dafür.«
»Und wofür ist es dann?« fauchte Gaven, und plötzlich schien ihnen beiden egal zu sein, daß sie nicht allein im Zimmer waren - das, was sie seit Wochen unausgesprochen mit sich herumschleppten, brach aus ihnen heraus. »Wenn du davon ein Pferd gekauft hättest, wie ich dir gesagt hab, oder auch nur geliehen - wir wären nicht erst angekommen, als schon alle tot waren!«
Varyns Augen weiteten sich und wurden seltsam hell dabei. »Sag es«, formten seine Lippen die Worte fast tonlos. »Sprich es aus.«
Und Gaven sprach es aus, vielleicht zum ersten Mal. »Es ist deine Schuld!« Es war soviel Anklage in seinen Worten, soviel angesammelter Haß. »Wenn du nicht wärst, wären sie noch am Leben!«
Mendrion hatte keine Wahl, er mußte dazwischen gehen. Das waren jetzt seine Rekruten, ob sie erst morgen aufbrachen oder in einer Woche war egal, sie hatten einander nicht an die Gurgel zu gehen, und er hatte einmal erleben müssen, wie Varyn seinen kleinen Bruder grün und blau schlug, er wollte nicht verantworten müssen, daß es noch einmal geschah. »Genug jetzt!« sagte er scharf, obwohl er wußte, wie wichtig es war, daß die zwei das untereinander klärten - sie konnten zumindest warten, bis er nicht mehr dabei war.
»Aber es ist wahr!« schrie Gaven, und Tränen quollen aus seinen Augen, traurig, zornig, unkontrolliert. »Er ist schuld, daß sie tot sind!« Mit seinen kleinen harten Fäusten schoß er auf Varyn los, schlug auf ihn ein wie von Sinnen und hörte dabei nicht auf zu heulen.
Und Varyn, statt sich irgendwie dagegen zu wehren, nickte nur, als hätte er auf diese Schläge gewartet wie auch auf diese Worte, und wirkte fast erleichtert, sie jetzt nicht nur in seinem eigenen Kopf zu hören, sondern in Wirklichkeit. »Es stimmt«, sagte er leise. »Das ist meine Schuld, damit muß ich leben, bis zum Ende aller Tage.« Er weinte nicht. Mendrion hatte ihn nie weinen sehen und würde es wohl auch niemals.
»Unsinn!« sagte Mendrion. »Wärt ihr zwei Tage früher in eurem Dorf angekommen, wir hätten euch mitgenommen und wären mit euch davongeritten, und der Berg wär zusammengebrochen, ohne daß ihr es jemals erfahren hättet.« Und wie schön wäre das gewesen - dann hätte jetzt auch Mendrion hier sitzen können ohne dieses Gefühl von Schuld, ohne sich vorwerfen zu müssen, niemanden gerettet zu haben. Er hatte es wenigstens versucht, aber was änderte das? Es machte ihn nur schwächer. Hatte es versucht und war gescheitert, was für ein Held! Eigentlich wußte Mendrion seit diesem Moment, daß er nicht für den Krieg geschaffen war. Aber so schnell würde er das nicht eingestehen, nicht sich selbst und nicht vor anderen. »Oder was wär euch lieber, dabeigewesen zu sein und mit den anderen gestorben? Was du Varyns Schuld nennst, Gaven, ist der Grund, daß ihr noch am Leben seid! Also hört auf, euch anzugiften, gebt euch die Hände, ich dulde keinen Streit zwischen meinen Soldaten!«
»Also sind wir Eure Soldaten?« fragte Varyn, und in seiner Stimme war immer noch nicht mehr Leben als zuvor, »alle beide, auch Gaven?« Vielleicht klang ein kleines bißchen Hoffnung mit, aber das mußte man wirklich gut suchen.
Mendrion nickte. »Wenn der König findet, ihr zwei sollt zusammen bleiben, dann nehme ich eben euch beide mit. War schließlich auch nie Gaven, der mir Probleme gemacht hat, auf den mehr oder weniger kommt es dann auch nicht an.« In Wirklichkeit hatte der König kein Wort über den kleinen Jungen verloren, es schien ihm egal zu sein, ob Gaven da war oder nicht, solange er nur wußte, daß er Varyn in seiner direkten Nähe hatte und wußte, daß Mendrion ihn im Auge behielt. Dann auch Gaven zu behalten, war Mendrions eigene Idee - zum einen, wohin sonst mit dem Jungen? In seinem Tal war kein Platz mehr für ihn und auch sonst nirgendwo, so hatte Mendrion es Dannen eingeredet und redete es auch sich selbst gern ein, obwohl er wußte, daß kaum ein Haushalt im Tal den Jungen nicht gern bei sich aufgenommen hätte, schon aus Verpflichtung seinem Vater gegenüber und weil sie doch irgendwie alle miteinander verwandt waren - aber vor allem, wenn Gaven in Varyns Nähe war, so zumindest Mendrions Hoffnung, konnte man zumindest ab und an Varyn aus den Augen lassen und wußte, daß zumindest der Bruder noch auf ihn aufpaßte…
Nein, es gefiel Mendrion ganz und gar nicht, was der König da beschlossen hatte. Nicht nur, weil er froh gewesen wäre, endlich Varyn aus seinem Gedächtnis zu tilgen und einen normalen Krieg zu führen mit einer normalen Einheit, und wenn das nur Fußsoldaten waren und keine großartige Reiterei, für die man sich später an ihn erinnern würde. Sondern auch wegen dem, was der König sonst noch über Varyn gesagt hatte.
‘Achtet darauf, daß er sich nicht noch einmal aus dem Staub macht. Haltet ihn da, wo die Gefahr ist, ermutigt ihn, sich zum Helden zu machen, und wenn er dann für Doubladir stirbt, achtet drauf, daß er das dann auch wirklich tut.’ Und Mendrion hatte sich das angehört, ohne zu widersprechen - doch so ging das nicht. Wenn der König Varyn tot sehen wollte, sollte er den Richter sich in den Nilomar scheren lassen und den Jungen doch noch hinrichten. Aber Mendrion ließ sich nicht zum Mörder machen, und wenn er auch damit leben mußte, daß der eine oder andere den Krieg nicht überlebte, auch in seiner Einheit, würde er niemanden absichtlich und sinnlos in den Tod schicken. Selbst wenn das über die Frage entschied, ob es jemals einen General Mendrion geben würde - er wollte nicht Ruhm um jeden Preis. Und so gern er Varyn immer und immer wieder losgeworden wäre, er wollte nicht sein Blut an den Händen haben. Nicht in der Nacht, als Varyn sich fast totgetrunken hatte, und nicht jetzt.
»Und was machen wir dann?« fragte Gaven. »Wenn wir kein Schwert haben, was sollen wir dann im Krieg?« Er war nicht dabei gewesen, als Mendrion seine Truppen ausbildete mit dem Speer, und ein Blick auf seinen kleinen Körper und seine dürren Arme sagte Mendrion, daß er dem Jungen auch keinen Speer in die Hände geben würde. Es hatte schon seinen Sinn, daß eigentlich niemand, der jünger war als sechzehn Jahre, eingezogen werden sollte. Aber der Krieg konnte auch die Kinder brauchen - als Trommeljungen, als Maskottchen, als Aufpasser für Varyn - und Mendrion hatte schon eine Idee, was er mit diesem kleinen Kerl sinnvoll anfangen konnte.
Aber trotz all dieser Gedanken war das, was Mendrion auf die Frage antwortete, nur: »Sterben. Oder warum sonst sollte irgend jemand in den Krieg ziehen?« Er mußte nur einen Weg finden, daß Varyn starb, ohne ihn selbst dazu verurteilt zu haben… Manchmal haßte Mendrion sein Leben. Und manchmal haßte er es wirklich.
Aber Varyn, zum ersten Mal seit Ewigkeiten, lächelte wieder dieses Lächeln, für das ihm Mendrion schon vor Urzeiten die Vorderzähne hätte einschlagen können. »Ich sterbe nicht«, sagte er und klang endlich auch wieder so, als ob er es meinte, »ich habe es versprochen, und das halte ich auch. Ich sterbe nicht, und Gaven stirbt auch nicht.« Und dann blickte er Mendrion so an, daß dem ein Schauder über den Rücken lief, so tief und grau. »Und wenn ich das Schicksal in meine Hand nehmen kann, Hauptmann«, sagte er, »dann werdet auch Ihr nicht sterben. Nicht in diesem Krieg.«

Es regnete an dem Tag, an dem sie aufbrachen, ein feiner, eiskalter Nieselregen, der das Ende des Herbstes einzuläuten versuchte - nicht mehr lang hin, und ganz Doubladir würde unter einer weißen Schneedecke liegen, viel zu friedlich für einen Winter voller Krieg, aber Mendrion wußte noch zu wenig über den Stand der Dinge, um sagen zu können, ob sie bis zum Jahreswechsel vielleicht alle wieder zuhause waren. Erst einmal mußte der Krieg für ihn überhaupt anfangen. Endlich.
Zufrieden sah Mendrion zu, wie sich sein neuer Haufen vor der Burg sammelte. Er hatte sich zwischendurch manchmal gefragt, was aus seiner Truppe geworden sein mochte, aus den Bauern und Steinhauern, die er im Gebirge und auf dem Weg dorthin eingesammelt hatte - die meisten Gesichter von ihnen hatte er längst vergessen, von Varyn natürlich einmal abgesehen. Sie mochten inzwischen alle tot sein, was konnten sie auch erwarten, wenn sie jetzt von Bakonyn angeführt wurden, der berüchtigt dafür war, im letzten Krieg seine ganze Einheit bis auf den letzten Mann verloren zu haben - oder war das schon im vorletzten Krieg? Es konnte Mendrion egal sein. Die Wahrscheinlichkeit, wieder auf Bakonyn und die Truppe zu treffen, war doch eher gering, selbst wenn sie alle noch am Leben sein sollten. Loringaril war zu groß, als daß alle am gleichen Ort kämpften. Und Mendrion mit seinem neuen Haufen würde nicht irgendwo im Nirgendwo stehen, sondern in direkter Nähe des Königs.
Das kam nicht von ungefähr, aber so gern sich Mendrion das auch einreden mochte, es war kein Verneigen vor seinen Fähigkeiten als großartigem Anführer, sondern lag nur daran, daß Varyn in Mendrions Einheit diente. Und den wollte der König am liebsten direkt unter den Augen haben. Daß dann auch Hauptmann Mendrion mit daran hing - egal. Aber man konnte das beste draus machen, und bei allen Engeln, das würde Mendrion. Der Abgrund sollte ihn holen, wenn er nach diesem Krieg noch der einfache Hauptmann war, als der er hineingeritten war.
Die neue Einheit war vielversprechender als die alte. Gut, es waren Bauern dabei, die noch Aufschub bekommen hatten, um ihre Ernte ein- und die Herbstsaat auszubringen, als der Rest eingezogen wurde - selbst unter dem Engel der Rache war man klug genug, daran zu denken, daß die Menschen auch im nächsten Jahr etwas zu fressen brauchten. Und auch die Armee konnte nicht von Licht und Luft leben wie die Verrückten da oben in Elysir. Aber jetzt stand der Winter vor der Tür, und die Bauern hatten nichts mehr zu tun und konnten ebensogut ihr Land verteidigen. Die mußte Mendrion in Kauf nehmen - wenigstens hatten sie schon die Ausbildung hinter sich, darauf hatte Mendrion nämlich so wirklich keine Lust mehr.
Aber der Rest seiner neuen Männer hatte schon etwas drauf, denn eine Einheit, die auch das Leben ihres Königs beschützen sollte, durfte nicht nur aus unerfahrenen Trampeln bestehen. Und so wurde sie aufgestockt mit Männern aus der Stadt- und der Schloßwache. Bogenschützen waren darunter, die wußten, was sie an ihren Waffen hatten: Sie durften hinten stehen und waren vergleichbar gut geschützt, verglichen mit den Speerträgern, die vorne gehen, stehen und sterben mußten. Erst erschien es Mendrion riskant, hundert Mann aus der Stadtwache einfach abzuziehen, aber es war ein gutes Zeichen, hieß es doch, Loringaril war weit davon entfernt, Car Diuree einzunehmen. Und was für einen Sinn hatten diese Waffen eigentlich? Beschützten sie die Stadt, oder den König, der darin wohnte? Eben. Da konnten sie auch gleich in seiner Nähe bleiben.
Und irgendwo in diesem Haufen, beim Fußvolk, verschwinden würden bald auch Varyn und Gaven. Mendrion freute sich darauf, ihre Gesichter in der Menge verschwinden zu sehen - da ging es in Ordnung, daß sie im Moment noch Abseits vom Rest ganz in seiner Nähe standen, im Burghof, wo sich die Führungsriege bereit machte. Aufbrechen würden sie gemeinsam, Mendrions Männer und der König mit seinen Söhnen und Generälen, doch damit endete die gemeinsame Zeit dann erst einmal wieder. Die Reiterei würde sich nicht von einem einfachen Trupp Fußsoldaten ausbremsen lassen. Der König, Dannen, Jaro und Rul, ihre Generäle, sie waren gut geschützt mit den zwei Dutzend elitärer Reiter, mit denen sie sich umgaben. Ein letztes Mal bedauerte Mendrion, daß das nicht seine Einheit war - aber dafür war keine Einheit so sehr in ständiger Gefahr, angegriffen zu werden, wie diese Reiter. Und einen absoluten Schutz boten sie auch nicht, sonst hätte Gerrat kaum sein Leben verloren…
Ein letzter Blick auf Varyn und Gaven sagte Mendrion dann, daß sie viel mehr zu bedauern waren als er selbst. Er trug wollene Unterwäsche unter seiner Rüstung und war froh, daß er weiterhin Leder trug, das dem Regen trotzte, auch wenn es hinterher abscheulich stinken mochte - die königliche Reiterei hatte Kettenhemden, und die waren bei diesem Wetter wirklich keine Freude. Aber die Kohlenjungen trugen das, was sie hatten, einfache Kleider, mit denen sie im Sommer gut ausgerüstet waren, die aber dem Winter nicht viel entgegensetzen können würden.
Wenigstens hatten sie festes Schuhwerk, das konnte nicht jeder Bauer von sich sagen, aber Mendrion war nicht entgangen, daß Gaven auf seinem Zimmer barfuß herumgelaufen war und jetzt immer wieder an seinen Schuhen herumdrückte, man sah es ihm zwar nicht an, aber es war gut möglich, daß er tatsächlich ein Stück gewachsen war, und zwar gerade soweit, um nicht mehr wirklich in seine Schuhe zu passen. Wo sollten sie neue hernehmen, erst im Kerker, dann mitten im Krieg? Es half nichts, Mendrion richtete sich auf einen humpelnden Jungen ein, der vielleicht auf die Idee kommen konnte, seine Schuhe vorne aufzuschlitzen, nur um dann zu merken, daß seine Füße dann der Kälte nahezu schutzlos ausgeliefert waren… Er ertappte sich bei der Überlegung, wo er jetzt noch ein paar passender Schuhe für den Bengel hernehmen sollte, aber das sollte nun wirklich nicht seine Sorge sein. Und schließlich ging es in den Krieg, wo es nicht lange dauern würde, bis ein paar Stiefel ohne Besitzer sein würde, zwar nicht in Gavens Größe, aber sicher gut zum Hineinwachsen.
Ansonsten konnte Mendrion sich auf seinen Auftrag besinnen, dafür zu sorgen, daß zumindest Varyn den Krieg nicht überlebte - mit der leichten Joppe und dem einfachen Hemd konnte der Frost Mendrion leicht von dieser Verantwortung entbinden. Es war nicht an Mendrion, dafür zu sorgen, daß seine Männer es warm hatten. Mendrion opferte niemanden, nicht mutwillig, dabei blieb es. Aber das schlechte Gewissen war da, und Mendrion wandte seinen Blick lieber von den Jungen ab und der königlichen Familie zu, wie sie stolz und kriegerisch mit finsteren Mienen auf ihren schwarzen Rössern saßen. Er versuchte, einen letzten Blick mit Dannen auszutauschen, bevor sich ihre Wege für die Reise trennten - es kam ihm so vor, als trüge der Königssohn ein durchaus zufriedenes Grinsen zur Schau, gut getarnt unter zusammengezogenen Augenbrauen und hinter einem dunklen Bart. Ein Jungverheirateter, der seine liebe Frau verlassen mußte, um unbekannten Gefilden entgegenzuziehen, sollte eigentlich nicht so glücklich aussehen. Aber wann hatte Dannen jemals vorgegeben, glücklich zu sein? Und wo war seine Frau, um ihn unter Tränen zu verabschieden?
Aber es war nicht an Mendrion, sich wegen so etwas einen Kopf zu machen - bevor er selbst eine gute Partie an Land zog, sollte er die Ehen von anderen lieber in Ruhe lassen. Und was diese gute Partie anging… Solange er sich Leota nicht endgültig aus dem Kopf schlagen mußte, zum Beispiel, weil sie einen anderen heiratete, würde er nicht aufhören, sich Hoffnung zu machen. Und just als Mendrion das dachte, hörte er von hinten ein Pferd wiehern, und Leota, ohne auch nur einen Gruß von sich zu geben, gesellte sich zu ihren Brüdern.
Sie war gerüstet, als ginge es in den Krieg - nicht mehr mit ihrer schwarzen Paraderüstung, wie sie unterwegs lange getragen hatte, sondern im Kettenhemd wie die anderen, die auf einen Nahkampf vom Pferderücken aus waren und an ihrem Leben genauso hingen wie an ihren Gliedmaßen. Auch ihr Pferd war gerüstet wie die anderen, und an der Seite trug sie ihr Schwert - es gab keinen Zweifel, Leota hatte beschlossen, daß dieser Krieg auch ihr Krieg war. Irgendwie tat Mendrions Herz einen Hüpfer, als er sie sah: Obwohl er wahrlich viel Zeit mit der Königstochter verbracht hatte, war es immer noch etwas besonderes, wie sie da angeritten kam, mit dem schwarzen Haar, das unbändig unter der Helmkrempe hervorquoll, und der grimmig-entschlossenen Miene.
Aber nicht alle waren so erfreut wie Mendrion, die Frau hier zu sehen, und am allerwenigsten der König. Daran ließ er keinen Zweifel aufkommen, als er seine Tochter anherrschte: »Du hast hier nichts verloren, Leota, sattel dein Pferd ab und scher dich zurück ins Haus!«
Leota schnaubte, wie es ihr Pferd kaum besser gekonnt hätte. »Ich denke nicht dran! Das ist mein Krieg ebenso wie eurer, und ich reite mit euch!«
»Einen Dreck wirst du!« dröhnte der König quer über den Burghof. Was seine Generäle jetzt denken mochten oder die Reiterei schien ihn so wenig zu kümmern wie sonst. »Ich habe dir einen Befehl gegeben, und der heißt, du bleibst daheim!«
»Und wie willst du mich hindern?« bellte Leota zurück. »Willst du mich in Eisen legen? Willst du mich in mein Zimmer sperren, wie du es mit der armen Hana gemacht hast, die sich nicht wehren kann? Ich trage ein Schwert, willst du deines gehen mich erheben?« So liebte Mendrion sie, schön und streitbar. Der König offenbar weniger.
»Zu Hause sollst du bleiben, Hana Gesellschaft leisten, damit sie ihr Kind anständig bekommen kann -«
»Dann hättest du eine Hebamme aus mir machen müssen!« schnitt ihm Leota das Wort ab. »Keine Kriegerin! Aber solange ich die Herrin dieses Schwertes bin, werde ich es auch führen, und zwar da, wo es darauf ankommt.«
Mendrion sah zum König hin, der in diesem Moment tatsächlich zu überlegen schien, wie er seine Tochter möglichst schnell und schmerzlos entwaffnen konnte, ohne daß es für die versammelten Männer so aussah, als wende er Gewalt gegen eine Frau an. »Ich habe es dir schon einmal gesagt«, jetzt hatte er sich wohl für einen väterlichen Tonfall entschieden, »dieser Krieg findet ohne dich statt.«
Einen Augenblick lang schwieg Leota, aber ihr Gesicht war nicht das einer Frau, der die Worte ausgegangen waren. Sie wartete nur auf den richtigen Moment, um verbal zum letzten Schlag ausholen zu können. »Ich habe mir diese Worte einmal von dir angehört«, sagte sie dann. »Ich habe mich von dir ins hinterste Hinterland schicken lassen, nur damit du mich in Sicherheit glauben konntest. Und was ist dann passiert? Mein Bruder ist gestorben, verdammt, mein großer Bruder!« Ihre Stimme schlug Funken, die ebensogut Tränen sein mochten. »Ich lasse nicht noch einmal zu, daß meine Familie sich in Loringaril in Stücke hauen läßt, und ich bin nicht da, um sie zu beschützen, um meinen Teil dazu zu tun, daß am Ende dieses Krieges ich nicht die einzige bin, die noch lebt. Du willst ein Familienmitglied sicher in Car Diuree wissen? Dann denk an Hanas Kind. Aber ich, ich reite mit euch, und ich werde nicht zulassen, daß mich irgend jemand daran hindert.«
Sie hatte ihre Hand am Schwertknauf, während sie sprach. Aber es waren ihre Worte, vor denen die anderen zurückwichen. Und ob der König nun resignierte oder nur weiteren Ärger vermeiden wollte, niemand versuchte nach diesen Worten noch, die Königstochter am mitreiten zu hindern. Und so konnte es nun endlich losgehen. Auf nach Loringaril. Auf in den Krieg.

Der Weg nach Loringaril mit seinem neuen Fußtrupp machte Mendrion zwar immer noch nicht zu einem Fachmann in Sachen Kriegsführung, aber dafür konnte er jetzt behaupten, wirklich viel von Doubladir zu kennen. Jetzt hatte er das Land, so groß es auch war, einmal ganz durchquert, und selbst wenn ihm das Wissen, wie es in den Bergen aussah und wie in der Ebene, wie die Leute ihre Häuser bauten und wie ihre Burgen, niemals viel nutzen würde, solange Mendrion nicht dem Krieg abschwor und Baumeister wurde, konnte er nun zumindest sagen, daß er wußte, für was er kämpfte. Doubladir war ein Land, das man lieben oder hassen mußte, aber wenn man in den Krieg zog, war es besser, es zu lieben.
Eine Frau war leichter zu beschreiben als ein Land - und wäre Doubladir eine Frau gewesen, dann hätte man von herber Schönheit gesprochen, nicht lieblich, aber markant, nicht zierlich, sondern eher breit gebaut, nicht verspielt, sondern direkt. Kräftige Knochen machten aber auch das Gesicht markant, das Kinn stolz; Lächeln mußte sie nicht, denn ein Lächeln konnte falsch sein - aber die echte Herzlichkeit kam von innen, Treue, Ehrlichkeit, Wärme. Wobei es zunehmend schwer wurde, bei Doubladir an Wärme zu denken. Das Land mußte sich so sehr auf den Winter freuen, daß es ihn gar nicht mehr abwarten konnte. An manchen Tagen mischten sich schon die ersten Flocken in den Regen, und an anderen Tagen verzichteten sie dabei gar ganz auf den Regen; man konnte froh sein, daß nichts liegen blieb, denn mit dem Trupp durch den Schnee zu stapfen von Car Diuree bis Lomar wäre eine Strafe fürs Leben gewesen.
Wenn es denn in Loringaril überhaupt schneite… Mendrion mußte zugeben, daß er zwar seine Heimat jetzt von oben nach unten und vorwärts und rückwärts kannte, aber seinen Feind eigentlich gar nicht. Er hatte Landkarten studiert, er wußte, wo die Städte lagen und wo die Flüsse liefen, er wußte, daß sie im Krieg eher auf Kraft setzten denn auf Struktur, natürlich, was war bei dem Engel auch anders möglich - aber wie die Menschen lebten, wie sie sich kleideten, was sie aßen - das wußte Mendrion nicht. Und er wollte es auch nicht wissen. Schließlich hatte er vor, diese Menschen zu töten, wenn sie ihm begegneten, und dabei nicht nachdenken über ihre Familien, ihre Höfe, ihre Lieder… Das hätten sie sich vorher einfallen lassen müssen, bevor sie Doubladir in einen Krieg zwangen.
Trotzdem, auf das Land war Mendrion irgendwie neugierig. Nicht auf die Leute, nur auf das Land. Im besten Fall gehörte es hinterher zu Doubladir, und dann wollte man es wenigstens ein bißchen kennen. Eroberung - Mendrion schmunzelte. Seit Menschengedenken führte Doubladir Kriege gegen Loringaril und umgekehrt, aber auf die lange Sicht betrachtet, kam auf jeden Sieg eine Niederlage, und es ergab sich immer wie durch Zufall, daß der Aleruan die Grenze zwischen den beiden Ländern bildete, egal, wer nun gerade gewonnen hatte. Und da der Aleruan der größte Fluß der Welt war, würde sich daran vermutlich noch lange nichts ändern.
Und als größter Fluß der Welt konnte der Aleruan es sich auch erlauben, sich schon lange im Voraus anzukündigen. Tagelang. Es fing eigentlich an, kaum daß sie aus dem Hügelland raus waren und dorthin kamen, wo Doubladir tatsächlich einmal flach war - das war selten genug, nach allem, was Mendrion gesehen hatte, waren bestimmt zwei Drittel des Landes mehr oder weniger bergig. Daß in den Bergen nicht viel wuchs und dafür um so mehr Bodenschätze abgebaut werden konnten, das machte ja noch Sinn, und wer immer die Welt erschaffen hatte, mochte da seinen Sinn gesehen haben - aber kaum wurde es flach, wurde es sumpfig.
Dadurch, daß der Herbst wie üblich mit viel Regen einher gekommen war, im Flachland wie im Gebirge, wurde das nur noch mehr betont - grünlich war das Land statt grün, es roch nicht gut, und besonders viel wachsen wollte dort auch nicht wirklich. Natürlich, es gab auch hier Felder, aber die mußten dem Sumpf abgetrotzt werden und machten mehr Arbeit, als sie einbrachten. Wenn hier die Bauern ihre Ernte sein ließen, um in den Krieg zu ziehen, ging nicht viel verloren.
Doubladir war gut in vielem, aber nicht darin, sich selbst zu ernähren. In Friedenszeiten behalf man sich, indem man Getreide einkaufte in dem sonnenverwöhnten fruchtbaren Nachbarland, wo der höchste Berg von einem Maulwurf aufgegraben worden war und alles wuchs, was man sich nur irgendwie wünschen konnte, von Wein vielleicht einmal abgesehen. Aber dieses Land war Loringaril, und die Zeit zum Handeln war vorbei. Statt dessen erntete Doubladir jetzt die eigene Saat - denn was gab es her, um an das Getreide zu kommen? Gold? Woher nehmen, sollten sie das vielleicht scheißen? Gold, das lag in Loringaril im Boden, sie hatten genug davon, was sollten sie noch mehr haben wollen? Nein, Stahl bekam Loringaril dafür. Stahl, um daraus Waffen zu schmieden, oder Stahl, der schon zu Waffen geschmiedet war… Die besten Waffen in Loringaril kamen aus Doubladir. Und jetzt waren sie auf Doubladirs Herz ausgerichtet.
Alles nur wegen dieses Sumpfes! Hauptmann Mendrion haßte den Aleruan jetzt schon. Er konnte seinen Arsch darauf verwetten, daß die Seite in Loringaril keinen Sumpf abbekommen hatte, schon allein, weil es Loringaril war, das bekam immer die guten Sachen ab im Leben. Eigentlich war es vollkommen widersinnig, daß Car Diuree jetzt auch noch Lebensmittel nach Loringaril schickte - was blieb dann Doubladir überhaupt noch zu Kauen übrig? Aber es half nichts, die Truppen mußten versorgt werden, und das einzig tröstliche an den mit Rüben, Hafer oder Bohnen beladenen Ochsenkarren war, daß sie noch langsamer voran kamen als Mendrions Einheit von Fußgängern.
Und mehr als einmal war es nötig, daß sie selbst mit Hand anlegten, alle Mann, kräftig genug waren sie ja, um einen Karren, der sich im Schlamm festgesetzt hatte, wieder freizubekommen. Alle Mann bis auf Mendrion, verstand sich. Denn ein gutes hatte es, der Hauptmann zu sein: Er konnte auf seinem Pferd sitzenbleiben und mußte nicht selbst durch den Matsch waten. Trotzdem, den Sumpf mochte Mendrion nicht, auch wenn er mehr auf ihn hinunter blickte als drinzustecken. Gegen die festsitzenden Ochsenkarren hatte er dagegen nichts. Sie boten den Männern eine Abwechslung und gaben ihm noch ein paar Möglichkeiten, sie an seine Kommandos zu gewöhnen.
Nur ein paar Sachen, die er früher ganz gerne gemacht hätte, mußte er sich hier verkneifen. Es war immer ein kleines Vergnügen gewesen, wenn er Varyn vor der Truppe vorführen konnte, und eine kleine Rache, denn schließlich versuchte Varyn das gleiche mit ihm - und Mendrion hätte sich gern einmal zurückgelehnt und gesagt: »Bleibt zurück, Männer, und du, Kerl, schirr deine Ochsen ab - wir wollen sehen, ob unser starker Varyn es schafft, den Wagen hier ganz alleine rauszuziehen.« Nicht nur, um Varyn zu schikanieren, sondern vor allem, um endlich zu wissen, wie weit dessen Kräfte nun wirklich reichten.
Er hatte es noch nie gesehen, daß Varyn, wenn er nicht übermüdet oder erschöpft war, zu schwach gewesen wäre für irgend etwas. Vielleicht konnte Varyn es aufnehmen mit einem von den Engelsgeborenen aus Loringaril - verdammt, vielleicht war er ja sogar einer, passen tät es ja bis auf eines, Varyn hatte Verstand, und die Blödheit deren von Loringaril hatte sich längst sogar bis zu Mendrion durchgesprochen. Gute Kämpfer, lausige Strategen, aber dafür hatten sie ihre Männer, sonst hätte es lang schon kein Königreich der Stärke mehr gegeben…
Aber Mendrion fragte nicht, und er führte Varyn auch nicht mehr vor. Diesmal sollte Varyn kein Aufsehen erregen. Er war nur ein Fußsoldat unter vielen, und das einzige Besondere an ihm war, daß er seinen kleinen Bruder dabei hatte - aber die Männer, die Mendrion nun mit sich hatte, stellten keine Fragen und nahmen die Dinge hin, wie sie waren, und Varyn hatte die Gelegenheit genutzt, sich seine Hörner abzustoßen, und bemühte sich nicht mehr nach aller unbegrenzter Kraft, wahlweise den anderen zu imponieren, sie vor den Kopf zu stoßen oder sich mit ihnen anzulegen. Wirklich, hätte es diesen unauffälligen Varyn schon vor einem halben Jahr gegeben, Mendrions Leben wäre so viel angenehmer verlaufen! Und er hätte vor dem König stehen können und ehrlich unwissend den Kopf schütteln und sagen: »Varyn? Muß ich den kennen? Ach, in meiner Einheit war der - ja wißt Ihr nicht, wie viele Männer ich da habe? Wie soll ich mir da alle Namen merken?«
Aber es war, wie es war. Und wenn Varyn sich jetzt zurückhielt; Mendrion war der letzte, der sich darüber beschweren würde.
Und so erreichten sie endlich den Aleruan. Mendrion hatte erwartet, daß man ihn schon von weitem rauschen und malmen hören konnte, wer der mächtigste Fluß der Welt sein wollte, mußte auch etwas dafür tun - aber er irrte sich, tatsächlich war jeder Gebirgsbach lauter. Der Aleruan floß nahezu lautlos und ganz und gar majestätisch in seinem Bett, das so breit war, daß man das andere Ufer klein und fern liegen sah wie eine andere Welt. Vielleicht führte er gerade Hochwasser, vielleicht war das sogar sein niedrigster Stand - er stellte alle Flüsse, die Mendrion jemals gesehen hatte, in den Schatten.
Nebel lag über dem Wasser und machte die Stille, die von dem Fluß ausging, noch stiller, und die Soldaten verharrten ehrfurchtsvoll bei dem Anblick - man hatte ihnen einen großen Fluß versprochen, und hier hatten sie ihn, das war an sich schon genug, aber hinzu kam auch noch, daß auf der anderen Seite ihr Ziel lag, das Land des Feindes. Wem gehörte der Fluß? Vielleicht niemandem. Vielleicht sich selbst. Vielleicht dem Engel Alexander… Mendrion schluckte. Den Anblick war wirklich beeindruckend, selbst für ihn.
Es gab verschiedene Möglichkeiten, einen Fluß zu überqueren. Die Fährschiffe wurden in Kriegszeiten requiriert, dienten der Armee des einen oder anderen Landes, oder gleich versenkt, je nachdem, wem sie zuerst in die Hände fielen - aber wie oft hätte eine Fähre übersetzen müssen, um Mendrion und seine Männer ans andere Ufer zu bringen? Und an keiner Stelle war der Aleruan so flach, daß man ihn hätte fuhrten können - zum Glück, denn das hätte das Ende der Flußschiffer bedeutet, von denen sich zu dieser Zeit natürlich auch keiner mehr blicken ließ. Für Mendrions Männer gab es nur die Brücke, und ebenso wie der Aleruan der größte Fluß war, gab es auch wohl auf der ganzen Welt keine mächtigere Brücke. Zumindest nicht von Doubladir aus - natürlich, es gab noch andere Brücken, eine kleinere war weiter im Süden, und auch in Koristan und in Indiradin wollte man von einer Seite auf die andere kommen, und war nicht ein Fluß zum Meer hin noch breiter? Es war schwer, sich das vorzustellen. Aber was Doubladir anging, war dies die längste und größte Brücke der Welt.
Wenn es in einen Krieg ging, waren Brücken die Orte, die am wichtigsten zu erobern und noch wichtiger zu verteidigen waren, es sei denn, der dazugehörige Fluß konnte gefuhrtet werden. Auch diese Brücke hatte Loringaril nicht kampflos hergeben - doch hergegeben hatte es sie, das war das erste, was Mendrion sah. Das Zollhäuschen lag verlassen, keine Soldaten patrouillierten auf dieser Seite des Flusses, aber man sah, daß es einen Kampf gegeben hatte. Loringaril mußte die Brücke besetzt haben, als Doubladirs Truppen anrückten; nach der Kriegserklärung hatte das Land noch genug Zeit gehabt, seine Armee zu mobilisieren, aber gegen Vigilanders Truppen waren sie machtlos. Ein gutes Zeichen, keine Frage - aber Mendrion spürte dieses Stechen, einen großen Kampf verpaßt zu haben. Hauptmann Mendrion, Held der Schlacht am Aleruan - daraus wurde jetzt nichts. Natürlich, es gab noch andere Flüsse in Loringaril, und sicher auch andere Brücken, aber diese hier war und blieb die wichtigste von allen.
Fast schon geisterhaft ragte die Brücke aus dem Nebel, und die Dämmerung zog auf, nahm das Land auf der anderen Seite an sich und kroch dann langsam über das Wasser nach Doubladir, als sich Mendrions Männer ihr näherten. Die Stille griff auf die Soldaten über, hatten sie eben noch voll Stolz gesungen »Für Doubladir marschieren wir«, aufgekratzt und voll Tatendrang, endlich in feindliches Gebiet einzudringen - jetzt wirkten sie plötzlich klamm und bang. Die Brücke hatte etwas endgültiges an sich, als könne man sie nur einmal im Leben überqueren, und nur in eine Richtung.
»Männer«, sagte Mendrion. »Vor uns liegt Loringaril. Irgendwo auf der anderen Seite dieses Flusses liegt Vigilanders Armee, siegreich und weit vorgerückt auf ihrem Weg nach Lomar. Dort ist unser Ziel, dort werden wir gebraucht - diese Brücke gehört uns, und niemandem sonst, überquert sie stolz und mit erhobenem Haupt. Und, was noch wichtiger ist: Überquert sie jeder auf seine eigene Weise. Kein Gleichschritt. Hört Ihr, kein Gleichschritt! Sonst setzt es was!«
Ein paar von den Männern lachten, bei den Bauern, die noch nichts vom Krieg wußten und noch weniger von Brücken. Die anderen waren entweder zu sprachlos zum Lachen, oder sie verstanden, um was es ging. Die mächtigste Brücke brach zusammen, wenn Vigilanders Armee über sie marschierte, die Engel mochten wissen warum, aber es war so. Und wenn die Burschen da unten sich jetzt einen Witz draus machen und wirklich im Gleichschritt losmarschieren würden, dann hagelte es aber Ohrfeigen!
Nein, sie gehorchten. Mendrion redete sich gerne ein, daß er sie eingeschüchtert hatte, aber an diesen Fluß kam er nicht heran. Sie setzen ihre Füße vorsichtig auf die steinerne Brücke, die sich Bogen für Bogen bis ans andere Ufer erstreckte, als fürchteten sie, daß sie gleich unter ihnen wegbrechen konnte und die Soldaten ins eiskalte Wasser fielen, aber diese Brücke war Hunderte von Jahren alt und hatte viele Kriege überlebt, sie hielt auch diesen Männern stand.
Die Stadtwachen gingen voran, so wie sie es immer taten, ihnen sah man an, wie schwer es ihnen fiel, zu gehen und zu schlendern wie normale Menschen, wann immer sie zusammen waren, traten sie sonst im Gleichschritt auf, Seite an Seite, mit ihren Uniformen und einfachen Lederrüstungen eine Einheit, die auch der Krieg nicht trennen konnte. Dahinter kamen dann die Bauern, und Mendrion auf seinem Pferd blieb hinten - er ritt erst dann auf die Brücke, wenn auch der letzte Mann drauf war, so konnte er sicher gehen, daß wirklich alle von seinem Trupp es nach Loringaril schafften und niemand aufs letzte Knäppchen noch versuchte, sich aus dem Staub zu machen.
Unter den letzten Männern, welche die Brücke betraten, war Varyn, und Mendrion ahnte schon, daß es jetzt Probleme geben würde, als er von hinten die angespannten Schultern des Jungen sah. Natürlich, er hätte sich denken können, daß der doch noch eine Möglichkeit finden würde, aus der Reihe zu tanzen und Mendrion das Leben zur Hölle zu machen. Die Schritte des Jungen wurden immer kürzer, und dann, mit der Schuhspitze direkt vor dem ersten Brückenstein, blieb er dann stehen wie angewachsen.
»Was ist los, Kohlenjunge?« rief Mendrion ihm zu und bereute es im nächsten Moment, die anderen Soldaten mußten nicht wissen, wie gut er Varyn kannte und daß der Bursche nicht aus der Gegend von Car Diuree war, sondern aus den Kohlebergen kam - natürlich, da konnten sie sich ihren Teil denken, sobald Varyn mal das Maul aufmachte und sie seinen breiten Dialekt mit den rollenden Lauten hörten, aber da Varyn kaum jemals etwas sagte, war ihnen das vielleicht wirklich noch nicht aufgefallen. »Setz dich in Bewegung, wir wollen nicht warten, bis es dunkel ist!«
Und auch Gaven stieß seinen Bruder an und zog ihn beim Arm. »Jetzt komm schon, Varyn… Wenn etwas mit der Brücke ist, dann sag es, aber verdammt, komm jetzt!«
Varyn schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das vielleicht Gaven verstehen konnte, von dem aber für Mendrion so etwas wie »alle schon drauf«, ankam. Und immer noch machte er keine Anstalten, sich vorwärtszubewegen. Inzwischen waren die Rücken der Männer vor ihm schon ein Stück weit weg, und die ersten Männer blieben stehen und drehten sich um, als sie merkten, daß der Hauptmann nicht mehr bei ihnen war - natürlich, auf der Brücke mußte man die Hufe des Pferdes gut hören können.
»Paß auf, Varyn«, sagte Mendrion und beugte sich etwas zu dem Jungen runter, ohne gleich absteigen zu müssen, »ich befehle dir zu gehen, und du bleibst stehen - du weißt, was das heißt? Befehlsverweigerung?«
Er rechnete mit weiterer Sturheit, mit einem dumpfen Blick, der ihm sagte, er könne sich in den Abgrund scheren, mit jeder Art von Blockade - aber statt dessen zog Varyn nur die Schultern zusammen und ging auf die Brücke, mit vorsichtigen und unsicheren Schritten, und er hielt sich ganz in der Mitte, sah nicht nach links oder rechts, sondern nur geradeaus zu Boden - aber wie er ging, konnte Mendrion egal sein, solange er nur ging und Gaven mit ihm. Und dann, endlich, konnte auch Hauptmann Mendrion über die Brücke reiten.
Das andere Ufer war weit entfernt, die Brücke wurde immer länger und länger, und die Dämmerung schritt voran, aber sie kamen in Loringaril an, noch bevor es dunkel wurde. Da blieb noch genug Zeit, ein Lager aufzubauen… Und freudig begrüßt wurden sie noch dazu.
»Da seid Ihr ja!« Der andere Hauptmann kam zu Mendrion und schüttelte ihm die Hand. »Der König hat Euch schon angekündigt, er ist vor einer guten Woche hier vorbeigekommen. Ihr seid die Letzten?«
»Erstmal ja«, sagte Mendrion. »Und, alles ruhig?«
»Alles ruhig«, sagte der Mann. Aber seine Umgebung sagte, daß es das nicht immer gewesen war - diese Seite war heftig umkämpft worden, die zerbrochene Zollschranke sprach ihre eigene Sprache, und auch die Kerben und Breschen am Wächterhäuschen verrieten ihren Teil. Schwerthiebe, Pfeileinschläge, und vor allem: Kein einziger Loringarim in Sicht, nur eine Einheit aus Doubladir, abgestellt, um aufzupassen, daß diese Brücke auch weiterhin ihnen gehörte. Was hatten sie mit den Leichen getan, sie in den Fluß geworfen? Plötzlich, obwohl das alles hinter ihm lag, schauderte Mendrion. Plötzlich bekam das Schweigen des Flusses eine ganz neue Bedeutung… Er schüttelte sich. Keine Zeit für solche Gedanken. Die Schlachtfelder hielten noch genug Leichen für sie bereit.
»Gut«, sagte Mendrion. »Weiter so. Und viel Glück!«
Der Hauptmann lachte. »Das wünsch ich Euch auch! Ihr braucht es dringender als wir.«
Und so kamen Mendrions Männer in Loringaril an.

Welches Land war größer, Doubladir oder Loringaril? Mendrion wußte es nicht genau, aber er hoffte, daß es Doubladir war - nicht, weil er sich wünschte, daß sein Heimatland das größte, stärkste und prächtigste Land der Welt war, sondern weil er schon Doubladir von West nach Ost und zurück durchquert hatte und einfach hoffte, daß in Loringaril dieser Weg nicht ganz so weit sein würde.
In der Zeit, seit der Krieg begonnen hatte, war Vigilanders Armee weit in das gegnerische Land eingedrungen - erfreulich weit; Mendrion versuchte sich an das zu erinnern, was er von früheren Kriegen wußte, aber ihm fiel keiner ein, bei dem sich die Loringarim so weit hätten zurückdrängen lassen. Jetzt ging es gegen Lomar, natürlich, es ging immer gegen Lomar, aber dieses Mal hatten sie eine Chance, das auch zu erreichen. Aber Mendrion hätte es bevorzugt, wenn seine Armee nicht schon ganz so weit vorgedrungen wäre, jetzt fühlte es sich für ihn so an, als ob er und seine Männer nur noch kamen, um die Reste zusammenzukehren.
Die Spuren des Krieges waren unübersehbar, vor allem nah am Aleruan, wo am Anfang die härtesten Kämpfe getobt haben mußten. Mendrion schüttelte den Kopf, wenn sie ein niedergebranntes Dorf passierten - was für eine Verschwendung, hier hätten sie noch guten Proviant bekommen können, und es ging ihm gegen den Strich, Bauern abzuschlachten. Bauern waren nützlich, und Bauern konnten nichts dafür, in welchem Land sie lebten, sie konnten ebensogut hinterher ihre Steuern an Doubladir zahlen, und von diesen Steuern sollte auch Mendrion irgendwann mal so etwas wie Sold bekommen, von dem er mehr hatte als nur von dem vagen Versprechen auf Ruhm und eine Option auf die Hand einer Frau, die ihn nicht wollte… Aber wenn er hörte, wie seine Männer angesichts niedergerissener Palisaden und geschwärzter Mauern johlten, war er doch froh, daß dies nicht seine Schlacht gewesen war. Man konnte die Soldaten nicht erst aufpeitschen, damit sie blind vor Hass gegen Loringaril marschierten, das Doubladirs unschuldiges Blut vergossen hatte und an dem nun die Heilige Rache vollzogen werden mußte, und dann erwarten, daß sie Vernunft und Milde walten ließen.
Wenigstens hatten die Loringarim nicht ihre eigenen Felder niedergebrannt, die konnte man also noch nutzen - ob ihnen der Verstand dafür fehlte oder ob sie einfach nicht dazu gekommen waren, überrascht, wie schnell und weit sie sich zurückziehen mußten, das konnte Mendrion nicht sagen. Aber er führte Krieg gegen das Land, nicht gegen den Boden, für ihn saßen die eigentlichen Feinde in Lomar, aßen von goldenen Tellern und ließen andere die Drecksarbeit machen. Sterben mußten meistens die anderen, aber wer hatte behauptet, daß Krieg gerecht war?
Mendrion versuchte, sich ein Loringaril ohne den Krieg vorzustellen und sich zu fragen, wie es sich wohl hier lebte - das Wetter war milder auf dieser Seite des Aleruan, der Herbst noch jünger und der Winter ferner, statt grau und grün überwogen hier Farben wie Gold und braun in den Wäldern - so viele Wälder, auf fruchtbarem Boden, was für ein Luxus! Doubladir hatte auch Wälder, im Norden, wo sonst nicht viel anderes wuchs, sie waren zum Jagen da, irgendwas zum Essen mußte schließlich auch Doubladir hervorbringen - aber die Wälder in Loringaril waren anders, weniger dunkel, weniger dicht, aber doch immer noch eine Brutstätte für verdammte Partisanen.
Sie haßten die Partisanen, natürlich. Sie zogen in den Krieg, um zu kämpfen, Mann gegen Mann, Schwert gegen Schwert, Speer gegen Pferd, so wie es sich gehörte - nicht, um sich aus dem Hintergrund beschießen zu lassen. Nicht, damit in der Nacht Männer kamen und ihnen die Kehlen durchschnitten. Es war etwas, das man in Loringaril eigentlich nicht erwarten sollte. Beide Länder kämpften ehrbar. Loringaril setzte auf Stärke, auf ein starkes Heer, das von vorne angriff. Doubladir setzte auf Ehre und Disziplin - und diese Männer, die in kleinen Grüppchen in den Wäldern lauerten, gehörten dort nicht hin, sondern zum Rest ihrer Armee. Immerhin, es hielt den Trupp auf Trab.
Jetzt wußten die Männer, warum sie schon in Doubladir geübt hatten, nachts das Lager zu bewachen, und sie lernten, sich vorsichtiger zu bewegen und nicht auch noch die ganze Zeit zu singen, worüber Mendrion dankbar war, denn so sehr es die Moral der Truppen heben mochte, sank seine eigene Moral doch tief in den Keller, wenn er die gleichen fünf Lieder immer und immer wieder aus rauen und ungebildeten Kehlen hören mußte, die zu hunderten gemeinsam den Ton verfehlten.
Aber daß man diese Partisanen nie erwischte… Mendrion wünschte sich, so schnell wie möglich auf die Armee zu treffen und auf ein richtiges gegnerisches Heer. Er hatte vier Männer verloren, und jeder einzelne von ihnen ärgerte ihn - sollte er am Ende ohne einen einzigen Mann dastehen, noch bevor die erste Schlacht auch nur begonnen hatte? Es tat weh, Männer zu verlieren. Und er hatte über Bakonyn gelacht…
Loringaril ohne den Krieg wäre schön gewesen, aber in einem Loringaril ohne Krieg gab es auch keinen Hauptmann Mendrion - er hätte Jahre Zeit gehabt, nach Loringaril zu reisen, und statt nur für seinen ersten Krieg zu lernen und an seiner Fechtkunst zu arbeiten, sich einmal anschauen, was sie da so umkämpften: Denn daß sein erster Krieg gegen Loringaril sein würde, das hatte Mendrion schon lange gewußt. Gegen wen führte Doubladir sonst Kriege? Gegen Koristan? Hatten die überhaupt eine Armee? Gegen Indirdarin? Waren sie denn verrückt, da gab es ja noch mehr Wälder, in denen Partisanen sitzen konnten! Gegen Lavaliria? War das überhaupt ein Land?B Und gegen Elysir… ganz sicher nicht, solange sie bei Verstand waren. An Nachbarländern bot sich nur Loringaril für einen Krieg an. Und jetzt mußten sie aufpassen, daß sie das Land am Ende nicht ganz eroberten. Gegen wen sollten sie sonst ihren nächsten Krieg führen?
Die Männer waren nicht mehr ganz so aufgeregt und enthusiastisch, seit es die ersten Toten gegeben hatte, und mit jedem Tag, den sie fern der Heimat und fern der Armee auf der Landstraße verbrachten, sank die Stimmung weiter. Sie vermißten ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Kinder, und je besser sie einander kennenlernten, desto öfter brachen Streitigkeiten aus, die Mendrion Mühe hatte zu schlichten. Erstaunlicherweise war der Mustersoldat, der sich aus all dem heraushielt, ausgerechnet Varyn. Natürlich, wer mit keinem sprach, konnte auch mit keinem streiten, aber selbst zwischen ihm und Gaven war es seit dem Ausbruch, den Mendrion miterlebt hatte, ruhiger geworden. Vielleicht war es gut, daß sie nicht mehr ständig aufeinander saßen - Varyn hing seinen Gedanken nach, von denen Mendrion froh war, sie nicht zu kennen, und Gaven ging ganz und gar auf in seiner neuen Rolle als Pferdeknecht.
Das war eigentlich nicht von Mendrion beabsichtigt - aber was sollte er machen? Wenn Gaven jeden Tag ankam und fragte: »Was ist mit heute, kann ich Euch heute mit dem Pferd helfen?«, dann wäre Mendrion blöd gewesen, das nicht irgendwann auszunutzen. Er war ein königlicher Hauptmann, immerhin, und niemand mußte erwarten, daß ein Hauptmann alles allein machte. Früher war Bakonyns Sohn ihnen mit den Pferden zur Hand gegangen, und Gaven mußte ungefähr im gleichen Alter zu sein, diese Jungs waren ganz versessen auf Pferde und machten selbst den Mist mit Begeisterung weg, wenn es sein mußte, Striegeln, Hufe auskratzen, alles drum und dran - Mendrion konnte zufrieden sein, und Gaven war es erst recht.
Vielleicht tat es dem Jungen ganz gut, endlich wieder gebraucht zu werden. Oder die Nähe des großen Tieres half ihm, mit seinem Kummer klarzukommen - Mendrion hätte nie erwartet, daß sein Pferd, das ein großartiges Tier war, um damit in die Schlacht zu reiten und vor allem, um darauf gut auszusehen, aber gleichzeitig ein übellauniges Miststück für alle, die ihm zu nahe kamen, sich am Ende als Seelentröster herausstellen sollte. Aber das war das Besondere an Gaven - man konnte dem kleinen Schuft nie wirklich böse sein, und vielleicht merkte das sogar das Pferd. Mendrion hoffte, daß Varyn wußte, was er an seinem Bruder hatte - aber um das nicht zu merken, hätte man schon ein arger Dummkopf sein müssen, und das war das Letzte, was man von Varyn sagen konnte.
Und so, während sich Mendrion mit jedem Tag mehr wunderte, wie weit Vigilanders Armee schon vorgedrungen war, erreichten sie dann endlich das königliche Heerlager.

Mendrion wußte nicht, was in das Heer Loringarils gefahren war, daß es sich so weit zurückdrängen ließ, aber die Posten aus Doubladir, die an den Straßenkreuzungen postiert waren, um Mendrion und den Verpflegungskarren den Weg zu weisen, konnten ihm auch nicht mehr verraten, als wo es weiterging. Aber so wie es aussah, war dieser Krieg so gut wie gewonnen. Zwischen Vigilanders Armee und der feindlichen Hauptstadt lag nur noch ein echtes Hindernis: Der Fluß Techemiel. Auf seinem Westufer lagerte der König von Loringaril mit seinen Männern. Auf dem Ostufer war Mendrions Ziel. Das Heerlager, endlich.
Man konnte den Techemiel nicht mit dem Aleruan vergleichen, was Länge und Breite anging, aber er lohnte sich, umkämpft zu werden, mit einer Schlacht, die, wenn alles gut ging, den Krieg beenden würde. Mendrion hatte die Schlacht am Aleruan verpaßt, aber für die Schlacht am Techemiel war er mehr als bereit, und die Vorstellung, daß der König nur noch auf ihn und seine Männer gewartet hatte, bevor er zum Angriff rief, ließ ihn in Gedanken nochmal um eine Handspann wachsen. Seine Männer waren es, auf die es ankam, die tapferen Hundert, die er von Car Diuree bis hier geführt hatte -
Und dann erreichte Hauptmann Mendrion die Hügelkuppe und sah von dort zum ersten Mal das Heerlager. Es war noch ein ganzes Stück weit weg - aber man konnte es unmöglich übersehen. Es war riesig. Mehr als riesig. Mendrion sah Zelte über Zelte und den Rauch von zahllosen Feuern, und auch wenn Rechnen nicht zu seinen allergrößten Stärken zählte, konnte er abschätzen, daß dieses Lager Raum für bestimmt zehntausend Mann bieten mußte. Er schrumpfte bei dem Anblick, und das um mehr als eine Handspann. Wie es hier noch auf hundert Männer mehr oder weniger ankommen sollte, konnte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen.
»Halt!« Eine berittene Patrouille kam auf sie zu, die geschwärzten Lederrüstungen verrieten sie als Einheit aus Doubladir, noch bevor Mendrions Männer nach ihren Waffen greifen mußten. »Seid ihr Nachschub?«
»Hauptmann Mendrion. Eine Einheit Fußsoldaten, eine Einheit Schützen.«
»Ihr dürft passieren«, sagte der Anführer. »Unten im Dorf hat der König sein Lager aufgeschlagen, meldet euch dort.«
»Dorf?« fragte Mendrion, doch ein bißchen verwirrt. Ein Dorf hatte er vor lauter Zelten nicht gesehen - aber was war schon ein kleiner Weiler von vielleicht hundertfünfzig Menschen gegen zehntausend Mann?«
Der Anführer zeigte hangabwärts, und mit etwas Glück konnte Mendrion einen Palisadenzaun ausmachen.
Er nickte. »Und die Bewohner?«
Der andere lachte nur. Auch eine Antwort.
Mit neuem Mut führte Mendrion seine Männer weiter. So ein befestigtes Dorf war ein guter Fang, wenn es darum ging, den König und seine Angehörigen so sicher wie möglich unterzubringen, aber selbst dieser König hatte keine hundertfünfzig Söhne - und selbst wenn man das Halbdutzend Generäle auch noch in dem Dorf einquartierte, blieb dort immer noch genug Platz für die niederen Anführer, die Obristen und Hauptmänner - und die Aussicht, nach so vielen Wochen wieder in einem befestigten Gebäude zu schlafen, in einem richtigen Bett, war eine ganze Menge wert.
Wie lange stand dieses Lager schon da? Mendrion konnte es nicht sagen. Der König mit seinen Reitern hatte gut zwei Wochen Vorsprung von ihm und den Fußtruppen, aber wenn sie die anderen Einheiten hierher beordert hatten von wo auch immer sie vorher gewesen waren, konnte auch das seine Zeit gedauert haben. Von dem Dorf abgesehen, war das Lager nicht weiter befestigt - wenn es für längere Dauer ausgerichtet war, hätte man noch einen Graben und Wall darum ausheben können - aber zumindest war es gut bewacht. Schon von weitem sah Mendrion die Fußpatrouillen, die es in regelmäßigen Abständen umrundeten; hier würde sich so schnell kein Fremder hineinstehlen können.
Wieder durfte Mendrion erklären, wer er war - langsam versetzte ihm das einen Stich, die wirklich wichtigen Männer kannte man, auch ohne daß sie ihren Namen nennen mußten, aber wenn er nur einer von hundert Hauptmännern war und dazu noch erst jetzt ankam, was hatte er zu erwarten? Und was sollte »Meldet Euch beim Quartiermeister« heißen? Für was für einen blutigen Anfänger hielten sie ihn denn? Und so beschäftigte Mendrion seinen Kopf lieber mit grimmigen Gedanken, als als zuzulassen, daß ihm angesichts der schieren Größe dieses Lagers die Kinnlade runterklappte.
»Wartet hier!« sagte er zu seinen Männern, bevor er sich auf die Suche nach dem Quartiermeister machte, und hoffte inständig, daß er sie hinterher wiederfinden würde oder, was noch wichtiger war, wiedererkennen. Aber nur eine Einheit hier hatte einen Varyn bei sich, und da der schwieriger zu verlieren war als Fußpilz, würden Mendrion seine Männer schon nicht abhanden kommen.
Der Quartiermeister war ein wirklich beschäftigter Mann, der aussah, als ob er mehr um die Ohren haben mußte als der König persönlich. Mendrion mußte warten, bis der Kerl Zeit für ihn hatte, und dann ging es ziemlich schnell.
»Hauptmann Mendrion«, sagte der Mann und versank für einen Moment in dem Plan, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Eure Männer schlagen ihre Zelte hier auf.« Seine Fingerspitze fuhr über dem Plan nieder wie ein Falke über der Beute, und Mendrion mußte sich schnell orientieren - hier der Fluß, dort das Dorf, da die Zelte - und sich merken, wo es hin ging. Bei mehreren hundert Zelten konnte man nicht einfach irgendwo lagern - es hätte ein heilloses Durcheinander gegeben.
»Ausrüstung«, sagte der Quartiermeister, und wieder ging der Finger nieder. Der Plan war schon ganz verschmiert vom vielen Zeigen, und die Fingerspitze des Mannes schwarz von Tinte. »Proviant.«
»Und ich?« fragte Mendrion. Dorf, alle Engel, laßt es Dorf sein! Und er hatte Glück. Der Finger spießte ein Haus im Dorf auf.
»Hier. Obrist Eriver, meldet Euch bei ihm.«
Mendrion nickte und merkte sich den Namen. »Und wo finde ich den König?«
Jetzt lachte der Quartiermeister. »Haltet Euch an Euren Obristen, der König hat genug -«
»Der König hat mir befohlen, mich bei ihm zu melden, wenn ich eingetroffen bin«, schnitt ihm Mendrion das Wort ab. »Und was ein Befehl ist, das befolge ich.« Er kämpfte das Gefühl nieder, klein und unbedeutend zu sein. Das war das schöne daran, allein mit hundert Mann über Land zu reisen - es gab niemanden, der über ihm stand. Und nun war ein Obrist über ihm, und über dem ein Major, und über dem ein General… Das Leben war nicht gerecht. Aber immerhin, Mendrion durfte sich persönlich beim König melden. Manchmal war es ganz gut, einen Varyn dabeizuhaben.
»Hier«, sagte der Quartiermeister. Das Haus des Königs war das größte im Dorf, und seine Linien waren noch ganz klar zu erkennen. Ehrfurchtsvoll ließ der Mann seinen Finger ein Stückweit über dem Haus schweben. Oder war das Achtlosigkeit? Egal. Mendrion merkte es sich. Und während er sich auf den Rückweg zu seinen Männern machte, versuchte er im Kopf, die Karte in die Wirklichkeit zu übertragen. Dieses Lager sollte ihr neues Zuhause sein. Hoffentlich für lange. Hauptmann Mendrion freute sich auf sein Bett.
Frohen Mutes kehrte Mendrion zu seinen Männern zurück; seine gute Laune sank allerdings wieder, als er seinen Trupp zwar dort wiederfand, wo er ihn zurückgelassen hatte - der aber inzwischen um gut ein Drittel geschrumpft war.
»Wo ist der Rest?« herrschte er den nächstbesten Kerl an, der auch nur die Schultern zuckte.
»Austreten?« schlug einer von den anderen vor und fing sich dafür eine Maulschelle ein, auch wenn er vielleicht Recht hatte und Mendrion lieber die Männer bestraft hätte, die verschwunden waren. Dabei konnte er es ihnen fast nicht verdenken, so ein großes Lager machte einen entweder abenteuerlustig und neugierig, oder man traute sich gar nicht mehr von der Stelle.
»Die werden ihre Abreibung schon noch bekommen«, bellte Mendrion. »Ich werde jetzt nicht auf ein paar abspenstige Trödler warten. Die finden den Weg schon noch, und wenn nicht, kriegen sie es mit mir zu tun.« Wenn sich herum sprach, daß Mendrion schon wieder fünfundzwanzig bis dreißig Mann verloren hatte, und das nicht in der Schlacht, sondern im Heerlager… sie würden ihn alle auslachen. Aber im Zweifelsfall schnappte er sich ein paar von den nächsten besten Bauern, die hier rumliefen. Denen konnte es egal sein, unter welchem Hauptmann sie dienten… »Ihr kommt jetzt mit, keine Zeit zu vertrödeln, ich zeige euch, wo ihr eure Zelte aufzubauen habt.«
Er hatte Glück - gerade, als er losziehen wollte, tauchten zumindest die nächsten fünf von den fehlenden Männern wieder auf und ließen sich anstandslos dazu verdonnern, die restlichen aufzutreiben, nachdem Mendrion ihnen den Weg zu ihrem Zeltplatz beschrieben hatte. Sie selbst wiederzufinden, damit wäre Mendrion heillos überfordert gewesen. Er konnte seine Männer durchzählen, er merkte, wenn einer fehlte, aber die Gesichter hatte er sich dabei nur grob eingeprägt. Von hundert Mann erkannte er vielleicht zwanzig mit Sicherheit, und darunter waren auch Varyn und Gaven, die er schon vorher gekannt hatte.
»Und jetzt - mitkommen!« Sollten sie ihre Zelte in Ruhe aufbauen. Für den Rest des Tages hatten sie sonst nichts mehr zu tun; Mendrion mußte noch durch die Gegend laufen und würde sie vermutlich erst am anderen Morgen wiedersehen, und bis dahin sollten sie sich vielleicht ein bißchen erholen. Je nachdem, wann der König den Techemiel einnehmen wollte, konnte es noch Tage dauern, aber ebensogut schon am anderen Morgen losgehen - später wußte Mendrion mehr.
»Ich muß euch nicht mehr sagen, wie man ein Zelt aufbaut«, sagte er. »Und um Wachen müßt ihr euch heute auch nicht mehr kümmern, rechnet damit, ab morgen Patrouille zu laufen, aber jetzt seht zu, daß ihr wieder zu Kräften kommt!« Und das konnte er ebensogut sich selbst sagen. »Die Zelte kommen in einer Reihe mit denen, die schon da sind, hört ihr? Macht mir keine Schande, hier herrscht Ordnung im Lager!« Und er hoffte, daß das so stimmte. Halb rechnete er damit, daß seine Männer sich in der Nacht mit den Soldaten von nebenan verbrüdern würden und irgendjemand ein paar Flaschen Schnaps ins Lager geschmuggelt hatte - aber egal, darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Am anderen Morgen würde er die Männer wieder rannehmen wie eh und je. Je nachdem, wie es ihm selbst ging nach einer Nacht im Hauptmannsquartier… Mendrion hatte eine gewisse Vorstellung, was er zu erwarten hatte, aber genau konnte er auch nur raten.
»Äh… Hauptmann?« rief Gaven von irgendwo aus der Menge. Ihn hatte Mendrion fast vergessen, dabei wollte er den Jungen ja als eine Art Pagen mitnehmen, er war sicher, daß die anderen Hauptmänner alle jemanden hatten, der ihnen die Sachen in Ordnung hielt und ihnen in die Stiefel half, und er wollte ernst genommen werden können. Da war so eine häßliche Kröte besser als gar niemand.
»Was gibt es denn?« knurrte er zurück.
»Das Pferd, was mach ich jetzt mit dem? Soll ich den hier anbinden?«
Mendrion seufzte. Das Pferd hätte er fast vergessen. Hier mußte es irgendwo eine Koppel geben, hundert Hauptmänner machten allein schon hundert Pferde, plus die Generäle, plus die Reiterei… Aber das war erst mal das unwichtigste von allem. »Sattel ihn ab und rubbel ihn trocken«, sagte er. »Ich kümmere mich später darum.« Jetzt mußte er erst mal zusehen, daß er sich überall meldete, wo es sein mußte. In seinem Quartier… beim Obristen… und vor allem beim König.
Während er vor der Tür der alten Bürgermeisterei wartete, fühlte sich Mendrion zunehmend flau. Er hatte zwar seine Männer zum Essenfassen geschickt, aber selbst nichts gegessen, andere Dinge erschienen so viel wichtiger… Aber er hatte sich überschätzt. Er war zu lange in Car Diuree gewesen, zu lange in Nähe der königlichen Familie, er hatte sich zuviel auf sich eingebildet. Jetzt mußte er sich erst mal wieder dran gewöhnen, daß er nur ein kleines Licht war. Und der König interessierte sich nicht für ihn, sondern wollte nur Bescheid, ob Varyn noch lebte oder doch das Glück gehabt hatte, unterwegs einem Partisanen zum Opfer zu fallen. Mendrion selbst zählte nicht. Und daß er wieder warten mußte, daran sollte er sich noch besser gewöhnen.
Gut, er kannte jetzt sein Quartier, ein Bett in dem, was früher mal das Gasthaus gewesen war, aber das Haus hatte etwas unheimliches an sich, daß man sich fragen mußte, was aus dem Wirt geworden war. Mit etwas Glück hatten die Dorfbewohner fliehen können - aber Mendrion wunderte sich, warum er sich überhaupt diese Fragen stellte. Dieses Dorf war so ganz anders als das, in dem sie auf Varyn gelauert hatten, die Häuser sahen anders aus, es gab weder Schmiede noch Eisengießerei, noch Bergwerke… Aber die Erinnerungen waren wieder da, an die Toten, die er nicht hatte retten können, und ließen ihn nicht los. Mendrion fragte sich, ob er das richtige für den Krieg war und der Krieg für ihn. Aber er war wirklich an einer beschissenen Stelle, um sich solche Fragen zu stellen.
Mendrion schluckte und versuchte, wieder ganz normal auszusehen, wie ein kaltblütiger Hauptmann, der sich auf die Schlacht freute. Er hatte Männer verloren, und es war ihm nicht halb so nah gegangen wie die Toten in Elad Courblaka. Er würde weitere Männer verlieren, vielleicht alle - es durfte ihm nichts ausmachen. Niemals -
»Hauptmann Mendrion!« Die Tür hinter ihm wurde aufgerissen, und die ausgesprochen leutselige Stimme, die ihn hinein rief, gehörte zu Mendrions großer Überraschung niemand anderem als dem König. Und Mendrion konnte sich nicht erinnern, den jemals in so guter Stimmung erlebt zu haben. »Na, gut angekommen?« Er bekam einen Schlag zwischen die Schultern und fragte sich einen Moment lang, ob der König am Ende betrunken war, so kurz vor der Schlacht… Aber das war er nicht, und was auch immer die königliche Familie sich daheim in ihrer Burg auch erlauben mochte, Krieg war Krieg und Schnaps war Schnaps. Hier draußen war der König ganz nüchtern und ganz wachsam. »Fein, daß Ihr da seid, jetzt zeigen wir es diesen Hurensöhnen und Schwesternknutschern!«
Mendrion fand sich im Innern des Hauses wieder und in der Gesellschaft aller Männer, die in diesem Krieg irgend etwas zu sagen hatten - die Söhne, die Generäle, auch Leota - und einen Moment lang kam er sich doch wieder wichtig vor, dann merkte er, daß er nur zur rechten Zeit am rechten Ort war. Er konnte nur nicken, zu Wort kam er nicht.
»Geflohen sind sie vor uns, diese Feiglinge! Jetzt haben wir sie hinter den Techemiel zurückgedrängt, und da werden sie uns nicht lange standhalten - wißt Ihr, was wir gerade herausgefunden haben, Mendrion? Habt Ihr es schon gehört?«
Mendrion schüttelte den Kopf und hörte die Männer um ihn herum lachen, schallend.
»Lorimanders heiliges Horn!« dröhnte der König. »Das Horn, das allen, die es hören, die Kräfte eines Engels verleiht - es ist weg! Sie haben es verloren!«
Während Mendrion pflichtschuldig in das Gelächter einfiel, verstand er, daß dieser Krieg wirklich schon so gut wie vorüber war. Sein erster Krieg. Jahrelange Vorbereitung. Und jetzt konnte er froh sein, wenn er überhaupt noch etwas davon mitbekam. Zumindest, wenn die Herrscher hier ihr Horn nicht doch noch schnell wiederfinden sollten.
Und niemand fragte mehr nach Varyn. Obwohl sie jetzt allen Grund dazu hatten.

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