Irgendwo da draußen,
irgendwo zwischen Doubladir und Loringaril, fand gerade ein Krieg
statt ohne Hauptmann Mendrion. Man konnte sich darüber freuen,
immerhin erhöhte es seine Chance zu überleben enorm, aber
Mendrion wußte, wohin er gehörte, und wußte es mit
jedem Tag mehr. ‘Haltet Euch bereit, Mendrion’, war
das, was der König ihm mitteilte an dem Tag, da sie aus den
Bergen zurück kamen, und seitdem hielt Mendrion sich bereit
und wußte sonst nicht viel mit sich anzufangen. Sicher, die
Burg hielt gute Quartiere bereit für die Offiziere, die
Verpflegung war besser als an der Front, und er konnte sich an der
Nähe der königlichen Familie etwas auf sich einbilden,
aber er hatte nichts zu tun. Alle paar Tage mit Dannen ein Bier
trinken zählte nicht, und ansonsten war Mendrion zum
Herumsitzen nicht geschaffen. Er verbrachte viel Zeit damit, Varyn
zu verfluchen, der ihm das eingebrockt hatte - solange sie
unterwegs waren, ging es ja noch; wer den ganzen Tag auf dem
Pferderücken verbrachte, hatte besseres zu tun als zu meckern,
und es war nicht so, daß Mendrion das Abenteuer in Elad
Courblaka bereute - andere Sachen, die bereute er wirklich, aber da
war nichts mehr zu machen - er bereute nur, daß er jetzt
einfach völlig nutzlos war. Der Krieg kam ohne Hauptmann
Mendrion aus und vermißte ihn nicht einmal.
Um so glücklicher war Mendrion, als er dann doch endlich
durch einen Boten in den Thronsaal bestellt wurde. Er machte sich
direkt auf den Weg, sich bereit halten hieß auch, immer
anständig gewaschen und gestutzt sein, um den König nicht
warten zu lassen, und er hoffte auf eine gute Nachricht, die Worte
wie ‘Einheit anführen’ oder
‘Beförderung’ beinhalten sollte. Mendrion rechnete
mit dem König, und vermutlich auch mit Dannen, der zuletzt
nicht mehr viel Zeit für ihn hatte - zuletzt hatte er ihn auf
der Hochzeit gesehen, und außer daß er hoffte,
daß Dannen inzwischen wieder nüchtern sein würde,
hatte er nichts mehr von ihm gehört. Halb rechnete er auch
noch mit Leota, aber er machte sich keine großen Hoffnungen
mehr auf sie - aber der erste, den er sah, als er in den Thronsaal
geführt wurde, war der Richter.
Nicht, daß er jemals im Leben einen Richter gebraucht
hätte, aber Mendrion erkannte den Mann nach der Hochzeit
natürlich sofort wieder. Das änderte natürlich
alles. Wofür brauchte man einen Richter? Um über
Verbrecher zu urteilen, aber Mendrion wußte, daß er
nichts verbrochen hatte. Und zum Heiraten - da stand Leota, ein
Stück hinter dem Dannen und dem König, vielleicht wollte
der jetzt doch endlich ernst machen und zusehen, daß all
seine Kinder verheiratet wurden, ehe sie alle wieder im Krieg
verschwanden? Mendrion schüttelte den Kopf bei sich, die
Hochzeit konnte er vergessen, das würde nichts mehr, nicht in
diesem Leben. Er hatte Monate an Leotas Seite zugebracht, und das
beste, was er jetzt über ihre Beziehung sagen konnte, war,
daß die Königstochter einen ganz anständigen Kerl
abgab. Ebensogut hätte man versuchen können, ihn mit
Dannen oder einem von den anderen Jungs zu verheiraten: Es
würde nicht passieren und machte auch keinen Sinn.
»Da habt Ihr den Hauptmann«, sagte der König
mürrisch. »Seid Ihr jetzt zufrieden?«
Der Richter lächelte ein dünnes Lächeln.
»Hauptmann Mendrion?« fragte er. Die Stimmung im Saal
war drückend und angespannt. Definitiv keine Hochzeit.
Mendrion nickte. »Ihr wißt, worum es geht?«
fragte der Richter.
Rechtzeitig fiel Mendrion noch ein, dem König gegenüber
zumindest eine Verbeugung anzudeuten, er mußte sich ja nicht
gleich die Nase mit den Bodendielen putzen, aber ein Minimum an
Respekt wurde doch verlangt. »Hoheit…« Dann erst
schüttelte er für den Richter den Kopf. »Ich bin
direkt hergekommen.« Das paßte zwar nicht zur Frage,
klang aber zumindest eifrig. Mit Richtern sollte man es sich ebenso
wenig verscherzen wie mit Königen.
»Bei meinem Aufenthalt hier anläßlich der zu
schließenden Hochzeit«, sagte der Richter etwas zu
umständlich, »erlangte ich Kenntnis von einem jungen
Mann, der ohne Urteil oder Anklage im Kerker der Burg festgehalten
wird.«
»Und ich sagte Euch schon«, fiel ihm der König
ins Wort, »daß es ein Fall ist, mit dem Ihr nichts zu
schaffen habt, er ist ein Deserteur, und Deserteure fallen unters
Kriegsrecht.«
Der Richter schüttelte sanft den Kopf. »Es gibt weder
Friedens- noch Kriegsrecht. Es gibt nur Recht und Unrecht. Für
das Recht bin ich zuständig. Und Ihr?«
Wenigstens sprang der König auf die Beleidigung nicht an,
aber man merkte, daß zwischen den beiden Männern keine
Freundschaft herrschte. Mendrion überlegte, sich zu Dannen zu
stellen, um sich kurz mit dem zu beraten, ließ es aber dann
doch sein. Er mußte zeigen, daß er wußte, wo sein
Platz war, vor allem jetzt, wo Dannen zum Thronfolger aufgestiegen
war. »Wir hängen Deserteure an den nächsten Baum,
schon immer«, sagte der König. »Und Ihr könnt
nichts dagegen tun, so sind unsere Gesetze. Deserteure werden mit
dem Tod bestraft.«
»Wenn er ein Deserteur ist«, sagte der Richter,
»werde ich das schnell wissen und Euch gestatten, Anklage
gegen ihn zu erheben. Darum ist auch der Hauptmann hier.«
Mendrion verstand nicht so recht. Was hatte er verpaßt? Seit
wann war die Rede davon, Varyn hinzurichten? Sicher, er
wußte, was für eine Gefahr Dannen und Leota in dem
Jungen zuweilen sahen, aber ihn gleich aufhängen? Dafür
mußten sie ihn und seinen Bruder erst quer durchs halbe Land
schaffen? Mendrion seufzte. »Es ist wahr, er ist mir
desertiert.« Gaven erwähnte er lieber nicht. Der
Gedanke, einen kleinen Burschen von dreizehn Jahren
aufzuhängen, gefiel ihm noch weniger, vor allem, weil der
niemandem etwas getan hatte, und weil es Mendrions Idee gewesen
war, ihn überhaupt erst in die Soldliste einzuschreiben.
Der Richter nickte. »Ich habe den Beschuldigten gesehen, und
er machte auf mich noch einen recht jungen Eindruck. Wißt
Ihr, Hauptmann, wie alt dieser Varyn ist?«
Mendrion sah Dannen, der ihm irgend etwas zuraunte, aber er konnte
nichts verstehen, und er war nicht gut darin, von den Lippen
abzulesen - das konnte alles heißen, von
‘Achtzehn’ bis ‘Abendessen’, was immer
letzteres aus bedeutet hätte. Aber Mendrion brauchte nicht
Dannen, um mehr über Varyn zu wissen, als ihm eigentlich lieb
war. »Er ist jetzt sechzehn«, sagte er. Sah zwar
beileibe älter aus, der Bursche, und hatte tüchtig
gelogen, als er sich einschrieb, aber sie wußten es
besser.
»Jetzt sechzehn?« wiederholte der Richter mit einer
seltsamen Betonung auf dem ‘jetzt’, und fragte weiter:
»Wie alt war er dann, als er desertiert ist?«
Mendrion lächelte. Jetzt wußte er, wie der Hase
hoppelte, und er hatte plötzlich nicht mehr die geringste Lust
zu lügen, wie sehr Dannen auch grimassieren mochte. »Da
war er noch fünfzehn«, antwortete er ruhig und machte
einen Schritt zurück, nur zur Sicherheit.
Das Gesicht des Richters verfinsterte sich, als er nun den
König anblickte. »Das heißt, er hatte noch nicht
das Alter erreicht, um der Armee rechtmäßig
beizutreten«, sagte er. »Sprich, er hatte im Krieg
nichts verloren und konnte folglich auch nicht
desertieren.«
Der Blick des Königs sagte Mendrion, daß er sein Ziel,
eines Tages mehr zu sein als nur ein Hauptmann, besser zu Grabe
tragen sollte. »Der Krieg hat noch nie nach dem Alter
gefragt«, knurrte er.
»Richtig.« Der Richter blieb so ruhig, daß er
das fast zu genießen schien. »Darum sollte ja auch Ihr
das tun.«
Mendrion täuschte ein Husten vor, um hinter vorgehaltener
Hand zu schmunzeln. Wenn es danach ging, konnte er seine halbe
Einheit wieder nach Hause schicken - nicht, daß sie alle so
jung waren wie Mendrion, die meisten hatten schon das richtige
Alter, aber niemand konnte nachprüfen, ob diese Burschen beim
Einschreiben die Wahrheit gesagt hatten. Nach seinem Eintrag in der
Soldliste sollte Varyn wie alt sein, neunzehn? Der Schreiber
glaubte doch alles, was man ihm sagte! Plötzlich
vermißte Mendrion seinen Krieg gleich viel weniger.
»Im Kerker«, redete der Richter weiter,
»stieß ich ferner noch auf einen jüngeren Knaben,
von dem Euer Kerkermeister mir sagte, es handele sich um den Bruder
dieses Varyns - offensichtlich ein jüngerer Bruder, und damit
haben beide in Eurem Kerker nichts verloren, es sei denn, ihnen sei
etwas anderes vorzuweisen. Aber das hättet Ihr mir ja bereits
gesagt, statt nur zu betonen, daß es sich um Deserteure und
Fälle für Euer ‘Kriegsrecht’ handelt.«
Oh, so ein breites Grinsen. Vermutlich hatte der Richter keine Frau
zuhause, und solche Momente waren ihm der Ersatz dafür.
»Ihr werdet sie also freilassen müssen. Unter diesen
Umständen werde ich keine Anklage gegen sie
akzeptieren.«
»Herzlichen Dank, Hauptmann Mendrion«, sagte der
König, »Ihr wart uns sehr hilfreich. Ihr dürft Euch
jetzt entfernen.« Nur nicht zu weit, sagten seine Augen -
denn sonst würde er einen Grund finden, Mendrion wegen
Desertierens anzuklagen. Und der war älter als sechzehn.
Mendrion nickte, und seufzte, und ging wieder. Jetzt hieß es
wieder, sich bereit zu halten - für wie lange diesmal? Er
hoffte, daß der König ihm verzeihen würde, oder
zumindest Dannen - der konnte doch unmöglich so versessen
darauf sein, Varyn tot zu sehen! - und es bald für sie alle in
den Krieg ging. Und was sie nun mit Varyn und Gaven machen
würden… Das war ihre Sache, damit hatte Mendrion nichts
mehr zu schaffen. Aber zumindest wußte er, daß es in
der Burg noch genug Quartiere gab, für Generäle,
Hauptmänner, und ganz normale Soldaten. Egal, wie alt sie
waren.
Mendrion war froh, daß er
nicht hinunter in den Kerker mußte, als er ein paar Tage
später die Brüder in ihrem neuen Quartier aufsuchte. Er
war zufrieden, daß es endlich weitergehen konnte, und daher
machte es ihm auch nicht so viel aus, Varyn und Gaven jetzt selbst
die Ergebnisse mitzuteilen, auch wenn das eigentlich die Aufgabe
eines Dannen gewesen wäre, oder noch eigentlicher die des
Königs. Es ging zurück in den Krieg - oder überhaupt
endlich erst hinein.
Mendrion klopfte kurz an, ehe er eintrat: Soviel Höflichkeit
konnte ein Fußsoldat sonst nicht von seinem Hauptmann
erwarten, aber noch waren sie nicht an der Front, und in der Burg
waren sie am Ende alle nur Gäste. Varyn öffnete die
Tür so schnell, als hätte er auf der anderen Seite nur
gewartet - er konnte froh sein, daß er nicht mehr eingesperrt
war, vielleicht verbrachte er darum jetzt seine Zeit damit, die
Tür auf und zu zu machen, einem narrischen Kerl wie ihm war
das durchaus zuzutrauen. Aber als er in das Gesicht des Jungen
blickte, war Mendrion doch erschrocken, obwohl er eigentlich
dachte, er wüßte, womit er zu rechnen hatte.
Als er Varyn kennenlernte - wie lang war das jetzt her? Irgendwann
im Frühsommer… - sah der schon nicht aus wie das
blühende Leben. Schon damals schlief und aß er zuwenig
und trank zuviel. Das Trinken sollte er inzwischen eingestellt
haben, und man konnte meinen, daß dann auch die Augenringe
irgendwann verschwanden und die Farbe ins Gesicht
zurückkehrte, vor allem, da Varyn seitdem viel Zeit an der
Luft verbracht hatte und nicht mehr in irgendwelchen lichtlosen
Stollen, wenn man von den letzten Tagen absah. Aber konnten die
ausreichen, um einen Jungen so herunterkommen zu lassen? Die Wangen
erschienen noch hohler und fahler als sonst, die Augen noch
größer, und hätte Mendrion es nicht genau
gewußt, er wäre nie mehr auf die Idee gekommen, ein
halbes Kind vor sich zu haben.
»Hauptmann«, sagte Varyn leise. »Kommt
herein.« Seine Stimme war leise und höflich, sehr
distanziert, als hätten sie nicht vor kurzem noch Wochen
gemeinsam auf der Landstraße verbracht. Fast unterwürfig
klang der Junge jetzt, kein Vergleich mehr mit dem aufmüpfigen
Angeber, der Mendrion und dem Rest der Einheit das Leben schwer
gemacht hätte.
»Froh, wieder draußen zu sein?« fragte Mendrion
und setzte ein Grinsen auf. Froh hatte er Varyn nicht mehr gesehen,
seitdem die Brüder erfahren hatten, was im Berggeschehen war,
und so schrecklich das auch sein mochte, sie konnten nichts dran
ändern, Eltern starben nun einmal und Geschwister manchmal
auch, und Wochen später sollte man schon langsam darüber
hinwegkommen.
Varyn zuckte die Schultern. »Gaven ging es da unten
schlechter als mir«, sagte er ohne jede Regung. »Er ist
auch hier, falls Ihr ihn sehen wollt.«
»Ich bin wegen euch beiden hier«, antwortete Mendrion
und trat endlich ein. Gaven wohlbehalten wiederzusehen war eine
Erleichterung, es hatte Mendrion gar nicht gefallen, daß man
ihn einfach so eingekerkert hatte, aber hier saß er auf der
Bettkante und sah zumindest nicht schlechter aus als vorher, als er
aufstand, um zu sehen, wer da zu Besuch kam. »Habt ihr
inzwischen eigentlich den König mal gesehen?«
Gaven lachte laut. »Wo denn? Der hat Schiß vor uns,
das wißt Ihr doch!«
»Gaven, sei still!« herrschte Varyn ihn an.
»Entschuldigt ihn, Hauptmann.«
Mendrion legte den Kopf schief. »Ebensogut müßte
ich den König entschuldigen.« Er sah keine
Fußsoldaten, wenn er die beiden Jungen ansah, keine
namenlosen Burschen, die man dem Krieg opfern konnte - er sah Varyn
und Gaven. Sie fühlten sich noch nicht einmal mehr wie
Untergebene an, und es half sehr, daß Varyn sich zumindest so
verhielt: Solange er noch den Hauptmann in Mendrion sah, war noch
nicht alles verloren. Aber sie hatten Gesichter bekommen, und das
war nicht mehr rückgängig zu machen, und daß
Mendrion über die beiden mehr wußte als über die
meisten seiner Freunde auch nicht.
»Ich kann ihm nicht verdenken, daß er Angst
hat«, sagte Varyn leise. »Es ist so vieles geschehen,
nicht nur hier… Ich würde ihm ja sagen, daß er
nichts zu befürchten hat, aber ich denke nicht, daß er
mir glauben würde.« Er lächelte ein wenig.
»Daß Ihr jetzt hier erscheint, Hauptmann, sagt mir,
daß zumindest irgend eine Entscheidung gefallen ist. Und da
Ihr es seid, denke ich, die Antwort ist nicht, daß wir wieder
zurück dürfen?«
Mendrion seufzte. Er hatte ein Ohr für Untertöne, und
daß Varyn nur ‘zurück’ sagte und nicht
‘nach Hause’, fiel ihm natürlich auf, aber er
sagte dazu nichts. »Du kannst vor Glück sagen, daß
du zu jung warst, um wirklich ein Deserteur zu sein.« Das mit
der Hinrichtung erwähnte er auch lieber nicht. Der König
mußte wirklich Angst haben. »Jetzt gehört ihr
beiden wieder zu mir.«
»Was heißt das?« fragte Gaven, und wieder warf
ihm Varyn einen Blick zu, der ihm das Wort im Munde gefrieren
lassen konnte. Trotzdem, Gaven war nicht so leicht stillzukriegen.
»Ziehen wir in den Krieg? Bekommen wir Schwerter?« Er
schien sich redliche Mühe zu geben, aufgeregt und
vergnügt zu klingen, aber es war nicht mehr so echt wie
früher. Mendrion hatte Gaven unterwegs beobachten können,
hatte gesehen, wie der Kleine seinen eigenen Kummer
hinunterschluckte, um den Größeren aufmuntern zu
können und dabei jedesmal auf Stein gebissen war.
Mendrion fletschte die Zähne. »Schwerter! Träumt
weiter!« Er hatte von Anfang an gesagt, daß es nicht
seine Aufgabe war, die Wunden dieser Jungen zu versorgen, ob sie
nun innen sitzen mochten oder außen. Er war Hauptmann, kein
Kindermädchen, und so dringend die zwei vielleicht eine
Schulter brauchen konnten, um sich daran auszuheulen, es war nicht
Mendrions. Nicht, wenn er wollte, daß sie ihn irgendwie noch
jemals als Hauptmann respektieren konnten. »Oder habt ihr
Geld, um euch Schwerter zu kaufen? Ich wüßte
nicht!«
Gaven biß die Lippen zusammen und starrte Varyn an, so
lange, bis dieser den Kopf schüttelte und sagte: »Das,
was ich verdient habe, reicht nicht dafür.«
»Und wofür ist es dann?« fauchte Gaven, und
plötzlich schien ihnen beiden egal zu sein, daß sie
nicht allein im Zimmer waren - das, was sie seit Wochen
unausgesprochen mit sich herumschleppten, brach aus ihnen heraus.
»Wenn du davon ein Pferd gekauft hättest, wie ich dir
gesagt hab, oder auch nur geliehen - wir wären nicht erst
angekommen, als schon alle tot waren!«
Varyns Augen weiteten sich und wurden seltsam hell dabei.
»Sag es«, formten seine Lippen die Worte fast tonlos.
»Sprich es aus.«
Und Gaven sprach es aus, vielleicht zum ersten Mal. »Es ist
deine Schuld!« Es war soviel Anklage in seinen Worten, soviel
angesammelter Haß. »Wenn du nicht wärst,
wären sie noch am Leben!«
Mendrion hatte keine Wahl, er mußte dazwischen gehen. Das
waren jetzt seine Rekruten, ob sie erst morgen aufbrachen oder in
einer Woche war egal, sie hatten einander nicht an die Gurgel zu
gehen, und er hatte einmal erleben müssen, wie Varyn seinen
kleinen Bruder grün und blau schlug, er wollte nicht
verantworten müssen, daß es noch einmal geschah.
»Genug jetzt!« sagte er scharf, obwohl er wußte,
wie wichtig es war, daß die zwei das untereinander
klärten - sie konnten zumindest warten, bis er nicht mehr
dabei war.
»Aber es ist wahr!« schrie Gaven, und Tränen
quollen aus seinen Augen, traurig, zornig, unkontrolliert.
»Er ist schuld, daß sie tot sind!« Mit seinen
kleinen harten Fäusten schoß er auf Varyn los, schlug
auf ihn ein wie von Sinnen und hörte dabei nicht auf zu
heulen.
Und Varyn, statt sich irgendwie dagegen zu wehren, nickte nur, als
hätte er auf diese Schläge gewartet wie auch auf diese
Worte, und wirkte fast erleichtert, sie jetzt nicht nur in seinem
eigenen Kopf zu hören, sondern in Wirklichkeit. »Es
stimmt«, sagte er leise. »Das ist meine Schuld, damit
muß ich leben, bis zum Ende aller Tage.« Er weinte
nicht. Mendrion hatte ihn nie weinen sehen und würde es wohl
auch niemals.
»Unsinn!« sagte Mendrion. »Wärt ihr zwei
Tage früher in eurem Dorf angekommen, wir hätten euch
mitgenommen und wären mit euch davongeritten, und der Berg
wär zusammengebrochen, ohne daß ihr es jemals erfahren
hättet.« Und wie schön wäre das gewesen - dann
hätte jetzt auch Mendrion hier sitzen können ohne dieses
Gefühl von Schuld, ohne sich vorwerfen zu müssen,
niemanden gerettet zu haben. Er hatte es wenigstens versucht, aber
was änderte das? Es machte ihn nur schwächer. Hatte es
versucht und war gescheitert, was für ein Held! Eigentlich
wußte Mendrion seit diesem Moment, daß er nicht
für den Krieg geschaffen war. Aber so schnell würde er
das nicht eingestehen, nicht sich selbst und nicht vor anderen.
»Oder was wär euch lieber, dabeigewesen zu sein und mit
den anderen gestorben? Was du Varyns Schuld nennst, Gaven, ist der
Grund, daß ihr noch am Leben seid! Also hört auf, euch
anzugiften, gebt euch die Hände, ich dulde keinen Streit
zwischen meinen Soldaten!«
»Also sind wir Eure Soldaten?« fragte Varyn, und in
seiner Stimme war immer noch nicht mehr Leben als zuvor,
»alle beide, auch Gaven?« Vielleicht klang ein kleines
bißchen Hoffnung mit, aber das mußte man wirklich gut
suchen.
Mendrion nickte. »Wenn der König findet, ihr zwei sollt
zusammen bleiben, dann nehme ich eben euch beide mit. War
schließlich auch nie Gaven, der mir Probleme gemacht hat, auf
den mehr oder weniger kommt es dann auch nicht an.« In
Wirklichkeit hatte der König kein Wort über den kleinen
Jungen verloren, es schien ihm egal zu sein, ob Gaven da war oder
nicht, solange er nur wußte, daß er Varyn in seiner
direkten Nähe hatte und wußte, daß Mendrion ihn im
Auge behielt. Dann auch Gaven zu behalten, war Mendrions eigene
Idee - zum einen, wohin sonst mit dem Jungen? In seinem Tal war
kein Platz mehr für ihn und auch sonst nirgendwo, so hatte
Mendrion es Dannen eingeredet und redete es auch sich selbst gern
ein, obwohl er wußte, daß kaum ein Haushalt im Tal den
Jungen nicht gern bei sich aufgenommen hätte, schon aus
Verpflichtung seinem Vater gegenüber und weil sie doch
irgendwie alle miteinander verwandt waren - aber vor allem, wenn
Gaven in Varyns Nähe war, so zumindest Mendrions Hoffnung,
konnte man zumindest ab und an Varyn aus den Augen lassen und
wußte, daß zumindest der Bruder noch auf ihn
aufpaßte…
Nein, es gefiel Mendrion ganz und gar nicht, was der König da
beschlossen hatte. Nicht nur, weil er froh gewesen wäre,
endlich Varyn aus seinem Gedächtnis zu tilgen und einen
normalen Krieg zu führen mit einer normalen Einheit, und wenn
das nur Fußsoldaten waren und keine großartige
Reiterei, für die man sich später an ihn erinnern
würde. Sondern auch wegen dem, was der König sonst noch
über Varyn gesagt hatte.
‘Achtet darauf, daß er sich nicht noch einmal aus dem
Staub macht. Haltet ihn da, wo die Gefahr ist, ermutigt ihn, sich
zum Helden zu machen, und wenn er dann für Doubladir stirbt,
achtet drauf, daß er das dann auch wirklich tut.’ Und
Mendrion hatte sich das angehört, ohne zu widersprechen - doch
so ging das nicht. Wenn der König Varyn tot sehen wollte,
sollte er den Richter sich in den Nilomar scheren lassen und den
Jungen doch noch hinrichten. Aber Mendrion ließ sich nicht
zum Mörder machen, und wenn er auch damit leben mußte,
daß der eine oder andere den Krieg nicht überlebte, auch
in seiner Einheit, würde er niemanden absichtlich und sinnlos
in den Tod schicken. Selbst wenn das über die Frage entschied,
ob es jemals einen General Mendrion geben würde - er wollte
nicht Ruhm um jeden Preis. Und so gern er Varyn immer und immer
wieder losgeworden wäre, er wollte nicht sein Blut an den
Händen haben. Nicht in der Nacht, als Varyn sich fast
totgetrunken hatte, und nicht jetzt.
»Und was machen wir dann?« fragte Gaven. »Wenn
wir kein Schwert haben, was sollen wir dann im Krieg?« Er war
nicht dabei gewesen, als Mendrion seine Truppen ausbildete mit dem
Speer, und ein Blick auf seinen kleinen Körper und seine
dürren Arme sagte Mendrion, daß er dem Jungen auch
keinen Speer in die Hände geben würde. Es hatte schon
seinen Sinn, daß eigentlich niemand, der jünger war als
sechzehn Jahre, eingezogen werden sollte. Aber der Krieg konnte
auch die Kinder brauchen - als Trommeljungen, als Maskottchen, als
Aufpasser für Varyn - und Mendrion hatte schon eine Idee, was
er mit diesem kleinen Kerl sinnvoll anfangen konnte.
Aber trotz all dieser Gedanken war das, was Mendrion auf die Frage
antwortete, nur: »Sterben. Oder warum sonst sollte irgend
jemand in den Krieg ziehen?« Er mußte nur einen Weg
finden, daß Varyn starb, ohne ihn selbst dazu verurteilt zu
haben… Manchmal haßte Mendrion sein Leben. Und
manchmal haßte er es wirklich.
Aber Varyn, zum ersten Mal seit Ewigkeiten, lächelte wieder
dieses Lächeln, für das ihm Mendrion schon vor Urzeiten
die Vorderzähne hätte einschlagen können. »Ich
sterbe nicht«, sagte er und klang endlich auch wieder so, als
ob er es meinte, »ich habe es versprochen, und das halte ich
auch. Ich sterbe nicht, und Gaven stirbt auch nicht.« Und
dann blickte er Mendrion so an, daß dem ein Schauder
über den Rücken lief, so tief und grau. »Und wenn
ich das Schicksal in meine Hand nehmen kann, Hauptmann«,
sagte er, »dann werdet auch Ihr nicht sterben. Nicht in
diesem Krieg.«
Es regnete an dem Tag, an dem
sie aufbrachen, ein feiner, eiskalter Nieselregen, der das Ende des
Herbstes einzuläuten versuchte - nicht mehr lang hin, und ganz
Doubladir würde unter einer weißen Schneedecke liegen,
viel zu friedlich für einen Winter voller Krieg, aber Mendrion
wußte noch zu wenig über den Stand der Dinge, um sagen
zu können, ob sie bis zum Jahreswechsel vielleicht alle wieder
zuhause waren. Erst einmal mußte der Krieg für ihn
überhaupt anfangen. Endlich.
Zufrieden sah Mendrion zu, wie sich sein neuer Haufen vor der Burg
sammelte. Er hatte sich zwischendurch manchmal gefragt, was aus
seiner Truppe geworden sein mochte, aus den Bauern und Steinhauern,
die er im Gebirge und auf dem Weg dorthin eingesammelt hatte - die
meisten Gesichter von ihnen hatte er längst vergessen, von
Varyn natürlich einmal abgesehen. Sie mochten inzwischen alle
tot sein, was konnten sie auch erwarten, wenn sie jetzt von Bakonyn
angeführt wurden, der berüchtigt dafür war, im
letzten Krieg seine ganze Einheit bis auf den letzten Mann verloren
zu haben - oder war das schon im vorletzten Krieg? Es konnte
Mendrion egal sein. Die Wahrscheinlichkeit, wieder auf Bakonyn und
die Truppe zu treffen, war doch eher gering, selbst wenn sie alle
noch am Leben sein sollten. Loringaril war zu groß, als
daß alle am gleichen Ort kämpften. Und Mendrion mit
seinem neuen Haufen würde nicht irgendwo im Nirgendwo stehen,
sondern in direkter Nähe des Königs.
Das kam nicht von ungefähr, aber so gern sich Mendrion das
auch einreden mochte, es war kein Verneigen vor seinen
Fähigkeiten als großartigem Anführer, sondern lag
nur daran, daß Varyn in Mendrions Einheit diente. Und den
wollte der König am liebsten direkt unter den Augen haben.
Daß dann auch Hauptmann Mendrion mit daran hing - egal. Aber
man konnte das beste draus machen, und bei allen Engeln, das
würde Mendrion. Der Abgrund sollte ihn holen, wenn er nach
diesem Krieg noch der einfache Hauptmann war, als der er
hineingeritten war.
Die neue Einheit war vielversprechender als die alte. Gut, es
waren Bauern dabei, die noch Aufschub bekommen hatten, um ihre
Ernte ein- und die Herbstsaat auszubringen, als der Rest eingezogen
wurde - selbst unter dem Engel der Rache war man klug genug, daran
zu denken, daß die Menschen auch im nächsten Jahr etwas
zu fressen brauchten. Und auch die Armee konnte nicht von Licht und
Luft leben wie die Verrückten da oben in Elysir. Aber jetzt
stand der Winter vor der Tür, und die Bauern hatten nichts
mehr zu tun und konnten ebensogut ihr Land verteidigen. Die
mußte Mendrion in Kauf nehmen - wenigstens hatten sie schon
die Ausbildung hinter sich, darauf hatte Mendrion nämlich so
wirklich keine Lust mehr.
Aber der Rest seiner neuen Männer hatte schon etwas drauf,
denn eine Einheit, die auch das Leben ihres Königs
beschützen sollte, durfte nicht nur aus unerfahrenen Trampeln
bestehen. Und so wurde sie aufgestockt mit Männern aus der
Stadt- und der Schloßwache. Bogenschützen waren
darunter, die wußten, was sie an ihren Waffen hatten: Sie
durften hinten stehen und waren vergleichbar gut geschützt,
verglichen mit den Speerträgern, die vorne gehen, stehen und
sterben mußten. Erst erschien es Mendrion riskant, hundert
Mann aus der Stadtwache einfach abzuziehen, aber es war ein gutes
Zeichen, hieß es doch, Loringaril war weit davon entfernt,
Car Diuree einzunehmen. Und was für einen Sinn hatten diese
Waffen eigentlich? Beschützten sie die Stadt, oder den
König, der darin wohnte? Eben. Da konnten sie auch gleich in
seiner Nähe bleiben.
Und irgendwo in diesem Haufen, beim Fußvolk, verschwinden
würden bald auch Varyn und Gaven. Mendrion freute sich darauf,
ihre Gesichter in der Menge verschwinden zu sehen - da ging es in
Ordnung, daß sie im Moment noch Abseits vom Rest ganz in
seiner Nähe standen, im Burghof, wo sich die
Führungsriege bereit machte. Aufbrechen würden sie
gemeinsam, Mendrions Männer und der König mit seinen
Söhnen und Generälen, doch damit endete die gemeinsame
Zeit dann erst einmal wieder. Die Reiterei würde sich nicht
von einem einfachen Trupp Fußsoldaten ausbremsen lassen. Der
König, Dannen, Jaro und Rul, ihre Generäle, sie waren gut
geschützt mit den zwei Dutzend elitärer Reiter, mit denen
sie sich umgaben. Ein letztes Mal bedauerte Mendrion, daß das
nicht seine Einheit war - aber dafür war keine Einheit so sehr
in ständiger Gefahr, angegriffen zu werden, wie diese Reiter.
Und einen absoluten Schutz boten sie auch nicht, sonst hätte
Gerrat kaum sein Leben verloren…
Ein letzter Blick auf Varyn und Gaven sagte Mendrion dann,
daß sie viel mehr zu bedauern waren als er selbst. Er trug
wollene Unterwäsche unter seiner Rüstung und war froh,
daß er weiterhin Leder trug, das dem Regen trotzte, auch wenn
es hinterher abscheulich stinken mochte - die königliche
Reiterei hatte Kettenhemden, und die waren bei diesem Wetter
wirklich keine Freude. Aber die Kohlenjungen trugen das, was sie
hatten, einfache Kleider, mit denen sie im Sommer gut
ausgerüstet waren, die aber dem Winter nicht viel
entgegensetzen können würden.
Wenigstens hatten sie festes Schuhwerk, das konnte nicht jeder
Bauer von sich sagen, aber Mendrion war nicht entgangen, daß
Gaven auf seinem Zimmer barfuß herumgelaufen war und jetzt
immer wieder an seinen Schuhen herumdrückte, man sah es ihm
zwar nicht an, aber es war gut möglich, daß er
tatsächlich ein Stück gewachsen war, und zwar gerade
soweit, um nicht mehr wirklich in seine Schuhe zu passen. Wo
sollten sie neue hernehmen, erst im Kerker, dann mitten im Krieg?
Es half nichts, Mendrion richtete sich auf einen humpelnden Jungen
ein, der vielleicht auf die Idee kommen konnte, seine Schuhe vorne
aufzuschlitzen, nur um dann zu merken, daß seine
Füße dann der Kälte nahezu schutzlos ausgeliefert
waren… Er ertappte sich bei der Überlegung, wo er jetzt
noch ein paar passender Schuhe für den Bengel hernehmen
sollte, aber das sollte nun wirklich nicht seine Sorge sein. Und
schließlich ging es in den Krieg, wo es nicht lange dauern
würde, bis ein paar Stiefel ohne Besitzer sein würde,
zwar nicht in Gavens Größe, aber sicher gut zum
Hineinwachsen.
Ansonsten konnte Mendrion sich auf seinen Auftrag besinnen,
dafür zu sorgen, daß zumindest Varyn den Krieg nicht
überlebte - mit der leichten Joppe und dem einfachen Hemd
konnte der Frost Mendrion leicht von dieser Verantwortung
entbinden. Es war nicht an Mendrion, dafür zu sorgen,
daß seine Männer es warm hatten. Mendrion opferte
niemanden, nicht mutwillig, dabei blieb es. Aber das schlechte
Gewissen war da, und Mendrion wandte seinen Blick lieber von den
Jungen ab und der königlichen Familie zu, wie sie stolz und
kriegerisch mit finsteren Mienen auf ihren schwarzen Rössern
saßen. Er versuchte, einen letzten Blick mit Dannen
auszutauschen, bevor sich ihre Wege für die Reise trennten -
es kam ihm so vor, als trüge der Königssohn ein durchaus
zufriedenes Grinsen zur Schau, gut getarnt unter zusammengezogenen
Augenbrauen und hinter einem dunklen Bart. Ein Jungverheirateter,
der seine liebe Frau verlassen mußte, um unbekannten Gefilden
entgegenzuziehen, sollte eigentlich nicht so glücklich
aussehen. Aber wann hatte Dannen jemals vorgegeben, glücklich
zu sein? Und wo war seine Frau, um ihn unter Tränen zu
verabschieden?
Aber es war nicht an Mendrion, sich wegen so etwas einen Kopf zu
machen - bevor er selbst eine gute Partie an Land zog, sollte er
die Ehen von anderen lieber in Ruhe lassen. Und was diese gute
Partie anging… Solange er sich Leota nicht endgültig
aus dem Kopf schlagen mußte, zum Beispiel, weil sie einen
anderen heiratete, würde er nicht aufhören, sich Hoffnung
zu machen. Und just als Mendrion das dachte, hörte er von
hinten ein Pferd wiehern, und Leota, ohne auch nur einen Gruß
von sich zu geben, gesellte sich zu ihren Brüdern.
Sie war gerüstet, als ginge es in den Krieg - nicht mehr mit
ihrer schwarzen Paraderüstung, wie sie unterwegs lange
getragen hatte, sondern im Kettenhemd wie die anderen, die auf
einen Nahkampf vom Pferderücken aus waren und an ihrem Leben
genauso hingen wie an ihren Gliedmaßen. Auch ihr Pferd war
gerüstet wie die anderen, und an der Seite trug sie ihr
Schwert - es gab keinen Zweifel, Leota hatte beschlossen, daß
dieser Krieg auch ihr Krieg war. Irgendwie tat Mendrions Herz einen
Hüpfer, als er sie sah: Obwohl er wahrlich viel Zeit mit der
Königstochter verbracht hatte, war es immer noch etwas
besonderes, wie sie da angeritten kam, mit dem schwarzen Haar, das
unbändig unter der Helmkrempe hervorquoll, und der
grimmig-entschlossenen Miene.
Aber nicht alle waren so erfreut wie Mendrion, die Frau hier zu
sehen, und am allerwenigsten der König. Daran ließ er
keinen Zweifel aufkommen, als er seine Tochter anherrschte:
»Du hast hier nichts verloren, Leota, sattel dein Pferd ab
und scher dich zurück ins Haus!«
Leota schnaubte, wie es ihr Pferd kaum besser gekonnt hätte.
»Ich denke nicht dran! Das ist mein Krieg ebenso wie eurer,
und ich reite mit euch!«
»Einen Dreck wirst du!« dröhnte der König
quer über den Burghof. Was seine Generäle jetzt denken
mochten oder die Reiterei schien ihn so wenig zu kümmern wie
sonst. »Ich habe dir einen Befehl gegeben, und der
heißt, du bleibst daheim!«
»Und wie willst du mich hindern?« bellte Leota
zurück. »Willst du mich in Eisen legen? Willst du mich
in mein Zimmer sperren, wie du es mit der armen Hana gemacht hast,
die sich nicht wehren kann? Ich trage ein Schwert, willst du deines
gehen mich erheben?« So liebte Mendrion sie, schön und
streitbar. Der König offenbar weniger.
»Zu Hause sollst du bleiben, Hana Gesellschaft leisten,
damit sie ihr Kind anständig bekommen kann -«
»Dann hättest du eine Hebamme aus mir machen
müssen!« schnitt ihm Leota das Wort ab. »Keine
Kriegerin! Aber solange ich die Herrin dieses Schwertes bin, werde
ich es auch führen, und zwar da, wo es darauf
ankommt.«
Mendrion sah zum König hin, der in diesem Moment
tatsächlich zu überlegen schien, wie er seine Tochter
möglichst schnell und schmerzlos entwaffnen konnte, ohne
daß es für die versammelten Männer so aussah, als
wende er Gewalt gegen eine Frau an. »Ich habe es dir schon
einmal gesagt«, jetzt hatte er sich wohl für einen
väterlichen Tonfall entschieden, »dieser Krieg findet
ohne dich statt.«
Einen Augenblick lang schwieg Leota, aber ihr Gesicht war nicht
das einer Frau, der die Worte ausgegangen waren. Sie wartete nur
auf den richtigen Moment, um verbal zum letzten Schlag ausholen zu
können. »Ich habe mir diese Worte einmal von dir
angehört«, sagte sie dann. »Ich habe mich von dir
ins hinterste Hinterland schicken lassen, nur damit du mich in
Sicherheit glauben konntest. Und was ist dann passiert? Mein Bruder
ist gestorben, verdammt, mein großer Bruder!« Ihre
Stimme schlug Funken, die ebensogut Tränen sein mochten.
»Ich lasse nicht noch einmal zu, daß meine Familie sich
in Loringaril in Stücke hauen läßt, und ich bin
nicht da, um sie zu beschützen, um meinen Teil dazu zu tun,
daß am Ende dieses Krieges ich nicht die einzige bin, die
noch lebt. Du willst ein Familienmitglied sicher in Car Diuree
wissen? Dann denk an Hanas Kind. Aber ich, ich reite mit euch, und
ich werde nicht zulassen, daß mich irgend jemand daran
hindert.«
Sie hatte ihre Hand am Schwertknauf, während sie sprach. Aber
es waren ihre Worte, vor denen die anderen zurückwichen. Und
ob der König nun resignierte oder nur weiteren Ärger
vermeiden wollte, niemand versuchte nach diesen Worten noch, die
Königstochter am mitreiten zu hindern. Und so konnte es nun
endlich losgehen. Auf nach Loringaril. Auf in den Krieg.
Der Weg nach Loringaril mit
seinem neuen Fußtrupp machte Mendrion zwar immer noch nicht
zu einem Fachmann in Sachen Kriegsführung, aber dafür
konnte er jetzt behaupten, wirklich viel von Doubladir zu kennen.
Jetzt hatte er das Land, so groß es auch war, einmal ganz
durchquert, und selbst wenn ihm das Wissen, wie es in den Bergen
aussah und wie in der Ebene, wie die Leute ihre Häuser bauten
und wie ihre Burgen, niemals viel nutzen würde, solange
Mendrion nicht dem Krieg abschwor und Baumeister wurde, konnte er
nun zumindest sagen, daß er wußte, für was er
kämpfte. Doubladir war ein Land, das man lieben oder hassen
mußte, aber wenn man in den Krieg zog, war es besser, es zu
lieben.
Eine Frau war leichter zu beschreiben als ein Land - und wäre
Doubladir eine Frau gewesen, dann hätte man von herber
Schönheit gesprochen, nicht lieblich, aber markant, nicht
zierlich, sondern eher breit gebaut, nicht verspielt, sondern
direkt. Kräftige Knochen machten aber auch das Gesicht
markant, das Kinn stolz; Lächeln mußte sie nicht, denn
ein Lächeln konnte falsch sein - aber die echte Herzlichkeit
kam von innen, Treue, Ehrlichkeit, Wärme. Wobei es zunehmend
schwer wurde, bei Doubladir an Wärme zu denken. Das Land
mußte sich so sehr auf den Winter freuen, daß es ihn
gar nicht mehr abwarten konnte. An manchen Tagen mischten sich
schon die ersten Flocken in den Regen, und an anderen Tagen
verzichteten sie dabei gar ganz auf den Regen; man konnte froh
sein, daß nichts liegen blieb, denn mit dem Trupp durch den
Schnee zu stapfen von Car Diuree bis Lomar wäre eine Strafe
fürs Leben gewesen.
Wenn es denn in Loringaril überhaupt schneite…
Mendrion mußte zugeben, daß er zwar seine Heimat jetzt
von oben nach unten und vorwärts und rückwärts
kannte, aber seinen Feind eigentlich gar nicht. Er hatte Landkarten
studiert, er wußte, wo die Städte lagen und wo die
Flüsse liefen, er wußte, daß sie im Krieg eher auf
Kraft setzten denn auf Struktur, natürlich, was war bei dem
Engel auch anders möglich - aber wie die Menschen lebten, wie
sie sich kleideten, was sie aßen - das wußte Mendrion
nicht. Und er wollte es auch nicht wissen. Schließlich hatte
er vor, diese Menschen zu töten, wenn sie ihm begegneten, und
dabei nicht nachdenken über ihre Familien, ihre Höfe,
ihre Lieder… Das hätten sie sich vorher einfallen
lassen müssen, bevor sie Doubladir in einen Krieg zwangen.
Trotzdem, auf das Land war Mendrion irgendwie neugierig. Nicht auf
die Leute, nur auf das Land. Im besten Fall gehörte es
hinterher zu Doubladir, und dann wollte man es wenigstens ein
bißchen kennen. Eroberung - Mendrion schmunzelte. Seit
Menschengedenken führte Doubladir Kriege gegen Loringaril und
umgekehrt, aber auf die lange Sicht betrachtet, kam auf jeden Sieg
eine Niederlage, und es ergab sich immer wie durch Zufall,
daß der Aleruan die Grenze zwischen den beiden Ländern
bildete, egal, wer nun gerade gewonnen hatte. Und da der Aleruan
der größte Fluß der Welt war, würde sich
daran vermutlich noch lange nichts ändern.
Und als größter Fluß der Welt konnte der Aleruan
es sich auch erlauben, sich schon lange im Voraus
anzukündigen. Tagelang. Es fing eigentlich an, kaum daß
sie aus dem Hügelland raus waren und dorthin kamen, wo
Doubladir tatsächlich einmal flach war - das war selten genug,
nach allem, was Mendrion gesehen hatte, waren bestimmt zwei Drittel
des Landes mehr oder weniger bergig. Daß in den Bergen nicht
viel wuchs und dafür um so mehr Bodenschätze abgebaut
werden konnten, das machte ja noch Sinn, und wer immer die Welt
erschaffen hatte, mochte da seinen Sinn gesehen haben - aber kaum
wurde es flach, wurde es sumpfig.
Dadurch, daß der Herbst wie üblich mit viel Regen
einher gekommen war, im Flachland wie im Gebirge, wurde das nur
noch mehr betont - grünlich war das Land statt grün, es
roch nicht gut, und besonders viel wachsen wollte dort auch nicht
wirklich. Natürlich, es gab auch hier Felder, aber die
mußten dem Sumpf abgetrotzt werden und machten mehr Arbeit,
als sie einbrachten. Wenn hier die Bauern ihre Ernte sein
ließen, um in den Krieg zu ziehen, ging nicht viel
verloren.
Doubladir war gut in vielem, aber nicht darin, sich selbst zu
ernähren. In Friedenszeiten behalf man sich, indem man
Getreide einkaufte in dem sonnenverwöhnten fruchtbaren
Nachbarland, wo der höchste Berg von einem Maulwurf
aufgegraben worden war und alles wuchs, was man sich nur irgendwie
wünschen konnte, von Wein vielleicht einmal abgesehen. Aber
dieses Land war Loringaril, und die Zeit zum Handeln war vorbei.
Statt dessen erntete Doubladir jetzt die eigene Saat - denn was gab
es her, um an das Getreide zu kommen? Gold? Woher nehmen, sollten
sie das vielleicht scheißen? Gold, das lag in Loringaril im
Boden, sie hatten genug davon, was sollten sie noch mehr haben
wollen? Nein, Stahl bekam Loringaril dafür. Stahl, um daraus
Waffen zu schmieden, oder Stahl, der schon zu Waffen geschmiedet
war… Die besten Waffen in Loringaril kamen aus Doubladir.
Und jetzt waren sie auf Doubladirs Herz ausgerichtet.
Alles nur wegen dieses Sumpfes! Hauptmann Mendrion haßte den
Aleruan jetzt schon. Er konnte seinen Arsch darauf verwetten,
daß die Seite in Loringaril keinen Sumpf abbekommen hatte,
schon allein, weil es Loringaril war, das bekam immer die guten
Sachen ab im Leben. Eigentlich war es vollkommen widersinnig,
daß Car Diuree jetzt auch noch Lebensmittel nach Loringaril
schickte - was blieb dann Doubladir überhaupt noch zu Kauen
übrig? Aber es half nichts, die Truppen mußten versorgt
werden, und das einzig tröstliche an den mit Rüben, Hafer
oder Bohnen beladenen Ochsenkarren war, daß sie noch
langsamer voran kamen als Mendrions Einheit von
Fußgängern.
Und mehr als einmal war es nötig, daß sie selbst mit
Hand anlegten, alle Mann, kräftig genug waren sie ja, um einen
Karren, der sich im Schlamm festgesetzt hatte, wieder
freizubekommen. Alle Mann bis auf Mendrion, verstand sich. Denn ein
gutes hatte es, der Hauptmann zu sein: Er konnte auf seinem Pferd
sitzenbleiben und mußte nicht selbst durch den Matsch waten.
Trotzdem, den Sumpf mochte Mendrion nicht, auch wenn er mehr auf
ihn hinunter blickte als drinzustecken. Gegen die festsitzenden
Ochsenkarren hatte er dagegen nichts. Sie boten den Männern
eine Abwechslung und gaben ihm noch ein paar Möglichkeiten,
sie an seine Kommandos zu gewöhnen.
Nur ein paar Sachen, die er früher ganz gerne gemacht
hätte, mußte er sich hier verkneifen. Es war immer ein
kleines Vergnügen gewesen, wenn er Varyn vor der Truppe
vorführen konnte, und eine kleine Rache, denn
schließlich versuchte Varyn das gleiche mit ihm - und
Mendrion hätte sich gern einmal zurückgelehnt und gesagt:
»Bleibt zurück, Männer, und du, Kerl, schirr deine
Ochsen ab - wir wollen sehen, ob unser starker Varyn es schafft,
den Wagen hier ganz alleine rauszuziehen.« Nicht nur, um
Varyn zu schikanieren, sondern vor allem, um endlich zu wissen, wie
weit dessen Kräfte nun wirklich reichten.
Er hatte es noch nie gesehen, daß Varyn, wenn er nicht
übermüdet oder erschöpft war, zu schwach gewesen
wäre für irgend etwas. Vielleicht konnte Varyn es
aufnehmen mit einem von den Engelsgeborenen aus Loringaril -
verdammt, vielleicht war er ja sogar einer, passen tät es ja
bis auf eines, Varyn hatte Verstand, und die Blödheit deren
von Loringaril hatte sich längst sogar bis zu Mendrion
durchgesprochen. Gute Kämpfer, lausige Strategen, aber
dafür hatten sie ihre Männer, sonst hätte es lang
schon kein Königreich der Stärke mehr gegeben…
Aber Mendrion fragte nicht, und er führte Varyn auch nicht
mehr vor. Diesmal sollte Varyn kein Aufsehen erregen. Er war nur
ein Fußsoldat unter vielen, und das einzige Besondere an ihm
war, daß er seinen kleinen Bruder dabei hatte - aber die
Männer, die Mendrion nun mit sich hatte, stellten keine Fragen
und nahmen die Dinge hin, wie sie waren, und Varyn hatte die
Gelegenheit genutzt, sich seine Hörner abzustoßen, und
bemühte sich nicht mehr nach aller unbegrenzter Kraft,
wahlweise den anderen zu imponieren, sie vor den Kopf zu
stoßen oder sich mit ihnen anzulegen. Wirklich, hätte es
diesen unauffälligen Varyn schon vor einem halben Jahr
gegeben, Mendrions Leben wäre so viel angenehmer verlaufen!
Und er hätte vor dem König stehen können und ehrlich
unwissend den Kopf schütteln und sagen: »Varyn?
Muß ich den kennen? Ach, in meiner Einheit war der - ja
wißt Ihr nicht, wie viele Männer ich da habe? Wie soll
ich mir da alle Namen merken?«
Aber es war, wie es war. Und wenn Varyn sich jetzt
zurückhielt; Mendrion war der letzte, der sich darüber
beschweren würde.
Und so erreichten sie endlich den Aleruan. Mendrion hatte
erwartet, daß man ihn schon von weitem rauschen und malmen
hören konnte, wer der mächtigste Fluß der Welt sein
wollte, mußte auch etwas dafür tun - aber er irrte sich,
tatsächlich war jeder Gebirgsbach lauter. Der Aleruan
floß nahezu lautlos und ganz und gar majestätisch in
seinem Bett, das so breit war, daß man das andere Ufer klein
und fern liegen sah wie eine andere Welt. Vielleicht führte er
gerade Hochwasser, vielleicht war das sogar sein niedrigster Stand
- er stellte alle Flüsse, die Mendrion jemals gesehen hatte,
in den Schatten.
Nebel lag über dem Wasser und machte die Stille, die von dem
Fluß ausging, noch stiller, und die Soldaten verharrten
ehrfurchtsvoll bei dem Anblick - man hatte ihnen einen großen
Fluß versprochen, und hier hatten sie ihn, das war an sich
schon genug, aber hinzu kam auch noch, daß auf der anderen
Seite ihr Ziel lag, das Land des Feindes. Wem gehörte der
Fluß? Vielleicht niemandem. Vielleicht sich selbst.
Vielleicht dem Engel Alexander… Mendrion schluckte. Den
Anblick war wirklich beeindruckend, selbst für ihn.
Es gab verschiedene Möglichkeiten, einen Fluß zu
überqueren. Die Fährschiffe wurden in Kriegszeiten
requiriert, dienten der Armee des einen oder anderen Landes, oder
gleich versenkt, je nachdem, wem sie zuerst in die Hände
fielen - aber wie oft hätte eine Fähre übersetzen
müssen, um Mendrion und seine Männer ans andere Ufer zu
bringen? Und an keiner Stelle war der Aleruan so flach, daß
man ihn hätte fuhrten können - zum Glück, denn das
hätte das Ende der Flußschiffer bedeutet, von denen sich
zu dieser Zeit natürlich auch keiner mehr blicken ließ.
Für Mendrions Männer gab es nur die Brücke, und
ebenso wie der Aleruan der größte Fluß war, gab es
auch wohl auf der ganzen Welt keine mächtigere Brücke.
Zumindest nicht von Doubladir aus - natürlich, es gab noch
andere Brücken, eine kleinere war weiter im Süden, und
auch in Koristan und in Indiradin wollte man von einer Seite auf
die andere kommen, und war nicht ein Fluß zum Meer hin noch
breiter? Es war schwer, sich das vorzustellen. Aber was Doubladir
anging, war dies die längste und größte Brücke
der Welt.
Wenn es in einen Krieg ging, waren Brücken die Orte, die am
wichtigsten zu erobern und noch wichtiger zu verteidigen waren, es
sei denn, der dazugehörige Fluß konnte gefuhrtet werden.
Auch diese Brücke hatte Loringaril nicht kampflos hergeben -
doch hergegeben hatte es sie, das war das erste, was Mendrion sah.
Das Zollhäuschen lag verlassen, keine Soldaten patrouillierten
auf dieser Seite des Flusses, aber man sah, daß es einen
Kampf gegeben hatte. Loringaril mußte die Brücke besetzt
haben, als Doubladirs Truppen anrückten; nach der
Kriegserklärung hatte das Land noch genug Zeit gehabt, seine
Armee zu mobilisieren, aber gegen Vigilanders Truppen waren sie
machtlos. Ein gutes Zeichen, keine Frage - aber Mendrion
spürte dieses Stechen, einen großen Kampf verpaßt
zu haben. Hauptmann Mendrion, Held der Schlacht am Aleruan - daraus
wurde jetzt nichts. Natürlich, es gab noch andere Flüsse
in Loringaril, und sicher auch andere Brücken, aber diese hier
war und blieb die wichtigste von allen.
Fast schon geisterhaft ragte die Brücke aus dem Nebel, und
die Dämmerung zog auf, nahm das Land auf der anderen Seite an
sich und kroch dann langsam über das Wasser nach Doubladir,
als sich Mendrions Männer ihr näherten. Die Stille griff
auf die Soldaten über, hatten sie eben noch voll Stolz
gesungen »Für Doubladir marschieren wir«,
aufgekratzt und voll Tatendrang, endlich in feindliches Gebiet
einzudringen - jetzt wirkten sie plötzlich klamm und bang. Die
Brücke hatte etwas endgültiges an sich, als könne
man sie nur einmal im Leben überqueren, und nur in eine
Richtung.
»Männer«, sagte Mendrion. »Vor uns liegt
Loringaril. Irgendwo auf der anderen Seite dieses Flusses liegt
Vigilanders Armee, siegreich und weit vorgerückt auf ihrem Weg
nach Lomar. Dort ist unser Ziel, dort werden wir gebraucht - diese
Brücke gehört uns, und niemandem sonst, überquert
sie stolz und mit erhobenem Haupt. Und, was noch wichtiger ist:
Überquert sie jeder auf seine eigene Weise. Kein
Gleichschritt. Hört Ihr, kein Gleichschritt! Sonst setzt es
was!«
Ein paar von den Männern lachten, bei den Bauern, die noch
nichts vom Krieg wußten und noch weniger von Brücken.
Die anderen waren entweder zu sprachlos zum Lachen, oder sie
verstanden, um was es ging. Die mächtigste Brücke brach
zusammen, wenn Vigilanders Armee über sie marschierte, die
Engel mochten wissen warum, aber es war so. Und wenn die Burschen
da unten sich jetzt einen Witz draus machen und wirklich im
Gleichschritt losmarschieren würden, dann hagelte es aber
Ohrfeigen!
Nein, sie gehorchten. Mendrion redete sich gerne ein, daß er
sie eingeschüchtert hatte, aber an diesen Fluß kam er
nicht heran. Sie setzen ihre Füße vorsichtig auf die
steinerne Brücke, die sich Bogen für Bogen bis ans andere
Ufer erstreckte, als fürchteten sie, daß sie gleich
unter ihnen wegbrechen konnte und die Soldaten ins eiskalte Wasser
fielen, aber diese Brücke war Hunderte von Jahren alt und
hatte viele Kriege überlebt, sie hielt auch diesen
Männern stand.
Die Stadtwachen gingen voran, so wie sie es immer taten, ihnen sah
man an, wie schwer es ihnen fiel, zu gehen und zu schlendern wie
normale Menschen, wann immer sie zusammen waren, traten sie sonst
im Gleichschritt auf, Seite an Seite, mit ihren Uniformen und
einfachen Lederrüstungen eine Einheit, die auch der Krieg
nicht trennen konnte. Dahinter kamen dann die Bauern, und Mendrion
auf seinem Pferd blieb hinten - er ritt erst dann auf die
Brücke, wenn auch der letzte Mann drauf war, so konnte er
sicher gehen, daß wirklich alle von seinem Trupp es nach
Loringaril schafften und niemand aufs letzte Knäppchen noch
versuchte, sich aus dem Staub zu machen.
Unter den letzten Männern, welche die Brücke betraten,
war Varyn, und Mendrion ahnte schon, daß es jetzt Probleme
geben würde, als er von hinten die angespannten Schultern des
Jungen sah. Natürlich, er hätte sich denken können,
daß der doch noch eine Möglichkeit finden würde,
aus der Reihe zu tanzen und Mendrion das Leben zur Hölle zu
machen. Die Schritte des Jungen wurden immer kürzer, und dann,
mit der Schuhspitze direkt vor dem ersten Brückenstein, blieb
er dann stehen wie angewachsen.
»Was ist los, Kohlenjunge?« rief Mendrion ihm zu und
bereute es im nächsten Moment, die anderen Soldaten
mußten nicht wissen, wie gut er Varyn kannte und daß
der Bursche nicht aus der Gegend von Car Diuree war, sondern aus
den Kohlebergen kam - natürlich, da konnten sie sich ihren
Teil denken, sobald Varyn mal das Maul aufmachte und sie seinen
breiten Dialekt mit den rollenden Lauten hörten, aber da Varyn
kaum jemals etwas sagte, war ihnen das vielleicht wirklich noch
nicht aufgefallen. »Setz dich in Bewegung, wir wollen nicht
warten, bis es dunkel ist!«
Und auch Gaven stieß seinen Bruder an und zog ihn beim Arm.
»Jetzt komm schon, Varyn… Wenn etwas mit der
Brücke ist, dann sag es, aber verdammt, komm jetzt!«
Varyn schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das vielleicht
Gaven verstehen konnte, von dem aber für Mendrion so etwas wie
»alle schon drauf«, ankam. Und immer noch machte er
keine Anstalten, sich vorwärtszubewegen. Inzwischen waren die
Rücken der Männer vor ihm schon ein Stück weit weg,
und die ersten Männer blieben stehen und drehten sich um, als
sie merkten, daß der Hauptmann nicht mehr bei ihnen war -
natürlich, auf der Brücke mußte man die Hufe des
Pferdes gut hören können.
»Paß auf, Varyn«, sagte Mendrion und beugte sich
etwas zu dem Jungen runter, ohne gleich absteigen zu müssen,
»ich befehle dir zu gehen, und du bleibst stehen - du
weißt, was das heißt? Befehlsverweigerung?«
Er rechnete mit weiterer Sturheit, mit einem dumpfen Blick, der
ihm sagte, er könne sich in den Abgrund scheren, mit jeder Art
von Blockade - aber statt dessen zog Varyn nur die Schultern
zusammen und ging auf die Brücke, mit vorsichtigen und
unsicheren Schritten, und er hielt sich ganz in der Mitte, sah
nicht nach links oder rechts, sondern nur geradeaus zu Boden - aber
wie er ging, konnte Mendrion egal sein, solange er nur ging und
Gaven mit ihm. Und dann, endlich, konnte auch Hauptmann Mendrion
über die Brücke reiten.
Das andere Ufer war weit entfernt, die Brücke wurde immer
länger und länger, und die Dämmerung schritt voran,
aber sie kamen in Loringaril an, noch bevor es dunkel wurde. Da
blieb noch genug Zeit, ein Lager aufzubauen… Und freudig
begrüßt wurden sie noch dazu.
»Da seid Ihr ja!« Der andere Hauptmann kam zu Mendrion
und schüttelte ihm die Hand. »Der König hat Euch
schon angekündigt, er ist vor einer guten Woche hier
vorbeigekommen. Ihr seid die Letzten?«
»Erstmal ja«, sagte Mendrion. »Und, alles
ruhig?«
»Alles ruhig«, sagte der Mann. Aber seine Umgebung
sagte, daß es das nicht immer gewesen war - diese Seite war
heftig umkämpft worden, die zerbrochene Zollschranke sprach
ihre eigene Sprache, und auch die Kerben und Breschen am
Wächterhäuschen verrieten ihren Teil. Schwerthiebe,
Pfeileinschläge, und vor allem: Kein einziger Loringarim in
Sicht, nur eine Einheit aus Doubladir, abgestellt, um aufzupassen,
daß diese Brücke auch weiterhin ihnen gehörte. Was
hatten sie mit den Leichen getan, sie in den Fluß geworfen?
Plötzlich, obwohl das alles hinter ihm lag, schauderte
Mendrion. Plötzlich bekam das Schweigen des Flusses eine ganz
neue Bedeutung… Er schüttelte sich. Keine Zeit für
solche Gedanken. Die Schlachtfelder hielten noch genug Leichen
für sie bereit.
»Gut«, sagte Mendrion. »Weiter so. Und viel
Glück!«
Der Hauptmann lachte. »Das wünsch ich Euch auch! Ihr
braucht es dringender als wir.«
Und so kamen Mendrions Männer in Loringaril an.
Welches Land war
größer, Doubladir oder Loringaril? Mendrion wußte
es nicht genau, aber er hoffte, daß es Doubladir war - nicht,
weil er sich wünschte, daß sein Heimatland das
größte, stärkste und prächtigste Land der Welt
war, sondern weil er schon Doubladir von West nach Ost und
zurück durchquert hatte und einfach hoffte, daß in
Loringaril dieser Weg nicht ganz so weit sein würde.
In der Zeit, seit der Krieg begonnen hatte, war Vigilanders Armee
weit in das gegnerische Land eingedrungen - erfreulich weit;
Mendrion versuchte sich an das zu erinnern, was er von
früheren Kriegen wußte, aber ihm fiel keiner ein, bei
dem sich die Loringarim so weit hätten zurückdrängen
lassen. Jetzt ging es gegen Lomar, natürlich, es ging immer
gegen Lomar, aber dieses Mal hatten sie eine Chance, das auch zu
erreichen. Aber Mendrion hätte es bevorzugt, wenn seine Armee
nicht schon ganz so weit vorgedrungen wäre, jetzt fühlte
es sich für ihn so an, als ob er und seine Männer nur
noch kamen, um die Reste zusammenzukehren.
Die Spuren des Krieges waren unübersehbar, vor allem nah am
Aleruan, wo am Anfang die härtesten Kämpfe getobt haben
mußten. Mendrion schüttelte den Kopf, wenn sie ein
niedergebranntes Dorf passierten - was für eine Verschwendung,
hier hätten sie noch guten Proviant bekommen können, und
es ging ihm gegen den Strich, Bauern abzuschlachten. Bauern waren
nützlich, und Bauern konnten nichts dafür, in welchem
Land sie lebten, sie konnten ebensogut hinterher ihre Steuern an
Doubladir zahlen, und von diesen Steuern sollte auch Mendrion
irgendwann mal so etwas wie Sold bekommen, von dem er mehr hatte
als nur von dem vagen Versprechen auf Ruhm und eine Option auf die
Hand einer Frau, die ihn nicht wollte… Aber wenn er
hörte, wie seine Männer angesichts niedergerissener
Palisaden und geschwärzter Mauern johlten, war er doch froh,
daß dies nicht seine Schlacht gewesen war. Man konnte die
Soldaten nicht erst aufpeitschen, damit sie blind vor Hass gegen
Loringaril marschierten, das Doubladirs unschuldiges Blut vergossen
hatte und an dem nun die Heilige Rache vollzogen werden
mußte, und dann erwarten, daß sie Vernunft und Milde
walten ließen.
Wenigstens hatten die Loringarim nicht ihre eigenen Felder
niedergebrannt, die konnte man also noch nutzen - ob ihnen der
Verstand dafür fehlte oder ob sie einfach nicht dazu gekommen
waren, überrascht, wie schnell und weit sie sich
zurückziehen mußten, das konnte Mendrion nicht sagen.
Aber er führte Krieg gegen das Land, nicht gegen den Boden,
für ihn saßen die eigentlichen Feinde in Lomar,
aßen von goldenen Tellern und ließen andere die
Drecksarbeit machen. Sterben mußten meistens die anderen,
aber wer hatte behauptet, daß Krieg gerecht war?
Mendrion versuchte, sich ein Loringaril ohne den Krieg
vorzustellen und sich zu fragen, wie es sich wohl hier lebte - das
Wetter war milder auf dieser Seite des Aleruan, der Herbst noch
jünger und der Winter ferner, statt grau und grün
überwogen hier Farben wie Gold und braun in den Wäldern -
so viele Wälder, auf fruchtbarem Boden, was für ein
Luxus! Doubladir hatte auch Wälder, im Norden, wo sonst nicht
viel anderes wuchs, sie waren zum Jagen da, irgendwas zum Essen
mußte schließlich auch Doubladir hervorbringen - aber
die Wälder in Loringaril waren anders, weniger dunkel, weniger
dicht, aber doch immer noch eine Brutstätte für verdammte
Partisanen.
Sie haßten die Partisanen, natürlich. Sie zogen in den
Krieg, um zu kämpfen, Mann gegen Mann, Schwert gegen Schwert,
Speer gegen Pferd, so wie es sich gehörte - nicht, um sich aus
dem Hintergrund beschießen zu lassen. Nicht, damit in der
Nacht Männer kamen und ihnen die Kehlen durchschnitten. Es war
etwas, das man in Loringaril eigentlich nicht erwarten sollte.
Beide Länder kämpften ehrbar. Loringaril setzte auf
Stärke, auf ein starkes Heer, das von vorne angriff. Doubladir
setzte auf Ehre und Disziplin - und diese Männer, die in
kleinen Grüppchen in den Wäldern lauerten, gehörten
dort nicht hin, sondern zum Rest ihrer Armee. Immerhin, es hielt
den Trupp auf Trab.
Jetzt wußten die Männer, warum sie schon in Doubladir
geübt hatten, nachts das Lager zu bewachen, und sie lernten,
sich vorsichtiger zu bewegen und nicht auch noch die ganze Zeit zu
singen, worüber Mendrion dankbar war, denn so sehr es die
Moral der Truppen heben mochte, sank seine eigene Moral doch tief
in den Keller, wenn er die gleichen fünf Lieder immer und
immer wieder aus rauen und ungebildeten Kehlen hören
mußte, die zu hunderten gemeinsam den Ton verfehlten.
Aber daß man diese Partisanen nie erwischte… Mendrion
wünschte sich, so schnell wie möglich auf die Armee zu
treffen und auf ein richtiges gegnerisches Heer. Er hatte vier
Männer verloren, und jeder einzelne von ihnen ärgerte ihn
- sollte er am Ende ohne einen einzigen Mann dastehen, noch bevor
die erste Schlacht auch nur begonnen hatte? Es tat weh, Männer
zu verlieren. Und er hatte über Bakonyn gelacht…
Loringaril ohne den Krieg wäre schön gewesen, aber in
einem Loringaril ohne Krieg gab es auch keinen Hauptmann Mendrion -
er hätte Jahre Zeit gehabt, nach Loringaril zu reisen, und
statt nur für seinen ersten Krieg zu lernen und an seiner
Fechtkunst zu arbeiten, sich einmal anschauen, was sie da so
umkämpften: Denn daß sein erster Krieg gegen Loringaril
sein würde, das hatte Mendrion schon lange gewußt. Gegen
wen führte Doubladir sonst Kriege? Gegen Koristan? Hatten die
überhaupt eine Armee? Gegen Indirdarin? Waren sie denn
verrückt, da gab es ja noch mehr Wälder, in denen
Partisanen sitzen konnten! Gegen Lavaliria? War das überhaupt
ein Land?B Und gegen Elysir… ganz sicher nicht, solange sie
bei Verstand waren. An Nachbarländern bot sich nur Loringaril
für einen Krieg an. Und jetzt mußten sie aufpassen,
daß sie das Land am Ende nicht ganz eroberten. Gegen wen
sollten sie sonst ihren nächsten Krieg führen?
Die Männer waren nicht mehr ganz so aufgeregt und
enthusiastisch, seit es die ersten Toten gegeben hatte, und mit
jedem Tag, den sie fern der Heimat und fern der Armee auf der
Landstraße verbrachten, sank die Stimmung weiter. Sie
vermißten ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Kinder, und je
besser sie einander kennenlernten, desto öfter brachen
Streitigkeiten aus, die Mendrion Mühe hatte zu schlichten.
Erstaunlicherweise war der Mustersoldat, der sich aus all dem
heraushielt, ausgerechnet Varyn. Natürlich, wer mit keinem
sprach, konnte auch mit keinem streiten, aber selbst zwischen ihm
und Gaven war es seit dem Ausbruch, den Mendrion miterlebt hatte,
ruhiger geworden. Vielleicht war es gut, daß sie nicht mehr
ständig aufeinander saßen - Varyn hing seinen Gedanken
nach, von denen Mendrion froh war, sie nicht zu kennen, und Gaven
ging ganz und gar auf in seiner neuen Rolle als Pferdeknecht.
Das war eigentlich nicht von Mendrion beabsichtigt - aber was
sollte er machen? Wenn Gaven jeden Tag ankam und fragte: »Was
ist mit heute, kann ich Euch heute mit dem Pferd helfen?«,
dann wäre Mendrion blöd gewesen, das nicht irgendwann
auszunutzen. Er war ein königlicher Hauptmann, immerhin, und
niemand mußte erwarten, daß ein Hauptmann alles allein
machte. Früher war Bakonyns Sohn ihnen mit den Pferden zur
Hand gegangen, und Gaven mußte ungefähr im gleichen
Alter zu sein, diese Jungs waren ganz versessen auf Pferde und
machten selbst den Mist mit Begeisterung weg, wenn es sein
mußte, Striegeln, Hufe auskratzen, alles drum und dran -
Mendrion konnte zufrieden sein, und Gaven war es erst recht.
Vielleicht tat es dem Jungen ganz gut, endlich wieder gebraucht zu
werden. Oder die Nähe des großen Tieres half ihm, mit
seinem Kummer klarzukommen - Mendrion hätte nie erwartet,
daß sein Pferd, das ein großartiges Tier war, um damit
in die Schlacht zu reiten und vor allem, um darauf gut auszusehen,
aber gleichzeitig ein übellauniges Miststück für
alle, die ihm zu nahe kamen, sich am Ende als Seelentröster
herausstellen sollte. Aber das war das Besondere an Gaven - man
konnte dem kleinen Schuft nie wirklich böse sein, und
vielleicht merkte das sogar das Pferd. Mendrion hoffte, daß
Varyn wußte, was er an seinem Bruder hatte - aber um das
nicht zu merken, hätte man schon ein arger Dummkopf sein
müssen, und das war das Letzte, was man von Varyn sagen
konnte.
Und so, während sich Mendrion mit jedem Tag mehr wunderte,
wie weit Vigilanders Armee schon vorgedrungen war, erreichten sie
dann endlich das königliche Heerlager.
Mendrion wußte nicht, was
in das Heer Loringarils gefahren war, daß es sich so weit
zurückdrängen ließ, aber die Posten aus Doubladir,
die an den Straßenkreuzungen postiert waren, um Mendrion und
den Verpflegungskarren den Weg zu weisen, konnten ihm auch nicht
mehr verraten, als wo es weiterging. Aber so wie es aussah, war
dieser Krieg so gut wie gewonnen. Zwischen Vigilanders Armee und
der feindlichen Hauptstadt lag nur noch ein echtes Hindernis: Der
Fluß Techemiel. Auf seinem Westufer lagerte der König
von Loringaril mit seinen Männern. Auf dem Ostufer war
Mendrions Ziel. Das Heerlager, endlich.
Man konnte den Techemiel nicht mit dem Aleruan vergleichen, was
Länge und Breite anging, aber er lohnte sich, umkämpft zu
werden, mit einer Schlacht, die, wenn alles gut ging, den Krieg
beenden würde. Mendrion hatte die Schlacht am Aleruan
verpaßt, aber für die Schlacht am Techemiel war er mehr
als bereit, und die Vorstellung, daß der König nur noch
auf ihn und seine Männer gewartet hatte, bevor er zum Angriff
rief, ließ ihn in Gedanken nochmal um eine Handspann wachsen.
Seine Männer waren es, auf die es ankam, die tapferen Hundert,
die er von Car Diuree bis hier geführt hatte -
Und dann erreichte Hauptmann Mendrion die Hügelkuppe und sah
von dort zum ersten Mal das Heerlager. Es war noch ein ganzes
Stück weit weg - aber man konnte es unmöglich
übersehen. Es war riesig. Mehr als riesig. Mendrion sah Zelte
über Zelte und den Rauch von zahllosen Feuern, und auch wenn
Rechnen nicht zu seinen allergrößten Stärken
zählte, konnte er abschätzen, daß dieses Lager Raum
für bestimmt zehntausend Mann bieten mußte. Er
schrumpfte bei dem Anblick, und das um mehr als eine Handspann. Wie
es hier noch auf hundert Männer mehr oder weniger ankommen
sollte, konnte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht
vorstellen.
»Halt!« Eine berittene Patrouille kam auf sie zu, die
geschwärzten Lederrüstungen verrieten sie als Einheit aus
Doubladir, noch bevor Mendrions Männer nach ihren Waffen
greifen mußten. »Seid ihr Nachschub?«
»Hauptmann Mendrion. Eine Einheit Fußsoldaten, eine
Einheit Schützen.«
»Ihr dürft passieren«, sagte der Anführer.
»Unten im Dorf hat der König sein Lager aufgeschlagen,
meldet euch dort.«
»Dorf?« fragte Mendrion, doch ein bißchen
verwirrt. Ein Dorf hatte er vor lauter Zelten nicht gesehen - aber
was war schon ein kleiner Weiler von vielleicht hundertfünfzig
Menschen gegen zehntausend Mann?«
Der Anführer zeigte hangabwärts, und mit etwas
Glück konnte Mendrion einen Palisadenzaun ausmachen.
Er nickte. »Und die Bewohner?«
Der andere lachte nur. Auch eine Antwort.
Mit neuem Mut führte Mendrion seine Männer weiter. So
ein befestigtes Dorf war ein guter Fang, wenn es darum ging, den
König und seine Angehörigen so sicher wie möglich
unterzubringen, aber selbst dieser König hatte keine
hundertfünfzig Söhne - und selbst wenn man das
Halbdutzend Generäle auch noch in dem Dorf einquartierte,
blieb dort immer noch genug Platz für die niederen
Anführer, die Obristen und Hauptmänner - und die
Aussicht, nach so vielen Wochen wieder in einem befestigten
Gebäude zu schlafen, in einem richtigen Bett, war eine ganze
Menge wert.
Wie lange stand dieses Lager schon da? Mendrion konnte es nicht
sagen. Der König mit seinen Reitern hatte gut zwei Wochen
Vorsprung von ihm und den Fußtruppen, aber wenn sie die
anderen Einheiten hierher beordert hatten von wo auch immer sie
vorher gewesen waren, konnte auch das seine Zeit gedauert haben.
Von dem Dorf abgesehen, war das Lager nicht weiter befestigt - wenn
es für längere Dauer ausgerichtet war, hätte man
noch einen Graben und Wall darum ausheben können - aber
zumindest war es gut bewacht. Schon von weitem sah Mendrion die
Fußpatrouillen, die es in regelmäßigen
Abständen umrundeten; hier würde sich so schnell kein
Fremder hineinstehlen können.
Wieder durfte Mendrion erklären, wer er war - langsam
versetzte ihm das einen Stich, die wirklich wichtigen Männer
kannte man, auch ohne daß sie ihren Namen nennen
mußten, aber wenn er nur einer von hundert Hauptmännern
war und dazu noch erst jetzt ankam, was hatte er zu erwarten? Und
was sollte »Meldet Euch beim Quartiermeister«
heißen? Für was für einen blutigen Anfänger
hielten sie ihn denn? Und so beschäftigte Mendrion seinen Kopf
lieber mit grimmigen Gedanken, als als zuzulassen, daß ihm
angesichts der schieren Größe dieses Lagers die Kinnlade
runterklappte.
»Wartet hier!« sagte er zu seinen Männern, bevor
er sich auf die Suche nach dem Quartiermeister machte, und hoffte
inständig, daß er sie hinterher wiederfinden würde
oder, was noch wichtiger war, wiedererkennen. Aber nur eine Einheit
hier hatte einen Varyn bei sich, und da der schwieriger zu
verlieren war als Fußpilz, würden Mendrion seine
Männer schon nicht abhanden kommen.
Der Quartiermeister war ein wirklich beschäftigter Mann, der
aussah, als ob er mehr um die Ohren haben mußte als der
König persönlich. Mendrion mußte warten, bis der
Kerl Zeit für ihn hatte, und dann ging es ziemlich
schnell.
»Hauptmann Mendrion«, sagte der Mann und versank
für einen Moment in dem Plan, der vor ihm auf dem Tisch lag.
»Eure Männer schlagen ihre Zelte hier auf.« Seine
Fingerspitze fuhr über dem Plan nieder wie ein Falke über
der Beute, und Mendrion mußte sich schnell orientieren - hier
der Fluß, dort das Dorf, da die Zelte - und sich merken, wo
es hin ging. Bei mehreren hundert Zelten konnte man nicht einfach
irgendwo lagern - es hätte ein heilloses Durcheinander
gegeben.
»Ausrüstung«, sagte der Quartiermeister, und
wieder ging der Finger nieder. Der Plan war schon ganz verschmiert
vom vielen Zeigen, und die Fingerspitze des Mannes schwarz von
Tinte. »Proviant.«
»Und ich?« fragte Mendrion. Dorf, alle Engel,
laßt es Dorf sein! Und er hatte Glück. Der Finger
spießte ein Haus im Dorf auf.
»Hier. Obrist Eriver, meldet Euch bei ihm.«
Mendrion nickte und merkte sich den Namen. »Und wo finde ich
den König?«
Jetzt lachte der Quartiermeister. »Haltet Euch an Euren
Obristen, der König hat genug -«
»Der König hat mir befohlen, mich bei ihm zu melden,
wenn ich eingetroffen bin«, schnitt ihm Mendrion das Wort ab.
»Und was ein Befehl ist, das befolge ich.« Er
kämpfte das Gefühl nieder, klein und unbedeutend zu sein.
Das war das schöne daran, allein mit hundert Mann über
Land zu reisen - es gab niemanden, der über ihm stand. Und nun
war ein Obrist über ihm, und über dem ein Major, und
über dem ein General… Das Leben war nicht gerecht. Aber
immerhin, Mendrion durfte sich persönlich beim König
melden. Manchmal war es ganz gut, einen Varyn dabeizuhaben.
»Hier«, sagte der Quartiermeister. Das Haus des
Königs war das größte im Dorf, und seine Linien
waren noch ganz klar zu erkennen. Ehrfurchtsvoll ließ der
Mann seinen Finger ein Stückweit über dem Haus schweben.
Oder war das Achtlosigkeit? Egal. Mendrion merkte es sich. Und
während er sich auf den Rückweg zu seinen Männern
machte, versuchte er im Kopf, die Karte in die Wirklichkeit zu
übertragen. Dieses Lager sollte ihr neues Zuhause sein.
Hoffentlich für lange. Hauptmann Mendrion freute sich auf sein
Bett.
Frohen Mutes kehrte Mendrion zu seinen Männern zurück;
seine gute Laune sank allerdings wieder, als er seinen Trupp zwar
dort wiederfand, wo er ihn zurückgelassen hatte - der aber
inzwischen um gut ein Drittel geschrumpft war.
»Wo ist der Rest?« herrschte er den nächstbesten
Kerl an, der auch nur die Schultern zuckte.
»Austreten?« schlug einer von den anderen vor und fing
sich dafür eine Maulschelle ein, auch wenn er vielleicht Recht
hatte und Mendrion lieber die Männer bestraft hätte, die
verschwunden waren. Dabei konnte er es ihnen fast nicht verdenken,
so ein großes Lager machte einen entweder abenteuerlustig und
neugierig, oder man traute sich gar nicht mehr von der Stelle.
»Die werden ihre Abreibung schon noch bekommen«,
bellte Mendrion. »Ich werde jetzt nicht auf ein paar
abspenstige Trödler warten. Die finden den Weg schon noch, und
wenn nicht, kriegen sie es mit mir zu tun.« Wenn sich herum
sprach, daß Mendrion schon wieder fünfundzwanzig bis
dreißig Mann verloren hatte, und das nicht in der Schlacht,
sondern im Heerlager… sie würden ihn alle auslachen.
Aber im Zweifelsfall schnappte er sich ein paar von den
nächsten besten Bauern, die hier rumliefen. Denen konnte es
egal sein, unter welchem Hauptmann sie dienten… »Ihr
kommt jetzt mit, keine Zeit zu vertrödeln, ich zeige euch, wo
ihr eure Zelte aufzubauen habt.«
Er hatte Glück - gerade, als er losziehen wollte, tauchten
zumindest die nächsten fünf von den fehlenden
Männern wieder auf und ließen sich anstandslos dazu
verdonnern, die restlichen aufzutreiben, nachdem Mendrion ihnen den
Weg zu ihrem Zeltplatz beschrieben hatte. Sie selbst
wiederzufinden, damit wäre Mendrion heillos überfordert
gewesen. Er konnte seine Männer durchzählen, er merkte,
wenn einer fehlte, aber die Gesichter hatte er sich dabei nur grob
eingeprägt. Von hundert Mann erkannte er vielleicht zwanzig
mit Sicherheit, und darunter waren auch Varyn und Gaven, die er
schon vorher gekannt hatte.
»Und jetzt - mitkommen!« Sollten sie ihre Zelte in
Ruhe aufbauen. Für den Rest des Tages hatten sie sonst nichts
mehr zu tun; Mendrion mußte noch durch die Gegend laufen und
würde sie vermutlich erst am anderen Morgen wiedersehen, und
bis dahin sollten sie sich vielleicht ein bißchen erholen. Je
nachdem, wann der König den Techemiel einnehmen wollte, konnte
es noch Tage dauern, aber ebensogut schon am anderen Morgen
losgehen - später wußte Mendrion mehr.
»Ich muß euch nicht mehr sagen, wie man ein Zelt
aufbaut«, sagte er. »Und um Wachen müßt ihr
euch heute auch nicht mehr kümmern, rechnet damit, ab morgen
Patrouille zu laufen, aber jetzt seht zu, daß ihr wieder zu
Kräften kommt!« Und das konnte er ebensogut sich selbst
sagen. »Die Zelte kommen in einer Reihe mit denen, die schon
da sind, hört ihr? Macht mir keine Schande, hier herrscht
Ordnung im Lager!« Und er hoffte, daß das so stimmte.
Halb rechnete er damit, daß seine Männer sich in der
Nacht mit den Soldaten von nebenan verbrüdern würden und
irgendjemand ein paar Flaschen Schnaps ins Lager geschmuggelt hatte
- aber egal, darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Am
anderen Morgen würde er die Männer wieder rannehmen wie
eh und je. Je nachdem, wie es ihm selbst ging nach einer Nacht im
Hauptmannsquartier… Mendrion hatte eine gewisse Vorstellung,
was er zu erwarten hatte, aber genau konnte er auch nur raten.
»Äh… Hauptmann?« rief Gaven von irgendwo
aus der Menge. Ihn hatte Mendrion fast vergessen, dabei wollte er
den Jungen ja als eine Art Pagen mitnehmen, er war sicher,
daß die anderen Hauptmänner alle jemanden hatten, der
ihnen die Sachen in Ordnung hielt und ihnen in die Stiefel half,
und er wollte ernst genommen werden können. Da war so eine
häßliche Kröte besser als gar niemand.
»Was gibt es denn?« knurrte er zurück.
»Das Pferd, was mach ich jetzt mit dem? Soll ich den hier
anbinden?«
Mendrion seufzte. Das Pferd hätte er fast vergessen. Hier
mußte es irgendwo eine Koppel geben, hundert Hauptmänner
machten allein schon hundert Pferde, plus die Generäle, plus
die Reiterei… Aber das war erst mal das unwichtigste von
allem. »Sattel ihn ab und rubbel ihn trocken«, sagte
er. »Ich kümmere mich später darum.« Jetzt
mußte er erst mal zusehen, daß er sich überall
meldete, wo es sein mußte. In seinem Quartier… beim
Obristen… und vor allem beim König.
Während er vor der Tür der alten Bürgermeisterei
wartete, fühlte sich Mendrion zunehmend flau. Er hatte zwar
seine Männer zum Essenfassen geschickt, aber selbst nichts
gegessen, andere Dinge erschienen so viel wichtiger… Aber er
hatte sich überschätzt. Er war zu lange in Car Diuree
gewesen, zu lange in Nähe der königlichen Familie, er
hatte sich zuviel auf sich eingebildet. Jetzt mußte er sich
erst mal wieder dran gewöhnen, daß er nur ein kleines
Licht war. Und der König interessierte sich nicht für
ihn, sondern wollte nur Bescheid, ob Varyn noch lebte oder doch das
Glück gehabt hatte, unterwegs einem Partisanen zum Opfer zu
fallen. Mendrion selbst zählte nicht. Und daß er wieder
warten mußte, daran sollte er sich noch besser
gewöhnen.
Gut, er kannte jetzt sein Quartier, ein Bett in dem, was
früher mal das Gasthaus gewesen war, aber das Haus hatte etwas
unheimliches an sich, daß man sich fragen mußte, was
aus dem Wirt geworden war. Mit etwas Glück hatten die
Dorfbewohner fliehen können - aber Mendrion wunderte sich,
warum er sich überhaupt diese Fragen stellte. Dieses Dorf war
so ganz anders als das, in dem sie auf Varyn gelauert hatten, die
Häuser sahen anders aus, es gab weder Schmiede noch
Eisengießerei, noch Bergwerke… Aber die Erinnerungen
waren wieder da, an die Toten, die er nicht hatte retten
können, und ließen ihn nicht los. Mendrion fragte sich,
ob er das richtige für den Krieg war und der Krieg für
ihn. Aber er war wirklich an einer beschissenen Stelle, um sich
solche Fragen zu stellen.
Mendrion schluckte und versuchte, wieder ganz normal auszusehen,
wie ein kaltblütiger Hauptmann, der sich auf die Schlacht
freute. Er hatte Männer verloren, und es war ihm nicht halb so
nah gegangen wie die Toten in Elad Courblaka. Er würde weitere
Männer verlieren, vielleicht alle - es durfte ihm nichts
ausmachen. Niemals -
»Hauptmann Mendrion!« Die Tür hinter ihm wurde
aufgerissen, und die ausgesprochen leutselige Stimme, die ihn
hinein rief, gehörte zu Mendrions großer
Überraschung niemand anderem als dem König. Und Mendrion
konnte sich nicht erinnern, den jemals in so guter Stimmung erlebt
zu haben. »Na, gut angekommen?« Er bekam einen Schlag
zwischen die Schultern und fragte sich einen Moment lang, ob der
König am Ende betrunken war, so kurz vor der Schlacht…
Aber das war er nicht, und was auch immer die königliche
Familie sich daheim in ihrer Burg auch erlauben mochte, Krieg war
Krieg und Schnaps war Schnaps. Hier draußen war der
König ganz nüchtern und ganz wachsam. »Fein,
daß Ihr da seid, jetzt zeigen wir es diesen Hurensöhnen
und Schwesternknutschern!«
Mendrion fand sich im Innern des Hauses wieder und in der
Gesellschaft aller Männer, die in diesem Krieg irgend etwas zu
sagen hatten - die Söhne, die Generäle, auch Leota - und
einen Moment lang kam er sich doch wieder wichtig vor, dann merkte
er, daß er nur zur rechten Zeit am rechten Ort war. Er konnte
nur nicken, zu Wort kam er nicht.
»Geflohen sind sie vor uns, diese Feiglinge! Jetzt haben wir
sie hinter den Techemiel zurückgedrängt, und da werden
sie uns nicht lange standhalten - wißt Ihr, was wir gerade
herausgefunden haben, Mendrion? Habt Ihr es schon
gehört?«
Mendrion schüttelte den Kopf und hörte die Männer
um ihn herum lachen, schallend.
»Lorimanders heiliges Horn!« dröhnte der
König. »Das Horn, das allen, die es hören, die
Kräfte eines Engels verleiht - es ist weg! Sie haben es
verloren!«
Während Mendrion pflichtschuldig in das Gelächter
einfiel, verstand er, daß dieser Krieg wirklich schon so gut
wie vorüber war. Sein erster Krieg. Jahrelange Vorbereitung.
Und jetzt konnte er froh sein, wenn er überhaupt noch etwas
davon mitbekam. Zumindest, wenn die Herrscher hier ihr Horn nicht
doch noch schnell wiederfinden sollten.
Und niemand fragte mehr nach Varyn. Obwohl sie jetzt allen Grund
dazu hatten.
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