Gaven hatte den Krieg satt.
Wirklich. Das mochte seltsam klingen - schließlich waren sie
gerade erst angekommen, während andere schon seit Monaten
unter Vigilanders Banner stritten - aber Gaven wünschte sich,
daß das Ganze möglichst schnell vorbei sein würde.
Dabei hatte er sich das alles so großartig vorgestellt. Als
damals der Hauptmann ins Dorf kam, sah es aus, als gäbe es
nichts großartigeres, als sich im Namen der Rache die
Gedärme rausreißen zu lassen. Aber im Heerlager hatte
Gaven einen Kerl gesehen, dem war das tatsächlich passiert.
Und bei all den Fliegen, deren Larven in seiner schlechtverbundenen
Wunde rumkrochen, konnte es ihm dann auch egal sein, daß
Gaven ihm direkt vor die Füße kotzte.
Das Heerlager war schlimmer als die Kämpfe, zumindest
für Gaven. Jeden Tag hieß es, das dauert nicht mehr
lange, nur noch eine große Schlacht, und dann haben wir
gesiegt - aber was passierte statt dessen? Nichts. Varyn durfte
wenigstens noch Patrouille laufen, andauernd, jeden Tag, irgendwie
war er immer dran, wenn ein Trupp zusammengestellt wurde, aber
Gaven nie. Und weil er sich auch nicht den ganzen Tag lang um das
Pferd des Hauptmanns kümmern konnte - wie denn auch, die
Hälfte der Zeit saß der Kerl ja da drauf! - hatte Gaven
meistens nichts anderes zu tun, als im Lager
herumzuhängen.
Erst dachte er noch, das sei etwas feines. Nichts tun müssen,
nicht marschieren, neue Leute kennenlernen, vielleicht auch mal
welche in seinem Alter - er erinnerte sich, daß Mendrions
Einheit damals einen Trommeljungen hatte, den hätte er gern
nochmal wiedergetroffen - aber es funktionierte nicht. Und das,
obwohl Gaven sich wirklich Mühe gab.
»Hey«, sagte er zu dem nächstbesten Burschen in
seiner Größe. »Was machst du denn da?« Er
war nicht besonders gut darin, Freunde zu machen. Im Tal kannte
jeder jeden, und zwar von dem Moment an, wo man krabbeln konnte,
und bis man aufrecht ging, war man entweder befreundet oder konnte
sich nicht ausstehen. In der Truppe war niemand, mit dem Gaven sich
anfreunden konnte - die waren ja alle nochmal doppelt so alt wie
Varyn, und Gaven nannten sie einen ‘drolligen kleinen
Kerl’ - wie sollte man so jemanden ernst nehmen? Also nutzte
Gaven die Zeit, durchs Lager zu stromern, um endlich mal einen
richtigen Freund zu finden.
»Was willst’n du?« fragte der Junge zurück.
Er sah irgendwie verwegen aus, trug eine Jacke, die mal einem
deutlich größeren Mann gehört haben mußte,
und der war vermutlich auch darin gestorben, denn die dunklen
Flecken daran sahen aus wie geronnenes Blut.
»Ich bin Gaven«, sagte Gaven. »Wir sind gerade
erst hier angekommen, meine Einheit und ich, und da dachte ich
-« Weiter kam er nicht mehr, weil dem anderen Jungen nichts
besseres einfiel, als ihn mit aller Wucht in den Magen zu boxen und
dann, als Gaven zu Boden ging, erst nochmal nach ihm zu treten.
Einfach so.
»Bist auch noch stolz drauf, was?« fauchte der Junge
ihn an. »Feigling! Drückeberger!«
»Was ist denn hier los?« fragte ein
größerer Kerl, der gerade hinzukam.
»Die kleine Ratte hier hat mich krumm angelabert!«
sagte der Junge und spuckte nochmal in Gavens Richtung. »Erst
lassen sie uns die ganze scheiß Drecksarbeit machen, und
dann, wenn wir uns bis hier durchgekämpft haben, kommen sie
angekrochen und wollen mitspielen.« Er zog die Nase so
nachdrücklich hoch, daß Gaven sich schon bei der
Vorstellung zur Seite rollte.
Dann kam der Mann und half ihm auf, aber nicht aus Freundlichkeit.
»Mach dich vom Acker, du Hurenkind! Wir könne dich hier
nicht brauchen!« Und damit schleuderte er Gaven mit
ziemlichem Schwung in die Richtung, aus der er gekommen war.
Jetzt war Gaven nicht von der Art, die sich leicht entmutigen
ließ. Man konnte annehmen, daß er bei denen einen
schlechten Tag erwischt hatte, vielleicht hatten die gerade ein
anstrengendes Scharmützel hinter sich oder so, es gab auch
noch andere Jungen im Lager, hier waren so viele Leute, man
mußte nur richtig suchen… Aber es lief immer auf das
gleiche raus. Niemand von denen, die schon länger da waren,
schien sich zu freuen, daß da noch eine Hundertschaft neuer
Leute angekommen war, um mit ihnen gemeinsam die große
Schlacht zu schlagen. Gaven versuchte sich das vorzustellen - der
Krieg ging jetzt seit Monaten, und die, die seit Anfang an dabei
waren, hatten eine Menge durchgemacht - aber verdammt, das hatte
Gaven auch! Und danach fragte keiner! Die hatten vielleicht ihre
halbe Kompanie begraben, aber Gaven seine ganze Familie! Die
sollten sich das mal vorstellen, der Krieg ist vorbei, sie kommen
heim, und es ist keiner mehr da, noch nicht mal die blöden
kleinen Schwestern…
Und jetzt saß Gaven in diesem verdammten Heerlager fest, und
die einzigen, die vielleicht verstanden hätten, wie es ihm
ging, waren die Leute aus Loringaril. Die aus den niedergebrannten
Dörfern. Aber von denen war keiner mehr da - vielleicht lebten
sie nicht mal mehr - und Gaven hatte keinen zum Reden. Varyn? Gaven
spie aus bei der Vorstellung. Mit Varyn konnte man nicht reden,
nicht mehr zumindest. Das war schlimmer als früher. Und Varyn
konnte noch so oft sagen, daß er an allem Schuld war - das
änderte nichts daran, daß es stimmte. Und die Schuld
wurde davon nicht weniger. Es war etwas anderes, ob Varyn
austitschte und eines seiner Geschwister ohrfeigte, oder ob er
Schuld daran war, daß sie alle tot waren. Über das eine
konnte man reden, sich entschuldigen, verzeihen. Über das
andere nicht.
Wenn Gaven wenigstens in die Schlacht hätte ziehen
können! Wenn er ein Schwert gehabt hätte, oder wenigstens
einen Speer, und da kam ein Loringarim an, und Gaven rammte ihm -
zack! - seine Waffe mitten in die Eingeweide: Vielleicht hätte
er sich dann besser gefühlt? Dieser kleine harte Klumpen, der
irgendwo in Gavens Bauch saß und weh tat, immer wenn er an
seine Familie denken mußte, oder wenn er Varyn sah -
vielleicht ging der weg, wenn Gaven seine Wut an irgend etwas
auslassen konnte? Aber man ließ ihn ja nicht dahin, wo die
Feinde waren.
Selbst als Mendrion fast seine ganze Einheit nahm, um mit ihnen
den Fluß runterzuziehen und Ausschau nach irgendwelchen
Feinden zu halten, die auf diese Seite gekommen waren und jetzt
versuchen konnten, das Lager anzugreifen oder sonstwas zu tun,
Gaven verstand nichts von Krieg, außer daß man sich
dabei gegenseitig umbrachte und am Ende einer gewonnen hatte -
nicht mal dabei nahm er Gaven mit. Obwohl er jemanden hätte
brauchen können, der das Pferd versorgte… Gaven mochte
das Pferd, mochte es mehr als die meisten Menschen im Lager. Das
Pferd verstand ihn besser als die anderen. Gaven hatte es sich
gezähmt. Vergessen war der Tag, an dem der Hengst ihn fast
umgebracht hätte - wenn der jetzt mit seinem weichen Maul
Gaven einen halben Apfel von der Hand nahm, erst die Lippen so weit
zurückzog, daß man dachte, jetzt beißt er die Hand
ab, und dann mit den Zähnen ganz vorsichtig zugriff, und dabei
sein warmer Atem Gavens Hand streifte und diese ganz feinen langen
Haare am Maul zuckten, dann vergaß Gaven für einen
Moment alles andere. Dann war es mehr sein Pferd als das des
Hauptmanns. Es hatte auch einen Namen, aber Gaven hatte ihm einen
eigenen gegeben, nur für ihn und das Pferd, er nannte es
Rabenfell, wie das Pferd, das er sich immer gewünscht hatte.
Ein riesengroßes schwarzes Pferd nur für ihn…
Aber statt dessen nahm der Hauptmann die Männer und das Pferd
und ließ Gaven zurück und dachte am Ende, er tat ihm
noch einen Gefallen damit.
Gaven stapfte durch das Lager mit seiner Wut im Bauch. Er war
wieder auf der Suche nach einem Jungen in seiner Größe,
aber er hatte es aufgegeben, sich mit jemandem anfreunden zu
wollen. Wenn die eine Prügelei haben wollten, gut, dann
sollten sie es. Diesmal war Gaven vorbereitet, und er hatte sich
ein Stück Lumpen um die Fäuste gewickelt, um fester
zuschlagen zu können, ohne sich die Hände dabei weh zu
tun. Im Krieg kämpfte man. Und wenn man gerade keinen
Loringarim hatte, dann tat es jeder andere ebenso gut als Feind.
Solange er nicht zu groß war und nicht zu stark - aber
dafür gab es ja noch die anderen Jungen in Gavens Alter, die
es zur Armee verschlagen hatte…
Hinterher versuchte Gaven es mit der Ausrede, der andere
hätte aber angefangen, was aber niemanden interessierte, und
er bezog noch eine Tracht Prügel, aber komischerweise ging es
ihm danach besser als vorher. Der Hauptmann war nicht da, um ihn zu
bestrafen, und bei so vielen Männern im Lager konnte Gaven
sonstwas sagen, zu wem er gehörte - er hatte sich im Leben
noch nicht so häufig geschlagen wie in diesen Tagen, wo der
Rest seiner Männer nicht da war, aber es tat gut, und er
konnte immer noch behaupten, das all das nur seine Vorbereitungen
für die große Schlacht waren. Der Engel Vigilander
wollte, daß Gaven in Form war, wenn es um die Ehre seines
Landes ging.
Und daß dieser eine Kerl Gavens Mutter eine Hure genannt
hatte, mußte man auch nicht auf sich sitzen lassen. Gaven
wußte zwar nicht genau, was eine Hure war, aber seine Mutter
war keine, soviel stand fest, und der Bursche konnte sich auf die
Abreibung seines Lebens gefaßt machen… Doch er
profitierte davon, daß dieses Lager einfach zu groß
war. Gaven fand ihn niemals wieder. Es war egal. Jeder andere tat
es auch. Hauptsache, am Ende floß Blut…
Und trotzdem hatte Gaven den Krieg und das Heerlager und alles
drumherum satt.
Gaven wußte nicht, was er
falsch machte - er wußte noch nicht einmal, ob. Aber die
Leute nahmen ihn einfach nicht ernst. Varyn nahmen sie ernst,
natürlich. Was machte er anders als Gaven? Er blickte grimmig
drein. Doch wenn Gaven sich bemühte, grimmig dreinzublicken,
kam wieder jemand, tätschelte ihm den Kopf und sagte
»Was bist du doch für ein drolliger kleiner
Bursche.« Wenn sie ihm wenigstens auf die Schulter geklopft
hätten dabei! Gaven konnte doch nichts dafür, daß
er so klein war - nicht mal unbedingt für sein Alter, Gaven
war sicher, daß er noch ganz tüchtig wachsen würde,
aber er war einfach überall der Jüngste. Und nur deswegen
nahm ihn niemand für voll. Die hätten das mal bei Varyn
versuchen sollen! Aber auf die Idee, Varyn zu tätscheln, kam
natürlich niemand…
Gaven haßte alles und die Welt insbesondere. Man nehme nur
Dannen - von dem erwartete jetzt doch jeder, daß er das Erbe
seines Bruders übernahm und König wurde und alles. Aber
niemand kam auf die Idee, daß auch Gaven jetzt ein Erbe zu
tragen hatte - verdammt, er war der letzte von seiner Familie, der
noch übrig war! Varyn zählte nicht, Varyn drehte jetzt
sein eigenes Ding, und spätestens seit sie in Sharaz gewesen
waren, war klar, daß er jetzt seine eigenen Leute hatte und
Gaven nicht mehr brauchte - natürlich, das hätte er ihm
nie ins Gesicht gesagt, und nach außen hin waren sie immer
noch angebliche Brüder, aber Gaven wußte, daß es
seine Familie war, die gestorben war, und nicht Varyns. Und er
mußte sie ersetzen, jeden einzelnen von ihnen. Vor allem
seinen Vater. Gaven konnte nächtelang heulen dafür,
daß er sich nicht mal von ihnen verabschiedet hatte - Varyn,
der hatte sein Verschwinden ja noch angekündigt, aber Gaven
hatte sich schäbig aus dem Staub gemacht… Aber er
heulte nur da, wo ihn niemand sehen konnte. Sonst hätten ihn
die Leute noch weniger ernst genommen.
Das war alles nur, weil Gaven kein Schwert hatte. Mit einem
Schwert konnte man so klein sein, wie man wollte oder mußte,
man wurde immer für voll genommen. Wer ein Schwert hatte, war
ein Mann. Wer keines hatte, war ein Niemand. So einfach war das.
Gaven hatte kein Schwert. Noch nicht einmal das Schwert seines
Großvaters, obwohl das sein Erbe war. Es stand ihm zu. War ja
sonst niemand mehr da, um es zu führen. Aber das Schwert war
fort. Gavens eigener Vater hatte es vergraben, irgendwo in der
Nähe des Hauses. Und als sie tot waren, war alles, was Gaven
noch tun konnte, sich eine Schaufel nehmen und danach graben. Es
war sein Erbe. Und sonst blieb ihm nichts von seiner Familie -
Aber niemand verstand ihn. Sie dachten, er wolle Gräber
ausheben für seine Familie. Aber Gaven grub keine Gräber.
Er grub nach dem Schwert. Es war egal. Er fand es nicht. Jetzt war
er fort aus dem Tal, fort von seiner Familie, und er hatte nichts,
kein Erbe, kein Andenken an sie als die Nase in seinem Gesicht, die
vielleicht ein bißchen was von seinem Vater hatte. Gaven
konnte heulen. Aber das änderte nichts. Am Ende hatte der
Abgrund auch das Schwert seiner Familie verschlungen. Wie alles
andere. Jetzt konnte das Gaven gleich sein. Irgend ein Schwert
hätte es auch schon getan. Alles, damit diese Ochsen endlich
verstanden, daß Gaven kein kleiner Junge mehr war. Er
fühlte sich auch nicht mehr wie einer. Seine Kindheit war im
Berg geblieben.
Ein Schwert… Gavens Herz pochte gewaltig, als er sich auf
den Weg zum Zeugmeister machte. Das war ein mächtiger Mann,
vielleicht der mächtigste im ganzen Lager, denn er hatte
alles. Wirklich alles. Und er rückte es nur an
ausgewählte Leute raus. An den Hauptmann, zum Beispiel.
»Mein Bursche hier«, hatte der Hauptmann gesagt und
auf Gaven gezeigt, »braucht dringend was an die
Füße, am besten ein paar Stiefel.« Und zack, schon
hatte Gaven neue Stiefel. War auch bitter nötig, zumindest
seine Füße wuchsen, wo es der restliche Gaven irgendwie
nicht tat. Die Stiefel waren jetzt ein bißchen groß,
und ganz neu waren sie auch nicht mehr, Gaven war nicht ganz dumm
und ahnte, wo im Krieg die Sachen herkamen, aber es machte ihm
wenig aus, und derjenige, dem sie davor gehört hatten,
brauchte sie sicher nicht mehr. Der hatte mehr davon, wenn seine
Stiefel an Gaven weiterlebten. Oder so ähnlich. Nach ein paar
Tagen hatte Gaven sie sich eingelaufen, und jetzt waren es eben
seine.
Nun ging er also wieder zum Zeugmeister, diesmal alleine. Die
Frage war nur, würde der Mann ihm seine Geschichte
abkaufen?
»Was gibt es, Junge? Was brauchst du?«
Gaven streckte sich ein bißchen, um größer
auszusehen, und räusperte sich. Manchmal machte das seine
Stimme tiefer. Leider nur manchmal. »Ich bin der Bursche von
Hauptmann Mendrion«, sagte er mit seiner ernsten Stimme.
»Schön für dich. Und?«
Jetzt bloß nicht rumstottern! »Sein Schwert ist ihm
durchgebrochen, und er schickt mich, damit ich ihm ein neues
hole.« Wenn schon lügen, dann aber richtig!
Der Zeugmeister sah ihn eher ungläubig an. »So? Und wo
ist dein Hauptmann? Hat er dir einen Schrieb mitgegeben?«
»Einen Schrieb?« Schon war Gaven aus dem Konzept
gebracht. »Was für einen Schrieb denn?«
Der Zeugmeister grinste. »Wenn er dich wirklich geschickt
hätte, hätt er dir ein Schreiben mitgegeben, das ich
hinterher dem König vorlegen kann, wenn der wissen will, was
aus seiner Ausrüstung geworden ist.«
»Oh«, sagte Gaven. Wer sollte denn auch mit sowas
rechnen? »Aber Hauptmann Mendrion kann doch überhaupt
nicht schreiben.« Wehe, der Hauptmann hörte das! Gaven
wäre die längste Zeit sein Bursche gewesen - aber er war
ja nicht hier.
Der Zeugmeister lachte schallend. »Wenn er nicht schreiben
könnt, wär er kein Hauptmann. Und jetzt troll dich, eh
ich melde, daß du versucht hast, den König zu
beklauen.«
Gaven biß sich auf die Lippe und legte den Kopf schief. Wenn
die Leute ihn drollig fanden, konnte er das auch mal ausnutzen.
»Aber… kannst du nicht mal eine Ausnahme machen? Es
muß ja auch kein ganz großes Schwert sein, und es ist
in Ordnung, wenn es ein paar Scharten hat… Da sind doch
bestimmt genug Schwerter übrig von den Männern, die
gestorben sind!«
»Verschwinde, Junge!« knurrte der Zeugmeister, der ihn
also längst nicht drollig genug fand. »Wenn du Leichen
fleddern willst, mach das nach der Schlacht, aber belästige
mich nicht weiter.«
Gaven zuckte die Schultern und zog davon. Er würde schon noch
ein Schwert bekommen, und wenn er es einem schlafenden Soldaten
abnehmen mußte. Es waren so viele Männer hier im Lager,
da würde der Besitzer ihn niemals erwischen. Schließlich
sahen alle Schwerter irgendwie gleich aus -
»Gaven, da bist du ja!« Und schon machte ihm Varyn
auch diesen Plan zunichte.
Gaven fluchte. »Laß mich in Ruhe!« Sein einziger
Trost in diesem Moment war: Varyn hatte auch noch kein Schwert. Und
das war der erste Moment, in dem Gaven ihn endlich einmal
überrunden würde. Wenn nicht heute, dann morgen. Oder
bald. Sein eigenes Schwert…
Es war kein guter Tag für
eine große Schlacht, wenn es nach Gaven ging. So
drückend und schwül war es, daß die Luft ganz gelb
war und man der späten Jahreszeit zum Trotz innerhalb
kürzester Zeit im eigenen Schweiß schwamm. Die Wolken
hingen tief und versprachen ein Gewitter, das den Tag nur noch
besser machen konnte, mit richtig viel Regen und üblem Wind -
und weder das eine, noch das andere Wetter war dazu geeignet, die
wichtigste Schlacht des ganzen Krieges abzuhalten. Aber Gaven
fragte ja niemand. Und so mußte er ausgerechnet an diesem
Tag, der erst kühl und windig anfing und dann zäh und
klebrig wurde, in den Krieg ziehen.
Zumindest konnten sie sagen, daß sie sich den besten Platz
ausgesucht hatten - oder, für Leute wie Gaven oder Varyn, die
nichts zu sagen hatten, eingeteilt worden waren. Wenn man
möglichst viel von der Schlacht sehen wollte, aber
gleichzeitig so weit wie möglich weg sein von der direkten
Gefahr, gab es keinen besseren Ort als diesen Hügel.
Natürlich, ganz oben war die Aussicht am besten, deswegen
stand da auch der König in Person - aber auch vom Hang aus
konnte man gut hinausblicken auf das dicke Schlachtgetümmel.
Eigentlich. Denn Gaven hatte nicht viel Zeit, um sich die Schlacht
in Ruhe anzusehen. Varyn hatte es gut. Varyn hatte einen Speer und
dazu noch einen Schild bekommen - seinen eigenen Schild, und Gaven
hatte immer noch nicht mal ein Messer! - und mußte nichts
weiter tun, als da vorne hocken und warten, daß irgend jemand
versuchte, den Hügel hochzukommen. Lächerlich, das
hätte Gaven auch noch gekonnt. Da redeten sie immer alle
davon, wie großartig Varyn doch war und wie stark und alles,
und dann mußte er nichts weiter machen als rumsitzen…
Und Gaven, der die ganze Zeit über nichts richtiges hatte
machen dürfen, war das Arschloch vom Dienst. Der Pfeiljunge.
Im ganzen Krieg gab es keine miesere Aufgabe als die des
Pfeiljungen.
Erst sah es ja noch aus wie eine einfache Aufgabe: Sorg einfach
nur dafür, daß die Schützen immer genug Pfeile
haben. Die Schützen stehen wo sie stehen, mitten auf dem Hang,
wo sie gut sehen können, und da kann man nicht von ihnen
erwarten, dauernd ihren Platz zu verlassen, wenn sie einen neuen
Köcher Pfeile brauchen… Das ging so lange gut, bis
Gaven am Versorgungskarren ankam, und da gab es keine Pfeile mehr.
Gaven fluchte. Dafür war er extra den verdammten Hügel
hochgerannt! Wofür machte er das denn, um einen Blick auf den
König zu erhaschen? Es war wirklich das letzte Wetter, bei dem
man durch die Gegend rennen wollte, und dann hatte es der
König oder wer auch immer den Wagen beladen ließ noch
nicht mal geschafft, genug Pfeile mitzunehmen? Gaven spuckte aus.
Dann gab es eben keine Pfeile mehr. War nicht seine Schuld. Dann
konnte er sich ebensogut zurückzuziehen zum Lager und sich
unauffällig einen Unterschlupf suchen, wo er den Regen
abwarten konnte. Wenn der denn endlich kam - das Gewitter stand
schon in der Luft, dann sollte es ruhig endlich richtig
anfangen.
Aber aus der Schlacht konnte man nicht so einfach verschwinden.
Vor allem, wenn es bedeutete, am König persönlich
vorbeizumüssen. Und Varyn konnte er auch nicht so
zurücklassen - nicht, wenn er nicht wußte, wie es
ausging. Gaven konnte nicht weg. Und während dort unten die
Männer aufeinander eindroschen, daß man nicht mehr sagen
konnte, wer denn nun aus Doubladir kam und wer aus Loringaril, ein
Meer aus Körpern, Schwertern, Pferden, alles durcheinander,
weit weg und gleichzeitig direkt um ihn, erfuhr Gaven am eigenen
Leib, was es wirklich bedeutete, ein Pfeiljunge zu sein.
Er achtete nicht auf das, was hinter ihm passierte, oder links,
oder rechts. Männer mit Bögen. Männer mit Speeren.
Männer mit Schilden. In der Luft lag ein Lärm, an den
Gaven sich schon nach zwei Stunden gewöhnt hatte, den er
gelernt hatte zu ignorieren - Schreien, Zischen, Splittern von
Holz, brechende Knochen, Metall auf Metall, alles zu einem Brei
vermischt. Wenn man versuchte, da irgendwas rauszuhören, und
wenn es der eigene Name war, verlor man noch den Verstand. Alles
war zählte, war das Feld vor ihm. Gavens Augen zuckten hin und
her, Schlamm, niedergetrampeltes Gras, vereinzelte Büsche oder
die Reste davon - und mittendrin Pfeile. Gavens Augen waren die
schärfsten der ganzen Truppe. Sie mußten es sein. Er
hatte keine Zeit, lange zu suchen - er mußte wissen, wo er
hinrennen mußte. Jeder Augenblick, den er zu lang hinter dem
schützenden Schildwall rauskam, konnte sein letzter sein.
Und los! Gaven schoß vorwärts und hoffte, daß ihn
niemand beachtete. Klein, schlammfarben schmutzig von Kopf bis
Fuß, kroch er durchs Gras wie eine hastige Schlange. Die
Augen auf den nächsten Pfeil geheftet, er wußte, wo von
da aus der nächste lag, ein Satz, und er war da, dicht am
Boden, um kein großes Ziel abzugeben. Er hatte keine
Rüstung, nichts, was ihn irgendwie geschützt hätte,
wenn jemand auf die Idee kam, ihn anzugreifen oder auf ihn zu
schießen. Wenn die Fußsoldaten das Schlachtvieh des
Kriegs waren, dann war Gaven ein frisch angerichtete Teller voller
Würstchen. Man mußte nur zugreifen, alles was er zu
seiner Verteidigung hatte, war seine Geschwindigkeit und die
Tatsache, daß er ein schlüpfriges Scheißerchen
war. Noch ein Pfeil, noch einer, und zurück! Dann schlug das
Geschoß eines Gegners direkt neben ihm ein, Gaven schnappte
es sich, der Pfeil war noch ganz, den konnte man noch
einigermaßen brauchen -
Gaven fluchte, als er sich hinter den sicheren Schildwall warf -
sicherer zumindest, als mitten im Feld zu hocken. Konnten diese
verdammten Schützen nicht einfach besser zielen? Und wenn sie
schon vorbeischießen mußten, warum nahmen sie nicht von
Anfang an genug Pfeile mit? Was war denn mehr wert, so ein paar
beschissene Pfeile oder Gavens Leben? Er kroch nach hinten und gab
sie ab, so wie er es immer machte.
»He, Kleiner, danke, gut gemacht«, sagte der
Anführer der Schützen. Oder so ähnlich. Gaven
stellte sich die Worte mehr vor, als daß er sie wirklich
hörte. Seine Ohren hatten schon lange dichtgemacht. Gaven
nickte nur und huschte zurück auf seinen Posten. Er
mußte sehen, wo die gegnerischen Pfeile landeten. Sehen und
merken - immer noch besser, sie flogen über das eigentliche
Knäuel der Schlacht und landeten vor Gaven im Gras, als wenn
sie da unten Doubladirs Männer durchbohrten. Aber wenn die
Pfeile einmal im Gras verschwunden waren, fand man sie so schnell
nicht wieder. Und zum Suchen blieb keine Zeit. Das konnte man
vielleicht machen, wenn die Schlacht vorüber war, in Ruhe.
Dann konnte man sich auch um die Toten kümmern, und um die
Verletzten, die es nicht mehr bis hinter den Schildwall geschafft
hatten - wenn die dann noch lebten, hieß das. Gaven glaubte
es nicht. Der erste Tote, über den er drüberspringen
mußte, war ekelig. Den dritten beachtete er schon nicht mehr.
Nur ein Hindernis zwischen dem Pfeiljungen und seinen Pfeilen. Die
beschissenste Aufgabe, die der Krieg zu bieten hatte… Nein,
wenn es danach ging, war jede andere Aufgabe im Krieg auch
beschissen. Wie der ganze Krieg.
Und was war nach der Schlacht? Erzählte man dann von
heldenhaften Pfeiljungen? Die Heldengeschichte, wie Gaven fünf
Pfeilen auf einmal auswich, statt sich aufspießen zu lassen?
Natürlich nicht. Davon sprach keiner. Nur, wie der König
von Doubladir heldenhaft den König von Loringaril bezwang.
Oder umgekehrt. Es war egal. Hauptsache, die Schlacht ging
irgendwie aus. Hauptsache, sie ging irgendwie vorbei. Und dann war
der Krieg aus, und sie gingen alle heim und waren
glücklich…
Gaven spie aus. Warum kämpfte der König nicht mit? Hatte
der nicht das beste Pferd von allen? Aber nein, der saß oben
auf dem Hügel auf seinem Pferd, hatte seine Reiter dabei,
damit ihm nicht langweilig wurde, und schaute sich die ganze
Schlacht an, als ob sie ihn nichts anging. Als ob die Leute da
unten nicht gerade dabei waren, in seinem Namen zu krepieren! Aber
den Männern da oben konnte es egal sein, was der Rest der
Armee machte, ob die Schützen irgendwo da hinten genug Pfeile
hatten oder ob Gaven hinter dem Schildwall saß oder mit
zwanzig Pfeilen im Körper tot irgendwo in der Mitte lag, klein
und schlammfarben, ihn würde überhaupt niemand jemals
wiederfinden…
Gaven konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal
gewaschen hatte. Am Anfang fand er noch, das Schlachtfeld stank,
von Leder und Schmierfett und Blut und Dreck - jetzt roch er gar
nichts mehr. Nicht, weil der Gestank nicht mehr da war, sondern
weil er längst ein Teil von Gaven war. Und das würde nie
wieder weggehen. Wenn man einmal den Krieg am Leib hatte, wurde man
den auch nicht mehr los.
Gaven wagte einen Blick zur Seite, suchte nach Varyn, nur um zu
sehen, ob der noch lebte. Nicht, daß es etwas ausmachte. Aber
es machte etwas aus. Varyn war der letzte Grund, den Gaven
überhaupt noch hatte, das ganze hier durchzustehen. Auch wenn
sie einander haßten - in der Schlacht merkte man davon nichts
mehr. Haß, Wut, Rache, hier draußen war das alles egal.
Es interessierte Gaven nicht, wer die Männer auf der anderen
Seite des Feldes waren. Es ging immer nur um das Stück vor
ihm, und um den nächsten Pfeil. Und wenn er wieder einen Arm
voll beisammen hatte und die zerbrochenen aussortiert, ging das
Ganze wieder von vorne los.
Wie lang ging die Schlacht
schon? Es war jetzt dunkler als vorher, und es wurde diesig. Als ob
Nebel aus dem Schlachtfeld kroch, oder die Geister derer, die dort
gestorben waren - Gaven zwinkerte und blinzelte, alles verschwamm
zu einem Brei, und die Pfeile waren noch schlechter zu erkennen als
vorher. Nur von der Befiederung konnte man vielleicht noch etwas
erahnen - aber die Luft wurde schwarz und gelb gleichzeitig, dieses
besondere Licht, das es gab, wenn sich ein Gewitter
ankündigte. Gaven spie aus und fluchte nochmal. Den ganzen Tag
über hatte er sich auf das Gewitter gefreut, aber jetzt fehlte
es ihm gerade noch. An die Schwüle hatte er sich fast
gewöhnt. Aber egal. Er hatte ohnehin nicht damit gerechnet,
den Tag trocken zu überstehen. Wenn es Regen gab, wusch der
vielleicht noch etwas von dem Gestank weg - wenn es denn Regen gab.
Erst einmal lud sich die Luft nur weiter auf, wurde dick und
bleiern und unerträglich und ließ Gaven die Kleider noch
ekliger am Körper pappen. Regen war besser als das hier,
gerade darum ließ er schon so lang auf sich warten. Das gab
nicht irgend ein Gewitter, sondern ein richtig heftiges, eines, das
einer großen Schlacht würdig war. Gaven freute sich
jetzt schon darauf.
»Soll ich dich mal ablösen, und wir tauschen?« Er
kauerte dicht neben Varyn, um möglichst viel vom Schutz seines
Schildes abzubekommen, und konnte sich darum auch
einigermaßen mit ihm verständigen - wenn Varyn direkt
neben Gavens Ohr etwas sagte, konnte er das auch verstehen. Und es
wäre nur gerecht gewesen, wenn Varyn auch mal etwas machte.
Letztlich war er nicht viel besser als der König, wenn er
Gaven die ganze Drecksarbeit machen ließ!"
Aber Varyn schüttelte nur den Kopf. »Tut mir Leid,
Gaven. Ich hab meine Aufgabe und du hast deine - und wenn irgendwas
hier passiert und wir überrannt werden, brichst du unter dem
Gewicht zusammen. Der Schild geht ganz schön auf die Arme, sag
ich dir!« Gaven war sich sicher, daß er log. Er
mußte den Schild ja nicht hochheben, nur irgendwie aufrecht
halten. Und wer bitteschön sollte sie hier überrennen! Es
war immer das gleiche. Diejenigen, die eine Waffe hatten, waren
besser dran als die ohne. Wenn schon kein Schwert, warum durfte
Gaven nicht auch mal einen Speer halten? Was war mit denen in der
zweiten Reihe, die hatten keinen Schild, nur den Speer, das konnte
so schwer doch nicht sein?
»Paß lieber auf deine Pfeile auf«, sagte Varyn
noch, und allein dafür hätte Gaven ihm am liebsten den
nächstbesten zwischen die Rippen gerammt. Seine Arme und Beine
taten weh vom ganzen Rumgerenne und Rumgekrieche, und dabei
schossen die Schützen hinter ihm nicht mal anständig! Was
machten sie da, warteten sie ab? Es war ja nicht so, daß
Gaven sich nicht wirklich Mühe gab, sie mit neuen Geschossen
zu versorgen, und wenn es ihn das Leben kostete! Aber wie er so das
Schlachtfeld beobachtete, über die Sicherheit das
Schildrandes, hätte er auch nicht sagen können, auf wen
da unten er hätte schießen sollen und auf wen nicht.
Wenn Loringaril wenigstens mehr Männer gehabt hätte, dann
war die Chance wenigstens gut genug, einen von denen zu treffen!
Aber so? Unmöglich zu sagen, wer vorne lag. Bei dem
großen Hauen und Stechen da unten wußten die
Männer vielleicht am Ende selbst nicht mehr, auf welcher Seite
sie eigentlich standen. Außer auf ihrer eigenen - aber das
nannten sie dann wieder Desertieren, und wer dabei erwischt wurde,
lebte nicht mehr lang. Scheißkrieg, das Ganze!
Gaven seufzte, knuffte Varyn nochmal gegen den Arm, mit fester
Faust, damit dem auch mal was wehtat, dem faulen Sack, und machte
sich an die nächste Runde Pfeile. Er mußte ganz
schön nah an die kämpfenden Männer ran, diesmal,
kein Wunder - die Schützen aus Loringaril wollten ja auch
lieber Menschen treffen als das Stück Wiese hinter ihnen.
Solange die Kämpfer nicht nach hinten sahen… solange
keiner auf Gaven achtete… dann passierte ihm auch
nichts… Er grapschte nach dem nächsten Pfeil, so
hastig, daß sich die Finger statt dessen ins Gras gruben.
Aber er hatte schon gesplitterte Fingernägel und Erde an der
ganzen Hand - es war fast wie früher, wenn er Kohle und
Geröll aus dem Stollen schaffte. Drecksarbeit, von der man
grindige Knie und einen kaputten Rücken bekam? Schickt Gaven
vor! Daß er nicht längst einen Buckel bekommen hatte war
auch alles -
Und in dem Moment begriff Gaven, daß gerade auf dem
Schlachtfeld etwas passierte, was nicht sein sollte. Der Lärm,
von dem Gaven dachte, daß er ihn schon gar nicht mehr
wahrnahm, was plötzlich anders - geschrieen wurde schon die
ganze Zeit, vor Wut, oder vor Schmerzen, wenn einer getroffen wurde
- doch plötzlich ging da ein Aufschrei durchs Schlachtfeld,
vor Angst oder Erschrecken oder zumindest Überraschung, Pferde
wieherten laut… Gaven versuchte, sich gleichzeitig
umzudrehen und weiter in die Sicherheit nach oben zu hasten und
fiel beinahe hin dabei. Seine Beine traten ins Leere, er rutschte
ab, kämpfte sich wieder auf die Füße, das Gras
unter ihm schien nachzugeben, er stolperte und strauchelte,
versuchte sich festzuhalten, es konnte nicht schnell genug gehen,
und dann war er endlich oben - unten brach gerade das Schlachtfeld
auseinander. Von links hinten trieb sich eine Einheit Reiter wie
ein Keil in die Menge der Kämpfenden, Pferde, die selbst in
diesem schmutzigen Licht schneeweiß leuchteten, daß sie
fast unwirklich aussahen, trampelten nieder, was sich ihnen in den
Weg stellte. Freund, Feind, es war den Reitern egal, wer nicht
schnell genug aus dem Weg war, hatte Pech gehabt. Das Ziel dieser
Reiter war nicht der große Haufen, nicht die tausenden von
Männern, die da aufeinander einschlugen - das war nur ein
Hindernis. Nach links und rechts wichen die Leute aus, wurden von
den Pferden weggedrängt, und als Gaven es mit Glück und
einem Satz zu Varyn in Sicherheit geschafft hatte, brach unten der
erste Reiter aus dem Schlachtfeld heraus und konnte nur eines
wollen: Den Hügel hinauf.
Gaven sah ihn mit einer Mischung aus Angst und Faszination, er
wollte sich komplett hinter den Schild ducken und konnte doch nicht
wegsehen. In diesem Augenblick konnte er alles erkennen, als
wäre er ganz nah dabei: Dieses prachtvolle weiße Pferd
mit weit aufgerissenen Augen und Schaum vorm Maul, als wäre es
durchgegangen, aber der Mann, der darauf saß, hatte es voll
unter seiner Kontrolle, und sein Blick war fast der gleiche, wild,
die Augen wie von Sinnen, den Mund zu einem wilden Schrei verzogen,
seine Rüstung glänzte golden in dem unheimlichen Licht,
das von irgendwo kommen mußte und direkt auf ihn fiel und
sonst nirgendwo hin. Auch sein Helm war golden, und das Haar, das
ihm darunter hervorquoll in wilden langen Locken - sogar den
eingehämmerten Löwen auf dem Brustpanzer konnte Gaven
erkennen, dabei war der Mann wie weit noch entfernt? Gerade am
Fuß des Hügels…
Niemand mußte Gaven mehr sagen, daß dieser Mann nicht
irgend ein Reiter war, sondern der König von Loringaril. Es
war nicht nur dieser Wahnsinn, den man von weitem in seinem Gesicht
lesen konnte - den Wahnsinn hatte Gaven schon so oft bei Varyn
gesehen, und der war nun sicher kein König - sondern diese
Macht, die ihn umgab. Er sah so aus, wie ein König es
mußte. Und die Reiter, die ihm folgten, auch wenn es jetzt
vielleicht ein paar weniger waren als vorhin, da schienen ein paar
Pferde gestürzt zu sein, als es quer durch die Schlacht ging -
mit ihren Helmen und Rüstungen und Schwertern, das war ein
Anblick, den würde Gaven so schnell nicht mehr vergessen. Sie
waren Feinde, sie waren gefährlich, und sie wollten nichts
anderes, als den Hügel hoch und alle darauf umbringen, auch
Varyn, auch Gaven - aber in dem Moment sahen sie aus wie Helden.
Strahlende, goldene Helden. Gaven war gepackt, gelähmt vor
Furcht und Begeisterung. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie
so etwas… so etwas Schönes gesehen. Und es gab nur noch
eine Richtung, in die Gaven wollen konnte: Weg. So weit weg wie
möglich, und so schnell - niemand, der auch nur für ein
Quentchen bei Verstand war, würde sich diesen Männern
noch in den Weg stellen.
Irgendwo hinter ihnen brüllte jemand. »Formiert euch
um!« Es mußte einer der Hauptmänner sein, aber ob
Mendrion oder einer der anderen, konnte Gaven nicht sagen - und er
wußte auch nicht, was damit gemeint war, als Varyn ihn beim
Arm packte und zur Seite riß.
»Bleib bei mir, hörst du?« Aber das mußte
man Gaven nicht zweimal sagen, Varyn hatte den Schild, und
schutzlos wollte sich Gaven den Loringarim sicher nicht ausliefern
- dann höchstens wegrennen, das schien im ersten Moment besser
als der Schild, aber Gaven war soviel gerannt an dem Tag und
irgendwie immer bergauf, er konnte unmöglich vor einem Rudel
Reiter davonrennen. Mit einer Mischung aus Angst und Faszination
sah er, wie das Umgruppieren funktionierte - hatten die Männer
eben noch in zwei Reihen gestanden, vorne die Schildträger,
hinter ihnen die Langspeere, schoben sie sich jetzt zusammen,
daß hinter den Langspeeren die nächste Reihe mit
Schilden kam und dahinter wieder Speerträger. Zwischen den
Einheiten, die jetzt standen wie ein Block, blieb eine Öffnung
- das war vielleicht ganz klug, da kamen die Reiter dann durch und
mußten nicht auch noch alle Männer über den Haufen
reiten… Gaven machte sich ganz klein, er stand mit Varyn
immer noch in der ersten Reihe, und wenn jemand niedergeritten
wurde, dann sie. Aber dafür konnten sie auch besser sehen als
die anderen - Gaven versuchte doch, in jeder Situation zumindest
irgendwas gutes zu sehen. Das war schon im Krieg verdammt schwer,
und wenn es ans Tal ging, war es ganz unmöglich, aber Gaven
wollte überleben, um jeden Preis, und das ging besser, wenn er
keine Angst hatte oder nur wenig davon.
Um ihn und über ihm zischte es. Fast hätte Gaven vor
Freude geschrieen - das waren die Schützen, seine
Schützen, und endlich machten sie mal was mit den ganzen
Pfeilen, die er für sie angeschleppt hatte! Und gab es ein
besseres Ziel als weiße Pferde vor dunklem Grund? Sie sollten
auf die Männer schießen, nicht auf die Pferde; die
Pferde hatten ihnen doch nichts getan - aber Gaven hielt an sich,
preßte vor Aufregung eine Hand vor seinen Mund und wagte es
kaum zu atmen. Er sah, wie einige von den Pferden zurück
fielen, von Pfeilen getroffen - natürlich, die Männer
trugen eiserne Rüstungen, da kam so schnell kein Pfeil durch,
aber trotzdem, die armen Pferde! Und trotzdem blieben genug Reiter
übrig, um näher zu kommen und näher. Varyn
drückte ihn mit der Schulter zur Seite, als die ganze Einheit
sich nach rechts schob, die Hände brauchte er jetzt beide
für Speer und Schild, und als Gaven ihm zumindest eines davon
abnehmen wollte, fing er sich den grimmigsten aller Blicke ein,
daß er fast hinter dem Schild hervorgestolpert wäre vor
Schreck -
Es war der Augenblick des ersten Donners. Und dann hörte
Gaven ein Dröhnen und ein Tosen hinter sich, die Schützen
schossen immer noch, und dann, die Reiter waren schon so nah,
daß er den Boden beben fühlen konnte unter den
eisenbeschlagenen Hufen ihrer Pferde, kam der König mit seinen
Männern den Hügel hinunter geritten. Der richtige
König. Nicht der von Loringaril. Vigilander.
Eigentlich war Gaven auf den König nicht gut zu sprechen.
Überhaupt nicht gut. Wenn der König nicht gewesen
wäre, hätten Varyn und Gaven im Tal bleiben können,
wo sie hingehörten. Was auch immer den König auf die Idee
brachte, daß er unbedingt seinen eigenen Varyn haben
mußte, wußte wohl niemand, aber er hätte sich dann
auch ruhig mal königlich benehmen können, sie mit Gold
überhäufen oder zu Prinzen machen oder ihnen wenigstens
eigene Schwerter geben. Aber wenn der König schon seine
eigenen Kinder wie Dreck behandelte - oh ja, Gaven hatte so einiges
aufgeschnappt, während sie unterwegs waren, manchmal lohnte es
sich doch, ein drolliges Kerlchen zu sein, das jeder gern hatte und
niemand ernst nahm - war wohl nicht viel mehr von ihm zu erwarten,
aber das mit dem Kerker war dann doch ein bißchen viel. Und
was er sich danach geleistet hatte, der König, im Krieg, nie
irgendwas machen und immer nur königlich andere die
Drecksarbeit machen lassen - es war ja wohl das mindeste, daß
er hier mal seinen königlichen Hintern in Bewegung
versetzte.
Aber in dem Moment, als Gaven ihn sah mit seinen Reitern, war
plötzlich aller Groll wie weggeblasen, fortgeschwemmt mit dem
ersten Regen, dessen Tropfen langsam zu fallen begannen. Der Himmel
war noch weiter heruntergekommen und fast schwarz, und schwarz
waren auch die Reiter, schwarz ihre Bärte, schwarz ihre
Pferde, schwarz ihre Rüstungen, und schwarz war die Klinge des
Schwertes, das der König in seiner rechten Hand hielt. Gaven
konnte es genau sehen, sie ritten an ihnen vorbei, daß Gaven
meinte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um sie zu
berühren, aber er konnte sich nicht mehr bewegen vor Spannung.
Der ganze Krieg - nein, die ganze Welt! - hatte nur auf diesen
Moment gewartet, als die weißen und die schwarzen Reiter
aufeinander zuritten.
Gaven bekam keine Luft mehr, alles wollte aus ihm herausbrechen,
er wollte brüllen und die Reiter anfeuern, beide Seiten, sie
waren beide großartig, er konnte nicht sagen, wer gewinnen
sollte - all das Gerede von Engeln und Engelsgeborenen, das sie
hören mußten, seit sie klein waren, und dann trafen sie
Dannen und Leota, die so viel weniger von einem Engel hatten als
zum Beispiel diese Schwestern in Sharaz oder sogar Varyn selbst,
daß Gaven schon völlig enttäuscht allen Glauben
drangeben wollte - und dann stand er mitten in der Schlacht aller
Schlachten, und auf einem schwarzen Pferd ritt ein Engel an ihm
vorbei. Jetzt wußte er, warum der König und der Engel
der Rache den gleichen Namen hatten, sie waren ein und dieselbe
Person in diesem Moment. Das Schwert eines Engels in der Hand eines
Menschen, oder war es umgekehrt, Gaven wußte es nicht zu
sagen, er spürte Furcht und Schönheit und Gefahr, und
wieder donnerte es, daß Gaven einen Moment lang seinen Blick
von den Reitern losriß und zum Himmel schickte - das war
Vigilander, der ihnen vom Himmel zusah, der seinem Sohn zurief,
daß er siegen mußte und siegen würde. Blitzte es
noch nicht? Die Blitze waren Lorimanders, sie kämpften
miteinander im Himmel, Engel gegen Engel, wie unten im Feld, und
einer von ihnen würde heute und für alle Zeit
verlieren.
Dann trafen die Reiter aufeinander, an der Spitze die beiden
Könige, und als der erste Blitz die Schlacht für den
Bruchteil eines Augenblicks in sein weißes Licht tauchte,
klirrten zum ersten Mal die beiden Schwerter gegeneinander, das
silberne der Stärke und das schwarze der Rache, und Gaven sah
alles so klar und so deutlich, daß er es in seinem Leben
niemals würde vergessen können, ihre Gesichter, ihre
Augen, Wildheit und Würde und der Haß von tausend
Jahren, der sich entlud mit mehr Macht und Gewalt, als es die
Wolken am Himmel mit ihrem Gewitter vermochten. Immer noch fielen
nur wenige Tropfen, die Luft war so angespannt, daß sie
knisterte und Funken aus den Augen der beiden Könige schlugen.
Wieder blitzten die Schwerter, fingen sich dieses Mal in den
Schilden, die beide zugleich hochnahmen, der eine Mann war
stärker als jeder andere auf der Welt, die Muskeln an seinen
Armen größer als alle, die Gaven je zuvor gesehen hatte,
der andere war der bester Schwertkämpfer der Welt, und die
Heilige Rache führte seine Klinge - er würde gewinnen, er
mußte gewinnen, wenn jemals wieder Frieden herrschen sollte
auf der Welt, aber in diesem Moment wünschte sich Gaven,
dieser Kampf würde ewig dauern. Vergessen warten die anderen
Pferde mit ihren Reitern, die aufeinander trafen mit blitzenden
Klingen - nur diese zwei Männer waren wichtig, nur dieser
Kampf, und sein Ausgang würde bestimmen über den Ausgang
des Krieges und das Schicksal der Menschheit.
Vergessen war die Furcht. Vergessen war, daß Gaven eben noch
ans Wegrennen gedacht hatte. Er konnte seine Augen nicht von diesem
Schauspiel nehmen, und wenn er hundert Jahre alt werden sollte oder
sogar tausend, so etwas würde er nicht noch einmal zu Gesicht
bekommen.
Die beiden Reiter standen mehr in ihren Steigbügeln, als
daß sie im Sattel saßen, und Gaven verstand nicht, wie
sie ihre Pferde noch lenken konnten, das Schwert in der einen Hand,
in der anderen ihren Schild - aber die Pferde bewegten sich, als
wüßten sie genau, was ihre Herren vorhatten,
tänzelten zur Seite und wichen aus, versuchten einander zu
umrunden, um auf die andere Seite zu kommen, wo der Gegner
verwundbarer schien… Wie gut mußte man reiten
können, wie lange mußten sich Pferd und Reiter kennen,
um so eine vollkommene Einheit zu sein? Gaven hatte so etwas noch
nie gesehen, und er konnte seine Augen nicht von den beiden
Kämpfenden sehen, blind und taub für alles andere um ihn
herum. Er wußte nicht, was er mehr bewunderte - die Pferde
oder die Reiter?
Einen Augenblick staunte Gaven noch be- und entgeistert den Kampf
der Könige an, im nächsten wurde er mit Gewalt zur Seite
gestoßen. Was war -? Gaven sah gerade noch ein anderes Pferd
plötzlich direkt vor ihnen auftauchen, die Hufe erhoben, als
ob es in sie hineinspringen wollte oder über sie drüber.
Wo kam das her? Warum hatte er es nicht kommen sehen? Es ging zu
schnell. Gaven konnte nicht darüber nachdenken. Varyn warf
sich vorwärts mit dem Speer in der Hand und dem Schild in der
anderen, im gleichen Moment stieß der Mann hinter ihm mit dem
Langspeer zu, während das Pferd weiter nach vorne
drängte, als gäbe es die Gefahr nicht - und Gaven schrie
auf, als er sah, wie die Spitze des Spießes das glatte
weiße Fell durchstieß und sich tief in das Fleisch des
Pferdes bohrte. Auch das Pferd schrie, ein schreckliches schrilles
Wiehern, es versuchte noch zu steigen, aber der Speer und der Mann
an seinem Ende hielten es am Boden, und dann brach es, von Varyn
mit dem Schild vorwärts geschoben, zur Seite weg, der Reiter
rutschte von seinem Rücken, aber wen interessierte der Reiter?
Gaven sah nur das Pferd, und er sah es sterben. Einfach so.
Seit der Krieg begonnen hatte, hatte Gaven viele schlimme Dinge
gesehen. Er hatte Häuser gesehen, die von Menschenhand
niedergebannt worden waren, während ihre Bewohner noch darin
waren. Er hatte die verkohlten Überreste gesehen von etwas,
das einmal gelebt hatte und vielleicht sogar ein Mensch gewesen
war. Er hatte tote Männer gesehen, die aus dem Hinterhalt
erschossen worden waren, direkt in Gavens Nähe. Er hatte
Soldaten gesehen, die Wunden davongetragen hatten, daß man
glauben mußte, sie wären tot besser dran als lebendig.
Das waren alles Menschen, ihre Leben waren kostbarer als die eines
Tieres - und doch war es dieser Anblick des Pferdes, dem blutiger
Schaum aus dem Maul quoll, die Augen weit aufgerissen in Todesqual,
und das Blut, das auf Gaven spritzte, als der Speerträger mit
einem Ruck den Spieß wieder aus dem Körper des Tieres
zog, was für Gaven von dem Moment an alle Schrecken des
Krieges in einem Bild festhalten würde.
Gaven zitterte. Er konnte nicht zu Varyn hinsehen, er konnte den
Anblick nicht ertragen von dem Mann, der das Pferd getötet
hatte, er fühlte, daß er zu heulen anfing und wollte es
noch zurückhalten, aber da zog Varyn ihn an sich, schwer
atmend, auch Varyn zitterte, und nur langsam begriff Gaven, in
welcher Gefahr sie da für einen Augenblick geschwebt hatten.
Varyn hatte Blut an der Schläfen, Gaven konnte nicht sagen, ob
das jetzt sein eigenes war, ob das Pferd ihn verletzt hatte oder
der Mann, oder ob auch das nur das Blut des Pferdes war… Was
war das für ein Reiter, der direkt in einen Schildwall
hineinritt, obwohl er wußte, daß die Männer dort
sein Pferd töten würden und ihn noch dazu? Jeder Reiter
hatte einen Gegner, einen richtigen, berittenen Gegner, den er mit
seinem Schwert bekämpfen konnte, wie es sich gehörte,
warum kämpfen sie dann nicht? Warum mußte das Pferd
sterben?
Mit dem Ärmel versuchte Gaven seiner Tränen Herr zu
werden, bevor ihn jemand dabei sah. Direkt vor ihm lag das tote
Tier, unübersehbar, und doch versuchte Gaven so zu tun, als ob
es nicht da war, er wollte wieder die Könige kämpfen
sehen, er wollte, daß die Schlacht wieder schön war,
Schwertmeister und Reiter in perfekter Verbindung. Nicht zu dem
Pferd hinsehen. Nicht zu dem Pferd…
Gaven konnte nicht aufhören zu zittern. Was war mit den
anderen Reiter, wann würde der nächste von ihnen
versuchen, direkt in sie hineinzureiten? Die komplette Gebanntheit,
mit der Gaven eben noch den Kampf verfolgt hatte, war dahin. Er
fühlte wieder den Regen, der jetzt stärker fiel und doch
nicht das Blut von ihm waschen würde. Auch der Donner war
lauter geworden, als käme das Gewitter näher, und wenn
ein Blitz zuckte, war er heller als der vorhergegangene - oder lag
das daran, daß der Rest der Welt immer dunkler wurde?
Den verfeindeten Königen schien all das nichts auszumachen.
Sie kämpften so, wie Gaven es sich für den ganzen Krieg
wünschte: Als ob es keine anderen Menschen um sie herum gab,
als ob sie die letzten Lebewesen auf der ganzen Welt waren - wo
hörte der Haß auf, wo fing die Hingabe an? Gaven
versuchte, die Breschen in ihren Schilden zu zählen, um zu
wissen, wer von beiden nun der bessere war - aber das konnte man
schlecht vergleichen, der König von Loringaril benutzte seinen
Schild mehr, um zu versuchen, den Gegner vom Pferd zu stoßen,
während der König von Doubladir auf der anderen Seite
mehr mit dem Schwert parierte, weil das die Seite war, wo er auch
angreifen konnte.
Der Rest der Schlacht schien abzuwarten. Natürlich, die
Männer kämpften immer noch dort unten auf dem Feld, auch
die schwarzen und weißen Reiter, aber so wie Gaven jede
Bewegung seines Königs in sich aufsog, lag auch das Augenmerk
der Welt nur auf diesen beiden. Mit halbem Auge nahm Gaven wahr,
daß dort weniger weiße Reiter zu sehen waren als zuvor
- waren die anderen tot? Oder geflohen? Er hatte Gerüchte
gehört, daß der König von Loringaril seine
Bärenkräfte verloren hatte, was immer auch daran sein
mochte, seine Bewegungen mochten tatsächlich ein bißchen
langsamer sein als Vigilanders, aber Gaven hatte zu wenig
Schwertkämpfe in seinem Leben gesehen, um sich da auszukennen.
Dieser Kampf war vorbei, wenn einer tot war, vorher nicht. Schwert
traf auf Schwert -
Was dann geschah, konnte Gaven genau sehen. Mit einer halben
Drehung wandte sich der König von Loringaril zur Seite, der
Schild, den er bald mehr als Waffe führte als sein Schwert,
stieß gegen die schwarze Klinge, aber darauf hatte der
König von Doubladir nur gewartet. Er zog das Schwert nach
links, an der Kante des Schildes vorbei, und stieß es unter
dem Arm hindurch seinem Feind in die Seite, da wo kein Brustpanzer
den Körper schütze. So genau war die Bewegung, als
hätte der König die ganze Zeit nur auf diesen einen
Moment gewartet, und mit solcher Wucht stieß er zu, daß
die Spitze des Schwertes auf der anderen Seite des Mannes wieder
hervortrat… Der König von Loringaril sackte in sich
zusammen, und Gaven war froh, daß er dabei nur das Gesicht
seines eigenen Königs sah, den glitzernden Triumph in seinen
Augen, Freude griff nach Gaven bei dem Anblick und das
süße Gefühl des Sieges, als ob er selbst das
Schwert geführt hätte, er selbst den Gegner getötet
- den besiegten König hielt es noch so lange auf seinem Pferd,
bis sein Bezwinger sein Schwert wieder herausgezogen hatte, dann
rutschte er zur Seite, langsam, und sein Pferd, das unter ihm
ausbrach und davon galoppierte, war es, das ihn endgültig zu
Fall brachte.
»Sieg!« brüllte Vigilander. »Sieg für
Doubladir! Sieg!« Er streckte das Schwert gen Himmel, das
jeder auf dem ganzen Schlachtfeld es sehen mußte.
»Sieg! Die Rache ist vollbracht! Sieg!« Gaven sah, wie
das rote Blut langsam über die Klinge zum Heft hinunterlief.
Darunter blitzte es silbern. Das heilige Schwert wußte, wann
die Rache vollzogen war. Eine silberne Klinge hieß: Die
Schlacht war geschlagen. Der Krieg war vorbei.
Silbern war die Klinge vor dem blauschwarzen Gewitterhimmel. Und
silbern war auch der Blitz, der aus den Wolken hinauslangte wie der
Finger eines Engels, wie ein Peitschenhieb, und mit einem tosenden
Krachen in die Spitze des Schwertes einschlug.
Dann geschah alles, während Gaven die Luft anhielt - also
ging es entweder sehr schnell, oder Gaven hatte einen guten Atem.
Für einen Moment war alles in gleißendes Licht getaucht,
der Blitz war heller als alle vorherigen, natürlich, er war
nicht irgendwo am Himmel, sondern genau hier, vor ihrer aller
Augen. Er fuhr durch das Schwert, daß es aufleuchtete, und
dann durch das Schwert in die Hand und durch die Hand in den
Körper und quer durch den König hindurch und durch das
Pferd gleich mit dazu. Schrie der König? Niemand konnte es
sagen. Gavens Ohren waren taub von der geballten Wucht des Donners,
der da direkt vor ihm niederging.
Aber seine Augen waren ganz bei Sinnen, so sehr, so scharf,
daß alles ganz langsam ablief, als habe die Zeit eine
Schnecke verschluckt. Er sah das Schwert von der Wucht des Blitzes
aus der Hand des Königs fliegen, durch die Luft in hohem
Bogen, es überschlug sich dabei, dreimal, Gaven konnte es
zählen, auch wenn es nichts bedeuten sollte… Und dann
begriff er, mit fassungsloser Entgeisterung, daß das Schwert
direkt auf ihn zuwirbelte. Er hatte nur noch Augen für das
Schwert. Was gleichzeitig mit dem König geschah - darum
konnten sich andere kümmern, wie er in sich zusammensackte im
Sattel und das Pferd unter ihm zusammenbrach, tot alle beide, das
lief nicht weg, aber das Schwert, wie es sich drehte, einmal,
zweimal, dreimal - und dann landete es direkt zu Gavens und Varyns
Füßen. Einfach so.
Gaven mußte nicht nachdenken. Den ganzen Tag über hatte
er auf Dinge geachtet, die durch die Luft flogen und irgendwo vor
ihm liegenblieben, er schoß vorwärts, als hätte er
die ganze Zeit über nichts anderes gemacht, und so war es ja
auch, und noch bevor er wirklich begriff, was er da getan hatte,
hielt er das Schwert in Händen. Nicht irgendein Schwert,
sondern das Schwert des Königs. Es war heilig, es war das
Geschenk eines Engels, aber für Gaven war es genau das, worauf
er wochen-, sogar monatelang gehofft hatte: Einfach ein Schwert.
Ein Schwert für ihn ganz allein.
»Ich habe ein Schwert!« schrie Gaven, und seine Stimme
überschlug sich vor einer Freude, die nicht zum Tod des
Königs passen sollte, aber was kümmerte Gaven jetzt der
König? »Ich habe ein Schwert! Ein eigenes
Schwert!«Er wußte nicht, woher dieses Glück
plötzlich in seine Knochen kam, er wollte springen und
jauchzen wie einer, der nicht mehr wußte, was er tat, aber
das Schwert war in seiner Hand, der Griff noch ganz heiß von
der Wucht des Blitzes, aber Gaven wollte es nicht mehr loslassen,
nie wieder. Er hatte noch nie an das Schicksal geglaubt, nicht mal,
als es ihm in Sharaz persönlich gegenüberstand - was nur
gerecht war, denn offensichtlich glaubte das Schicksal ja auch
nicht an Gaven - aber nun war er bereit, das Gegenteil zu
akzeptieren. Das Schicksal hatte ihn erhört, und das war seine
Art, Entschuldigung zu sagen. Ein Schwert, ein eigenes Schwert, und
es fiel einfach so vom Himmel…
»Gib das wieder her!« Plötzlich war Varyn an
seiner Seite, hatte den Schild weggeworfen und seinen Spieß
dazu, und seine Stimme war zornig. »Das gehört dir
nicht! Wir müssen es zurückgeben!«
Gaven hielt das Schwert fester. »Ich habe es gefunden, ich
darf es behalten!« schrie er zurück. »Es ist jetzt
mein Schwert!« Er konnte selbst nicht sagen, was da in ihn
gefahren war - vielleicht war das Schwert immer noch voller Blitz,
vielleicht hatte sich Gaven deswegen nicht mehr selbst unter
Kontrolle, er wußte genau, daß es nicht sein Schwert
war, sondern der Familie des Königs gehörte - aber es war
durch die Luft zu ihm geflogen, als Zeichen des Schicksals, und
jetzt gehörte es Gaven.
»Du gibst das sofort her!« Varyn griff nach dem
Schwert mit dem einen Arm und nach Gaven mit dem anderen, und wo
sie sich seit Wochen nicht mehr geprügelt hatten, begannen sie
nun einen Ringkampf um das Schwert, das Gaven behalten wollte und
Varyn zurückgeben. »Wir müssen es Dannen bringen
-«
Er war stärker als Gaven, immer noch. Er packte das Schwert
ohne Angst vor Verletzung, und kurz darauf hatte er es Gaven ganz
entwunden. Gaven hätte heulen mögen vor Wut - aber er kam
nicht dazu. Denn in dem Moment, als Varyn, und nur noch Varyn, das
Schwert in der Hand hielt, atemlos und keuchend vor Wut und
Anstrengung, geschah etwas, das noch nie zuvor geschehen war und
für das Gaven keine Worte hatte. Es klickte irgendwo oder
nirgendwo. Und die Zeit machte einen Hüpfer
rückwärts.
Gaven konnte fühlen, wie
die Welt einen Ruck machte. Einfach so, und an ihm vorbei. Es
fühlte sich an wie… wie nichts, das Gaven jemals erlebt
hatte. Er war einmal betrunken, noch nicht so lange her, im Lager,
als Varyn mit dem Hauptmann auf diesem Erkundungsauftragg war und
Gaven nichts zu tun hatte außer rumlungern - es hatte nicht
mehr Spaß gemacht als beim letzten Mal und war nichts, das
Gaven unbedingt nochmal ausprobieren mußte, in ein paar
Jahren vielleicht oder Monaten - aber da hatte er auch dieses
Gefühl gehabt, daß sich die Welt an ihm vorbeidrehte und
ihn nicht mitnahm. So ähnlich war es jetzt auch, aber bei
vollem Bewußtsein. Als wäre Gaven der letzte Mensch mit
klarem Kopf auf der ganzen Welt, und alle anderen betrunken. Auf
jeden Fall wußte Gaven, und nicht woher, daß er der
einzige war, der diesen Ruck mitbekam. Und danach war alles
anders.
Das Gewitter hatte plötzlich ein Ende. Die dunklen Wolken
hingen immer noch am Himmel, immer noch schwarz und tief, aber ein
Riß ging durch sie, und durch diesen Riß quoll goldenes
Sonnenlicht, nur ein einziger Strahl, der direkt auf Varyn fiel,
als hätte er ihn sich ausgesucht. Varyn stand da mit dem
Schwert in seinen Händen, sein Gesicht verriet, daß
etwas nicht stimmte von dem, was um ihn herum geschah, aber er
wußte nicht was, er spürte nicht, was Gaven
spürte.
Der Lärm der Schlacht war ebenso plötzlich verstummt wie
der Regen. Statt dessen lag etwas in der Luft, von dem Gaven nicht
wußte, ob es irgend jemand außer ihm hören konnte.
Es war, als ob sehr viele Leute »Ahhh« machten, ein
Summen und Dröhnen, das in den Ohren weh tat, aber
gleichzeitig irgendwie schön klang. Gaven wollte sich die
Ohren zuhalten, um das Klingeln zu vertreiben, aber es ging
nicht.
Aber das Seltsamste waren die Menschen. Der Himmel konnte tun, was
er wollte, und was Gaven hörte, war vielleicht immer noch der
Nachhall des Donnerschlags, aber die Menschen konnten doch nicht
alle gleichzeitig verrückt geworden sein! Und das war auf
beiden Seiten, bei den Truppen Doubladirs und Loringarils. Gaven
konnte nach links blicken und nach rechts, überall sah er
Männer, die in Ehrfurcht zurückgewichen waren, die Hand
am Herzen, und nicht ihren toten König starrten sie an, was
man ja noch verstanden hätte, und auch nicht Dannen, der
irgendwo bei den Reitern sein mußte, sondern Varyn. Sie
starrten alle Varyn an und das Schwert.
Dann hörte Gaven sie Dinge rufen, Dinge, die keinen Sinn
ergaben. »Habt ihr das gesehen? Es ist direkt in seine
Hände geflogen!«
»Das Schwert hat ihn auserwählt!« - »Dieser
Junge ist der wahre König!« - und lauter andere Dinge,
die keinen Sinn machten.
Gaven schüttelte den Kopf und versuchte, irgendwie gegen
diese ebenso große wie falsche Ergriffenheit anzuschreien.
»Das stimmt doch gar nicht!« rief er. »Hier, es
ist bei mir gelandet! Auf dem Boden! Ich habe es aufgehoben, hier,
mit meinen Händen! Seht ihr, meine Hände! Ich habe das
Schwert zuerst gefunden -« Aber es war so, als ob niemand ihn
hörte. »Varyn, sag es ihnen! Ich hatte das Schwert
zuerst!« Er konnte toben und schreien, es war egal. Niemand
schien ihn überhaupt wahrzunehmen.
Varyn stand da wie eine Statue, ganz in Gold getaucht, daß
sein Gesicht, seine Haare, sogar das eben noch silberne Schwert in
seinen Händen golden war, und rührte sich nicht, bis auf
die Augen, die hilflos zu Gaven hinüber schauten und auf das
Schwert und wußten, daß hier etwas nicht stimmte. Seine
Lippen bewegten sich, doch es kam kein Laut heraus. Hilflos
mußten sie mitansehen, wie rings um sie herum Männer auf
die Knie gingen. Und in dem Moment begriff Gaven, was das seltsame
Geräusch war, das er nicht mehr aus dem Kopf bekam: Es war das
höhnische Lachen des Schicksals.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
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