Varyn zwinkerte. Etwas stimmte
nicht, das wußte er genau, aber er konnte es an nichts
festmachen… konnte sich nicht erinnern. Es war wie
früher, wenn die Trugbilder kamen - zwei Wirklichkeiten, die
sich überlappten, er war in beiden gleichzeitig, und darum
waren beide falsch. In seinen Händen fühlte er das fremde
Gewicht des Schwertes, doch wie es dort hin gekommen war, konnte er
nicht sagen - eben noch kauerte er hinter seinem Schild, bereit,
den nächsten Gegner abzuwehren - im nächsten Augenblick
stand er völlig ungeschützt mitten im freien Feld und
hielt ein Schwert in Händen, das sich warm anfühlte und
gleichzeitig fremd und vertraut, und das dort nicht
hingehörte.
Seinen Händen fiel es leichter zu glauben, was für den
Kopf zu viel war. Der Schwertknauf lag in seiner Hand, als
gehöre er dorthin, als habe Varyn seit Jahren mit diesem
Schwert gekämpft, seit Jahrhunderten - erst einmal zuvor hatte
Varyn ein Schwert in Händen gehalten, das der Hauptmanns, und
es war vollkommen anders. Dieses Schwert fühlte sich an, als
wär es für ihn gemacht, für diese Hände, die an
den Speer nicht halb so gewöhnt waren wie an die
Spitzhacke.
Immer noch verwirrt, versuchte Varyn sich umzusehen, aber alle
Farben waren vertauscht, die Umrisse der Menschen weiß vor
schwarzem Himmel, und Sterne schlugen ihre Funken, wenn er
versuchte, irgend etwas genau zu erkennen. Das Licht des Blitzes
hatte sich in Varyns Augen eingebrannt, obwohl er sich doch
erinnern konnte, den Arm hochgenommen zu haben - dieses Licht war
plötzlich überall dort, wo Varyn saß, es hüllt
ihn ein, er konnte es sogar summen hören - das Licht und das
Schwert und der Flicken in der Wirklichkeit, all das gehörte
zusammen, aber Varyn konnte sich keinen Reim daraus machen.
Seine Knie begannen zu zittern, wollten unter ihm nachgeben, aber
Varyn zwang sich, auf den Beinen zu bleiben. Er sah Menschen auf
ihn zustürmen, schwarzweiße Schemen, die er nicht
erkannte, Freunde, Feinde, er wußte es nicht, und es war ihm
egal.
Wie von selbst schloß seine Hand sich fest um den
Schwertgriff. Das Schwert war das einzig Wirkliche in diesem
Moment, Varyn mußte es festhalten, oder er würde auch
alles andere verlieren. Es war das Schwert der Königs, das war
Varyn klar. Es war nicht seines, egal wie es sich anfühlen
mochte, und das einzige, was noch zu tun blieb, war, es
zurückgeben. Aber nur an den Richtigen.
Von weither kamen Stimmen an ihn heran, ein Brei aus Worten, die
keinen Sinn für Varyn machten, und er versuchte auch nicht,
sie zu verstehen. Bevor seine Augen wieder sehen konnten und seine
Ohren aufhörten zu klingeln, konnte Varyn überhaupt
nichts tun… Doch, eines sollte er, und zwar schleunigst:
Sich in Sicherheit bringen. Denn das, wo er stand, war immer noch
ein Schlachtfeld. Varyn stolperte nach hinten, oder zumindest
dahin, wo er hinten wähnte, und hoffte, daß dort seine
Einheit war und nicht Feinde. Jemand packte ihn beim Arm, irgend
jemand.
Varyn riß das Schwert hoch, ohne nachzudenken.
»Zurück!« rief er. »Zurück,
alle!« Bevor er nicht wußte, woran er war, durfte er
niemanden an sich ran lassen. Und das Schwert war immer noch ein
Schwert.
Dann erkannte er Gavens Stimme, und langsam nahmen die Schemen um
ihn herum Gestalt an, auch wenn sie immer noch weiße Umrisse
waren wie umgekehrte Schatten, waren es zumindest Umrisse, die er
kannte. »Varyn, verdammt! Nimm das Schwert runter!«
Varyn kniff die Augen zusammen, so fest er konnte, bis sie seinen
Kopf mit Sternen füllten. Als er sie danach öffnete, sah
er zumindest nur noch eine Wirklichkeit, und die Welt um ihn herum,
die da langsam Gestalt annahm, war seltsam genug. Gaven war an
seiner Seite und sah so aus wie immer, aber das war auch alles. Er
sah Männer, die ihre schwarzen Rüstungen als
königliche Reiter verrieten, aber sie saßen nicht mehr
auf ihren Pferden, sondern waren abgestiegen, und sie hielten einen
sicheren Abstand zu Varyn - kniend, mit gesenkten Häuptern,
die rechte Hand auf der Brust. Die ganze Schlacht schien zu einem
Stillstand gekommen zu sein, und die Welt bildete einen Kreis, in
dessen Mittelpunkt Varyn stand.
»Komm schon, Varyn, sag ihnen, sie sollen wieder aufstehen,
das ist nicht mehr lustig!« hörte er Gaven sagen, und
dann sich selbst, als ob er keinen eigenen Willen mehr hatte:
»Steht auf!«
Einer der Männer hob den Kopf, aber nur gerade so weit,
daß Varyn seine angsterfüllten Augen sehen konnte.
»Hoheit…«, murmelte er.
Varyn schüttelte den Kopf. »Seid
vernünftig!« herrschte er den Mann an. »Das ist
ein Schlachtfeld! Ihr könnt doch nicht einfach hier rumknien,
darauf warten die Loringarim doch nur!« Aber in Wirklichkeit
schienen die Loringarim auf ganz andere Dinge zu warten - sicher,
ihr König war tot, niemand mehr da, um ihnen Befehle zu geben
- aber sie hatten doch sicher Berater oder sonst jemanden, der bei
Verstand war und auf die Idee kam, diese Situation auszunutzen. Es
war nur eine Frage, wer die Starre zuerst abschüttelte. Varyn
hatte keine Zeit, jetzt lange mit den Männern zu diskutieren.
Wenn sie unbedingt vor dem königlichen Schwert knien wollten,
dann sollten sie das tun, wo nicht tausende von feindlichen
Soldaten in direkter Nähe standen und nur vorwärts
stürmen mußten. Und es war einfacher und sinnvoller,
ihnen jetzt einen Befehl zu geben, als ihnen lang und breit zu
erklären, warum er ihnen überhaupt keine Befehle zu
erteilen hatte.
»Bringt mir ein Pferd!« sagte er so fest er konnte und
versuchte, irgendwie den Tonfall des Hauptmanns hinzubekommen.
Überhaupt, der Hauptmann - den brauchte Varyn jetzt! Der
würde wissen, was zu tun war. »Und dann bringt mich zu
-« 'Hauptmann Mendrion', lag ihm schon auf der Zunge, aber im
letzten Moment verbesserte er sich: »Fürst
Dannen.« Wo immer Dannen war, er sollte wissen, daß
sein Vater gerade gestorben war. Und vor allem sollte er das
Schwert bekommen. Es stand ihm zu, und wenn hier irgendwer Befehle
geben sollte, dann war es Dannen. Der wußte zwar noch nicht
so lange, daß er der neue König werden sollte, aber
zumindest hatte er ein bißchen Zeit gehabt, sich an den
Gedanken zu gewöhnen.
»Jawohl, Hoheit!« sagte der Kniende, dann rief er nach
hinten: »Schnell, bringt ein Pferd für seine Hoheit
-«
»Und nennt mich nicht Hoheit!« fuhr Varyn ihn an und
fuchtelte unwillkürlich mit dem Schwert dabei. »Das gilt
für Euch alle! Dannen ist Euer neuer König, vor dem
könnt ihr von mir aus knien - aber nicht vor mir!« Es
hatte keinen Sinn. Sie schienen nicht daran interessiert zu sein,
was er ihnen zu sagen hatte. Und warum versuchte keiner von ihnen
auch nur, ihm das Schwert abzunehmen? Er war ein pisseliger
Fußsoldat, die heilige Waffe gehörte ungefähr so
sehr in seine Hand wie… wie er in das Schlafzimmer von
Dannens Frau. Diese Männer waren nicht irgendwer, sie waren
königliche Reiterei, es gab kaum etwas besseres, das man in
diesem Krieg sein konnte, und trotzdem wußten sie nichts
besseres, als sich vor ihm in den Dreck zu schmeißen?
Jemand brachte ein Pferd an, und dann erkannte Varyn das
nächste Problem: Er hatte keine Ahnung, wie er da hinauf
kommen sollte, solange er das Schwert festhielt, aber loslassen
durfte er es auch nicht, wenn er das tat, kamen die Männer
nachher wieder so sehr zu Sinnen, daß sie ihn für einen
Verräter hielten, und da bevorzugte Varyn es doch, wenn sie
Hoheit zu ihm sagten. Wenn er erstmal aus der Gefahrenzone war,
konnte er alles aufklären. Bis dahin…
»Gaven!« sagte Varyn. Die eine Person, der er vertrauen
konnte, blind, was immer noch halb auf seine Augen zutraf, aber
zumindest hatten die Menschen wieder Gesichter. Und Gaven war an
seiner Seite. »Gaven, halt das Schwert, bitte.« Er
mußte riskieren, daß selbst das den Zauber brechen
würde, aber er wollte auf das Pferd, das ging vor.
Und Gaven reagierte ohne unnötige Ehrfurcht. »Ach,
jetzt krieg ich es wieder?« fragte er nur und ließ
Varyn sich wundern, was er damit meinte - wann hatte Gaven das
Schwert denn schon einmal gehabt?
»Halt es nur fest, bis ich auf dem Pferd bin«, sagte
Varyn. »Dann helf ich dir hoch.« Nicht zulassen,
daß er irgendwo hingebracht wurde, und Gaven hier in der
Schlacht blieb, daß ihm irgendwas zustieß!
»Bringt meinem Bruder ein Pferd!« rief er laut, zum
einen, weil Gaven ruhig ein eigenes Pferd haben konnte, und zum
anderen, um auszuprobieren, ob es noch wirkte, ob sie ihm immer
noch gehorchten…
Das zweite Pferd kam. Es waren genug Reiter in dem Gefecht ums
Leben gekommen, daß genug Pferde für sie zwei übrig
geblieben waren. Und sein eigenes Pferd zu reiten, sollte Gaven
auch darüber hinwegtrösten, daß er jetzt Varyn das
Schwert wieder zurückgeben mußte. Wie viell Zeit blieb
ihnen noch, wegzukommen, bevor die Loringarim wieder angriffen?
»Bringt mich zu Fürst Dannen, schnell!« rief
Varyn. »Und findet Hauptmann Mendrion, ich will ihn in meiner
Nähe haben!« In der Menge suchte Varyn das eine Gesicht,
das alles aufklären konnte. Aber er sah den Dämmervogel
nirgendwo. Trotzdem, Varyn war nicht dumm, und je mehr er wieder zu
Sinnen kam, desto klarer wurde ihm, daß die Schwestern aus
Sharaz mit der ganzen Sache zu tun haben mußten und nicht nur
ein kleines bißchen verwickelt waren. Varyn hätte
fluchen mögen, doch das verschob er auf später. Erstmal
mußte er dieses Schwert wieder loswerden, bevor die hier noch
auf die Idee kamen, ihn am Ende zum König zu krönen -
Dannen würde etwas dagegen haben, und nicht nur Dannen, auch
Varyn selbst. Es gab Grenzen, wie weit das Schicksal gehen durfte.
Und jetzt die Menschen glauben zu lassen, daß Varyn ihr
rechtmäßiger Herrscher war, das ging zu weit. Der
einzige, der hier den Verstand verlieren durfte, war Varyn.
Nur wie erklärte man das einem Stab von Generälen, dem
nichts besseres einfiel, als ihm gleich die Treue zu
schwören?
Es war ein seltsames Gefühl, den Reitern den Hügel
hinauf zu folgen und die Schlacht einfach so hinter sich liegen zu
lassen - Varyn fühlte sich fast wie ein Verräter, oder
wieder wie ein Deserteur, weil er die Männer da unten ihrem
Schicksal überließ und sich aus dem Staub machte, noch
dazu mit dem Schwert des Königs an seiner Seite. Aber er hatte
keine Wahl. In Koristan war die Krone erst verloren gegangen und
dann in fremder Hand wieder aufgetaucht, und im Heerlager
kursierten genug Gerüchte, daß der König von
Loringaril sein heiliges Horn verloren hatte, ohne daß irgend
jemand wußte, wo es sein konnte - natürlich lachte man
drüber, jeder wußte, daß die Herrscher von
Loringaril nicht richtig im Kopf waren, und da konnte man schon mal
sein heiliges Horn verlegen - aber am Ende hatte man ja gesehen, wo
es ihn hingeführt hatte: Er war nicht halb so stark gewesen,
wie man von ihm sagte, und am Ende von seinem Erzfeind durchbohrt
worden, tot, einfach so, ganz ohne Engelskraft…
Und jetzt war das Schwert in Varyns Hand, und egal was das
Schicksal für Intrigen spinnen mochte, er würde
dafür sorgen, daß Dannen die Waffe seiner Ahnen bekam.
Nur Dannen persönlich, sonst würde er es keinem geben.
Varyn traute den Generälen nicht, diese Männer waren zu
mächtig, dafür daß sie nur im Krieg eine Funktion
hatten, und wie es mit deren Treue zu Dannen bestimmt war, das sah
man schon an ihrer Bereitschaft, vor Varyn niederzuknien. Wenn
für die immer gerade der König war, der das Schwert
hatte, dann ließ sich das schnell aus der Welt schaffen,
nämlich mit dem Schwert in den richtigen Händen.
Ob Dannen einen guten König abgeben würde, davon hatte
Varyn keine Ahnung. Er hatte keine Ahnung, was ein König zu
tun hatte, außer im Krieg eine gute Figur zu machen und den
Generälen zu sagen, wo sie als nächstes angreifen
sollten. Aber im Tal merkte man nichts von dem, was irgendwo der
König machte - bis er Mendrion und seine Männer geschickt
hatte, merkte man nicht mal, daß der König von der
Existenz des Tals überhaupt wußte. Und glaubte man dem,
was Dannen unterwegs erzählt hatte, waren die Aufgaben eines
Königs nichts, worauf er jetzt besonders wild war - trotzdem,
er war in diese Familie hineingeboren worden, er hatte seinen
Bruder überlebt, dann war es keine Frage, daß er jetzt
das Schwert bekam. Das würde Varyn keinem der Generäle
geben oder den Hauptmännern, auch nicht Mendrion, sonst rief
sich am Ende noch einer von denen zum König aus. Und es
reichte schon, daß sie in Koristan großes Durcheinander
hatten und bestimmt in Loringaril jetzt Probleme bekommen
würden - Varyn hatte sich nie Gedanken gemacht, ob er sein
Heimatland liebte oder sein Königshaus, aber er wollte nicht,
daß es im Chaos versank.
Nur die Strecke, die sie ritten, begann Varyn zu wundern.
Daß sie sich erst einmal vom Schlachtfeld entfernten, konnte
er ja noch verstehen, aber er hatte erwartet, daß sie einen
Bogen reiten würden zu der Stelle, an der Dannen kämpfte.
Varyn wußte nicht, was genau der tat - er hatte eine Einheit
Reiterei, mehr hatte er nicht erzählt, und seit sich damals in
der Hauptstadt die königliche Familie zu Pferd auf den Weg
gemacht hatte und es für Mendrions Einheit zu Fuß
hinterher ging, hatte Varyn auch nichts mehr von ihnen gehört,
vom König abgesehen, der ja Mendrions Einheit für den
Schutz seiner Bogenschützen abgestellt hatte. Oder um Varyn in
seiner Nähe zu wissen - er konnte sich seinen Teil denken,
aber fragen nicht mehr, der Mann war tot.
Hauptmann Mendrion war nicht bei den Männern, mit denen Varyn
da ritt, das machte ihm Sorgen. Mendrion war der einzige Hauptmann,
der ihn wirklich kannte, noch dazu ein Freund von Dannen, von dem
zu erwarten war, oder zumindest zu hoffen, daß er ihn nicht
hintergehen würde… und daß er nicht da war, war
nicht gut.
»Wohin reiten wir?« fragte Varyn laut in die Luft
hinein, daß ihm irgend jemand Antwort geben konnte, egal wer.
»Ich sagte, bringt mich zu Fürst Dannen!« Aber
entweder fühlte sich niemand angesprochen, oder sie hatten zu
viel Ehrfurcht vor dem Schwert, um zu antworten. Varyn konnte sich
nur zu Gaven umdrehen. »Das gefällt mir gar
nicht«, sagte er leise.
Gaven biß die Lippen zusammen und sagte nichts. Erst dachte
Varyn, daß er nur verstockt war und ärgerlich, daß
Varyn das Schwert gefangen hatte, wo er doch selbst so sehr eines
haben wollte und sich vielleicht vorstellte, daß sie das
jetzt behalten konnten - aber in Wirklichkeit erforderte es Gavens
ganze Aufmerksamkeit, das Pferd unter sich zu beherrschen. Es war
ein Unterschied, ob er ein Tier, mit dem er sich inzwischen
angefreundet hatte, sattelte und striegelte, oder ob er
plötzlich allein auf einem mächtigen fremden
Streitroß saß und es dazu bringen mußte, ihm zu
gehorchen. Und nur von der Liebe zum Pferde wurde noch kein Mann
ein Reiter.
Am Ende landeten sie dann genau
da, wo sie aufgebrochen waren: Im Heerlager. Das beruhigte Varyn
dann doch wieder ein wenig, denn es war gut möglich, daß
sich auch Dannen hier einfinden würde, an einem Ort, den man
nicht verfehlen konnte und um den es keine Missverständnisse
gab. Varyn wußte nicht, an welchem Ende der Schlacht Dannen
kämpfte, aber es war auf jeden Fall sinnvoll, wenn er sich
nach dem Tod seines Vaters erstmal selbst aus der Schlacht
zurückzog, man mußte ja nicht riskieren, daß auch
noch der nächste in der Thronfolge starb.
»Jetzt lassen sie uns ins Allerheiligste«,
flüsterte Varyn noch Gaven zu, um ihn ein wenig aufzumuntern,
als sie das Zeltlager hinter sich ließen und tatsächlich
die Wachen passierten, die vor dem eigentlichen Dorf standen. Die
Männer im Zeltlager hatten immer die wildesten Ideen, was dort
hinter dem Palisadenzaun vor sich gehen mochte, es wurde gemunkelt,
daß sie dort richtiges Bier hatten und richtige Frauen und
ein feines Leben führten, schließlich waren sie die
Hauptmänner und Generäle, der König oder seine
Kinder - während das einfache Fußvolk im Nassen und
Zugigen schlief und Grütze aß. Vor allem die Anwesenheit
von Frauen hätte man dem Führungsstab übel genommen,
und Varyn saß dabei und schmunzelte und hätte ihnen
sagen können, daß mit Leota wirklich zumindest eine Frau
in dem Dorf lebte, aber das war es sicher nicht, was die
Männer meinten…
Aber hinter dem Zaun lag dann doch nur ein vom Krieg gezeichnetes
Dorf, mit Häusern, die mehr Bequemlichkeit boten als die
Zelte, aber sicher nicht das waren, wovon es sich zu träumen
lohnte. Sie ritten bis vor das größte der Häuser,
es mochte mal ein Wirtshaus gewesen sein, und dann sprangen die
Reiter von ihren Pferden, so eilig hatten sie es, daß sie
keine drei Schritte mehr allein gehen konnten.
»He!« rief einer laut. »Nehmt uns die Pferde ab!
Wir haben den Jungen!«
Es klang nicht gut. Varyn kam sich plötzlich vor wie ein
Stück Kriegsbeute, er überlegte, ob es sinnvoll war, auf
dem Pferd zu bleiben und schleunigst das Weite zu suchen, aber er
hatte noch das Schwert zurückzugegeben, und was wunderte er
sich? Eigentlich sollte er doch daran gewöhnt sein, nur 'der
Junge' genannt zu werden. Er wartete, daß auch wirklich
keiner mehr im Sattel saß, und saß dann selbst ab, mit
einem gewagten Satz und dem Schwert hoch über dem Kopf - es
ging besser, als mit nur einem Arm aufzusteigen. und schon hatte er
wieder zwei Männer hinter sich - ob die bereit standen, um ihn
aufzuhalten, wenn er türmen wollte? Und die Torwachen, waren
die auch schon gewarnt? Varyn wußte nicht, wie viele Boten
man hier hoch geschickt hatte, seit er das Schwert gefangen hatte,
aber es schien sich zumindest niemand über ihn zu wundern.
»Geht da hinein«, sagte einer der Reiter zu ihm.
»Keine Angst, es wird Euch nichts geschehen.«
Varyn nickte - sah er so leicht zu durchschauen aus? »Kommst
du, Gaven?« fragte er leise.
Gaven zog eine Grimasse. »Traust du dich nicht ohne
mich?« Seinen Tonfall konnte Varyn nicht einordnen, es klang
ein wenig feindselig, aber es war noch etwas anderes darin, das er
nicht verstand - Neid? Verzweiflung? Er war nicht in der Situation,
nach so etwas zu fragen. »Oder glaubst du, Gaven freut sich,
wenn er uns beide trifft?«
»Ich will dich nur in meiner Nähe haben«, gab
Varyn zurück. Er hatte Angst, daß wenn sie getrennt
wurden, das letzte Stück verloren ging, das ihn noch am Boden
hielt, daß er sonst vielleicht Vergnügen daran fand,
Männer vor sich knien zu sehen, daß er am Ende das
Schwert behalten wollte - all das würde nicht passieren, wenn
Gaven in der Nähe war. Aber er konnte ihm nicht sagen, wie
unglaublich wichtig er für ihn war. Vielleicht war das das
Problem.
Im Haus hatte man direkt im ersten großen Raum alles, was
man an Tischen hatte, zu einer großen Fläche zusammen
geschoben, und darauf lagen nun Karten. Es machte Varyn neugierig,
unter normalen Umständen wäre er gleich hingelaufen, um
sie sich anzusehen; er hatte viel von solche Karten gehört und
noch nie eine gesehen, er wußte nicht, welche Form sein Land
hatte und welche Form die Welt, und jemand, der eine solche Karte
malen konnte, mußte ein sehr weiser Mensch sein - aber jetzt
war er nicht wegen der Karten hier. Sondern wegen der Menschen.
Und Menschen gab es in dem Raum fast mehr als auf dem
Schlachtfeld. Da waren die Reiter, die ihn herbegleitet hatten, und
von denen einige so unsicher von einem Fuß auf den anderen
trafen, daß schnell klar war, wie unwohl sie sich in dieser
Situation fühlten und daß sie eigentlich nicht
hergehörte. Da waren Gaven und Varyn, natürlich. Und da
waren einige ältere, sehr wichtig und sehr grimmig
dreinblickende Männer, von denen Varyn annahm, daß sie
wohl die Generäle sein mußten, mit ihren
graudurchwirkten Bärten mußten sie wohl im gleichen
Alter sein wie der König, also bestimmt doppelt so alt wie
Hauptmann Mendrion - und für einen sehr kurzen Augenblick
fragte sich Varyn, ob der auch eines Tages so eine Rüstung
tragen und so finster aussehen würde wie diese Männer,
die ihm auf den ersten Blick nur Angst machten. Aber einen sah
Varyn in diesem Raum nicht, und das war Dannen. Er kniff die Lippen
zusammen und krampfte seine Hand noch fester um den Schwertgriff.
Wenn die jetzt doch ihr Spiel mit ihm spielten…
»Ihr könnt jetzt gehen«, sagte einer der
vermeintlichen Generäle mit einer Stimme, die so tief war,
daß einem vom Zuhören schon der Magen rumpelte, aber er
meinte damit nicht Varyn, sondern die Reiter. »Haltet euch
bereit bis wir euch wieder brauchen.«
Dann ging ein Nicken durch den Raum, und als sie weg waren,
schluckte Varyn nervös. Jetzt stand niemand mehr zwischen ihm
und diesen Generälen. Und wenn die sich entschieden, ihm das
Schwert einfach mit Gewalt abzunehmen… Angst vor einer
echten Gefahr war etwas seltsames in Varyns Leben. Er kannte blinde
Panik, die aus dem Nichts nach ihm griff und die man
abschütteln konnte, weil sie nicht wirklich war. Er kannte die
unbestimmte Angst vor den Dingen, die kommen würden, wenn er
sie in einer seiner Visionen sah. Aber Angst vor jemandem, der
direkt vor ihm stand, das kannte Varyn eigentlich noch nicht.
»Und jetzt zu dir«, sagte der Mann mit der rumpelnden
Stimme. »Wer bist du? Und wer ist das?« Ein sehr kurzer
Seitenblick streifte Gaven, kaum aufmerksamer als der, mit dem die
Schwestern zu Sharaz ihn damals gemustert hatten und nicht minder
geringschätzig. Ein vor Schmutz starrender waffenloser kleiner
Bursche - so was hatte hier nichts zu suchen.
»Mein Bruder«, sagte Varyn so fest er konnte.
»Und ich bin Varyn.«
»Varyn wer?«
Varyn zuckte die Schultern. Was sollte er schon sein, außer
Varyn? »Varyn aus Elad Courblaka«, sagte er und
versuchte sich an einem treuherzigen und etwas dämlichen
Augenaufschlag. Er hatte es in der Hand. Wenn er jetzt sagte,
daß er ein Engelsgeborener war und der persönliche
Auserwählte des Schicksals, würden sie ihm vermutlich
auch jedes Wort glauben. »Und wer seid Ihr?« Er
versuchte seine Stimme heller und jünger klingen zu lassen,
wenn er ihnen zu jung war, würden sie ihn als König nicht
wollen, aber es gelang ihm nicht gut, das Heisere, was immer in
seiner Stimme mitschwang, machte ihn sogar noch älter, als er
eigentlich war.
»General Davor von Car Mentik«, sagte der Mann, und
dann blickte er von einem zum anderen und sagte ihre Namen -
natürlich, er hätte auch eine Hand nehmen können zum
Zeigen, aber er stand so reglos wie aus Stein gehauen und sah nicht
aus, als ob er irgend einen Knochen im Leib rühren würde,
wenn er es nicht ausdrücklich wollte. »General Korant
von Car Tolai. General Dernik von Car Eskobal. General Hayko von
Car Serrin.« Den Namen des fünften Mannes nannte er
nicht.
Varyn nickte bei jedem Namen etwas einfältig, fragte sich, ob
er sich besser als ‘Varyn von Elad Courblaka’
vorgestellt hätte, wenn man das sonst so sagte, und ob er in
Zukunft so heißen würde… »Und wer ist
das?« fragte er und deutete mit der Schwertspitze auf den
fünften Mann, der im Vergleich zu den Generälen zwar
genauso wichtig aussah, aber wirkte, als trüge er seine
schwarzbeschlagene Rüstung nur zum Angeben. Da war kein Dreck,
kein Fleck - wer an diesem Tag auch nur einen Schritt ins Freie
gemacht hatte, sah nach dem Gewitterregen mindestens so aus wie die
Generäle, wenn nicht gleich wie Gaven. Jemand, der lieber
andere für sich kämpfen ließ - Varyn versuchte, die
Frage genauso abschätzig klingen zu lassen wie vorhin die
Frage nach Gaven.
Aber der Mann, ohne eine Miene zu verziehen über dem
schwarzen Bart, stellte sich selbst vor. »Ansgar von Car
Diuree«, sagte er. »Königlicher Kriegsbotschafter
von Doubladir. Wir hatten noch nicht das Vergnügen.«
Seine Stimme klang nicht, als ob es ihn seinem Leben jemals
irgendwas Vergnügliches gäbe. Außer Krieg,
vielleicht.
»Gut«, sagte Varyn, und versuchte noch einmal den
verträumten Augenaufschlag einer ausgewachsenen Milchkuh
während des Melkens. »Und wo finde ich jetzt den
Fürst Dannen? Ich hab noch ein Schwert von ihm.«
Es war ihm fast peinlich, den Dämlack spielen zu müssen.
Immerhin war keiner der Generäle bis jetzt auf die Knie
gegangen, und sie machten auch nicht den ergriffensten Eindruck -
wenn nicht bald noch Dannen dazu kam, würde Varyn doch
aufhören, zu tun, als wäre er der Dorfdepp. Vielleicht
war es besser, wenn sie ihn ernst nahmen, aber dafür war es
jetzt vermutlich zu spät.
»Ja, das Schwert«, sagte General Korant, und seine
Stimme klang erfreulich skeptisch. »Stimmt es, was man sich
erzählt?«
Varyn legte den Kopf schief. »Woher soll ich wissen, was man
sich erzählt?« Er setzte ein Lächeln hinterher.
Der General seufzte. »Ein Blitz aus heiterem Himmel
tötete den König, und das Schwert fiel direkt in deine
Hand.«
Varyn überlegte noch, ob er nicken sollte oder widersprechen,
aber da sagte Gaven an seiner Seite: »Nein, das stimmt
nicht!«
»So?« fragte der General nur, aber da blubberten die
Worte auch schon aus Gaven heraus.
»Ich hab es aufgefangen, nicht er! Also eigentlich hab ich
es aufgehoben, es ist auf dem Boden gelandet, und dann hab ich es
genommen, aber niemand glaubt mir das, noch nicht mal
er!«
»Sei still, Junge!« herrschte ihn der
Kriegsbotschafter an, und es war gut, daß er stand wie aus
Holz gehauen, sonst hätte er Gaven vielleicht sogar
geschlagen. »Mach dich nicht wichtig!« Zu den
Generälen sagte er: »Was fragt Ihr überhaupt noch?
Wir haben genug Zeugen, die es genau gesehen haben, und was mit dem
Himmel geschehen ist, dafür haben wir sogar unsere eigenen
Augen.«
»Aber wenn ich doch…«, versuchte Gaven es
nochmal und wurde immer leiser, bis seine Worte im Nichts
versickerten und er zu Boden starrte, die Hände zu festen
kleinen Fäusten geballt als letztes Zeichen seines
Trotzes.
»Es ist doch egal, wie ich an das Schwert gekommen
bin«, sagte Varyn schnell. Sein Kopf schwirrte plötzlich
wieder, wegen dem, was Gaven gesagt hatte. Gaven konnte eine kleine
Nervensäge sein, und manchmal versuchte er auch, sich wirklich
wichtig zu machen, aber dafür blies er Ereignisse
größer auf, als sie tatsächlich waren - er erfand
nichts, was nicht geschehen war. Und konnte sich Varyn nicht genau
erinnern, wie das Schwert in seine Hand gekommen war. Da gab es
immer noch mehr als eine Wirklichkeit - was, wenn Gaven jetzt recht
hatte? Und alle anderen unrecht? Das war eine schöne
Aussicht… »Ich will es jedenfalls nicht.«
Die Gesichter der Männer blieben ernst. Sie schienen ihn zu
mustern, sehr eindringlich - wollten sie ihn nur besser
einschätzen können? Oder überlegten sie schon, wie
sie ihn am besten überwältigen konnten?
»Varyn«, sagte General Hayko schließlich, als
spräche er mit einem sehr jungen Kind, aber daran war Varyn
selbst schuld, »weißt du, was ein Engelsurteil
ist?«
Varyn nickte. »Wenn jemand beschuldigt wird, was verbrochen
zu haben, und keiner weiß, ob es stimmt oder nicht
-«
»Ein Engelsurteil«, sagte der General, »kann man
nicht erzwingen. Es kommt vom Engel, oder es kommt nicht. Der Engel
entscheidet. Und hier hat er entschieden, daß Vigilanders
Schwert besser in deinen Händen aufgehoben ist.«
Varyn blickte zu Boden. Das war jetzt doch sehr nah am Niederknien
dran. Jetzt sollten sie besser seine Augen nicht sehen, die Augen,
von denen Dannen meinte, daß sie ihn als Engelsgeborenen
verrieten. Sonst zählten die Männer am Ende nur zwei und
zwei zusammen… »Ich hab keinen Engel gesehen«,
sagte er verstockt. »Und warum sollte er so was machen? Ich
bin ein ganz normaler Fußsoldat, ich weiß noch nicht
mal, wie man mit so einem Schwert umgeht.« Gaven mochte sich
im gegebenen Rahmen an die Wahrheit halten, aber für Varyn
galt das nicht.
»Dann wirst du es lernen.« Aber das sagte keiner der
Generäle, und auch nicht der Kriegsbotschafter. Die Stimme kam
von weiter hinten im Raum, von einem Mann, der gerade die Treppe
aus dem oberen Stockwerk hinunter kam - wie lange er dort gestanden
hatte, konnte Varyn nicht sagen, aber als er die Umrisse des Mannes
deutlicher erkennen konnte, blieb ihm doch die Luft weg. War das
Dannen?
Varyn zwinkerte, und seine Hand mit dem Schwert zitterte
plötzlich, daß ihm nichts anderes einfiel, als sie und
den Griff vor seine Brust zu drücken, auch wenn das jetzt
wieder besonders ergreifend aussehen mochte. Wenn Dannen hier
war… Das machte alles keinen Sinn, Dannen hätte gleich
zu ihm hinstürmen und ihm das Schwert aus der Hand
reißen müssen! Und als der Mann dann auch näher
kam, erkannte Varyn seinen Irrtum. Es war nicht Dannen. Es war nur
ein Mann, der ihm wirklich sehr ähnlich sah. Nur vielleicht
ein paar Jahre jünger. Aber dies»e Art, wie die Augen
etwas anderes sagten als der Mund - die war die gleiche. Das war
eigentlich das erste, was Varyn an Dannen aufgefallen war: Er
konnte einen grimmigen Mund machen, und seine Augen blitzten dabei.
Oder Lächeln, und seine Augen waren traurig, trüb oder
trotzig. Nur wer -
Es gab nur eine Möglichkeit, das rauszufinden. »Mein
Fürst«, sagte Varyn und fiel auf ein Knie, es hatten ihm
an dem Tag genug Männer gezeigt, wie das ging. Er tat so, als
schaue er demutsvoll zu Boden, und nutzte aus, daß ihm die
Haare dabei vors Gesicht fielen - so konnte er zwischen den
Strähnen hindurch schielen und sehen, was der Mann, der
Dannens Bruder hätte sein können, machte.
Aber dafür brauchte er nicht einmal seine Augen. Der Mann
lachte nämlich, und das laut. »Sehr witzig!« Nein,
es war doch ganz gut, daß Varyn hinsah: Die Augen lachten
nämlich nicht mit. »Steh auf, Bursche!«
Varyn gehorchte. »Aber seid Ihr nicht Fürst
Dannen?« Es mußte keiner von den Generälen wissen,
wie gut Varyn Dannen kannte, und da der König sie nicht
eingeweiht zu haben schien darüber, daß er Varyn sowieso
schon beobachtete und alle damit rechneten, daß das Schwert
irgendwie bei ihm landen würde, konnte er das Spielchen jetzt
ruhig ein bißchen weitertreiben.
Es war schön zu sehen, wie sich das Gesicht des Mannes bei
Dannens Namen verzog, ganz kurz nur, aber deutlich. »Der ist
nicht hier«, sagte er dann. »Du mußt mit mir
Vorlieb nehmen. Ich bin sein Bruder.«
Jetzt erwischte er Varyn wirklich auf dem falschen Fuß.
»Ich dachte, sein Bruder wär gestorben!« entfuhr
es ihm. Dannen hatte eine Schwester, das wußte er, aber
außer dem großen Bruder, der nicht mehr lebte, hatte er
nie irgendwelche anderen Geschwister erwähnt - gut, er
mußte auch nicht seine ganze Lebensgeschichte vor ihnen
ausbreiten, und vielleicht dachte er, daß Varyn und Gaven mit
ihren eigenen toten Geschwistern nicht von seinen lebenden
hören wollten -
»Er hat noch zwei«, sagte der Mann, und dann setzte er
ein Grinsen auf. »Ich bin der Bastard. Er tut lieber so, als
gäbe es mich nicht. Mein Name ist Rul.«
Varyn ließ das Schwert wieder sinken. Es drückte sonst
an der Brust, und der Arm wurde ihm lahm. »Ich gebe das
Schwert nur Dannen«, sagte er. »Das tut mir Leid, aber
solange Dannen lebt…« Er biß sich auf die Zunge,
ein einfacher Fußsoldat würde das Wort Fürst vor
Dannens Namen nicht vergessen - aber bei diesem Rul mußte man
annehmen, daß der König ihn vielleicht doch auch
eingeweiht hatte. »Ich bin übrigens auch ein
Bastard«, sagte er vergnügter, als er sich fühlte.
Aber er hatte dieses Wort so oft gehört, meistens
entgegengespiehen oder sonstwie höhnisch - wenn es Rul auch so
gegangen war, war es kein Wunder, wenn er auf Dannen schlecht zu
sprechen war. Andererseits, derjenige, der Varyn mit am
häufigsten Bastard geschimpft hatte, war Gaven, und trotzdem
verzog Varyn bei seinem Namen nicht das Gesicht. War vielleicht ein
Unterschied, wenn der Bastard den gleichen Vater hatte. Varyn war
ja nur der Bastard von Gavens toter Tante.
»Und was soll mir das sagen?« Rul stand jetzt direkt
vor Varyn, seine Rüstung sprach von der Schlacht, er roch nach
Schweiß, Blut und nassem Leder, das war also auch einer, der
heute im Feld gewesen war und nicht nur irgendwo am Rand als
Zuschauer. »Denkst du, ich verbünde mich dann mit
dir?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte
Varyn. »Und was ist nun mit Dannen?« Langsam fing er
an, sich Sorgen zu machen. Alle hielten ihn hin, niemand ging auf
seine Fragen ein - wenn Dannen jetzt etwas zugestoßen war?
Wenn er die Schlacht nicht überlebt hatte, wie sein Vater?
Gehörte das Schwert dann am Ende doch dem Bastard?
»Es geht auch nicht darum, was du denkst«, sagte Rul,
und die Schroffheit in seiner Stimme erinnerte wieder an Dannen -
Varyn mußte achtgeben, was er tat und sagte, er durfte sich
diesem Mann gegenüber nicht so offen geben wie vor Dannen, den
er über die gemeinsamen Wochen gut genug kennengelernt hatte.
Ein Bruder war nicht wie der andere, egal wie ähnlich sie sich
sahen… »Sondern, was die Engel denken«, redete
Rul weiter. »Und, was wir denken.«
Varyn schluckte. Das klang wie eine Drohung. Er merkte, daß
er schwitzte, und langsam begriff er, daß er die Situation
falsch eingeschätzt hatte. Natürlich, der
Dämmervogel hatte ihm Honig ums Maul geschmiert.
Natürlich, die Männer im Feld waren vor ihm
niedergekniet. Aber daß er erwartet hatte, gleich zum
König ausgerufen zu werden - das war sein Fehler. Die
Generäle hier schienen nicht gerade interessiert daran, ihn zu
krönen. Statt dessen standen sie auf gutem Fuße mit dem
königlichen Bastard, der vielleicht sein ganzes Leben lang auf
so einen Moment gewartet hatte, der dem Schwert seines Vaters noch
nie so nah war wie jetzt… Nein, jetzt war wirklich keine
Zeit, sich dämlich zu stellen. Varyn schielte zu Gaven
hinüber, der seinen Blick erwiderte und nickte, was immer er
damit sagen wollte. Rückzug?
»Es ist gerade kein Engel da«, sagte Varyn so fest wie
möglich. »Was denkt Ihr?«
»Ich denke, wir sollten uns setzen«, sagte General
Davor, und da er aussah, als wäre er der älteste der
Männer, durfte er das auch vorschlagen. »Was Fürst
Dannen angeht, so haben wir einen Boten geschickt, der ihn herholen
soll, natürlich wollen wir hier nichts hinter seinem
Rücken entscheiden, natürlich geht es auch ihn an.«
Varyn atmete ein bißchen auf. Dannen lebte, das war gut, das
schmälerte vor allem Ruls Anrecht auf das Schwert und
vergrößerte damit Varyns Recht auf Leben. »Ich
wundere mich, daß er noch nicht hier ist«, redete der
General weiter, »ich denke, er dürfte das
größte Interesse von uns allen haben, hier eine
Entscheidung zu treffen.«
Der etwas jüngere General Hayko schüttelte den Kopf.
»Was mich betrifft, so ist das nicht unsere Entscheidung. Und
sie ist längst getroffen worden. Vigilander hat sein Schwert
an einen würdigeren Erben weitergegeben.«
»Wo soll dieser Junge denn würdig sein?« fragte
Korant, und Varyn merkte ihn sich als den Vernünftigsten unter
den Generälen. »Wenn es einer von uns wäre, ha!
Oder auch Fürst Rul hier - aber dieses
Milchgesicht?«
»Es ist nicht an Euch, die Entscheidungen eines Engels zu
hinterfragen!« fuhr ihn Hayko fast an. Rul und der
Kriegsbotschafter blickten einander an wie zwei, die einander gut
kannten, und hielten sich heraus, sie waren am schwersten
einzuschätzen.
»Bevor mir jemand das Gegenteil beweist«, sagte
Korant, »halte ich die Ereignisse schlicht und ergreifend
für Zufall. Ja, der Bursche hier hat das Schwert gefangen -
oder der andere Junge, der das gleiche behauptet - aber woher will
ich wissen, daß ein Engel dahinter steckt? Und wenn ein
Engel, wieso Vigilander? Nur einen Augenblick davor ist Lorimanders
Erbe gefallen, wer sagt mir denn, daß der Tod unseres
Königs nicht Lorimanders Rache war? Und Lorimander, oder
sonstein Engel, der Vigilanders Haus schwächen will, indem er
dem nächstbesten Trottel das Schwert in die Hand
gibt?«
»Aber denkt nur an Koristan!« Hayko schien immer mehr
zu entflammen. Varyn wünschte sich, den Mann irgendwie
abkühlen zu können, aber ihm fiel nicht ein, wie. Sollten
die anderen Generäle ihn mundtot machen!
»Ha!« schnaubte Korant. »Koristan soll selbst an
sich denken, ich hab besseres zu tun. Was interessiert mich
Koristan? Die mögen auf so einen Schwindel reingefallen zu
sein, was mich angeht, ich denke nicht dran.«
»Und ich sage, wir setzen uns hin!« unterbrach ihn
Davor. »Entscheidungen trifft man nicht im Stehen!«
Im hinteren Teil des Hauses stand ein Tisch, ein einzelner, um den
man sitzen konnte und einander noch sehen, anders als an dieser
Riesentafel mit den Karten, die nur dafür geeignet schien,
darum herumzugehen und zu sehen, welche Einheit wo stand. Aber
nicht alle nahmen Platz. Der Kriegsbotschafter blieb stehen, und
Rul, ehe er sich setzte, ging noch einmal zur Tür und
wechselte ein paar Worte mit einem von den Männern da
draußen, vielleicht ging es um den Verbleib von Dannen. Und
selbst als sie dann saßen, war immer noch nicht alles in
Ordnung.
»Ich weiß nicht, was dieser Bengel hier verloren
hat«, sagte General Dernik und zeigte auf Gaven. »Er
hat nichts mit dem Schwert zu schaffen, und was wir hier zu bereden
haben, geht ihn nichts an.«
»Und ob mich das angeht!« Gaven ließ sich
zumindest nicht einschüchtern. »Ich habe mindestens so
viel hier zu schaffen wie der Bastard.« Varyn vermutete,
daß er selbst damit gemeint war, denn es war der Tonfall, den
Gaven meistens dafür benutzte, aber es war Rul, der bei den
Worten zu Stein erstarrte.
Varyn biß sich auf die Zunge. Fast hätte er den
Männern jetzt erklärt, daß tatsächlich Gaven
an seiner Statt das Schwert gefangen hatte, aber er wollte nicht
riskieren, plötzlich Gaven als König zu haben. Und der
Junge war selbst verantwortlich, welche Worte er wählte.
»Raus!« sagte Rul durch zusammengebissene Zähne.
»Raus, sofort, oder ich vergesse mich.«
Varyn beugte sich zu Gaven und sagte so leise wie möglich:
»Tu was er sagt. Ich komm hier nicht heile raus, nicht ohne
weiteres - bring du dich in Sicherheit, ich versuch mich hier
irgendwie rauszuhauen, aber erstmal will ich wissen, daß dir
nichts passiert.« Er hoffte, daß niemand außer
seinem Bruder die geflüsterten Worte verstand, aber er meinte,
was er sagte. Besser, sie machten nur ihn fertig, als ihn und
Gaven.
Aber Gaven schüttelte den Kopf, genau wie Varyn erwartet
hatte. »Ich denk nicht dran, ich hab ein Anrecht -«
»Ich befehle es dir!« knurrte Varyn etwas lauter.
»Wenn du hier nicht alles kaputt machen willst, treffen wir
uns draußen. Ich will keine Rücksicht auf dich nehmen
müssen.«
Gavens Augen weiteten sich. Es war das Gesicht von einem, der
gerade zum letzten Mal in seinem Leben verraten wurde. Dann schlich
er nach draußen wie ein geprügelter Hund, und Varyn
spürte dieses Ziehen in der Brust - er war sich plötzlich
nicht mehr sicher, ob er Gaven da draußen jemals wiedersehen
würde. Einen Moment lang war er sich sicher, das falsche getan
zu haben. Dann konnte er nichts mehr ändern, und er straffte
sich.
Es war besser, wenn Gaven draußen war und Varyn das hier
allein durchzog. Vor allem mußte Gaven sich dann nicht diesen
unerträglichen General Korant anhören - und Varyn konnte
auch Dinge sagen, die vielleicht stimmten, aber nicht wirklich
für Gavens Ohren bestimmt waren. Wenn nur endlich Dannen
auftauchte!
»Wenigstens sitzen wir jetzt«, sagte Davor.
»Möchte jemand etwas trinken?«
Varyns Lippen fühlten sich plötzlich trocken an.
Natürlich hatte er Durst, das letzte Mal, daß er etwas
getrunken hatte, war lange her, noch bevor die Loringarim über
die Brücke marschiert kamen und die Schlacht begann. Aber es
gab im Moment so viele wichtigere Dinge, an die er denken
mußte - trinken konnte er hinterher immer noch. Und er traute
diesen Männern nicht genug, um auch nur einen Becher Wasser
von ihnen anzunehmen.«
»Mir ist egal, wie es hier ausgeht«, sagte General
Dernik in die Runde. »Ich diene dem Krieg, diesem und dem
nächsten und denen, die noch kommen - mir ist es wichtiger,
daß wir unseren Plan durchführen und Loringaril ein und
für allemal in seine Schranken verweisen. Solange wir keine
Zeit vertrödeln und mir der König sagt, daß wir da
weitermachen, wo wir aufgehört haben, kann mir egal sein, wer
das ist.«
Der Kriegsbotschafter verzog bei den Worten das Gesicht, es konnte
ein Lächeln sein. »Das sehe ich auch so«, sagte
er. »Wir hatten Glück mit unserem letzten König,
und es macht wenig Sinn, daß Vigilander ihn strafen
hätten sollen - er war um Doubladir besorgter als um alles
andere, und die Heilige Rache war ihm wichtiger als alles andere.
Sofern das jetzt so weitergeht…«
Rul begann zu husten, auf diese falsche Art, wenn man nur auf sich
aufmerksam machen will. »Wenn es nach meinem Halbbruder
ginge«, sagte er, und es klang, als könne Dannen keine
vorteilhaftere Bezeichnung von ihm erwarten, »würden wir
in Zukunft auf alle Kriege verzichten, und Doubladir wäre bald
nichts mehr als das Hinterland von Loringaril. Ich kann mir nicht
denken, daß das in Vigilanders Sinne wär.«
Varyn saß ganz ruhig, aber seine unterschwellige Angst wuchs
weiter. Diese Dinge, über die diese Männer hier
plauderten, konnten ihn unmöglich etwas angehen, und eine
Erklärung, warum man ihn trotzdem mithören ließ,
war, daß sie nicht vorhatten, ihn noch lange leben zu lassen,
damit er es ausplaudern konnte - vor Dannen, zum Beispiel. Rul
wußte von Varyn, dann wußte er auch, daß er
Dannen kannte. Oder wagten sie es einfach nicht, ihn mit dem
Schwert aus den Augen zu lassen? Das war eine tröstlichere
Vorstellung, aber nicht das, an was Varyn glaubte.
»Ihr macht Euch falsche Hoffnungen, Rul«, sagte
General Davor. »Das hier geht nicht um die Frage zwischen
Euch und Euren Brüdern. Es geht allein um diesen Jungen und
das Schwert. Die Soldaten sehen in ihm schon den nächsten
König - nicht in Euch, auch nicht in Fürst Dannen. Wir
haben hier eine Entscheidung zu treffen, von der nicht nur der
Ausgang des Kriegs abhängt, sondern auch das Schicksal
Doubladirs. Wenn wir ihm die Treue schwören -«
»Wir haben längst geschworen«, unterbrach ihn
Dernik. »Auf das Schwert haben wir geschworen, nicht auf den,
der es führt. Damit ist die Sache für mich
klar.«
Varyn schluckte. Dernik und Rul, vor denen mußte er sich
hüten, und nicht nur ein bißchen. Dernik würde
Varyn folgen, solange bis der das Schwert loslassen mußte,
zum Beispiel, weil seine kalte tote Hand am Griff erschlaffte. Und
Rul wollte das Schwert haben, am liebsten sofort, und es dann
vielleicht benutzen, um die restlichen Geschwister aus dem Weg zu
räumen. Den Kriegsbotschafter zählte Varyn auch lieber
auf dieser Seite. Das waren drei. Auf der anderen Seite die anderen
Generäle, auch drei, und völlig uneins - nicht gut, um
auf sie zu vertrauen, um sich sicher zu fühlen. Am besten
hielt sich Varyn an Korant, der als einziger wirklich an ihn zu
glauben schien… Aber wen er jetzt wirklich brauchte, war
Dannen. Und der Dämmervogel.
Die Diskussion ging hin und her
und führte zu nichts, als daß Varyn die Männer
besser kennenlernte. Draußen wurde es dunkel, nicht wegen des
Gewitters, sondern weil die Nacht kam, und das Gerede wurde lahmer
- die Schlacht ging nicht spurlos an ihnen vorbei, sie hatte zu
viel Kraft geraubt, selbst bei den Generälen, von denen man
meinen sollte, sie hatten viel zu tun, bis die Schlacht begann und
wenig danach. Varyn saß zwischen den Generälen, das
Schwert so fest umklammert, daß er seine rechte Hand kaum
noch spüren konnte. Sein Griff war fest, das wußte
Varyn, vielleicht fester als der von jedem anderen Mann am Tisch.
So lange hatte er die Hacke geführt, die nicht wegrutschen
durfte oder davonfliegen, wenn man nach hinten ausholte: Wenn Varyn
etwas festhielt, dann war das fest. Sie sprachen mehr über ihn
als mit ihm, aber gehen durfte Varyn deswegen trotzdem nicht.
Im Grunde ging es gerade gar nicht wirklich um ihn oder das
Schwert - es ging um Dannen, auch wenn der kaum jemals erwähnt
wurde. Immer wieder ging jemand zur Tür, meistens Rul,
manchmal Ansgar, redete mit den Leuten und kam dann
kopfschüttelnd zurück. Und sie wußten alle, ohne es
sagen zu müssen, daß sie zwar eine große Schlacht
hinter sich hatten, aber so groß auch wieder nicht, daß
ein Mann einen halben Tag gebraucht hätte, um von dort wieder
zum Heerlager zurückzufinden. Vor allem, wenn der Mann auf
einem Pferd saß. Und es war nicht nur Dannen, der noch nicht
wieder aufgetaucht worden war, auch als der Lärm von
draußen verriet, daß inzwischen der Großteil der
Männer wieder zurück war, zumindest der
überlebenden. Es fehlten auch Leota und ein weiterer Bruder,
von dem Varyn nicht viel mehr wußte, als daß er das
jüngste Kind des verstorbenen Königs war.
»Es hat keinen Sinn mehr«, sagte General Davor
irgendwann. »Die Boten haben ihn überall gesucht, und
selbst wenn es draußen nicht längst stockdunkel
wäre, sie werden ihn nicht mehr finden. Heute zumindest
nicht.«
Dann schwiegen sie alle einen Moment, und Varyn fühlte,
daß wieder alle Blicke auf ihm lagen. Daß ein einfacher
Junge plötzlich Vigilanders Schwert in der Hand hielt, das war
eine Sache. Aber daß der rechtmäßige Erbe wie vom
Erdboden verschluckt war, das war etwas anderes. Ihn am anderen Tag
suchen hieß, das Schlachtfeld abzuwandern, die Toten
umzudrehen, die mit dem Gesicht nach unten lagen, und sehen, ob der
verlorene Fürst dabei war. Tote Pferde zur Seite wälzen,
die ihren Reiter unter sich begraben hatten… keine
schöne Arbeit, und keine schöne Aussicht.
Varyn glaubte nicht, daß Dannen tot war. Er konnte es sich
nicht vorstellen, es machte so wenig Sinn. Aber wo war er dann?
Varyns Hoffnung, einfach Dannen das Schwert in die Hand zu
drücken und zu hoffen, dafür als Gast auf die
Krönung eingeladen zu werden, und dann seines Weges gehen und
nicht mehr mit alldem zu tun zu haben, war nichts als ein
Wunschtraum, von Anfang an zum Scheitern verdammt.
»Es ist Zeit, daß wir uns zu Bett begeben«,
sagte der Kriegsbotschafter und machte ein paar Schritte
rückwärts, damit die Männer ihre Stühle
zurück schieben konnten. Er hatte wirklich die ganze Zeit
über gestanden, man konnte sich nicht vorstellen, daß er
so etwas wie Knie besaß, ab und an zur Tür und wieder
zurück - aber er war kein Mann der großen Worte, als
Botschafter war es seine Aufgabe, mit Vertretern der Feinde zu
verhandeln, und da mußte er sich mit der Freundesseite
vielleicht gar nicht groß abgeben.
»Zu Bett gehen«, sagte Davor und seufzte. »Ich
wünschte, wir hätten heute schon zu einem Ergebnis kommen
können, aber wenn Fürst Dannen verschwunden
ist…« Er sprach nicht weiter. Er mußte es
nicht.
Varyn blieb sitzen, unsicher, wie es jetzt für ihn
weitergehen sollte. Daß er nicht das Schwert nehmen und damit
zu seinem Zelt zurückkehren würde, das war klar. Er
fragte sich, was in der Zwischenzeit aus Gaven geworden sein
mochte, und er hoffte halb, daß der schon halb auf dem Weg
nach Doubladir war, aber wenn er noch in der Nähe war,
mußte man ihn zumindest aus dem Dorf gelassen haben…
Varyn machte sich Sorgen. Als er Gaven vor die Tür scheuchte,
hatte er nicht damit gerechnet, daß es danach dermaßen
lang dauern würde -
Er schreckte hoch, als plötzlich eine Hand auf seiner
Schulter lag, und hätte fast das Schwert mit hochgerissen und
es dem General Korant in den Leib gestoßen. »Komm mit,
Varyn«, sagte der General. »Für heute Nacht sollst
du hier im Haus schlafen, ich zeige dir, wo du einen Platz
findest.«
Varyn nickte und stand schnell auf. Wenn er es schaffte, mit dem
General ein paar Worte unter vier Augen auszutauschen. »Ich
will hier nur weg«, flüsterte er, als er hinter dem
anderen Mann die Stufen zum oberen Stockwerk hochstieg.
»Macht mich nicht zum König, bitte!«
Korant lachte, oder grunzte, es war ein kurzes Geräusch, das
Zustimmung oder Ablehnung bedeuten konnte. Vielleicht wunderte er
sich, warum Varyn das Schwert dann nicht einfach losließ,
daß Rul es haben konnte oder sonstwer - wieso machte er sich
solche Sorgen um seine Leben, wenn er es auch viel einfacher
hätte haben können? »Ich war immer für
Dannen«, sagte der General leise. »Aber wenn der
verschwunden ist, sieht es anders aus. Ich kann nicht ewig
zweifeln. Aber bevor ich eine Nacht drüber geschlafen habe,
wirst du nichts von mir hören, was eine Entscheidung sein
könnte.«
Varyn nickte nur und hielt das Schwert weiter fest. Er
wußte, warum er nicht einfach so gehen konnte, warum er das
durchziehen mußte und schlimmstenfalls erdulden, was immer
sie auch mit ihm machen würden. Er hatte es versprochen. Nicht
für ihn selbst, sondern für Noran… Und als er dann
rücklingst in einem Bett lag, in einer kleinen Kammer, die vor
nicht langer Zeit einem Loringarim gehört hatte und danach
einem Mitglied der königlichen Familie, Varyn wußte
nicht wem und wollte es auch nicht wissen, versuchte er sich mit
dem Gedanken anzufreunden, am Ende doch noch König zu werden
-
Es ging nicht. Er konnte es sich nicht vorstellen. Es war viel zu
weit von seinem richtigen Leben entfernt. Kleine Dinge konnte Varyn
sich vorstellen. Große nicht. Und wenn ihm das Schicksal
keine Bilder in den Kopf schickte, dann waren auch keine da. Von
sich aus war Varyn nicht viel mehr als ein stumpfer
Einfaltspinsel.
Und so lag Varyn dann in seinem Bett so schlecht wie seit langer
Zeit nicht mehr - nicht daheim im Tal, mit schlechten Träumen
und einem Laken, in dem noch schwarzer Kohlenstaub knirschte, nicht
auf der kalten Pritsche in der Zelle hatte er schlechter gelegen.
Es lag nicht an dem Bett, das sicher dem harten Lager im
Einheitszelt weit überlegen war, sondern der Tatsache,
daß Varyn das Schwert mit ins Bett genommen hatte, ein
Schwert, für das er keine Scheide und keinen Schutz
besaß, und abgesehen davon, daß man sich nur allzu
leicht daran verletzen konnte, war es immer noch das Schwert des
Elomaran Vigilander, und wie sollte der es finden, daß da ein
Junge einfach sein heiliges Schwert mit ins Bett nahm? Da half es
auch nicht, daß Varyn bis auf die Schuhe alle Kleider
anließ - es fühlte sich falsch an, und er fand keine
Ruhe. Und das war fatal.
Varyn brauchte Schlaf, dringender als alles andere. Nicht, weil er
übermüdet war - natürlich, auch deswegen - sondern
weil er den Dämmervogel sehen mußte. Was sollte der
andere Tag bringen? Wie sollte Varyn sich verhalten? Er war so
unsicher - der Weg, den er einschlagen mußte, lag ihm so
wenig, daß, wenn ihm nicht der Dämmervogel sagte,
daß sie genau das von ihm erwartete, Varyn ausbrechen und
seines Weges gehen würde. Er wollte nicht Dannen hintergehen
müssen, und noch weniger wollte er sich zum König
ausrufen lassen, am liebsten hätte er das Schwert genommen und
es gegen die Männer erhoben, die da hinter dem Rücken
ihres rechtmäßigen Königs sein Land verplanten.
Aber wenn der Dämmervogel ihn zwang… Doch sie kam
nicht, sie kam nie, wenn er wach war. Wenn er sie nicht gerade in
Sharaz aufsuchte, war er auf Träume angewiesen, um sie zu
treffen, und selbst dann kam sie nur, wenn ihr danach war - aber
diese Situation war besonders, es war viel geschehen, was entweder
im Sinne des Schicksals war oder nicht, und er mußte sie
einfach sehen. Wenn nicht in seinen Träumen, wo dann
sonst?
Doch hier lag er, und die Träume waren ihm ferner als alles
andere auf der Welt. Er fühlte das Schwert neben sich wie eine
tödliche Geliebte, bereit, ihn in Stücke zu schneiden,
wenn er im Schlaf nur eine falsche Bewegung machte, aber es war
nicht das Schwert, das er fürchtete, nicht das Schwert, das
ihm jeden Gedanken an Schlaf raubte. Es war das Wissen, mit welchen
Männern er das Haus teilte. Und er wußte, keiner von
denen hatte auch nur die allergeringsten Skrupel. Am allerwenigsten
der königliche Bastard.
Dannen sagte manchmal, daß er Varyn zu fürchten
hätte, doch sie fürchteten einander nicht. Auch wenn
Varyn jetzt wußte, wie Recht Dannen mit diesen Worten hatte -
keine Furcht. Aber Rul… Wenn er sich an den schlafenden
Varyn heran schlich, mußte er ihm nur das Schwert aus der
Hand nehmen - oder sich noch weniger Arbeit machen und Varyn gleich
den Kopf abschlagen. Oder ihn erdolchen. Oder ihn auf irgend eine
andere Art umbringen, um das Zeichen seiner Vorväter an sich
zu nehmen. Varyn war nicht sicher - nicht in dieser Nacht, nicht in
diesem Bett, und wenn sich nichts änderte, nicht in seinem
Leben.
Varyn fror unter seiner Wolldecke. Daß sie auch noch seltsam
roch, nach dem Mann, der bis zur letzten Nacht darin geschlafen
hatte, daran wollte er gar nicht denken, er brauchte nichts, was
ihn jetzt noch vom Schlafen oder Wachen abgelenkt hätte. Er
saß, oder lag, in der Falle. In dieser Nacht mußte
Varyn träumen, aber er durfte nicht schlafen. Er konnte sich
noch nicht einmal erlauben, zu dösen oder im Wachen zu
träumen - nichts, was ihn irgendwie unaufmerksam machte. Sein
Leben war in Gefahr - die ganze Schlacht über hatte er da
gestanden mit seinem Speer und dem Schild, der ihm kaum Schutz bot,
und daß dieser gegnerische Reiter ihn nicht umgebracht hatte,
verdankte er einem glücklichen Zufall und der Geistesgegenwart
des Mannes hinter ihm. Aber die ganze Zeit über hatte er keine
Angst gehabt, erst recht nicht um sein Leben - und nun lag er im
Bett und konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken als
daran, daß da ein Mann war, der ihn vielleicht umbringen
wollte. Der König hätte ihn all die Zeit über
umbringen können, als Varyn im Kerker saß, ihn
hinrichten, weil er Desertiert war, und hatte es nicht getan - nur,
damit er selbst starb und sein Bastard Mordpläne gegen Varyn
ausheckte…
Die Angst wuchs und war zugleich völlig sinnlos. Es war still
im Haus. Keine Schritte knarzten auf dem Flur, niemand lauerte vor
der Tür, Varyn mußte nichts fürchten als seine
eigene Furcht, seine eigene Einbildung. Niemand hatte ihn bedroht,
es war nichts geschehen außer grimmigen Blicken, und die
konnte jeder werfen und jeder empfangen. Wenn Rul Dannens Bruder
war, und sei es nur ein Halbbruder, mußten sie doch irgendwas
gemein haben, und dann würde Rul ihn nicht einfach
umbringen… Aber Gaven und Edrik waren Brüder, ganz und
gar, und doch so unterschiedlich, nicht nur, weil einer von beiden
jetzt tot war und der andere noch lebte. Brüder waren kein
Garant für irgendwas. Daß Dannen Ruls Bruder war,
verhinderte vielleicht, daß der auf die Idee gekommen war,
ihn umzubringen und alle anderen, die zwischen ihm und der Krone
standen, aber mit Varyn war er nicht verwandt, und dann gab es
nichts, um ihn abzuhalten…
Varyn wälzte sich auf die andere Seite, kein leichtes
Unterfangen mit einem beinlangen Schwert im Bett. Er hörte es
ratschen, als die Spitze sich im Bettlaken verfing und ein Dreieck
hineinriß, aber das war seine geringste Sorge - was war schon
eine Handvoll Stroh und Spelzen im Bett gegen eine Nacht, in der er
nicht schlafen durfte und nicht wachen? Er wollte aufstehen, sich
davon stehlen, mit dem Schwert, wenn es sein mußte, aber er
kam zwar aus dem Zimmer und die Treppen hinunter, doch da endete es
dann, um das Haus standen Wachen, offiziell zwar um zu verhindern,
daß sich nachts ein Loringarim heran schlich, den König
oder sonstwen ermordete und das Schwert stahl, aber in
Wirklichkeit, um zu verhindern, daß Varyn abhauen konnte. Das
einzig gute am Herumschleichen war, daß es ihn wach machte,
daß er dabei besser denken konnte, als wenn er in seinem Bett
lag wie die Wurst auf dem Teller und darauf wartete, daß man
ihn umbrachte. Hin und her durch das dunkle Haus, das Schwert in
der Hand, die schon nichts anderes mehr kannte, daß er sich
schon fast einarmig fühlte für den Rest seines Lebens.
Irgendwann würde er sich von diesem Schwert trennen
müssen. Er sehnte den Tag herbei. Es war der Tag, an dem alles
ein Ende hatte.
Irgendwann näherte sich der Morgen, und er nahm die
Dunkelheit mit sich und ersetzte sie durch lange Schatten, die
lebten und andeuteten und mehr verbargen, als es die Schwärze
der Nacht vermocht hatte, die Zeit der Dämmerung, die Zeit des
Dämmervogels, und Unruhe griff nach Varyn, die er nicht mehr
bekämpfen konnte. Er war völlig übermüdet -
auch wenn er daran gewohnt war, nicht viel zu schlafen und manchmal
gar nicht, hatte der vergangene Tag ihn doch mehr mitgenommen, als
er sich selbst eingestehen wollte. Schlafen, nur schlafen, sonst
nichts, es konnte doch nichts passieren, wenn er eine Stunde
schlief oder zwei, sonst war er am nächsten Morgen zerschlagen
und unaufmerksam und nicht mehr in der Lage, irgend einem Angriff
irgend etwas entgegenzusetzen, was half das beste aller Schwerter,
wenn er es nicht mal mehr heben konnte? Wenn er sich unten in dem
großen Raum hinhockte, wo sich niemand unbemerkt an ihn
anschleichen konnte, wo die Treppe jeden, der sich von oben
näherte, mit lautem Knarzen verriet?
Aber als er es versuchte, als er sich zum Schlafen auf einen der
Stühle setzte, bekam er kein Auge zu. In seinem Kopf waren
Feinde und Mörder, hinter seiner Stirn Blitze, heller als der,
der den König getötet hatte, und in seinen Ohren ein
Brausen - alles war da, das wach machte, außer Erholung und
dem Gefühl, wach zu sein. Gefangen zwischen Schlaf und Wachen
in seinen eigenen Gedanken wartete Varyn auf das Ende der Nacht und
darauf, daß der Dämmervogel doch noch zu ihm kommen
mochte.
Das eine trat ein. Das andere nichts. Und dann war es wieder
Tag.
Am anderen Morgen war Varyn
müde und zerschlagen. Sein Rücken schmerzte, der rechte
Arm tat weh von der Hand bis in die Schulter, dem linken ging es
nur wenig besser. Er zitterte, als er versuchte, auch nur einen
Schluck Wasser zu trinken, und spritzte mehr davon in sein Gesicht
als in seinen Mund - aber es war zu wenig, um ihn wach zu machen.
Varyn hockte am Tisch, froh zu sitzen, denn er war nicht sicher, ob
er noch stehen konnte, und wartete auf die anderen Männer und
die Entscheidung, die sie in der Nacht vielleicht getroffen hatten.
Sein Kopf schmerzte und hämmerte, wenn er die ganze Nacht
durch gesoffen hätte, wär es ihm kaum schlechter
gegangen…
Varyn barg sein Gesicht in der Hand und versuchte, nicht daran zu
denken. Dieses Haus war einmal ein Wirtshaus, bevor seine alten
Bewohner vertrieben wurden und der König einzog. Und trotz
allem, was man über Vigilanders Kinder sagen mochte und den
Durst der Generäle von Doubladir, sie hatten bestimmt nicht
alles ausgetrunken, was es in diesem Haus an Alkohol gab, und wenn
er sich auf die Suche machte, würde er in jedem Fall Erfolg
haben… Er schüttelte den Kopf und wünschte sich,
er hätte in der Nacht doch den einen oder anderen Mörder
abwehren können, um sich jetzt stark zu fühlen gegen den
eigentlichen Feind, der tief in seinem Inneren lauerte.
Als der erste von den Männern zu ihm stieß, war Varyn
fast froh und erleichtert. Ablenkung, das brauchte er jetzt. Er
blickte nicht auf, es war ihm egal, wer das nun war - Hauptsache,
Varyn war nicht mehr allein mit sich. Selbst wenn es Rul war - dann
konnte er den schlimmen Verdacht vielleicht endlich aus der Welt
schaffen.
Aber es war nicht Rul, und auch keiner der Generäle. Es war
der Kriegsbotschafter.
»Schon auf, oder noch?« fragte er, und vielleicht
klang seine Stimme sogar ein kleines bißchen mitleidig, Varyn
konnte das nicht mehr beurteilen, geschweige denn etwas sinnvolles
antworten.
»Du bist doch ein schlauer Junge, Varyn«, sagte
Ansgar. »Der König hat geahnt, daß etwas passieren
würde, vor allem, nachdem sein ältester gestorben war.
Sein Zweiter, das wissen wir alle, das hat auch er gewußt,
hat nicht das Zeug, ihm nachzufolgen. Der König hat geahnt,
daß Vigilander eingreifen würde, und daß es mit
dir zu tun hat. Wir haben darüber gesprochen, ob es klug war,
dich am Leben zu lassen und in Freiheit, noch dazu direkt in seiner
Nähe, aber er wollte es so, und er wußte, was er tat.
Wollte dich direkt im Blick halten können. Dich zu töten
hätte bedeuten können, Vigilander noch weiter zu
erzürnen - man bringt nicht den Auserwählten seines
eigenen Engels um, selbst wenn es den Untergang des eigenen Hauses
bedeutet. Doubladir geht vor, Doubladir ist wichtiger als Blut und
Häuser - und das ist es, worum es uns allen geht. Der
König ist tot, er kann nichts mehr entscheiden. Also stell
dich jetzt nicht dümmer, als du bist. Von mir aus führ
die Generäle an der Nase herum, aber mich kannst du nicht
täuschen, dafür habe ich schon zu viel
gesehen.«
Varyn biß sich auf seine Unterlippe. Er hatte es in der
Hand, mußte den Kriegsbotschafter nur anstrahlen und sagen
»Ja, es ist wahr, Vigilander hat mich gesandt«, aber es
wäre eine Lüge gewesen. Was immer Vigilander mit der
Sache zu tun hatte, und Varyn war sich sicher, daß er
irgendwie mit drin hing, Varyn konnte nichts erzählen, ohne
Sharazander zu erwähnen. Und ein Engel, dessen Name niemand
kannte außer ihm selbst, würde die Dinge nicht gerade
erleichtern. Es gefiel ihm auch nicht, wie alle Seiten auf Dannen
herumhackten und jetzt selbst der Kriegsbotschafter, den Varyn
gestern noch mit Rul in einen Topf geworfen hatte, offenbar sein
eigenes Süppchen kochte und bereit war, sein Fähnchen in
den Wind zu hängen… »Worum geht es Euch?«
fragte er. »Wirklich nur um Doubladir?« Und das war der
Moment, in dem er begriff, warum er nicht zum König taugte.
Alle sprachen nur von Doubladir, das Land hier, das Land da - aber
es war Varyn egal. Seine Heimat war das Tal, das Dorf. Er konnte
einen Schritt weitergehen und sagen, dann liebte er auch Doubladir.
Aber dann konnte er ebensogut den einen Schritt weiter machen und
die ganze Welt lieben, und das war ein viel kleinerer Schritt als
der vom Tal zum Land.
»Es geht mir darum, diesen Krieg zu einem Abschluß zu
bringen«, sagte Ansgar unverblümt. »Wir haben hier
zwei Länder ohne König. Das Land, das zuerst wieder auf
die Beine kommt, hat die besseren Karten. Und wir haben hier alles.
Wir haben einen Plan, er ist ausgereift und stammt von
Männern, die sich wirklich auskennen mit dem, was sie machen.
Niemand verlangt von dir, daß du jetzt entscheidest, wie es
weiterzugehen hat. Niemand verlangt von dir, daß du jetzt auf
einen Schlag verstehst, wie ein Krieg funktioniert und wie man ein
Land vom Chaos zur Ordnung bringt. Alles, was du zu tun hast, ist,
den Generälen die Gelegenheit zu geben, diesen Plan in die Tat
umzusetzen. Sie brauchen keine großen Diskussionen. Alles,
was sie brauchen, ist ein Nicken von dem Mann, der das Schwert des
Königs hält. Es kann ihnen egal sein, ob du das bist oder
Fürst Dannen oder sonst jemandd, verzeih mir die
unverblümten Worte, ich will dich nicht schlechtmachen. Aber
du bist hier, Fürst Dannen nicht, und die Verantwortung hast
du, ob du willst oder nicht. Wenn du dich jetzt zierst, wenn du
zögerst oder weiter erklärst, nichts zu sagen zu haben
und nichts mit dem Schwert zu schaffen, weißt du, in was
für eine Gefahr du Doubladir dann bringst?«
Varyn schüttelte den Kopf, wie es von ihm erwartet wurde,
aber er fühlte sich seltsam gleichgültig.
»Du hast die Generäle jetzt schon einen halben Tag
hingehalten. Statt Nägel mit Köpfen zu machen und einmal
auf den Tisch zu hauen, läßt du zu, daß sie sich
völlig zerstreiten, daß sie plötzlich ganz andere
Sorgen haben, als wie dieser Krieg am schnellsten zu beenden ist.
Und während dieser Zeit kann Loringaril sich bekrabbeln, zum
zweiten Schlag ausholen, und eine zweite Schlacht wie diese
würden sie am Ende noch gewinnen, und viele Doubladai
würden ihre Leben lassen. Und nicht irgendwer, sondern die
Männer aus deiner Truppe, deine Freunde, dein kleiner Bruder
-«
Varyn zuckte zusammen, als die Rede auf Gaven kam, und die Sorgen
um ihn waren zehnmal schlimmer als die um Doubladir oder sonstwen.
»Das will ich nicht!« platzte es aus ihm heraus, ohne
daß er wußte, ob der Mann recht hatte oder ihm nur
Angst einjagen wollte. Für Ansgar galt das gleiche wie
für die Schwestern, sie wußten, an welcher Stelle Varyn
am Verwundbarsten war.
»Der König von Loringaril, der gestern gestorben
ist«, redete der Mann weiter, »war nur eine Puppe ohne
Verstand. Ihm wird bald einer nachfolgen, der ihm von Aussehen und
Geist identisch ist, und selbst wenn nicht, der Kopf dieses Landes
sind die königlichen Berater, und egal wie viele Könige
man erschlagen mag, es wird sich nichts ändern, es wird dieses
Land nicht einmal schwächen, wenn wir jetzt nicht eingreifen
und das Übel bei der Wurzel packen. Doubladir hat keine
solchen Berater, es hat sie nicht nötig« - und trotz
diesen Worten klang es für Varyn, als ob Ansgar genau das war,
der Berater hinter dem König, der sich die Handschuhe nicht
schmutzig machte und selbst entschied, wo es lang ging - »und
darum braucht es jetzt einen, der die Dinge anpackt. Das bist
du.«
»Oder Rul«, sagte Varyn. Nicht weil er das wollte,
nicht weil er das glaubte, sondern nur, um zu sehen, wie Ansgar
darauf reagieren würde. Aber der lachte nur.
»Rul ist ein Bastard. Guter Kämpfer, guter Stratege,
von seinen Brüdern der fähigste, keinen Zweifel. Aber
eben nur ein Bastard. Niemand würde ihn als König
akzeptieren. Er glaubt, er hat eine Chance gegen dich, wie er sie
gegen seine Brüder nie hatte. Aber niemand würde vor ihm
niederknien, wie sie es vor dir gemacht haben. Vergiß Rul. Es
ist kein anderer da als du.«
»Und was… was soll ich jetzt tun?« fragte
Varyn. Den Dämmervogel hatte er nicht getroffen, und das
hieß, sie wollte, daß es so ging, wie es ging, kein
Grund für sie, einzugreifen. Varyn mußte alles, was
Ansgar sagte, für bare Münze nehmen, ob er wollte oder
nicht.
»Sag den Generälen, daß du bereit bist, das
Schwert zu führen. Zumindest so lange, bis Dannen gefunden und
die Lage geklärt ist. Und sag ihnen, sie sollen ihren Plan
genau so ausführen, wie sie es mit dem alten König
besprochen hatten. Das ist alles.«
Alles war nur ein Nicken. Alles war sehr viel. Aber Varyn hatte
keine Wahl, egal wie er die Dinge drehte und wendete, ihm fiel
nichts besseres ein. Ansgar hatte Recht, Varyn verstand zu wenig
vom Krieg, wußte zu wenig über die Hintergründe, um
jetzt eine neue Richtung vorzugeben. Und wenn er das Schwert abgab,
dann hatte er auch keinen Einfluß darauf, wie der Krieg
weiterging. Der Krieg gehörte den Generälen, vielleicht
auch noch Ansgar, aber nicht Varyn. Und wenn es so oder so egal war
- dann konnten sie auch ihr Nicken bekommen. Nur für ihren
Plan. Der Rest war offen. König mochte immer noch ein anderer
werden…
Aber den sechs Brieftauben, die an diesem Morgen über dem
Heerlager aufstiegen, konnte diese Frage egal sein. Sie trugen
einen Plan mit sich, den Varyn nicht kennen wollte, um nicht doch
nach anderen Lösungen suchen zu müssen. Sechs graue
Tauben - und Varyn hoffte, daß sie den Frieden trugen.
Er hätte es besser wissen müssen.
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