Achtes Kapitel

Seine Majestät ritt nach Lomar, führte nach der Schlacht am Aleruan sein Heer und seine Generäle in die Hauptstadt des geschlagenen Feindes, um das Ende des Krieges mit einem triumphalen Sieg zu beschließen… So sehr hätte sich Gaven gewünscht, einmal an diesem Moment teilhaben zu dürfen, zu jubeln, mit dem König zu reiten, nicht irgendwo im Fußvolk zu versauern, sondern ganz an der Spitze zu sein wie ein großer Held - aber nicht um diesen Preis. Nicht, wenn diese Majestät Varyn war.
Wenn sie Varyn früher König nannten, den König des Tales, dann war das Teils Ehrfurcht, Teils Witz, und Teils Hohn. Aber es war anderes, ob sich ein Rudel Kinder vor einem Jungen verneigte und sich hinter seinem Rücken wieder über ihn lustig machte, oder ein Haufen ausgewachsener Männer. Im Tal hatte Varyn in dieser Rolle einfach mehr überzeugt. Er lächelte seine Untertanen an und kam nicht auf die Idee, sich zu entschuldigen dafür, daß er war, wie er war - er akzeptierte, daß er einfach der Großartigste war, den es gab weit und breit. Man mußte ihn dafür nicht lieben, durfte eifersüchtig sein oder verächtlich, aber er war einfach glaubwürdig, und er war einfach Varyn.
Und jetzt? Nichts davon. Varyn verhielt sich gegenüber Gaven, als wäre ihm der ganze Trubel peinlich, und bei allen Engeln, das sollte es ihm auch sein - aber früher hatte er nie ein Problem damit gehabt, sich gegen Erwachsene durchzusetzen, sich zu wehren, wenn ihm etwas nicht paßte: Das war doch einer der Gründe, warum seinerzeit überhaupt erst alle Dorfkinder zu ihm aufblicken, weil er sich nichts gefallen ließ. Aber jetzt? Ließ er alles über sich ergehen, selbst wenn es bedeutete, daß ausgewachsene Kerle vor ihm auf die Knie gingen. Sie wollten ein Dankeschön hören oder ein huldvolles Lächeln sehen oder was auch immer man von einem König sonst noch so erwarten konnte, aber Varyn blickte sie nicht einmal an, nur zu Boden oder zum Horizont oder sonstwo hin - dachte er, daß sie dann schneller den Spaß daran verloren, als wenn er einmal auf den Putz haute und ihnen sagte, sie sollten sich gefälligst benehmen wie Männer? Aber er benahm sich ja selbst nicht wie einer…
Gaven verfluchte Dannen, der sich einfach aus dem Staub gemacht hatte und ihn und Varyn jetzt in der Scheiße sitzen ließ. Der dachte wohl, er wär jetzt fein aus der Sache raus, hat einen Dummen gefunden, mit dem sie jetzt alles machen konnten, was sie wollten, Hauptsache, die Generäle wußten, wo es lang ging - wirklich, wenn Gaven dem Königssohn das nächste Mal gegenüberstand, dann würde er dem aber sowas eines husten, daß dem Hören und Sehen noch vergehen sollte. Und das gleiche galt für den Hauptmann. Gaven hatte ja wirklich viel vom Hauptmann gehalten und auch einigermaßen viel von Dannen, aber jetzt wußte er es besser. Man durfte sich eben auf niemanden verlassen.
Und so ritt er nun, das war noch das einzig Gute an der Sache, daß sie ihn ein eigenes Pferd haben ließen, ein schwacher Trost, nach Lomar. Wenn sie gewußt hätten, daß in Wirklichkeit Gaven derjenige mit dem Schwert war - dann sähe die Sache jetzt ganz anders aus. Gaven hätte einfach alle Leute nach Hause geschickt und die Generäle als allererstes. Vom Krieg hatten sie alle erstmal genug gesehen, und einen König brauchte auch kein Schwein - aber zuhause, da wo die Familien warteten, da wurden die Männer wirklich gebraucht. Wenn Gaven das Sagen gehabt hätte, dann hatte es sich ausgekönigt. Aber Varyn? Ließ alles mit sich machen wie ein totes Schwein.
Aber Gelegenheit darüber zu reden, oder über irgend etwas anderes, hatten sie kaum. Gaven konnte froh sein, daß und wenn Varyn ihn überhaupt in seine Nähe ließ - was weniger an Varyn scheiterte als mehr an seinen neuen Freunden, den Generälen, aber das hatte Gaven ja schnell kapiert. Die wollten ihn nicht an Varyn heranlassen, und Gaven dachte immer noch mit Wut und Schrecken zurück an die Nacht, die er im Heerlager vor dem Generalshaus verbracht hatte, ohne zu wissen, was passieren sollte und ob Varyn jemals wieder lebendig rauskommen sollte, das war die schlimmste Nacht, seit Gaven erfahren hatte, daß seine ganze Familie tot war, plötzlich war niemand mehr übrig als er… Wenigstens durfte er jetzt wieder an Varyn heran. Aber reden? Das konnte er vergessen.
Gaven versuchte, nicht daran zu denken und sich doch irgendwie von der Stimmung anstecken zu lassen - nicht Varyns Stimmung, natürlich, der machte nicht das Gefühl, als ob ihm noch irgend etwas im Leben Spaß machte, sondern von der Stimmung der Truppe. Gab es etwas besseres, als triumphierend auf die Hauptstadt des besiegten Feindes zuzureiten? Seine Mauern niederzureißen, seine Burg zu stürmen und am Ende die eigene Fahne über seinen Zinnen zu hissen? Aber um wirklich mit den anderen johlen und singen zu können, hätte Gaven bei den Männern sein müssen, wo bis vor wenigen Tagen noch sein Platz gewesen war, nicht vorne an der Spitze. Die Generäle sangen nicht. Für sie schien das alles, der ganze Sieg, nichts besonderes zu sein. Natürlich, sie hatten das alles geplant, aber sie konnten sich doch zumindest freuen, wenn alles so geklappt hatte, wie sie es sich gedacht hatten? Gaven hatte kein Interesse, sich jetzt in einen General hineinzudenken - die Zeiten, als das eine großartige Vorstellung gewesen wäre, General Gaven, lagen lang zurück. Aber natürlich hatten sie recht. Sie konnten nicht wissen, was sie in der Stadt erwarten sollte, vielleicht ein großer Hinterhalt, irgendwohin mußte die Armee von Loringaril ja auch verschwunden sein… Aber darüber sollten sich die Generäle einen Kopf machen, nicht Gaven. Und auch nicht Varyn.

Lomar war eine verdammt große Stadt, soviel stand fest. Man sah sie vor sich liegen, lange ehe man sie erreichte, sie war auf einen Hügel gebaut, vom denen Loringaril ja deutlich weniger zu bieten hatte als Doubladir, und wie sie sich da erhob mit ihren weißen Mauern, sah sie schon sehr eindrucksvoll aus und sehr… weiß. Das war nichts, was man sich einfach so vorstellen konnte, eine Stadt mit schneeweißen Mauern. Wurden die gar nicht dreckig? Eine graue Stadt, das ging noch, aber eine weiße? Wenn man aus einer Gegend kam, in der alles schwarz war von Kohle, dann war das wirklich etwas sehr bemerkenswertes. Und groß war die Stadt! Gaven versuchte, sich die Frage zu beantworten, ob Lomar nun größer war als Car Diuree, aber da mußte er sich eingestehen, daß er von seiner eigenen Hauptstadt nicht wirklich viel mitbekommen hatte. Er erinnerte sich an die Burg und noch etwas lebhafter an die Kerker darunter, aber die Stadt selbst - ja, die war größer als jede andere, die Gaven jemals gesehen hatte, aber das wollte nichts heißen, es war ja auch seine erste Stadt. Aber jetzt entscheiden zu müssen, welche unglaublich große Stadt größer war als die andere, das ging nicht. In dem Moment war Lomar einfach die größte Stadt der Welt, auch wenn sie so einen lächerlich kurzen und nichtssagenden Namen hatte. Doch wenn es danach ging, war der größte Name Elad Courblaka, und die Engel wußten, was für ein sinnlos kleines Dorf sich dahinter doch verbarg!
Gaven hätte gern Varyn auf die Stadt angesprochen, einfach um zu erfahren, was sein Bruder davon hielt und was er fand, welches die größere Stadt war - das war eine unverfängliche Frage, die sollte Varyn doch noch beantworten können, ohne daß seine Generäle ihn gleich wieder mundtot machen! Aber es half nichts, er kam nicht an ihn ran. Um wirklich Worte mit Varyn wechseln zu können, mußte Gaven wieder warten, bis sie am Ziel angekommen waren, und dann versuchen, sich irgendwie an Varyn anzupirschen - und dann waren sie längst in der Stadt angekommen, und für solche Fragen war es zu spät. Gaven biß sich auf die Zunge und fühlte sich sehr klein und einsam. Er wollte das alles hinter sich haben, den ganzen Krieg und alles, und dann Varyn nehmen und irgendwo hingehen, wo niemand ihnen dazwischenquatschte und das Schicksal sie nicht finden konnte. Die Schwestern waren doch an allem Schuld, und merkten noch nicht einmal, daß sie Varyn kreuzunglücklich machten damit!
Und dann, endlich, waren sie an der Stadt angekommen. Genauer gesagt: An der Stadtmauer. Sie war um die ganze Stadt gezogen, natürlich, alles andere hätte auch keinen Sinn ergeben, und war mit einem großen Tor verschlossen. Aber man durfte auch nicht damit rechnen, wenn man ankam als Sieger in einem Krieg, daß der unterlegene Gegner schon auf einen wartete und alle Türen und Tore sperrangelweit offen hielt, damit man auch möglichst einfach die letzte Burg einnehmen konnte. Und diese Burg, die man schon von unten gut sehen konnte, lag oben auf dem Hügel, und bis dahin war es noch ein ganzes Stück. Da, wo das Stadttor lag, hatte der Hügel noch nicht einmal angefangen. Wie groß auch immer Car Diuree sein mochte, dieses Lomar machte sich wirklich verdammt breit.
Aber immerhin, man hatte schon auf sie gewartet. Nicht mit der ganzen Armee, diese Sorge war unbegründet, aber ein kleines Grüppchen Männer löste sich aus dem Schatten des Tores und schritt auf die Reiter zu. Sie trugen lange, dunkle Gewänder, in denen sie ebenso wichtig wie lächerlich aussahen, und auch so etwas wie eine Flagge trugen sie. Oder ein Bettlaken an einer Stange, einfach nur ein weißes Tuch, nicht besonders eindrucksvoll. Gaven hatte während des Krieges oft genug die Farben Loringarils gesehen, hellblau und gold, aber immerhin war hier auch der König gestorben, und vielleicht gehörte es sich so, eine leere Flagge zu benutzen, bis man einen neuen hatte.
»Halt!« rief einer von Varyns Generälen, und der Ruf wurde nach hinten weitergetragen zu all den Fußsoldaten, bis auch der letzte der Männer zu stehen gekommen war. »Sie haben einen Unterhändler geschickt!«
Während um ihn herum alle Pferde stillstanden, versuchte Gaven die Gelegenheit zu nutzen, weiter nach vorne zu kommen, näher an Varyn heran und auch näher an die Männer mit der weißen Fahne. Wenn er schon nichts zu sagen hatte, wollte er wenigstens etwas sehen können. Und er war stolz, daß sein Pferd ihm tatsächlich gehorchte - das war nicht immer so, manchmal machte es, was es wollte, graste am Wegrand oder rührte sich nicht, sofern sich die anderen Pferde nicht auch vorwärts bewegten, aber der Hauptmann hatte es ja schon gesagt, Gaven hatte ein Händchen für Pferde. Und dieses hatte er sich inzwischen auch ganz gut gezähmt.
»In Lorimanders Namen!« rief der Mann mit der Fahne. »Haltet an! Wir wollen verhandeln! Laßt die Waffen ruhen!« Als er näher kam, sah er noch wichtiger aus, dieses lange Gewand erinnerte nur von weitem an ein Nachthemd, aber es war bestickt mit Mustern aus Gold - kein Mitglied der königlichen Familie, vermutete Gaven, aber doch vielleicht sowas wie der Bürgermeister der Stadt. Und wäre das nicht die Gelegenheit gewesen, ihm den Kopf abzuschlagen und den beiden anderen auch, die Schlüssel von Lomar an sich zu nehmen und glücklich das ganze Erobern hinter sich gebracht zu haben? Aber so eifrig die Doubladai bis zur großen Schlacht auch gewesen waren, Loringarim zu töten, diese drei durften sich tatsächlich unbehelligt nähern. »Wir suchen das Gespräch mit Varyn von Doubladir!«
Varyn von Doubladir, war es wirklich schon so weit gekommen? Und woher kannten die hier überhaupt Varyns Namen? Gaven sah, wie Varyn bei den Worten zusammenzuckte und konnte es ihm nicht verdenken, wenn die jetzt schon in Loringaril so taten, als wäre Varyn der König, dann würde es wirklich schwer werden, da wieder rauszukommen, und sei es nur mit einem blauen Auge.
»Ihr müßt jetzt antworten«, sagte einer der Männer, die um Varyn herumschwirrten wie die Fliegen um die Scheiße, immer bereit, sich zu verbeugen, solange Varyn am Ende alles so machte, wie sie es ihm sagten. »Aber seid vorsichtig!«
Varyns Kopf fuhr herum, und einen Augenblick lang war ein zorniges Funkeln in seinem Blick, daß an den Varyn von früher erinnerte. »Haltet Euren Mund!« stieß er hervor. »Ich bin kein Kleinkind, und reden kann ich selbst, denken auch.« Laut antwortete er: »Ich bin Varyn. Wer seid Ihr?«
Die drei Männer kamen noch näher, trugen ihre Fahne wie einen Schild vor sich her, als ob sie das irgendwie beschützt hätte gegen ein Heer von Tausenden von Soldaten mit Schwertern, Speeren, Pferden und was sie sonst noch so dabei hatten. »Ich bin Kevan von Lomar. Dies sind Sargas und Harven. Wir waren Berater des letzten Königs von Loringaril. Wir erbitten ein Wort mit Euch, Varyn.«
»Fragt sie, ob die Stadt bedingungslos kapituliert«, zischte einer von Varyns Begleitern ungeachtet des letzten Anraunzers, aber Varyn beachtete ihn nicht weiter.
»Kommt Ihr, um Eure Stadt zu retten, oder Euch selber?« fragte er.
Die drei Männer tauschten kurze Blicke aus - offenbar hatten sie von Varyn gehört, aber nicht genug, um ihn richtig einschätzen zu können, aber wer konnte das schon, wenn selbst Gaven regelmäßig an ihm verzweifelte? »Wir sind in der Position, das Schicksal dieser Stadt zu verhandeln und noch mehr«, sagte dann einer von den beiden, die nicht Kevan hießen, vielleicht, weil er der älteste der drei war. »Wir bitten Euch, mit uns zu kommen, ohne Eure Männer.«
»In die Stadt?« fragte Varyn. Die Männer nickten.
Das ist viel verlangt«, erwiderte Varyn. »Vor allem, da ich nicht weiß, ob Ihr mir nicht eine Falle stellen wollt.«
»Wir tragen die weiße Flagge«, sagte Kevan. »Und wir sind unbewaffnet.«
»Aber gilt das auch für Euer Heer, das hinter den Mauern wartet?« fragte Varyn. »Ich habe das meinen Generälen gesagt« - jetzt nannte er sie tatsächlich schon seine Generäle, was kam als nächstes? - »und ich sage das gern auch Euch: Erstens, unterschätzt mich nicht. Und zweitens, ich bin nicht der König von Doubladir. Wenn Ihr mich umbringen wollt, tötet Ihr den Falschen.«
»Nichts läge uns ferner«, antwortete Berater Harven oder Sargas. »Bitte, kommt mit uns, es ist wichtig -«
»Wenn es wichtig ist, dann können meine Männer das ebenfalls hören«, antwortete Varyn, und mit jedem Wort, das er sagte, schien er im Sattel seines Pferdes ein Stück zu wachsen, verschwammen die Generäle und Hauptmänner und was ihn sonst noch umschwirrte zu bloßen Schatten, die nichts zu sagen und nichts zu bedeuten hatten.
Aber die drei Männer waren wohl zu lang Berater gewesen, um sich von so etwas einschüchtern zu lassen. Und ganz dumm waren sie dann wohl auch nicht. »Was wir zu sagen haben«, sagte Kevan, »ist für Eure Ohren bestimmt und sonst keine anderen. In Eurem eigenen Sinne, kommt mit uns.«
Varyn fing an zu lachen, wo immer er das jetzt hernahm. »Wollt Ihr mich abwerben, schnell zu Eurem neuen König machen, damit Doubladir es nicht mehr kann?«
Vielleicht sollte es ein Scherz sein, Gaven hoffte das, aber die drei Männer erstarrten zumindest für einen Moment, bevor sie sich wieder fingen - nicht, daß sie das jetzt wirklich vorhatten? »Auf ein Wort, Varyn«, sagte Kevan, »unter vier Augen. Bitte.«
»Und was haben meine Männer davon zu gewinnen?« fragte Varyn. Langsam fing er wirklich an, wie ein König zu klingen, und das machte Gaven eigentlich die größten Sorgen. Er wollte nicht, daß der Junge am Ende noch Spaß daran fand, und fragte sich, ob Varyn klar war, daß die das ernst meinten und es nicht bloß irgendein Spiel war…
»Ihr vermeidet Blutvergießen«, antwortete der Loringarim. »Auf beiden Seiten.«
Die Stadt Lomar lag hinter ihnen, weiß vor den dunklen Roben, unschuldig und sauber, und paßte so gar nicht zu dem Krieg, den das Heer mit sich brachte. Gaven hatte die Dörfer vor Augen, durch die sie gekommen waren, verlassen, niedergebrannt, kein Stein mehr auf dem anderen. Lomar sah aus, als könne ihr nichts etwas anhaben, aber die Vorstellung daß doch war irgendwie… schrecklich. So eine große Stadt zerstören - und erst die Menschen, es mußten Abertausende hinter diesen Mauern leben. Wenn Varyn jetzt irgendwas falsches sagte und das Heer das Stadttor nieder riß… Plötzlich wurde es Gaven schlecht, und er hoffte, daß es Varyn nicht anders erging.
Wieder waren Männer um Varyn, versuchten, ihn zu warnen, ihm Dinge in den Mund zu legen, ihn kleinzureden - »Hört nicht auf sie, es kann eine Falle sein«, oder »Wir sind nicht in der Position, auf drei Robenträger Rücksicht nehmen zu müssen«, oder »Sie wollen etwas von uns, nicht umgekehrt«, oder »Wir haben schon gewonnen, die Stadt gehört uns, so oder so« - Gaven konnte vieles nicht genau verstehen, es ging zu sehr durcheinander und war zu wenig für seine eigenen Ohren bestimmt, aber die Richtung war klar: Varyn sollte auf das Angebot pfeifen und endlich sein Heer siegreich durch die Straßen von Lomar führen, um am Ende die Burg zu plündern und anzuzünden, oder so ähnlich, das war es schließlich, worauf die Männer schon seit Tagen warteten, seit sie den Befehl bekommen hatten, gen Lomar zu marschieren statt nach Hause, wie sie es wohl alle lieber getan hätten.
Aber es war noch mehr als das. Es war Varyns erste Chance, selbst etwas zu entscheiden, seit er Gaven das Schwert weggenommen hatte und von den Generälen mit Beschlag belegt wurde. Gaven wußte genau, daß nichts von dem, was seit der Schlacht geschehen war, auf Varyns Mist gewachsen war. Jetzt hatte er es in der Hand - und vielleicht machte ihn das stark. Auch, wenn es bedeuten konnte, seinen ersten richtig großen Fehler zu machen, seit man ihn auf dieses Pferd gesetzt hatte.
Die drei Berater standen da und warteten. Ihnen konnte nicht entgehen, wie die Generäle Doubladirs von allen Seiten auf Varyn einredeten, und Gaven wollte nicht wissen, was sie sich jetzt dabei dachten - er hatte ein paar Gerüchte gehört über diese Berater, daß sie die wahren Herren von Loringaril waren und die Könige nur ihr Spielzeug, und das konnte auch erklären, warum hier jetzt keine stärkeblütigen Engelsgeborenen standen, um zu verhandeln, sondern drei ziemlich unscheinbare Kerle in Kutten - aber die sollten nicht auf die Idee kommen, daß es in Doubladir genauso ablief und Varyn selbst seinen Generälen nach dem Mund plapperte. Am liebsten hätte sich auch Gaven an Varyn rangeschoben und ihm gesagt, er solle sich bloß nicht unterkriegen lassen, jetzt oder nie, aber zum einen hätte das diesen blöden Gesamteindruck nur verstärkt, und zum anderen war da kein Platz mehr, so viele Männer wollten gerade gleichzeitig etwas von Varyn. Als er noch allein an der Spitze geritten war und alle anderen hinter ihm, hatte das doch deutlich eindrucksvoller ausgesehen -
Und dann rief Varyn: »Genug!«
Einen kostbaren Moment lang herrschte Stille, bevor Varyn weitersprach. »Kevan, Berater, ich werde mit Euch gehen, allerdings nicht allein. Ihr seid zu dritt, Ihr werdet verstehen, daß auch ich eine Auswahl meiner Männer mitnehmen werde. Ansonsten bin ich bereit.«
»Und wenn es doch eine Falle ist?« fragte ein letzter seiner Einflüsterer, aber da schüttelte Varyn nur den Kopf.
»Dann ist es eine. Aber ich will kein Blutvergießen, nicht für uns und nicht für die Menschen von Lomar. Wenn ich dafür kein Risiko eingehen mag, dann tauge ich gar nichts.« Dann wieder zu den Beratern: »Ihr akzeptiert meine Bedingungen?«
Die drei nickten. Sie konnten nicht ernsthaft damit gerechnet haben, Varyn allein zu bekommen - was auch immer Gaven gegen die Generäle sagen mochte, angefangen damit, daß sie versucht hatten, Gaven aus Varyns Leben zu drängen, er wäre schön blöd gewesen, sie in der Situation nicht mitzunehmen. Und den Kriegsbotschafter vielleicht auch noch - falls sie sich entschließen sollten, den Krieg für beendet zu erklären, war das bestimmt der richtige Mann dafür, oder? Gaven konnte sich nicht wirklich vorstellen, wofür ein Kriegsbotschafter gut sein sollte, aber zumindest konnte der ein grimmiges Gesicht machen… Aber der erste Name, den Varyn dann nannte, war »Gaven.«
Alle zuckten sie zusammen, am allermeisten Gaven selbst, aber das war kein Witz. »Ich möchte, daß mein Bruder mich begleitet«, sagte Varyn, nur so zur Sicherheit, falls von den anderen Männern noch jemand Gaven hieß, ganz selten war der Name ja nicht.
Gaven schluckte. Plötzlich war für ihn die Frage, ob hinter dem Stadttor eine Falle lauerte, dringender als vorher. Aber egal. Es war gut so. Wenn Varyn sich noch an ihn erinnerte, und das vor allen anderen, konnte noch nicht alles verloren sein.
Aber dann war Gaven doch nur der erste von mehreren. Varyn war zu schlau, um nur Gaven in so einer heiklen Situation mitzunehmen. Oder hatte er sich inzwischen so sehr daran gewöhnt, von einem Rudel Generäle begleitet zu werden? Jedenfalls verkündete er, daß ihn die Generäle Davor, Dernik und Korant begleiten sollten, während General Hayko bei den Truppen bleiben sollte, und erstaunlicherweise auch der Kriegsbotschafter - vielleicht war das doch ganz klug, denn wenn Varyn den Frieden ausrufen wollte, Ansgar aber flugs den nächsten Krieg ankündigte, konnte das ärgerlich enden. Statt dessen nahm Varyn noch Dannens Bruder mit, den Bastard.
Gaven schluckte, als Varyn das sagte. Dannen, wirklich, mit dem war er immer gut ausgekommen, bis auf jetzt, natürlich. Aber bei diesem Rul mußte er die ganze Zeit Angst haben, daß der ihm den Kopf abschlug, um zu prüfen, ob sein Schwert noch scharf war - das war niemand, der in Varyns Nähe gehörte, oder in die von sonstwem, sondern am besten in eine verlassene Höhle gesetzt werden sollte, um dort vor sich hin zu grollen. Andererseits sollte man ihn auch nicht mit dem Heer alleinlassen - wenn man wollte, daß die Armee noch auf einen hörte, wenn man wieder zurückkam. Und so war es sicher das kleinere Übel, Rul mitzunehmen und ihn denken zu lassen, daß er wichtig war. Was die Auswahl der Generäle anging - dazu konnte Gaven nicht viel sagen, die waren einer wie der andere für ihn.
Die Berater aus Lomar widersprachen nicht, als Varyn doch so viele Leute mitnehmen wollte. Wenn sie auch nur einigermaßen schlau waren, und das waren sie sicher, hatten sie von Anfang an damit gerechnet. Aber wenn sie nicht gesagt hätten, Varyn solle alleine kommen, hätten sie jetzt nicht nur einen Bruder, drei Generäle und einen Bastard an der Backe, sondern auch noch ein paar Dutzend Hauptmänner und tausend Soldaten - so hatte jetzt jeder das, was er wollte.
Und dann gab es kein Zurück mehr, als die drei Männer ihnen das Stadttor öffneten und sie dahinter in der Stadt Lomar verschwanden, und im Ungewissen.

So war sie nun also ganz dahin, die triumphierende Stimmung. Die drei Berater schritten vorweg - gut, reiten konnte man in diesen Kutten wohl kaum - und die Reiter folgten ihnen so langsam, daß sie ebensogut hätten absteigen und die Pferde führen können, oder die Pferde gleich bei den anderen zurücklassen. Aber auch wenn die Straße hier sicher breit genug war, um mit der ganzen Armee festlich den Berg hinauf zu marschieren, fehlte doch irgendwie das Entscheidende: Die Menschen. Die Stadt schien völlig verlassen. Niemand stand am Straßenrand, schwenkte in trotzigem Zorn die Fahne von Loringaril, beschimpfte die Doubladai, bespuckte sie oder schmiß mit Steinen; niemand jubelte, weil das Kämpfen endlich vorüber sein sollte: Niemand. Niemand war da.
Gaven fröstelte plötzlich - hier in Loringaril schien der Winter immer noch weit weg zu sein, aber dieser Schauder kam von innen. Hatte er eben noch überlegt, wieviele tausend Menschen wohl in so einer großen Stadt lebten, sah es hier drinnen so aus, als ob es niemanden gäbe außer ihnen selbst. Nicht nur die Straßen waren wie leergefegt - die große, auf der sie ritten, und alle schmalen, die sie passierten - aber auch die Häuser wirkten tot und verlassen. Man konnte nicht hineinblicken, die Fensterläden waren vorgelegt, mitten am Tag, und das nicht bei einem Haus, sondern bei allen. Was war dahinter? Gaven wußte es nicht. Er stellte sich neugierige Kinder vor, die heimlich durch die Ritzen spähten, um ein bißchen von den fremden Eroberern zu erspähen, und hätte gerne zurückgespinxt, aber ebensogut konnten die Häuser leer und verlassen sein.
Eine Stille hing über der Stadt, die Gaven wieder an diesen schrecklichen Moment erinnerte, als sie damals in ihr Tal zurückkehrten - da hatte ihnen auch das Fehlen aller Geräusche verraten, daß etwas nicht stimmte. Hier war alles, was sie hören konnten, die Hufe ihrer Pferde auf der gepflasterten Straße, und hinter ihnen konnten sie noch die eigenen Soldaten erahnen, die auf der anderen Seite des wieder fest verschlossenen Stadttores wohl ihr Lager aufschlugen. Aber sonst? Gab es nichts zu hören. Lomar war so still, wie eine lebende Stadt es niemals sein konnte.
Gaven zog seine Joppe etwas fester um sich und tat das, was er in den letzten Tagen bis zur Perfektion geübt hatte: Er beobachtete. Wenn man bei allem dabeisein durfte, aber bei nichts mitreden, und froh sein mußte, zumindest bei der Essensausgabe nicht völlig vergessen und überrannt zu werden, lernte man viel übers Beobachten. Am meisten beobachtete Gaven Varyn, konnte schon vom Anblick seiner Schultern sagen, wie es ihm ging und ob er glücklich war mit seiner Situation. Varyn konnte die Stimme verstellen, zuversichtlich klingen oder herrschaftlich, aber seine Schultern waren so hart und angespannt, daß er sich die ganzen Lügen sparen konnte. Jetzt war es nicht anders. Jetzt verriet sein Rücken Angst. Das, was Gaven aufgefallen war, entging auch Varyn nicht, natürlich, Varyn war empfindlich für so etwas. Wie damals in Sharaz, nur daß sie hier spüren konnten, wie die Zeit verging - nur in welche Richtung lief sie? Es konnte ebensogut rückwärts sein.
Alle Tore von Lomar waren geschlossen. Und das waren nicht nur die Stadttore außen, wo Vigilanders Armee - oder hieß die inzwischen Varyns Armee? - lag und nicht hineindurfte, sondern auch die Tore innerhalb der Stadt. Immer wieder kamen sie an einer Mauer an, wo sie warten mußten, bis die Berater vorgingen, durch eine Klappe im Holz mit dem Torwächter sprachen und dann das Tor öffnen ließen. Aber nicht einmal diese Torwächter, das einzige Anzeichen von Leben in der Stadt, bekamen sie zu sehen. Sie hörten nur, wie hinter ihnen das Tor wieder verrammelt wurde, und dann fiel Gaven jedesmal ein, daß er sich doch eigentlich hatte umsehen wollen, aber dann war es zu spät. Das einzige, was die ganze Zeit über im Blick war, oder sie im Blick hatte, war die große Burg, die oben auf dem Berg auf sie wartete. Burg oder Schloß, Gaven kannte den Unterschied nicht, und in dem Moment wollte er ihn auch nicht kennen müssen - dieses Gebäude machte ihm Angst. Er konnte es an nichts festmachen, aber irgendwie wirkte diese Burg noch töter und verlassener als der Rest der Stadt. Und mit jedem Stadttor, das sie vorwärts rückten, wuchs dieses Gefühl, nicht nur bei Gaven.
Die Männer redeten nicht, weder untereinander noch mit den Loringarim. Die Generäle ritten ruhig, als gäbe es nichts gewöhnlicheres, als durch so eine Stadt zu reiten. Sie waren schwerer zu lesen als Varyn, weil ihre Rüstungen verbargen, ob sie nun entspannt waren oder Angst hatten, und Gaven konnte sich nur an dem orientieren, was er von ihren Nacken zwischen Rüstung und Helm erkennen konnte. Aber zumindest konnte er sagen, daß sie nicht die Köpfe einzogen, und wo sich Varyn immer wieder nach den Seiten umblickte, saßen sie ruhig und gelassen, als ob sie schon tausendmal in dieser Stadt gewesen waren und sie jedesmal genau so ausgesehen hatte wie jetzt. Oder man wurde nur dann ein General, wenn man sich im Leben durch nichts erschüttern ließ.
Aber Gaven wurde immer kleiner, je weiter sie kamen. Er hätte gern mit Varyn gesprochen, nur ein paar Worte, hören, ob es dem Bruder so ging wie ihm selbst oder ob Varyn ihn beruhigen konnte, aber es ging nicht. Solange Varyn direkt zwischen den Generälen ritt und auch die drei Berater ihn ständig beobachten konnten, durfte der sich keine Blöße geben, die irgendwie nach Unsicherheit oder Angst geklungen hätte. Diese Geier waren bereit, ihn jeden Moment zu zerfleischen. Und so blieb Gaven nichts als seine eigene Beklommenheit und der Blick auf Varyns Hand, die so verkrampft am Knauf seines Schwertes lag, als hätte er nicht inzwischen eine Scheide dafür bekommen und wäre gezwungen, es immer noch unentwegt in der Hand zu halten. Varyn hatte Angst. Aber Gaven hoffte, daß außer ihm das jetzt niemand so direkt bemerkte.
Zu spät kam er auf die Idee, daß er besser versuchen sollte, die fremden Berater zu beobachten - ihre Roben zeigten, was eine Rüstung verborgen hätte. Hatten sie Angst, und wenn ja, vor wem - vor Varyn? Nein, nach Angst sahen sie nicht aus, obwohl doch ziemlich viel auf dem Spiel stehen sollte, ihre eigenen Leben und die aller Menschen in der Stadt. Aber zumindest von hinten sahen sie nicht aus wie jemand, der Angst hatte. Aber wie jemand, der etwas verbarg. Etwas wichtiges. Plötzlich fühlte sich die ganze große Stadt mit ihren vielen versperrten Toren vor ihnen und hinter ihnen an wie eine Falle, wie ein riesiges Gefängnis unter freiem Himmel. Und daß der blau war und klar und eigentlich das Lied eines schönen Tages sang, war nichts mehr wert. Gaven wäre am liebsten weggerannt. Doch dafür war es jetzt zu spät.
Das letzte Stück Weg bis zur Burg war das Unheimlichste. Die drei Männer hätten viel Zeit gehabt, zumindest Varyn zu sagen, um was es ging und wer sie nun dort erwartete, aber nichts davon. Wenn Gaven etwas zu sagen gehabt hätte, sie wären nicht in den Burghof geritten. Aber ob Varyn sich nun zuviel zutraute oder zuwenig Mißtrauen im Leib hatte, er ging mit, und sie andere hatten nicht viel Wahl, als ihm zu folgen.
Erst, als sie im Burghof standen, erhob Berater Kevan das Wort. »So, und nun… genug der Maskerade. Ihr wißt genau, warum wir hier sind, Varyn.«
Varyn antwortete nicht, bevor er vom Pferd gestiegen war, auch wenn er so noch schlechter fliehen konnte, sollte es eng werden. Aber Gaven nickte und saß ebenfalls ab. »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, sagte Varyn dann. »Ich kann mir viele Gründe denken, aber -«
»Spart Euch die Spielchen!« knurrte Kevan. »Solange alles geht, wie Ihr es geplant habt, solange wir keine andere Wahl haben, müßt Ihr uns nicht auch noch verhöhnen.«
»Er sagt die Wahrheit«, erwiderte der alte General Davor. »Der Junge hat nichts mit der Sache zu tun. Außer, daß er den endgültigen Befehl erteilt hat. Mehr weiß er nicht.«
»Was geht hier vor?« fragte Varyn, und seine Stimme war ein wenig schriller als sonst. »Was ist geschehen?« Ein Herr der Situation sah anders aus, und vor allem klang er anders. In dem Moment war Varyn nur ein Junge, der sich mit den falschen Freunden eingelassen hatte und das zu langsam begriff.
Die Berater blickten einander an, ein wenig unsicher, ein wenig ungläubig, aber offenbar hatten sie wirklich keine Wahl. Dann sagte Harven, der wohl der älteste von ihnen war und das Recht hatte, die wirklich ernsten Sachen zu sagen: »Lorimander ist tot.«
Varyn nickte und schien aufzuatmen. »Ja, das weiß ich, ich war dabei, als es…« Er brach ab, als er den Blick des Mannes auf sich ruhen saß.
»Lorimander ist tot«, sagte Harven noch einmal. »Jeder einzelne von ihnen. Nicht nur der König, alle. Seine ganze Familie.«
»Auch die Frauen«, setzte Kevan leise hinzu. »Auch die Kinder. Abgeschlachtet durch feige Mörderhand, mitten in der Nacht.«
Am liebsten wäre Gaven aufgesprungen, um größer zu wirken als er war, und hätte laut gebrüllt ‘Halt! Stop! Aufhören!’, damit die Zeit anhielt und alles für den Moment still war, den Gaven brauchte, um das überhaupt zu erfassen. In dem Moment war es einfach zu groß für ihn. Tot - wer war tot? Der Engel Lorimander, oder was? Welche Frauen, welche Kinder? Es war doch Krieg, da starben Leute nun mal - aber hier in der Stadt? War die ganze Stadt tot? Waren darum alle Fenster verrammelt, alle Tore verschlossen? Gaven verstand nicht, und das war das Beste, was er darüber sagen konnte.
Aber die Zeit blieb nicht stehen. Und Varyn, anders als Gaven, verstand, was geschehen war, verstand schneller, als irgend jemand reagieren konnte, und das nächste, was Gaven mit den weit aufgerissenen Augen des Entsetzens sah, war, wie Varyn sein Schwert zog, Vigilanders heiliges Schwert, und damit auf General Davor zustürmte. »Du Scheißkerl!« brüllte er, und für einen Moment war jeder Hauch königlichen Gehabes von ihm abgefallen, brach der eigentliche Varyn durch die Schichten wie das Schwert durch Davors Rüstung, der den Angriff nicht kommen sah und nicht schnell genug ausweichen konnte oder sein eigenes Schwert ziehen. Varyn brüllte wie von Sinnen, die Schimpfwörter waren noch das beste dabei, und es mußten beide andere Generäle ihn von hinten packen und von Davor wegzerren, sonst hätte Varyn ihn vielleicht noch umgebracht. So blieb der Mann auf seinen Beinen, auch wenn er blutete und sein Gesicht plötzlich weiß war.
Mit der Hand hielt sich Davor die Seite; er war der älteste der Generäle, aber jetzt sah er auch so aus. »Varyn«, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, aber selbst wenn er lauter gewesen wäre, es war fraglich, ob Varyn ihn hörte in diesem Moment. Ausgerechnet die feindlichen Botschafter mußten sich um ihn kümmern, als plötzlich die Beine unter dem General nachgaben, seine eigenen Männer waren viel zu sehr damit beschäftigt, Varyn festzuhalten, zu dritt.
»Dafür habt ihr mich gebraucht - wart ihr zu feige, die Entscheidung selbst zu treffen?« schrie Varyn. »Ihr wußtet, daß ich niemals, niemals, niemals in so etwas eingewilligt hätte!« Er war stark, und jetzt sahen die anderen endlich einmal, wie stark wirklich. »Und sie einfach abschlachten, mit allen Frauen und Kindern - seit ihr von allen Engeln verlassen? Aber das in meinem Namen zu machen -«
Gaven stand nur einen Schritt von diesem ganzen Geschehen entfernt und doch in seiner eigenen Welt. Langsam sickerte auch zu ihm durch, was geschehen war, und hätte Varyn nicht reagiert, wie er reagierte, er wäre die längste Zeit Gavens Bruder gewesen. Ihm juckten die Finger, er mußte etwas tun, zeigen, daß er auf Varyns Seite stand und nirgendwo sonst, und daß man das auch mit ihm nicht machen konnte, Leute einfach so umbringen…
Gaven wußte nicht, wo er die Stärke hernahm oder den Mut, aber plötzlich stand er vor Davor, der in dem Moment einfach an allem Schuld war, obwohl das nicht stimmte, sie waren alle Schuld, auch der vierte General, auch der Kriegsbotschafter - aber plötzlich stand Gaven vor Davor, und es war ihm egal, daß der Manns schon blutete und gestützt wurde, er gab ihm eine Ohrfeige. Nicht wie früher, wenn er Harkon ohrfeigte, weil der frech gewesen war oder ihn sonstwie geärgert hatte, sondern mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, wie wenn man jemandem den Krieg erklärte. Und dann, wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, drehte Gaven sich um zu den Männern, die Varyn festhielten wie einen tollwütigen Bullen, und schlug einen jeden von ihnen ins Gesicht. »Laßt meinen Bruder los!« schrie er. »Und wagt es nicht, ihm noch einmal unter die Augen zu treten!« Gaven war ganz und gar zornig, aber gleichzeitig ganz und gar beherrscht, nicht wie Varyn, der wütete und brüllte und ganz und gar von Sinnen war und dabei endlich wieder er selbst, sondern ganz fremd und kalt, so, wie sich Gaven immer Vigilander selbst vorgestellt hatte. Denn das fehlte in diesem Moment: Daß der Engel der Rache persönlich auftrat und seine Generäle zusammenfaltete für einen feigen Mord, der niemals in seinem Sinne gewesen sein konnte.
Aber anstatt daß die Generäle oder Rul auf Gavens Ohrfeigen reagierten, kam Varyn wieder zur Besinnung. Man sah es daran - zumindest, wenn man wie Gaven den Anblick kannte und wußte, worauf man achten mußte - wie seine Augen wieder normal wurden, wieder dunkelgrau, nicht hell, und nicht mehr von einem Kreis aus Weiß umgeben waren. Varyn war bleich, aber er atmete wieder wie ein normaler Mensch, aber auch wenn die Männer, die ihn hielten, das merken mußten, wagten sie doch noch nicht, ihn wieder loszulassen, nicht, solange Varyn immer noch das Schwert in der Hand hielt, das ihm niemand abnehmen konnte. »Gaven!« sagte er. »He, Gaven!«
Gaven blieb vor ihm stehen. »Varyn, ich -«
»Du hast eine Ohrfeige vergessen«, sagte Varyn laut und ruhig.
»Aber ich wollte die Berater nicht einfach schlagen, die können doch nicht dafür…«
»Du hast mich vergessen«, sagte Varyn, und langsam merkten auch die beiden Generäle und Rul, daß es doch nicht mehr unbedingt nötig war, ihn gleich zu dritt festzuhalten, und ließen von ihm ab. »Mich mußt du auch schlagen.«
»Aber du kannst nichts dafür!« antwortete Gaven. Er wollte Varyn nicht schlagen, zumindest nicht hier vor allen Leuten, er wollte zeigen, daß sie zusammengehörten, und daß es die Kriegsherren waren, die sich schämen sollten. Nicht Varyn.
»Ich habe es ihnen erlaubt«, sagte Varyn. »Ich habe nicht gefragt, was ihr Plan ist, ich habe ihnen einfach erlaubt, ihn durchzuführen. Wenn hier irgend jemand verantwortlich ist, dann bin ich das.« Ja, auch das war Varyn, sehr Varyn, und normalerweise hätte er nicht lange bitten müssen, um sich eine Ohrfeige von Gaven zu fangen - aber nicht jetzt. Jetzt mußte eine Grenze gezogen werden. Und andersrum, dafür daß Varyn diesen Scheiß abgenickt hatte, konnte er sich nicht mit einer Ohrfeige freikaufen. Das mußte er mit sich selbst ausmachen. Und Gaven bemühte sich, nicht daran zu denken, daß Varyn jetzt Blut an seinen Händen hatte, anders als in der Schlacht… Gaven hatte nie gefragt, ob Varyn in der Schlacht Menschen getötet hatte. Er wußte nur von einem Pferd, und alles andere wollte er nicht wissen. Ihm gefiel der Gedanke nicht, daß Varyn Leute umbrachte. Und wenn es im Krieg geschah, Gaven wußte, wie es sich anfühlte, Menschen zu verlieren. Und Varyn sollte das niemandem antun.
»Es tut mir leid«, sagte Varyn. Sagte er das zu Gaven, damit der ihm verzieh? Oder zu den Beratern, damit sie ihn nicht umbrachten? Oder zu sich selbst? »Ich wollte das nicht. Es ist meine Schuld, aber es tut mir leid.«
Wen auch immer er meinte, es war der Berater Kevan, der antwortete. Die drei Männer hatten sich das Spektakel angesehen mit Gesichtern, als ob sie nur die Hälfte von allem glaubten und den Rest für eingeübt hielten, um ihnen Varyn als großen Helden zu verkaufen, aber zumindest den Angriff auf General Davor schienen sie auch nicht vorhergesehen zu haben. »Das hilft uns nicht weiter«, sagte er dumpf. »Unser Königshaus ist tot und ein Großteil unserer Berater, und uns kann egal sein, wer den Befehl dazu gegeben hat und wer den Einfall hatte. Uns geht es um die Frage, was mit unserem Land geschehen soll.«
»Seit der Gründung von Loringaril«, redete Harven weiter, der damit die Versorgung von Davor dem dritten Mann überließ, abgesehen davon, daß der General auch langsam wieder sicher auf den Füßen stand; Varyn hatte ihn wohl nicht so schlimm erwischt, wie es zunächst aussah, »haben immer Lorimanders Nachkommen über das Land geherrscht, vom allerersten Tag an. Seine Nachkommen waren zahlreicher als die jedes anderen Elomaran. Wir können uns nicht vorstellen, daß sein Haus von einem Tag auf den anderen ausgestorben sein soll.«
Gaven hätte ihn gerne angesehen, die Schultern gezuckt und gesagt ‘Und? Ist das unser Problem?’ - aber ja, es war ihr Problem, das war das eine, und er wollte es sich auch nicht mit einem Engel verscherzen, noch dazu mit dem stärksten von allen - also konnte er froh sein, daß er nicht in der Position war, etwas sagen zu müssen.
»Es tut mir leid«, wiederholte Varyn, diesmal ganz klar an die Loringarim gerichtet. »Aber es liegt nicht in meiner Macht, das wieder gutzumachen.«
Gaven wünschte sich, dies alles hätte bald ein Ende. Oder, noch besser, sie wären nie mit den Loringarim gegangen. Jetzt fehlte nur noch, daß die gleich das Schloß betreten mußten und in jedem Raum tote Leute lagen, Blut überall, Gaven hatte es genau vor Augen, und seit der Schlacht wußte er, wie Blut und tote Leute aussahen, der Geruch stieg ihm schon wieder in die Nase und drehte ihm den Magen um. Trotzdem, das hier war etwas anderes - aber sie waren mitgegangen, und sie konnten nicht einfach wieder gehen. So standen sie im Burghof, und die Luft zwischen ihnen hätte man schneiden können - da waren die Generäle und Rul, die gut daran taten, erst mal gar nichts zu sagen und ganz kleine Brötchen zu backen, wenn sie nicht wollten, daß Varyn noch einmal ausrastete, immerhin hielt der noch sein Schwert in der Hand. Da war Varyn, der nichts anderes mehr sagen konnte, als daß es ihm leid tat, und da waren die Berater - die doch irgend einen Plan haben mußten, sonst hätten sie Varyn nicht einfach so mitgenommen. Sie hatten tagelang Zeit gehabt, sich auf diese Situation vorzubereiten, jetzt sollten sie besser mal damit rausrücken. Das hätte ihnen Gaven am liebsten zugerufen, aber er biß sich lieber auf die Zunge. Jedes Wort von ihm konnte das falsche sein.
Und dann sagte eine Stimme hinter ihnen: »Doch.« Gaven gefror bei den Worten. »Doch, es liegt in deiner Macht.«
Er fuhr nicht herum mit den anderen. Es reichte ihm, die Reaktion in den Gesichtern zu sehen - in denen der Berater, der Generäle, Varyns. Vor allem Varyns. Ihn wollte, durfte Gaven jetzt nicht mehr aus den Augen lassen, auch wenn irgendwo hinter ihnen der Dämmervogel stand. Gerade dann.
»Halt!« rief Kevan, der wohl die Rolle des Hausherrn übernommen hatte und als erster die Sprache wiederfand. »Rührt Euch nicht! Wer seid Ihr? Wie kommt Ihr hier herein? Alle Tore sind verschlossen!«
Ein leises Lachen verriet Gaven, daß der Dämmervogel näher kam. Eigentlich mußte er zugeben, daß es ihn nicht wunderte. Varyn hatte die letzten Tage über, bei jeder Gelegenheit, wo sie ein paar vertrauliche Worte miteinander wechseln konnten, erklärt, daß er nicht wüßte, was er tun sollte, ohne mit dem Dämmervogel gesprochen zu haben. Und wenn Varyn schon täglich mit der Frau rechnete, mußte sie auch irgendwann einmal auftauchen - aber das sie das hier tat, mitten im Schloßhof, vor so vielen Leuten, das war doch einmal etwas anderes. Langsam und mit Füßen, die kaum den Boden zu berühren schienen, trat der Dämmervogel in ihre Mitte. Da, es war gar nicht nötig, sich umzudrehen. Obwohl Gaven die Frau am liebsten nicht gesehen hätte.
Diesmal trug sie ein fast schwarzes Kleid, in dem kleine Sterne zu tanzen schienen, und Gaven überlegte einen Moment lang, ob es nicht doch eine der anderen Schwestern war, das Orakel der Nacht - die drei sahen sich so ähnlich, von ihren Haarfarben vielleicht mal abgesehen, und Gaven hatte nicht soviel Zeit damit verbracht, sie sich anzusehen, wie vielleicht Varyn. Aber zumindest ihr Gesicht war so, wie er sich erinnerte, irgendwie schön und irgendwie kalt, auch wenn sie die Haare jetzt lang und offen trug statt hoch über dem Kopf aufgetürmt und damit ein bißchen menschlicher aussah. Ihre Augen, irgendwo zwischen schwarz und violett, wanderten über die Anwesenden, ohne sich lang an Gaven festzuhalten, und noch bevor sie wieder den Mund auftat, wußte Gaven, daß sie nicht wirklich da war. Sie machte ihre Gesten mit der linken Hand statt mit der Rechten, als sie die Gruppe abzuzählen schien. Diese Frau war nur ein Spiegelbild. Die echte mußte irgendwo in Sharaz sein.
Und das schien auch Varyn zu wissen. Sonst hätte er nichts besseres tun können, als mit dem Schwert voran zu ihr hinzustürmen und ihr den Kopf abzuhacken, schließlich hatte sie ihnen den ganzen Schlamassel überhaupt erst eingebrockt, wenn sie nicht noch an Schlimmeren Schuld war.
»Laßt Eure Schwerter ruhen«, sagte sie mit dieser Stimme, die durch Mark und Bein ging, egal, wie oft man sie schon gehört hatte; man konnte sich nicht darauf vorbereiten, mit der besten Konzentration nicht. »Ich bin der Dämmervogel, und ich habe euch etwas mitzuteilen.«
Gaven war froh, daß er sie schon kannte - erst nur aus Varyns Erzählungen, wo sie eine Einbildung hätte sein können wie so viele andere, und dann in echt: Jetzt hatte er den erwachsenen Männern, denen die Gesichtszüge entglitten, als wüßten sie nicht, ob sie träumten oder wachten, und die gleichzeitig ihren Blick nicht abwenden wollten, etwas voraus. Er mußte nicht so tun, als ob er noch nie eine Frau gesehen hatte… Die Kriegsherren sollten ja eigentlich schon an solche Überraschungen gewöhnt sein, so wie Varyn denen quasi vom Himmel gefallen war, aber natürlich war der Dämmervogel ein erfreulicherer Anblick als so ein dürrer Bengel. Aber die Loringarim - was auch immer sie geplant haben mochten, jetzt mußten sie sich etwas neues einfallen lassen.
Aber am verwundertsten von allen schien Varyn zu sein. Daß nicht nur er diese Frau sehen konnte, sondern auch andere, mußte ihn völlig aus der Bahn werfen. So starrte er den Dämmervogel nur an, seine Augen wurden immer größer dabei, und daß er wenigstens den Mund dabei geschlossen hielt, war ihm hoch anzurechnen.
»Ihr Berater der Könige Loringarils«, sagte der Dämmervogel, »ihr seid in Sorge um das Schicksal eures Landes. Seid unbesorgt. Es gibt einen Erben, einen rechtmäßigen Nachkommen Lorimanders, und er lebt.«
Jetzt waren es die Generäle, von denen auch Davor inzwischen wieder bei den anderen stand, Blut hin oder her, er gehörte nicht auf die Seite Loringarils, die verstohlene Blicke austauschten. Wen hatten sie übersehen? Sie durften es nicht laut sagen, natürlich ging es ihnen darum, Loringaril zu vernichten, damit sie es sich dann einverleiben konnten wie ein leckeres Würstchen, und mit Varyn hatten sie einen Dummen, den sie auf den Thron hieven konnten und durch ihn zwei Länder auf einmal regieren. Wo da der Unterschied sein sollte zu dem, was man sich über Loringaril und die Berater erzählte, wußten weder Gaven noch die Berater selbst.
»Das kann nicht sein«, sagte Harven. »Der Stammbaum des königlichen Hauses wurde seit Jahrhunderten akribisch geführt, und niemand hat es überlebt -«
»Es gibt einen lebenden Erben.« Der Dämmervogel duldete keine Widerworte, das hätte Gaven dem Mann auch so sagen können. Aber in dem Moment hatte er andere Sorgen: Er ahnte nämlich, was jetzt kommen mußte. Ein bißchen wurmte es ihn, daß damals in Sharaz die Schwestern darauf bestanden hatten, daß Gaven draußen wartete, als Varyn seine Wahrheiten erfuhr, und jetzt erzählte sie das ganze vor einem Haufen Leuten, die viel weniger mit Varyn zu tun hatten als Gaven selbst. Immerhin, er durfte jetzt mithören, ob er wollte oder nicht. »Er steht vor euch.«
Varyn schloß die Augen. Ehrlich, auch für ihn konnte das nicht wirklich unerwartet kommen. Trotzdem, wie reagierte man auf so eine Eröffnung? Besser, indem man gar nichts sagte.
»Etwa dieser Junge?« fragte Kevan entgeistert. Er sollte nicht so überrascht tun, in Doubladir mußten sie auch mit dem Gedanken leben, daß Varyn ein persönlicher Gesandter Vigilanders war. »Aber das kann nicht sein! Lorimanders Nachkommen haben goldenes Haar und blaue Augen…« Er brach ab, als die Männer aus Doubladir gemeinsam zu lachen anfingen. Natürlich, diese Debatte hatten sie schon hinter sich. Varyn hatte ja auch keine Ähnlichkeit mit Dannen oder seinen Brüdern. Er sah niemandem ähnlich als sich selbst, damit mußte man leben. Gaven tat das schon seit Jahren, so war das nun einmal. Wenn Varyn noch nicht mal seiner eigenen Familie ähneln mochte… »Wer seid Ihr, daß Ihr so etwas behauptet? Und wo sind Eure Beweise?«
Reichte es ihm nicht, daß Varyn stärker war als drei Männer zusammen? Gaven konnte nicht behaupten, daß diese Eröffnung ihn jetzt irgendwie verwunderte. Sie hatten schon als Kinder sowas geahnt. Schon bevor Varyn so seltsam wurde - wenn man gefragt hätte, von welchem Engel stammt unser Varyn wohl ab, wäre die Antwort sofort und ohne zu zögern gewesen: Lorimander. Die Stärke war das, was man Varyn am wenigsten absprechen mochte.
»Ich bin der Dämmervogel«, sagte sie, als ob das irgend etwas erklärte. »Die Wahrheit bedarf keiner Beweise. Seht in sein Gesicht, und seht euren Engel. Glaubt mir, oder glaubt mir nicht, euer Engel lebt in diesem Jungen weiter.«

Einen Moment lang hing Schweigen in der Luft, die Augen rissen sich von der viel zu schönen Frau los und lagen wieder auf Varyn, und die Generäle, die eben noch gelacht hatten, sahen plötzlich so aus, als ob ihnen gar nicht mehr danach zumute war.
»Stimmt das?« fragte Rul laut, der vielleicht als erster seine Sprache wiederfand. »Varyn, stimmt das?«
Aber Varyn antwortete nicht. Er sah nur den Dämmervogel an, seltsam ungläubig und verwirrt, als wisse er selbst nicht, was er denken solle. Erst, als der königliche Bastard seine Frage zum dritten Mal stellte, reagierte Varyn darauf. »Ich… ich kann es nicht sagen«, murmelte er. »Ich wußte das nicht -«
»Red keinen Unsinn!« Eben noch wollte Rul eine Antwort haben, schon schnitt er Varyn wieder das Wort ab. »Du hast uns an der Nase herumgeführt, uns und unser ganzes Land! Dabei ging es dir die ganze Zeit über nur um Loringaril, du verräterischer Hund!«
»Das ist nicht wahr!« brüllte Varyn, so plötzlich und so laut, daß selbst der Dämmervogel zusammenzuzucken schien, von wo auch immer sie ihr Bild in den Schloßhof schickte. »Ich habe es nicht gewußt, und ich höre es gerade selbst zum ersten Mal!«
»Er sagt die Wahrheit«, setzte der Dämmervogel hinterher, als ob eine Lüge wahrer wurde, wenn sie aus dem Mund einer schönen Frau kam.
Die Berater auf der einen und die Kriegsherren auf der anderen Seite streckten ihre Köpfe zusammen, und in ihrer Mitte stand Varyn und wußte nicht mehr, auf welche Seite er gehörte, so fragend und verloren sah er aus. Auf Gavens, hätte Gaven gerne geantwortet, wollte zu ihm hingehen, mit ihm reden, aber etwas hielt ihn zurück. Gaven wußte selbst plötzlich nicht mehr, was er von Varyn halten sollte. Natürlich, er glaubte ihm, Varyn hatte das nicht geahnt, aber trotzdem - wenn das jetzt hieß, daß Varyn ein Loringarim war, machte sie das nicht für diesen Moment zu Feinden? Varyn wollte kein König von Doubladir werden, und was das anging, war er jetzt wohl fein heraus, aber dafür würde man ihn jetzt aus Loringaril nicht mehr ziehen lassen. Und wenn Gaven eines nicht wollte, dann hier bleiben müssen, so weit weg von der Heimat, wie das nur irgendwie ging, im Ausland, noch dazu im Feindesland… Er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Und plötzlich, zum allerersten Mal, machte es Sinn, was der Dämmervogel damals in Sharaz gesagt hatte: Daß Varyn nicht Gavens Bruder war und nie gewesen. Zum ersten Mal fühlte sich Gaven so, als ob er das selbst glaubte.
Dann sagte Kevan, nicht an Varyn gerichtet, sondern an die Generäle: »In diesem Fall verlangen wir die Herausgabe des Jungen, zumindest, bis wir diesen Fall hinreichend untersucht haben. Es bedarf eines Engelsurteils, natürlich, Worte allein reichen uns nicht aus, aber bis dahin wird er hier bleiben, in Loringaril, wo er hingehört.« Gaven entging nicht die zufriedene Erleichterung in seiner Stimme. Der Mann sah aus, als hätte er von Anfang an vorgehabt, Varyn für sich zu behalten, und freute sich jetzt über die gute Vorlage, die der Dämmervogel ihm da geliefert hätte.
»Wir hatten unser Engelsurteil bereits«, entgegnete General Dernik, und keinem der Männer schien es etwas auszumachen, daß sie über Varyn redeten wie über einen Gegenstand, eine Trophäe oder was man sonst so im Krieg erbeutete. »Und es hat uns eindeutig gezeigt, daß Varyn nach Doubladir gehört, und dorthin werden wir ihn auch zurückbringen.«
»Wir bieten jedoch an«, setzte General Davor hinterher, der entweder Varyn den Angriff komplett verziehen hatte oder nur auf eine Gelegenheit wartete, ihm unter vier Augen ein Schwert in den Leib zu rammen, »Loringaril unter unser Protektorat zu nehmen, damit sich kein anderes Land Euren herrscherlosen Zustand zunutze macht und versucht, unrechtmäßig die Gewalt darüber zu erlangen.« Er konnte sogar schon wieder lächeln, als hätte er auf diesen Moment nur gewartet. Natürlich, die Generäle wußten, wie es in Loringaril aussah und hatten auch ihre Pläne gemacht.
Gaven sah Varyn an, wartete, daß der irgend etwas sagte, aber Varyn sagte nichts, und seine Augen waren so groß und so leer, daß nichts darin zu sehen war als das Spiegelbild des Dämmervogels. Das Spiegelbild eines Spiegelbildes - hieß das, die Frau in Varyns Augen waren wieder die echte? Gaven schüttelte den Kopf und ging nun doch endlich zu Varyn hin. Ohne lang zu überlegen, was er sagen sollte und was nicht, nahm er ihn einfach bei der Hand, bei der linken, denn mit rechts hielt Varyn immer noch das Schwert in der Hand. »Komm mit«, sagte Gaven. »Laß sie reden. Keiner von denen hat über dich zu entscheiden. Sollen sie sich zanken, wir gehen heim.«
»Ich kann nicht«, antwortete Varyn tonlos und blickte Gaven dabei nicht einmal an. »Ich habe es versprochen.«
»Ach, das zählt nicht.« Gaven versuchte es vergnügt, auch wenn ihm nicht danach war. »Was du den Generälen versprochen hast, war, bevor du das mit Lorimander gewußt hast, und die Berater hier, die haben ihr Land doch immer irgendwie gut regiert, ob da jetzt noch ein König zwischen steht oder nicht, die brauchen dich nicht wirklich.« Er hielt Varyns Hand fester, um auszugleichen, daß Varyn selbst keinen Finger dafür krumm machte. Als hielte man die Hand eines Toten, nur wärmer - Gaven schüttelte sich. Da versuchte er sich gerade mit dem Gedanken anzufreunden, daß er einen Bruder von Lorimanders Blut hatte, aber Varyn hätte ruhig etwas mehr mitspielen können!
»Nicht denen«, antwortete Varyn. »Ihr habe ich es versprochen. Und ich muß abwarten, was sie von mir verlangt.«
»Wie, verlangt?« fragte Gaven. »Ehrlich, du gehörst der doch nicht!« Er wußte, daß Varyn den Dämmervogel meinte, und das gefiel ihm gar nicht. Frauen, die einfach so irgendwo auftauchten, durfte man nicht trauen und erst recht nichts versprechen.
»Wir unterstellen unser Land Varyns Schutz«, sagte einer der Loringarim gerade, »ihm und keinem anderen, nicht Doubladir und nicht seinem Königshaus, sondern nur diesem einen. Der Himmel hat ihn gesandt, aber nicht an Euch. Sucht Euch einen König aus Euren eigenen Reihen, Varyn wird hierbleiben, bis das Engelsurteil seinen Anspruch beweist.« Offenbar kamen sie da also auch nicht voran. Sie hätten es nicht mal gemerkt, wenn Varyn jetzt wirklich mit Gaven fortgegangen wäre, aber leider, dazu gehörten immer zwei. Vielleicht konnten sie in der Nacht abhauen, so wie sie damals desertiert waren - nur glaubte Gaven nicht mehr daran. Was immer der Dämmervogel mit Varyn angestellt hatte, es saß zu fest im Verstand dieses Jungen.
»Ein Engelsurteil«, sagte der Dämmervogel laut und erinnerte alle daran, daß sie noch da war - Gaven hätte schwören können, daß sie einen Moment vorher kurz unscharf wurde und ihre Form verschwamm, vielleicht hielt so ein Spiegelbild nicht lange und mußte zwischendurch erneuert werden, vielleicht hatte sie sich auch nur unauffällig mit ihren Schwestern beraten müssen. Nun jedenfalls war sie wieder da und so echt, wie sie auf ihre falsche Art nur irgendwie sein konnte. »Ein Engelsurteil werdet ihr haben, Bürger von Loringaril, so wie die Bürger von Doubladir eines erlebt haben, das ihnen gezeigt hat, daß dieser Junge hier, Varyniel, rechtmäßiger Erbe des Elomaran Vigilanders ist.«
Vigilanders? Hatte sie das wirklich gesagt? War das nicht eben noch Lorimander? Unruhe, Unglaube machte sich bereit im Burghof, aber der Dämmervogel redete einfach weiter. »Das Heilige Horn, Geschenk des Elomaran Lorimander an seine Kinder und Attribut der Könige Loringarils, ist verschwunden. Ohne dieses Horn konntet ihr den Krieg nicht gewinnen, und ohne dieses Horn werdet ihr auch keinen neuen König krönen können. Aber Varyniel wird dieses Horn nach Lomar zurückbringen als Zeichen seines wahren Blutes und seiner Würdigkeit. Ihr, die ihr hier versammelt steht, Bürger Loringarils und Doubladirs, vernehmet, wen ihr in Euren Reihen stehen habt: Es ist Varyniel vom Blute der Sechzehn, der die Länder einen wird und die Welt erretten, und das Schicksal hat bestimmt, daß sein Weg in Doubladir und Loringaril seinen Anfang nehmen wird. Beugt euch seinem Wort, und eure Länder werden erblühen, doch versagt ihm Hilfe, und es wird euer Untergang sein.«
Und dann, von einem Moment auf den anderen, als hätte sie nur darauf gewartet und wollte vermeiden, daß noch irgend jemand ihr eine Frage stellen konnte, war sie verschwunden.