Seine Majestät ritt nach
Lomar, führte nach der Schlacht am Aleruan sein Heer und seine
Generäle in die Hauptstadt des geschlagenen Feindes, um das
Ende des Krieges mit einem triumphalen Sieg zu
beschließen… So sehr hätte sich Gaven
gewünscht, einmal an diesem Moment teilhaben zu dürfen,
zu jubeln, mit dem König zu reiten, nicht irgendwo im
Fußvolk zu versauern, sondern ganz an der Spitze zu sein wie
ein großer Held - aber nicht um diesen Preis. Nicht, wenn
diese Majestät Varyn war.
Wenn sie Varyn früher König nannten, den König des
Tales, dann war das Teils Ehrfurcht, Teils Witz, und Teils Hohn.
Aber es war anderes, ob sich ein Rudel Kinder vor einem Jungen
verneigte und sich hinter seinem Rücken wieder über ihn
lustig machte, oder ein Haufen ausgewachsener Männer. Im Tal
hatte Varyn in dieser Rolle einfach mehr überzeugt. Er
lächelte seine Untertanen an und kam nicht auf die Idee, sich
zu entschuldigen dafür, daß er war, wie er war - er
akzeptierte, daß er einfach der Großartigste war, den
es gab weit und breit. Man mußte ihn dafür nicht lieben,
durfte eifersüchtig sein oder verächtlich, aber er war
einfach glaubwürdig, und er war einfach Varyn.
Und jetzt? Nichts davon. Varyn verhielt sich gegenüber Gaven,
als wäre ihm der ganze Trubel peinlich, und bei allen Engeln,
das sollte es ihm auch sein - aber früher hatte er nie ein
Problem damit gehabt, sich gegen Erwachsene durchzusetzen, sich zu
wehren, wenn ihm etwas nicht paßte: Das war doch einer der
Gründe, warum seinerzeit überhaupt erst alle Dorfkinder
zu ihm aufblicken, weil er sich nichts gefallen ließ. Aber
jetzt? Ließ er alles über sich ergehen, selbst wenn es
bedeutete, daß ausgewachsene Kerle vor ihm auf die Knie
gingen. Sie wollten ein Dankeschön hören oder ein
huldvolles Lächeln sehen oder was auch immer man von einem
König sonst noch so erwarten konnte, aber Varyn blickte sie
nicht einmal an, nur zu Boden oder zum Horizont oder sonstwo hin -
dachte er, daß sie dann schneller den Spaß daran
verloren, als wenn er einmal auf den Putz haute und ihnen sagte,
sie sollten sich gefälligst benehmen wie Männer? Aber er
benahm sich ja selbst nicht wie einer…
Gaven verfluchte Dannen, der sich einfach aus dem Staub gemacht
hatte und ihn und Varyn jetzt in der Scheiße sitzen
ließ. Der dachte wohl, er wär jetzt fein aus der Sache
raus, hat einen Dummen gefunden, mit dem sie jetzt alles machen
konnten, was sie wollten, Hauptsache, die Generäle
wußten, wo es lang ging - wirklich, wenn Gaven dem
Königssohn das nächste Mal gegenüberstand, dann
würde er dem aber sowas eines husten, daß dem Hören
und Sehen noch vergehen sollte. Und das gleiche galt für den
Hauptmann. Gaven hatte ja wirklich viel vom Hauptmann gehalten und
auch einigermaßen viel von Dannen, aber jetzt wußte er
es besser. Man durfte sich eben auf niemanden verlassen.
Und so ritt er nun, das war noch das einzig Gute an der Sache,
daß sie ihn ein eigenes Pferd haben ließen, ein
schwacher Trost, nach Lomar. Wenn sie gewußt hätten,
daß in Wirklichkeit Gaven derjenige mit dem Schwert war -
dann sähe die Sache jetzt ganz anders aus. Gaven hätte
einfach alle Leute nach Hause geschickt und die Generäle als
allererstes. Vom Krieg hatten sie alle erstmal genug gesehen, und
einen König brauchte auch kein Schwein - aber zuhause, da wo
die Familien warteten, da wurden die Männer wirklich
gebraucht. Wenn Gaven das Sagen gehabt hätte, dann hatte es
sich ausgekönigt. Aber Varyn? Ließ alles mit sich machen
wie ein totes Schwein.
Aber Gelegenheit darüber zu reden, oder über irgend
etwas anderes, hatten sie kaum. Gaven konnte froh sein, daß
und wenn Varyn ihn überhaupt in seine Nähe ließ -
was weniger an Varyn scheiterte als mehr an seinen neuen Freunden,
den Generälen, aber das hatte Gaven ja schnell kapiert. Die
wollten ihn nicht an Varyn heranlassen, und Gaven dachte immer noch
mit Wut und Schrecken zurück an die Nacht, die er im Heerlager
vor dem Generalshaus verbracht hatte, ohne zu wissen, was passieren
sollte und ob Varyn jemals wieder lebendig rauskommen sollte, das
war die schlimmste Nacht, seit Gaven erfahren hatte, daß
seine ganze Familie tot war, plötzlich war niemand mehr
übrig als er… Wenigstens durfte er jetzt wieder an
Varyn heran. Aber reden? Das konnte er vergessen.
Gaven versuchte, nicht daran zu denken und sich doch irgendwie von
der Stimmung anstecken zu lassen - nicht Varyns Stimmung,
natürlich, der machte nicht das Gefühl, als ob ihm noch
irgend etwas im Leben Spaß machte, sondern von der Stimmung
der Truppe. Gab es etwas besseres, als triumphierend auf die
Hauptstadt des besiegten Feindes zuzureiten? Seine Mauern
niederzureißen, seine Burg zu stürmen und am Ende die
eigene Fahne über seinen Zinnen zu hissen? Aber um wirklich
mit den anderen johlen und singen zu können, hätte Gaven
bei den Männern sein müssen, wo bis vor wenigen Tagen
noch sein Platz gewesen war, nicht vorne an der Spitze. Die
Generäle sangen nicht. Für sie schien das alles, der
ganze Sieg, nichts besonderes zu sein. Natürlich, sie hatten
das alles geplant, aber sie konnten sich doch zumindest freuen,
wenn alles so geklappt hatte, wie sie es sich gedacht hatten? Gaven
hatte kein Interesse, sich jetzt in einen General hineinzudenken -
die Zeiten, als das eine großartige Vorstellung gewesen
wäre, General Gaven, lagen lang zurück. Aber
natürlich hatten sie recht. Sie konnten nicht wissen, was sie
in der Stadt erwarten sollte, vielleicht ein großer
Hinterhalt, irgendwohin mußte die Armee von Loringaril ja
auch verschwunden sein… Aber darüber sollten sich die
Generäle einen Kopf machen, nicht Gaven. Und auch nicht
Varyn.
Lomar war eine verdammt
große Stadt, soviel stand fest. Man sah sie vor sich liegen,
lange ehe man sie erreichte, sie war auf einen Hügel gebaut,
vom denen Loringaril ja deutlich weniger zu bieten hatte als
Doubladir, und wie sie sich da erhob mit ihren weißen Mauern,
sah sie schon sehr eindrucksvoll aus und sehr… weiß.
Das war nichts, was man sich einfach so vorstellen konnte, eine
Stadt mit schneeweißen Mauern. Wurden die gar nicht dreckig?
Eine graue Stadt, das ging noch, aber eine weiße? Wenn man
aus einer Gegend kam, in der alles schwarz war von Kohle, dann war
das wirklich etwas sehr bemerkenswertes. Und groß war die
Stadt! Gaven versuchte, sich die Frage zu beantworten, ob Lomar nun
größer war als Car Diuree, aber da mußte er sich
eingestehen, daß er von seiner eigenen Hauptstadt nicht
wirklich viel mitbekommen hatte. Er erinnerte sich an die Burg und
noch etwas lebhafter an die Kerker darunter, aber die Stadt selbst
- ja, die war größer als jede andere, die Gaven jemals
gesehen hatte, aber das wollte nichts heißen, es war ja auch
seine erste Stadt. Aber jetzt entscheiden zu müssen, welche
unglaublich große Stadt größer war als die andere,
das ging nicht. In dem Moment war Lomar einfach die
größte Stadt der Welt, auch wenn sie so einen
lächerlich kurzen und nichtssagenden Namen hatte. Doch wenn es
danach ging, war der größte Name Elad Courblaka, und die
Engel wußten, was für ein sinnlos kleines Dorf sich
dahinter doch verbarg!
Gaven hätte gern Varyn auf die Stadt angesprochen, einfach um
zu erfahren, was sein Bruder davon hielt und was er fand, welches
die größere Stadt war - das war eine unverfängliche
Frage, die sollte Varyn doch noch beantworten können, ohne
daß seine Generäle ihn gleich wieder mundtot machen!
Aber es half nichts, er kam nicht an ihn ran. Um wirklich Worte mit
Varyn wechseln zu können, mußte Gaven wieder warten, bis
sie am Ziel angekommen waren, und dann versuchen, sich irgendwie an
Varyn anzupirschen - und dann waren sie längst in der Stadt
angekommen, und für solche Fragen war es zu spät. Gaven
biß sich auf die Zunge und fühlte sich sehr klein und
einsam. Er wollte das alles hinter sich haben, den ganzen Krieg und
alles, und dann Varyn nehmen und irgendwo hingehen, wo niemand
ihnen dazwischenquatschte und das Schicksal sie nicht finden
konnte. Die Schwestern waren doch an allem Schuld, und merkten noch
nicht einmal, daß sie Varyn kreuzunglücklich machten
damit!
Und dann, endlich, waren sie an der Stadt angekommen. Genauer
gesagt: An der Stadtmauer. Sie war um die ganze Stadt gezogen,
natürlich, alles andere hätte auch keinen Sinn ergeben,
und war mit einem großen Tor verschlossen. Aber man durfte
auch nicht damit rechnen, wenn man ankam als Sieger in einem Krieg,
daß der unterlegene Gegner schon auf einen wartete und alle
Türen und Tore sperrangelweit offen hielt, damit man auch
möglichst einfach die letzte Burg einnehmen konnte. Und diese
Burg, die man schon von unten gut sehen konnte, lag oben auf dem
Hügel, und bis dahin war es noch ein ganzes Stück. Da, wo
das Stadttor lag, hatte der Hügel noch nicht einmal
angefangen. Wie groß auch immer Car Diuree sein mochte,
dieses Lomar machte sich wirklich verdammt breit.
Aber immerhin, man hatte schon auf sie gewartet. Nicht mit der
ganzen Armee, diese Sorge war unbegründet, aber ein kleines
Grüppchen Männer löste sich aus dem Schatten des
Tores und schritt auf die Reiter zu. Sie trugen lange, dunkle
Gewänder, in denen sie ebenso wichtig wie lächerlich
aussahen, und auch so etwas wie eine Flagge trugen sie. Oder ein
Bettlaken an einer Stange, einfach nur ein weißes Tuch, nicht
besonders eindrucksvoll. Gaven hatte während des Krieges oft
genug die Farben Loringarils gesehen, hellblau und gold, aber
immerhin war hier auch der König gestorben, und vielleicht
gehörte es sich so, eine leere Flagge zu benutzen, bis man
einen neuen hatte.
»Halt!« rief einer von Varyns Generälen, und der
Ruf wurde nach hinten weitergetragen zu all den Fußsoldaten,
bis auch der letzte der Männer zu stehen gekommen war.
»Sie haben einen Unterhändler geschickt!«
Während um ihn herum alle Pferde stillstanden, versuchte
Gaven die Gelegenheit zu nutzen, weiter nach vorne zu kommen,
näher an Varyn heran und auch näher an die Männer
mit der weißen Fahne. Wenn er schon nichts zu sagen hatte,
wollte er wenigstens etwas sehen können. Und er war stolz,
daß sein Pferd ihm tatsächlich gehorchte - das war nicht
immer so, manchmal machte es, was es wollte, graste am Wegrand oder
rührte sich nicht, sofern sich die anderen Pferde nicht auch
vorwärts bewegten, aber der Hauptmann hatte es ja schon
gesagt, Gaven hatte ein Händchen für Pferde. Und dieses
hatte er sich inzwischen auch ganz gut gezähmt.
»In Lorimanders Namen!« rief der Mann mit der Fahne.
»Haltet an! Wir wollen verhandeln! Laßt die Waffen
ruhen!« Als er näher kam, sah er noch wichtiger aus,
dieses lange Gewand erinnerte nur von weitem an ein Nachthemd, aber
es war bestickt mit Mustern aus Gold - kein Mitglied der
königlichen Familie, vermutete Gaven, aber doch vielleicht
sowas wie der Bürgermeister der Stadt. Und wäre das nicht
die Gelegenheit gewesen, ihm den Kopf abzuschlagen und den beiden
anderen auch, die Schlüssel von Lomar an sich zu nehmen und
glücklich das ganze Erobern hinter sich gebracht zu haben?
Aber so eifrig die Doubladai bis zur großen Schlacht auch
gewesen waren, Loringarim zu töten, diese drei durften sich
tatsächlich unbehelligt nähern. »Wir suchen das
Gespräch mit Varyn von Doubladir!«
Varyn von Doubladir, war es wirklich schon so weit gekommen? Und
woher kannten die hier überhaupt Varyns Namen? Gaven sah, wie
Varyn bei den Worten zusammenzuckte und konnte es ihm nicht
verdenken, wenn die jetzt schon in Loringaril so taten, als
wäre Varyn der König, dann würde es wirklich schwer
werden, da wieder rauszukommen, und sei es nur mit einem blauen
Auge.
»Ihr müßt jetzt antworten«, sagte einer der
Männer, die um Varyn herumschwirrten wie die Fliegen um die
Scheiße, immer bereit, sich zu verbeugen, solange Varyn am
Ende alles so machte, wie sie es ihm sagten. »Aber seid
vorsichtig!«
Varyns Kopf fuhr herum, und einen Augenblick lang war ein zorniges
Funkeln in seinem Blick, daß an den Varyn von früher
erinnerte. »Haltet Euren Mund!« stieß er hervor.
»Ich bin kein Kleinkind, und reden kann ich selbst, denken
auch.« Laut antwortete er: »Ich bin Varyn. Wer seid
Ihr?«
Die drei Männer kamen noch näher, trugen ihre Fahne wie
einen Schild vor sich her, als ob sie das irgendwie beschützt
hätte gegen ein Heer von Tausenden von Soldaten mit
Schwertern, Speeren, Pferden und was sie sonst noch so dabei
hatten. »Ich bin Kevan von Lomar. Dies sind Sargas und
Harven. Wir waren Berater des letzten Königs von Loringaril.
Wir erbitten ein Wort mit Euch, Varyn.«
»Fragt sie, ob die Stadt bedingungslos kapituliert«,
zischte einer von Varyns Begleitern ungeachtet des letzten
Anraunzers, aber Varyn beachtete ihn nicht weiter.
»Kommt Ihr, um Eure Stadt zu retten, oder Euch
selber?« fragte er.
Die drei Männer tauschten kurze Blicke aus - offenbar hatten
sie von Varyn gehört, aber nicht genug, um ihn richtig
einschätzen zu können, aber wer konnte das schon, wenn
selbst Gaven regelmäßig an ihm verzweifelte? »Wir
sind in der Position, das Schicksal dieser Stadt zu verhandeln und
noch mehr«, sagte dann einer von den beiden, die nicht Kevan
hießen, vielleicht, weil er der älteste der drei war.
»Wir bitten Euch, mit uns zu kommen, ohne Eure
Männer.«
»In die Stadt?« fragte Varyn. Die Männer
nickten.
Das ist viel verlangt«, erwiderte Varyn. »Vor allem,
da ich nicht weiß, ob Ihr mir nicht eine Falle stellen
wollt.«
»Wir tragen die weiße Flagge«, sagte Kevan.
»Und wir sind unbewaffnet.«
»Aber gilt das auch für Euer Heer, das hinter den
Mauern wartet?« fragte Varyn. »Ich habe das meinen
Generälen gesagt« - jetzt nannte er sie tatsächlich
schon seine Generäle, was kam als nächstes? -
»und ich sage das gern auch Euch: Erstens, unterschätzt
mich nicht. Und zweitens, ich bin nicht der König von
Doubladir. Wenn Ihr mich umbringen wollt, tötet Ihr den
Falschen.«
»Nichts läge uns ferner«, antwortete Berater
Harven oder Sargas. »Bitte, kommt mit uns, es ist wichtig
-«
»Wenn es wichtig ist, dann können meine Männer das
ebenfalls hören«, antwortete Varyn, und mit jedem Wort,
das er sagte, schien er im Sattel seines Pferdes ein Stück zu
wachsen, verschwammen die Generäle und Hauptmänner und
was ihn sonst noch umschwirrte zu bloßen Schatten, die nichts
zu sagen und nichts zu bedeuten hatten.
Aber die drei Männer waren wohl zu lang Berater gewesen, um
sich von so etwas einschüchtern zu lassen. Und ganz dumm waren
sie dann wohl auch nicht. »Was wir zu sagen haben«,
sagte Kevan, »ist für Eure Ohren bestimmt und sonst
keine anderen. In Eurem eigenen Sinne, kommt mit uns.«
Varyn fing an zu lachen, wo immer er das jetzt hernahm.
»Wollt Ihr mich abwerben, schnell zu Eurem neuen König
machen, damit Doubladir es nicht mehr kann?«
Vielleicht sollte es ein Scherz sein, Gaven hoffte das, aber die
drei Männer erstarrten zumindest für einen Moment, bevor
sie sich wieder fingen - nicht, daß sie das jetzt wirklich
vorhatten? »Auf ein Wort, Varyn«, sagte Kevan,
»unter vier Augen. Bitte.«
»Und was haben meine Männer davon zu gewinnen?«
fragte Varyn. Langsam fing er wirklich an, wie ein König zu
klingen, und das machte Gaven eigentlich die größten
Sorgen. Er wollte nicht, daß der Junge am Ende noch
Spaß daran fand, und fragte sich, ob Varyn klar war,
daß die das ernst meinten und es nicht bloß irgendein
Spiel war…
»Ihr vermeidet Blutvergießen«, antwortete der
Loringarim. »Auf beiden Seiten.«
Die Stadt Lomar lag hinter ihnen, weiß vor den dunklen
Roben, unschuldig und sauber, und paßte so gar nicht zu dem
Krieg, den das Heer mit sich brachte. Gaven hatte die Dörfer
vor Augen, durch die sie gekommen waren, verlassen, niedergebrannt,
kein Stein mehr auf dem anderen. Lomar sah aus, als könne ihr
nichts etwas anhaben, aber die Vorstellung daß doch war
irgendwie… schrecklich. So eine große Stadt
zerstören - und erst die Menschen, es mußten
Abertausende hinter diesen Mauern leben. Wenn Varyn jetzt irgendwas
falsches sagte und das Heer das Stadttor nieder riß…
Plötzlich wurde es Gaven schlecht, und er hoffte, daß es
Varyn nicht anders erging.
Wieder waren Männer um Varyn, versuchten, ihn zu warnen, ihm
Dinge in den Mund zu legen, ihn kleinzureden - »Hört
nicht auf sie, es kann eine Falle sein«, oder »Wir sind
nicht in der Position, auf drei Robenträger Rücksicht
nehmen zu müssen«, oder »Sie wollen etwas von uns,
nicht umgekehrt«, oder »Wir haben schon gewonnen, die
Stadt gehört uns, so oder so« - Gaven konnte vieles
nicht genau verstehen, es ging zu sehr durcheinander und war zu
wenig für seine eigenen Ohren bestimmt, aber die Richtung war
klar: Varyn sollte auf das Angebot pfeifen und endlich sein Heer
siegreich durch die Straßen von Lomar führen, um am Ende
die Burg zu plündern und anzuzünden, oder so
ähnlich, das war es schließlich, worauf die Männer
schon seit Tagen warteten, seit sie den Befehl bekommen hatten, gen
Lomar zu marschieren statt nach Hause, wie sie es wohl alle lieber
getan hätten.
Aber es war noch mehr als das. Es war Varyns erste Chance, selbst
etwas zu entscheiden, seit er Gaven das Schwert weggenommen hatte
und von den Generälen mit Beschlag belegt wurde. Gaven
wußte genau, daß nichts von dem, was seit der Schlacht
geschehen war, auf Varyns Mist gewachsen war. Jetzt hatte er es in
der Hand - und vielleicht machte ihn das stark. Auch, wenn es
bedeuten konnte, seinen ersten richtig großen Fehler zu
machen, seit man ihn auf dieses Pferd gesetzt hatte.
Die drei Berater standen da und warteten. Ihnen konnte nicht
entgehen, wie die Generäle Doubladirs von allen Seiten auf
Varyn einredeten, und Gaven wollte nicht wissen, was sie sich jetzt
dabei dachten - er hatte ein paar Gerüchte gehört
über diese Berater, daß sie die wahren Herren von
Loringaril waren und die Könige nur ihr Spielzeug, und das
konnte auch erklären, warum hier jetzt keine
stärkeblütigen Engelsgeborenen standen, um zu verhandeln,
sondern drei ziemlich unscheinbare Kerle in Kutten - aber die
sollten nicht auf die Idee kommen, daß es in Doubladir
genauso ablief und Varyn selbst seinen Generälen nach dem Mund
plapperte. Am liebsten hätte sich auch Gaven an Varyn
rangeschoben und ihm gesagt, er solle sich bloß nicht
unterkriegen lassen, jetzt oder nie, aber zum einen hätte das
diesen blöden Gesamteindruck nur verstärkt, und zum
anderen war da kein Platz mehr, so viele Männer wollten gerade
gleichzeitig etwas von Varyn. Als er noch allein an der Spitze
geritten war und alle anderen hinter ihm, hatte das doch deutlich
eindrucksvoller ausgesehen -
Und dann rief Varyn: »Genug!«
Einen kostbaren Moment lang herrschte Stille, bevor Varyn
weitersprach. »Kevan, Berater, ich werde mit Euch gehen,
allerdings nicht allein. Ihr seid zu dritt, Ihr werdet verstehen,
daß auch ich eine Auswahl meiner Männer mitnehmen werde.
Ansonsten bin ich bereit.«
»Und wenn es doch eine Falle ist?« fragte ein letzter
seiner Einflüsterer, aber da schüttelte Varyn nur den
Kopf.
»Dann ist es eine. Aber ich will kein Blutvergießen,
nicht für uns und nicht für die Menschen von Lomar. Wenn
ich dafür kein Risiko eingehen mag, dann tauge ich gar
nichts.« Dann wieder zu den Beratern: »Ihr akzeptiert
meine Bedingungen?«
Die drei nickten. Sie konnten nicht ernsthaft damit gerechnet
haben, Varyn allein zu bekommen - was auch immer Gaven gegen die
Generäle sagen mochte, angefangen damit, daß sie
versucht hatten, Gaven aus Varyns Leben zu drängen, er
wäre schön blöd gewesen, sie in der Situation nicht
mitzunehmen. Und den Kriegsbotschafter vielleicht auch noch - falls
sie sich entschließen sollten, den Krieg für beendet zu
erklären, war das bestimmt der richtige Mann dafür, oder?
Gaven konnte sich nicht wirklich vorstellen, wofür ein
Kriegsbotschafter gut sein sollte, aber zumindest konnte der ein
grimmiges Gesicht machen… Aber der erste Name, den Varyn
dann nannte, war »Gaven.«
Alle zuckten sie zusammen, am allermeisten Gaven selbst, aber das
war kein Witz. »Ich möchte, daß mein Bruder mich
begleitet«, sagte Varyn, nur so zur Sicherheit, falls von den
anderen Männern noch jemand Gaven hieß, ganz selten war
der Name ja nicht.
Gaven schluckte. Plötzlich war für ihn die Frage, ob
hinter dem Stadttor eine Falle lauerte, dringender als vorher. Aber
egal. Es war gut so. Wenn Varyn sich noch an ihn erinnerte, und das
vor allen anderen, konnte noch nicht alles verloren sein.
Aber dann war Gaven doch nur der erste von mehreren. Varyn war zu
schlau, um nur Gaven in so einer heiklen Situation mitzunehmen.
Oder hatte er sich inzwischen so sehr daran gewöhnt, von einem
Rudel Generäle begleitet zu werden? Jedenfalls verkündete
er, daß ihn die Generäle Davor, Dernik und Korant
begleiten sollten, während General Hayko bei den Truppen
bleiben sollte, und erstaunlicherweise auch der Kriegsbotschafter -
vielleicht war das doch ganz klug, denn wenn Varyn den Frieden
ausrufen wollte, Ansgar aber flugs den nächsten Krieg
ankündigte, konnte das ärgerlich enden. Statt dessen nahm
Varyn noch Dannens Bruder mit, den Bastard.
Gaven schluckte, als Varyn das sagte. Dannen, wirklich, mit dem
war er immer gut ausgekommen, bis auf jetzt, natürlich. Aber
bei diesem Rul mußte er die ganze Zeit Angst haben, daß
der ihm den Kopf abschlug, um zu prüfen, ob sein Schwert noch
scharf war - das war niemand, der in Varyns Nähe gehörte,
oder in die von sonstwem, sondern am besten in eine verlassene
Höhle gesetzt werden sollte, um dort vor sich hin zu grollen.
Andererseits sollte man ihn auch nicht mit dem Heer alleinlassen -
wenn man wollte, daß die Armee noch auf einen hörte,
wenn man wieder zurückkam. Und so war es sicher das kleinere
Übel, Rul mitzunehmen und ihn denken zu lassen, daß er
wichtig war. Was die Auswahl der Generäle anging - dazu konnte
Gaven nicht viel sagen, die waren einer wie der andere für
ihn.
Die Berater aus Lomar widersprachen nicht, als Varyn doch so viele
Leute mitnehmen wollte. Wenn sie auch nur einigermaßen schlau
waren, und das waren sie sicher, hatten sie von Anfang an damit
gerechnet. Aber wenn sie nicht gesagt hätten, Varyn solle
alleine kommen, hätten sie jetzt nicht nur einen Bruder, drei
Generäle und einen Bastard an der Backe, sondern auch noch ein
paar Dutzend Hauptmänner und tausend Soldaten - so hatte jetzt
jeder das, was er wollte.
Und dann gab es kein Zurück mehr, als die drei Männer
ihnen das Stadttor öffneten und sie dahinter in der Stadt
Lomar verschwanden, und im Ungewissen.
So war sie nun also ganz dahin,
die triumphierende Stimmung. Die drei Berater schritten vorweg -
gut, reiten konnte man in diesen Kutten wohl kaum - und die Reiter
folgten ihnen so langsam, daß sie ebensogut hätten
absteigen und die Pferde führen können, oder die Pferde
gleich bei den anderen zurücklassen. Aber auch wenn die
Straße hier sicher breit genug war, um mit der ganzen Armee
festlich den Berg hinauf zu marschieren, fehlte doch irgendwie das
Entscheidende: Die Menschen. Die Stadt schien völlig
verlassen. Niemand stand am Straßenrand, schwenkte in
trotzigem Zorn die Fahne von Loringaril, beschimpfte die Doubladai,
bespuckte sie oder schmiß mit Steinen; niemand jubelte, weil
das Kämpfen endlich vorüber sein sollte: Niemand. Niemand
war da.
Gaven fröstelte plötzlich - hier in Loringaril schien
der Winter immer noch weit weg zu sein, aber dieser Schauder kam
von innen. Hatte er eben noch überlegt, wieviele tausend
Menschen wohl in so einer großen Stadt lebten, sah es hier
drinnen so aus, als ob es niemanden gäbe außer ihnen
selbst. Nicht nur die Straßen waren wie leergefegt - die
große, auf der sie ritten, und alle schmalen, die sie
passierten - aber auch die Häuser wirkten tot und verlassen.
Man konnte nicht hineinblicken, die Fensterläden waren
vorgelegt, mitten am Tag, und das nicht bei einem Haus, sondern bei
allen. Was war dahinter? Gaven wußte es nicht. Er stellte
sich neugierige Kinder vor, die heimlich durch die Ritzen
spähten, um ein bißchen von den fremden Eroberern zu
erspähen, und hätte gerne zurückgespinxt, aber
ebensogut konnten die Häuser leer und verlassen sein.
Eine Stille hing über der Stadt, die Gaven wieder an diesen
schrecklichen Moment erinnerte, als sie damals in ihr Tal
zurückkehrten - da hatte ihnen auch das Fehlen aller
Geräusche verraten, daß etwas nicht stimmte. Hier war
alles, was sie hören konnten, die Hufe ihrer Pferde auf der
gepflasterten Straße, und hinter ihnen konnten sie noch die
eigenen Soldaten erahnen, die auf der anderen Seite des wieder fest
verschlossenen Stadttores wohl ihr Lager aufschlugen. Aber sonst?
Gab es nichts zu hören. Lomar war so still, wie eine lebende
Stadt es niemals sein konnte.
Gaven zog seine Joppe etwas fester um sich und tat das, was er in
den letzten Tagen bis zur Perfektion geübt hatte: Er
beobachtete. Wenn man bei allem dabeisein durfte, aber bei nichts
mitreden, und froh sein mußte, zumindest bei der
Essensausgabe nicht völlig vergessen und überrannt zu
werden, lernte man viel übers Beobachten. Am meisten
beobachtete Gaven Varyn, konnte schon vom Anblick seiner Schultern
sagen, wie es ihm ging und ob er glücklich war mit seiner
Situation. Varyn konnte die Stimme verstellen, zuversichtlich
klingen oder herrschaftlich, aber seine Schultern waren so hart und
angespannt, daß er sich die ganzen Lügen sparen konnte.
Jetzt war es nicht anders. Jetzt verriet sein Rücken Angst.
Das, was Gaven aufgefallen war, entging auch Varyn nicht,
natürlich, Varyn war empfindlich für so etwas. Wie damals
in Sharaz, nur daß sie hier spüren konnten, wie die Zeit
verging - nur in welche Richtung lief sie? Es konnte ebensogut
rückwärts sein.
Alle Tore von Lomar waren geschlossen. Und das waren nicht nur die
Stadttore außen, wo Vigilanders Armee - oder hieß die
inzwischen Varyns Armee? - lag und nicht hineindurfte, sondern auch
die Tore innerhalb der Stadt. Immer wieder kamen sie an einer Mauer
an, wo sie warten mußten, bis die Berater vorgingen, durch
eine Klappe im Holz mit dem Torwächter sprachen und dann das
Tor öffnen ließen. Aber nicht einmal diese
Torwächter, das einzige Anzeichen von Leben in der Stadt,
bekamen sie zu sehen. Sie hörten nur, wie hinter ihnen das Tor
wieder verrammelt wurde, und dann fiel Gaven jedesmal ein,
daß er sich doch eigentlich hatte umsehen wollen, aber dann
war es zu spät. Das einzige, was die ganze Zeit über im
Blick war, oder sie im Blick hatte, war die große Burg, die
oben auf dem Berg auf sie wartete. Burg oder Schloß, Gaven
kannte den Unterschied nicht, und in dem Moment wollte er ihn auch
nicht kennen müssen - dieses Gebäude machte ihm Angst. Er
konnte es an nichts festmachen, aber irgendwie wirkte diese Burg
noch töter und verlassener als der Rest der Stadt. Und mit
jedem Stadttor, das sie vorwärts rückten, wuchs dieses
Gefühl, nicht nur bei Gaven.
Die Männer redeten nicht, weder untereinander noch mit den
Loringarim. Die Generäle ritten ruhig, als gäbe es nichts
gewöhnlicheres, als durch so eine Stadt zu reiten. Sie waren
schwerer zu lesen als Varyn, weil ihre Rüstungen verbargen, ob
sie nun entspannt waren oder Angst hatten, und Gaven konnte sich
nur an dem orientieren, was er von ihren Nacken zwischen
Rüstung und Helm erkennen konnte. Aber zumindest konnte er
sagen, daß sie nicht die Köpfe einzogen, und wo sich
Varyn immer wieder nach den Seiten umblickte, saßen sie ruhig
und gelassen, als ob sie schon tausendmal in dieser Stadt gewesen
waren und sie jedesmal genau so ausgesehen hatte wie jetzt. Oder
man wurde nur dann ein General, wenn man sich im Leben durch nichts
erschüttern ließ.
Aber Gaven wurde immer kleiner, je weiter sie kamen. Er hätte
gern mit Varyn gesprochen, nur ein paar Worte, hören, ob es
dem Bruder so ging wie ihm selbst oder ob Varyn ihn beruhigen
konnte, aber es ging nicht. Solange Varyn direkt zwischen den
Generälen ritt und auch die drei Berater ihn ständig
beobachten konnten, durfte der sich keine Blöße geben,
die irgendwie nach Unsicherheit oder Angst geklungen hätte.
Diese Geier waren bereit, ihn jeden Moment zu zerfleischen. Und so
blieb Gaven nichts als seine eigene Beklommenheit und der Blick auf
Varyns Hand, die so verkrampft am Knauf seines Schwertes lag, als
hätte er nicht inzwischen eine Scheide dafür bekommen und
wäre gezwungen, es immer noch unentwegt in der Hand zu halten.
Varyn hatte Angst. Aber Gaven hoffte, daß außer ihm das
jetzt niemand so direkt bemerkte.
Zu spät kam er auf die Idee, daß er besser versuchen
sollte, die fremden Berater zu beobachten - ihre Roben zeigten, was
eine Rüstung verborgen hätte. Hatten sie Angst, und wenn
ja, vor wem - vor Varyn? Nein, nach Angst sahen sie nicht aus,
obwohl doch ziemlich viel auf dem Spiel stehen sollte, ihre eigenen
Leben und die aller Menschen in der Stadt. Aber zumindest von
hinten sahen sie nicht aus wie jemand, der Angst hatte. Aber wie
jemand, der etwas verbarg. Etwas wichtiges. Plötzlich
fühlte sich die ganze große Stadt mit ihren vielen
versperrten Toren vor ihnen und hinter ihnen an wie eine Falle, wie
ein riesiges Gefängnis unter freiem Himmel. Und daß der
blau war und klar und eigentlich das Lied eines schönen Tages
sang, war nichts mehr wert. Gaven wäre am liebsten weggerannt.
Doch dafür war es jetzt zu spät.
Das letzte Stück Weg bis zur Burg war das Unheimlichste. Die
drei Männer hätten viel Zeit gehabt, zumindest Varyn zu
sagen, um was es ging und wer sie nun dort erwartete, aber nichts
davon. Wenn Gaven etwas zu sagen gehabt hätte, sie wären
nicht in den Burghof geritten. Aber ob Varyn sich nun zuviel
zutraute oder zuwenig Mißtrauen im Leib hatte, er ging mit,
und sie andere hatten nicht viel Wahl, als ihm zu folgen.
Erst, als sie im Burghof standen, erhob Berater Kevan das Wort.
»So, und nun… genug der Maskerade. Ihr wißt
genau, warum wir hier sind, Varyn.«
Varyn antwortete nicht, bevor er vom Pferd gestiegen war, auch
wenn er so noch schlechter fliehen konnte, sollte es eng werden.
Aber Gaven nickte und saß ebenfalls ab. »Ich weiß
nicht, wovon Ihr redet«, sagte Varyn dann. »Ich kann
mir viele Gründe denken, aber -«
»Spart Euch die Spielchen!« knurrte Kevan.
»Solange alles geht, wie Ihr es geplant habt, solange wir
keine andere Wahl haben, müßt Ihr uns nicht auch noch
verhöhnen.«
»Er sagt die Wahrheit«, erwiderte der alte General
Davor. »Der Junge hat nichts mit der Sache zu tun.
Außer, daß er den endgültigen Befehl erteilt hat.
Mehr weiß er nicht.«
»Was geht hier vor?« fragte Varyn, und seine Stimme
war ein wenig schriller als sonst. »Was ist geschehen?«
Ein Herr der Situation sah anders aus, und vor allem klang er
anders. In dem Moment war Varyn nur ein Junge, der sich mit den
falschen Freunden eingelassen hatte und das zu langsam begriff.
Die Berater blickten einander an, ein wenig unsicher, ein wenig
ungläubig, aber offenbar hatten sie wirklich keine Wahl. Dann
sagte Harven, der wohl der älteste von ihnen war und das Recht
hatte, die wirklich ernsten Sachen zu sagen: »Lorimander ist
tot.«
Varyn nickte und schien aufzuatmen. »Ja, das weiß ich,
ich war dabei, als es…« Er brach ab, als er den Blick
des Mannes auf sich ruhen saß.
»Lorimander ist tot«, sagte Harven noch einmal.
»Jeder einzelne von ihnen. Nicht nur der König, alle.
Seine ganze Familie.«
»Auch die Frauen«, setzte Kevan leise hinzu.
»Auch die Kinder. Abgeschlachtet durch feige Mörderhand,
mitten in der Nacht.«
Am liebsten wäre Gaven aufgesprungen, um größer zu
wirken als er war, und hätte laut gebrüllt ‘Halt!
Stop! Aufhören!’, damit die Zeit anhielt und alles
für den Moment still war, den Gaven brauchte, um das
überhaupt zu erfassen. In dem Moment war es einfach zu
groß für ihn. Tot - wer war tot? Der Engel Lorimander,
oder was? Welche Frauen, welche Kinder? Es war doch Krieg, da
starben Leute nun mal - aber hier in der Stadt? War die ganze Stadt
tot? Waren darum alle Fenster verrammelt, alle Tore verschlossen?
Gaven verstand nicht, und das war das Beste, was er darüber
sagen konnte.
Aber die Zeit blieb nicht stehen. Und Varyn, anders als Gaven,
verstand, was geschehen war, verstand schneller, als irgend jemand
reagieren konnte, und das nächste, was Gaven mit den weit
aufgerissenen Augen des Entsetzens sah, war, wie Varyn sein Schwert
zog, Vigilanders heiliges Schwert, und damit auf General Davor
zustürmte. »Du Scheißkerl!« brüllte er,
und für einen Moment war jeder Hauch königlichen Gehabes
von ihm abgefallen, brach der eigentliche Varyn durch die Schichten
wie das Schwert durch Davors Rüstung, der den Angriff nicht
kommen sah und nicht schnell genug ausweichen konnte oder sein
eigenes Schwert ziehen. Varyn brüllte wie von Sinnen, die
Schimpfwörter waren noch das beste dabei, und es mußten
beide andere Generäle ihn von hinten packen und von Davor
wegzerren, sonst hätte Varyn ihn vielleicht noch umgebracht.
So blieb der Mann auf seinen Beinen, auch wenn er blutete und sein
Gesicht plötzlich weiß war.
Mit der Hand hielt sich Davor die Seite; er war der älteste
der Generäle, aber jetzt sah er auch so aus.
»Varyn«, preßte er zwischen zusammengebissenen
Zähnen hervor, aber selbst wenn er lauter gewesen wäre,
es war fraglich, ob Varyn ihn hörte in diesem Moment.
Ausgerechnet die feindlichen Botschafter mußten sich um ihn
kümmern, als plötzlich die Beine unter dem General
nachgaben, seine eigenen Männer waren viel zu sehr damit
beschäftigt, Varyn festzuhalten, zu dritt.
»Dafür habt ihr mich gebraucht - wart ihr zu feige, die
Entscheidung selbst zu treffen?« schrie Varyn. »Ihr
wußtet, daß ich niemals, niemals, niemals in so etwas
eingewilligt hätte!« Er war stark, und jetzt sahen die
anderen endlich einmal, wie stark wirklich. »Und sie einfach
abschlachten, mit allen Frauen und Kindern - seit ihr von allen
Engeln verlassen? Aber das in meinem Namen zu machen -«
Gaven stand nur einen Schritt von diesem ganzen Geschehen entfernt
und doch in seiner eigenen Welt. Langsam sickerte auch zu ihm
durch, was geschehen war, und hätte Varyn nicht reagiert, wie
er reagierte, er wäre die längste Zeit Gavens Bruder
gewesen. Ihm juckten die Finger, er mußte etwas tun, zeigen,
daß er auf Varyns Seite stand und nirgendwo sonst, und
daß man das auch mit ihm nicht machen konnte, Leute einfach
so umbringen…
Gaven wußte nicht, wo er die Stärke hernahm oder den
Mut, aber plötzlich stand er vor Davor, der in dem Moment
einfach an allem Schuld war, obwohl das nicht stimmte, sie waren
alle Schuld, auch der vierte General, auch der Kriegsbotschafter -
aber plötzlich stand Gaven vor Davor, und es war ihm egal,
daß der Manns schon blutete und gestützt wurde, er gab
ihm eine Ohrfeige. Nicht wie früher, wenn er Harkon ohrfeigte,
weil der frech gewesen war oder ihn sonstwie geärgert hatte,
sondern mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, wie wenn man
jemandem den Krieg erklärte. Und dann, wie von einer
unsichtbaren Schnur gezogen, drehte Gaven sich um zu den
Männern, die Varyn festhielten wie einen tollwütigen
Bullen, und schlug einen jeden von ihnen ins Gesicht.
»Laßt meinen Bruder los!« schrie er. »Und
wagt es nicht, ihm noch einmal unter die Augen zu treten!«
Gaven war ganz und gar zornig, aber gleichzeitig ganz und gar
beherrscht, nicht wie Varyn, der wütete und brüllte und
ganz und gar von Sinnen war und dabei endlich wieder er selbst,
sondern ganz fremd und kalt, so, wie sich Gaven immer Vigilander
selbst vorgestellt hatte. Denn das fehlte in diesem Moment:
Daß der Engel der Rache persönlich auftrat und seine
Generäle zusammenfaltete für einen feigen Mord, der
niemals in seinem Sinne gewesen sein konnte.
Aber anstatt daß die Generäle oder Rul auf Gavens
Ohrfeigen reagierten, kam Varyn wieder zur Besinnung. Man sah es
daran - zumindest, wenn man wie Gaven den Anblick kannte und
wußte, worauf man achten mußte - wie seine Augen wieder
normal wurden, wieder dunkelgrau, nicht hell, und nicht mehr von
einem Kreis aus Weiß umgeben waren. Varyn war bleich, aber er
atmete wieder wie ein normaler Mensch, aber auch wenn die
Männer, die ihn hielten, das merken mußten, wagten sie
doch noch nicht, ihn wieder loszulassen, nicht, solange Varyn immer
noch das Schwert in der Hand hielt, das ihm niemand abnehmen
konnte. »Gaven!« sagte er. »He, Gaven!«
Gaven blieb vor ihm stehen. »Varyn, ich -«
»Du hast eine Ohrfeige vergessen«, sagte Varyn laut
und ruhig.
»Aber ich wollte die Berater nicht einfach schlagen, die
können doch nicht dafür…«
»Du hast mich vergessen«, sagte Varyn, und langsam
merkten auch die beiden Generäle und Rul, daß es doch
nicht mehr unbedingt nötig war, ihn gleich zu dritt
festzuhalten, und ließen von ihm ab. »Mich mußt
du auch schlagen.«
»Aber du kannst nichts dafür!« antwortete Gaven.
Er wollte Varyn nicht schlagen, zumindest nicht hier vor allen
Leuten, er wollte zeigen, daß sie zusammengehörten, und
daß es die Kriegsherren waren, die sich schämen sollten.
Nicht Varyn.
»Ich habe es ihnen erlaubt«, sagte Varyn. »Ich
habe nicht gefragt, was ihr Plan ist, ich habe ihnen einfach
erlaubt, ihn durchzuführen. Wenn hier irgend jemand
verantwortlich ist, dann bin ich das.« Ja, auch das war
Varyn, sehr Varyn, und normalerweise hätte er nicht lange
bitten müssen, um sich eine Ohrfeige von Gaven zu fangen -
aber nicht jetzt. Jetzt mußte eine Grenze gezogen werden. Und
andersrum, dafür daß Varyn diesen Scheiß abgenickt
hatte, konnte er sich nicht mit einer Ohrfeige freikaufen. Das
mußte er mit sich selbst ausmachen. Und Gaven bemühte
sich, nicht daran zu denken, daß Varyn jetzt Blut an seinen
Händen hatte, anders als in der Schlacht… Gaven hatte
nie gefragt, ob Varyn in der Schlacht Menschen getötet hatte.
Er wußte nur von einem Pferd, und alles andere wollte er
nicht wissen. Ihm gefiel der Gedanke nicht, daß Varyn Leute
umbrachte. Und wenn es im Krieg geschah, Gaven wußte, wie es
sich anfühlte, Menschen zu verlieren. Und Varyn sollte das
niemandem antun.
»Es tut mir leid«, sagte Varyn. Sagte er das zu Gaven,
damit der ihm verzieh? Oder zu den Beratern, damit sie ihn nicht
umbrachten? Oder zu sich selbst? »Ich wollte das nicht. Es
ist meine Schuld, aber es tut mir leid.«
Wen auch immer er meinte, es war der Berater Kevan, der
antwortete. Die drei Männer hatten sich das Spektakel
angesehen mit Gesichtern, als ob sie nur die Hälfte von allem
glaubten und den Rest für eingeübt hielten, um ihnen
Varyn als großen Helden zu verkaufen, aber zumindest den
Angriff auf General Davor schienen sie auch nicht vorhergesehen zu
haben. »Das hilft uns nicht weiter«, sagte er dumpf.
»Unser Königshaus ist tot und ein Großteil unserer
Berater, und uns kann egal sein, wer den Befehl dazu gegeben hat
und wer den Einfall hatte. Uns geht es um die Frage, was mit
unserem Land geschehen soll.«
»Seit der Gründung von Loringaril«, redete Harven
weiter, der damit die Versorgung von Davor dem dritten Mann
überließ, abgesehen davon, daß der General auch
langsam wieder sicher auf den Füßen stand; Varyn hatte
ihn wohl nicht so schlimm erwischt, wie es zunächst aussah,
»haben immer Lorimanders Nachkommen über das Land
geherrscht, vom allerersten Tag an. Seine Nachkommen waren
zahlreicher als die jedes anderen Elomaran. Wir können uns
nicht vorstellen, daß sein Haus von einem Tag auf den anderen
ausgestorben sein soll.«
Gaven hätte ihn gerne angesehen, die Schultern gezuckt und
gesagt ‘Und? Ist das unser Problem?’ - aber ja, es war
ihr Problem, das war das eine, und er wollte es sich auch nicht mit
einem Engel verscherzen, noch dazu mit dem stärksten von allen
- also konnte er froh sein, daß er nicht in der Position war,
etwas sagen zu müssen.
»Es tut mir leid«, wiederholte Varyn, diesmal ganz
klar an die Loringarim gerichtet. »Aber es liegt nicht in
meiner Macht, das wieder gutzumachen.«
Gaven wünschte sich, dies alles hätte bald ein Ende.
Oder, noch besser, sie wären nie mit den Loringarim gegangen.
Jetzt fehlte nur noch, daß die gleich das Schloß
betreten mußten und in jedem Raum tote Leute lagen, Blut
überall, Gaven hatte es genau vor Augen, und seit der Schlacht
wußte er, wie Blut und tote Leute aussahen, der Geruch stieg
ihm schon wieder in die Nase und drehte ihm den Magen um. Trotzdem,
das hier war etwas anderes - aber sie waren mitgegangen, und sie
konnten nicht einfach wieder gehen. So standen sie im Burghof, und
die Luft zwischen ihnen hätte man schneiden können - da
waren die Generäle und Rul, die gut daran taten, erst mal gar
nichts zu sagen und ganz kleine Brötchen zu backen, wenn sie
nicht wollten, daß Varyn noch einmal ausrastete, immerhin
hielt der noch sein Schwert in der Hand. Da war Varyn, der nichts
anderes mehr sagen konnte, als daß es ihm leid tat, und da
waren die Berater - die doch irgend einen Plan haben mußten,
sonst hätten sie Varyn nicht einfach so mitgenommen. Sie
hatten tagelang Zeit gehabt, sich auf diese Situation
vorzubereiten, jetzt sollten sie besser mal damit rausrücken.
Das hätte ihnen Gaven am liebsten zugerufen, aber er biß
sich lieber auf die Zunge. Jedes Wort von ihm konnte das falsche
sein.
Und dann sagte eine Stimme hinter ihnen: »Doch.« Gaven
gefror bei den Worten. »Doch, es liegt in deiner
Macht.«
Er fuhr nicht herum mit den anderen. Es reichte ihm, die Reaktion
in den Gesichtern zu sehen - in denen der Berater, der
Generäle, Varyns. Vor allem Varyns. Ihn wollte, durfte Gaven
jetzt nicht mehr aus den Augen lassen, auch wenn irgendwo hinter
ihnen der Dämmervogel stand. Gerade dann.
»Halt!« rief Kevan, der wohl die Rolle des Hausherrn
übernommen hatte und als erster die Sprache wiederfand.
»Rührt Euch nicht! Wer seid Ihr? Wie kommt Ihr hier
herein? Alle Tore sind verschlossen!«
Ein leises Lachen verriet Gaven, daß der Dämmervogel
näher kam. Eigentlich mußte er zugeben, daß es ihn
nicht wunderte. Varyn hatte die letzten Tage über, bei jeder
Gelegenheit, wo sie ein paar vertrauliche Worte miteinander
wechseln konnten, erklärt, daß er nicht
wüßte, was er tun sollte, ohne mit dem Dämmervogel
gesprochen zu haben. Und wenn Varyn schon täglich mit der Frau
rechnete, mußte sie auch irgendwann einmal auftauchen - aber
das sie das hier tat, mitten im Schloßhof, vor so vielen
Leuten, das war doch einmal etwas anderes. Langsam und mit
Füßen, die kaum den Boden zu berühren schienen,
trat der Dämmervogel in ihre Mitte. Da, es war gar nicht
nötig, sich umzudrehen. Obwohl Gaven die Frau am liebsten
nicht gesehen hätte.
Diesmal trug sie ein fast schwarzes Kleid, in dem kleine Sterne zu
tanzen schienen, und Gaven überlegte einen Moment lang, ob es
nicht doch eine der anderen Schwestern war, das Orakel der Nacht -
die drei sahen sich so ähnlich, von ihren Haarfarben
vielleicht mal abgesehen, und Gaven hatte nicht soviel Zeit damit
verbracht, sie sich anzusehen, wie vielleicht Varyn. Aber zumindest
ihr Gesicht war so, wie er sich erinnerte, irgendwie schön und
irgendwie kalt, auch wenn sie die Haare jetzt lang und offen trug
statt hoch über dem Kopf aufgetürmt und damit ein
bißchen menschlicher aussah. Ihre Augen, irgendwo zwischen
schwarz und violett, wanderten über die Anwesenden, ohne sich
lang an Gaven festzuhalten, und noch bevor sie wieder den Mund
auftat, wußte Gaven, daß sie nicht wirklich da war. Sie
machte ihre Gesten mit der linken Hand statt mit der Rechten, als
sie die Gruppe abzuzählen schien. Diese Frau war nur ein
Spiegelbild. Die echte mußte irgendwo in Sharaz sein.
Und das schien auch Varyn zu wissen. Sonst hätte er nichts
besseres tun können, als mit dem Schwert voran zu ihr
hinzustürmen und ihr den Kopf abzuhacken, schließlich
hatte sie ihnen den ganzen Schlamassel überhaupt erst
eingebrockt, wenn sie nicht noch an Schlimmeren Schuld war.
»Laßt Eure Schwerter ruhen«, sagte sie mit
dieser Stimme, die durch Mark und Bein ging, egal, wie oft man sie
schon gehört hatte; man konnte sich nicht darauf vorbereiten,
mit der besten Konzentration nicht. »Ich bin der
Dämmervogel, und ich habe euch etwas mitzuteilen.«
Gaven war froh, daß er sie schon kannte - erst nur aus
Varyns Erzählungen, wo sie eine Einbildung hätte sein
können wie so viele andere, und dann in echt: Jetzt hatte er
den erwachsenen Männern, denen die Gesichtszüge
entglitten, als wüßten sie nicht, ob sie träumten
oder wachten, und die gleichzeitig ihren Blick nicht abwenden
wollten, etwas voraus. Er mußte nicht so tun, als ob er noch
nie eine Frau gesehen hatte… Die Kriegsherren sollten ja
eigentlich schon an solche Überraschungen gewöhnt sein,
so wie Varyn denen quasi vom Himmel gefallen war, aber
natürlich war der Dämmervogel ein erfreulicherer Anblick
als so ein dürrer Bengel. Aber die Loringarim - was auch immer
sie geplant haben mochten, jetzt mußten sie sich etwas neues
einfallen lassen.
Aber am verwundertsten von allen schien Varyn zu sein. Daß
nicht nur er diese Frau sehen konnte, sondern auch andere,
mußte ihn völlig aus der Bahn werfen. So starrte er den
Dämmervogel nur an, seine Augen wurden immer größer
dabei, und daß er wenigstens den Mund dabei geschlossen
hielt, war ihm hoch anzurechnen.
»Ihr Berater der Könige Loringarils«, sagte der
Dämmervogel, »ihr seid in Sorge um das Schicksal eures
Landes. Seid unbesorgt. Es gibt einen Erben, einen
rechtmäßigen Nachkommen Lorimanders, und er
lebt.«
Jetzt waren es die Generäle, von denen auch Davor inzwischen
wieder bei den anderen stand, Blut hin oder her, er gehörte
nicht auf die Seite Loringarils, die verstohlene Blicke
austauschten. Wen hatten sie übersehen? Sie durften es nicht
laut sagen, natürlich ging es ihnen darum, Loringaril zu
vernichten, damit sie es sich dann einverleiben konnten wie ein
leckeres Würstchen, und mit Varyn hatten sie einen Dummen, den
sie auf den Thron hieven konnten und durch ihn zwei Länder auf
einmal regieren. Wo da der Unterschied sein sollte zu dem, was man
sich über Loringaril und die Berater erzählte,
wußten weder Gaven noch die Berater selbst.
»Das kann nicht sein«, sagte Harven. »Der
Stammbaum des königlichen Hauses wurde seit Jahrhunderten
akribisch geführt, und niemand hat es überlebt
-«
»Es gibt einen lebenden Erben.« Der Dämmervogel
duldete keine Widerworte, das hätte Gaven dem Mann auch so
sagen können. Aber in dem Moment hatte er andere Sorgen: Er
ahnte nämlich, was jetzt kommen mußte. Ein bißchen
wurmte es ihn, daß damals in Sharaz die Schwestern darauf
bestanden hatten, daß Gaven draußen wartete, als Varyn
seine Wahrheiten erfuhr, und jetzt erzählte sie das ganze vor
einem Haufen Leuten, die viel weniger mit Varyn zu tun hatten als
Gaven selbst. Immerhin, er durfte jetzt mithören, ob er wollte
oder nicht. »Er steht vor euch.«
Varyn schloß die Augen. Ehrlich, auch für ihn konnte
das nicht wirklich unerwartet kommen. Trotzdem, wie reagierte man
auf so eine Eröffnung? Besser, indem man gar nichts sagte.
»Etwa dieser Junge?« fragte Kevan entgeistert. Er
sollte nicht so überrascht tun, in Doubladir mußten sie
auch mit dem Gedanken leben, daß Varyn ein persönlicher
Gesandter Vigilanders war. »Aber das kann nicht sein!
Lorimanders Nachkommen haben goldenes Haar und blaue
Augen…« Er brach ab, als die Männer aus Doubladir
gemeinsam zu lachen anfingen. Natürlich, diese Debatte hatten
sie schon hinter sich. Varyn hatte ja auch keine Ähnlichkeit
mit Dannen oder seinen Brüdern. Er sah niemandem ähnlich
als sich selbst, damit mußte man leben. Gaven tat das schon
seit Jahren, so war das nun einmal. Wenn Varyn noch nicht mal
seiner eigenen Familie ähneln mochte… »Wer seid
Ihr, daß Ihr so etwas behauptet? Und wo sind Eure
Beweise?«
Reichte es ihm nicht, daß Varyn stärker war als drei
Männer zusammen? Gaven konnte nicht behaupten, daß diese
Eröffnung ihn jetzt irgendwie verwunderte. Sie hatten schon
als Kinder sowas geahnt. Schon bevor Varyn so seltsam wurde - wenn
man gefragt hätte, von welchem Engel stammt unser Varyn wohl
ab, wäre die Antwort sofort und ohne zu zögern gewesen:
Lorimander. Die Stärke war das, was man Varyn am wenigsten
absprechen mochte.
»Ich bin der Dämmervogel«, sagte sie, als ob das
irgend etwas erklärte. »Die Wahrheit bedarf keiner
Beweise. Seht in sein Gesicht, und seht euren Engel. Glaubt mir,
oder glaubt mir nicht, euer Engel lebt in diesem Jungen
weiter.«
Einen Moment lang hing
Schweigen in der Luft, die Augen rissen sich von der viel zu
schönen Frau los und lagen wieder auf Varyn, und die
Generäle, die eben noch gelacht hatten, sahen plötzlich
so aus, als ob ihnen gar nicht mehr danach zumute war.
»Stimmt das?« fragte Rul laut, der vielleicht als
erster seine Sprache wiederfand. »Varyn, stimmt
das?«
Aber Varyn antwortete nicht. Er sah nur den Dämmervogel an,
seltsam ungläubig und verwirrt, als wisse er selbst nicht, was
er denken solle. Erst, als der königliche Bastard seine Frage
zum dritten Mal stellte, reagierte Varyn darauf. »Ich…
ich kann es nicht sagen«, murmelte er. »Ich wußte
das nicht -«
»Red keinen Unsinn!« Eben noch wollte Rul eine Antwort
haben, schon schnitt er Varyn wieder das Wort ab. »Du hast
uns an der Nase herumgeführt, uns und unser ganzes Land! Dabei
ging es dir die ganze Zeit über nur um Loringaril, du
verräterischer Hund!«
»Das ist nicht wahr!« brüllte Varyn, so
plötzlich und so laut, daß selbst der Dämmervogel
zusammenzuzucken schien, von wo auch immer sie ihr Bild in den
Schloßhof schickte. »Ich habe es nicht gewußt,
und ich höre es gerade selbst zum ersten Mal!«
»Er sagt die Wahrheit«, setzte der Dämmervogel
hinterher, als ob eine Lüge wahrer wurde, wenn sie aus dem
Mund einer schönen Frau kam.
Die Berater auf der einen und die Kriegsherren auf der anderen
Seite streckten ihre Köpfe zusammen, und in ihrer Mitte stand
Varyn und wußte nicht mehr, auf welche Seite er gehörte,
so fragend und verloren sah er aus. Auf Gavens, hätte Gaven
gerne geantwortet, wollte zu ihm hingehen, mit ihm reden, aber
etwas hielt ihn zurück. Gaven wußte selbst
plötzlich nicht mehr, was er von Varyn halten sollte.
Natürlich, er glaubte ihm, Varyn hatte das nicht geahnt, aber
trotzdem - wenn das jetzt hieß, daß Varyn ein
Loringarim war, machte sie das nicht für diesen Moment zu
Feinden? Varyn wollte kein König von Doubladir werden, und was
das anging, war er jetzt wohl fein heraus, aber dafür
würde man ihn jetzt aus Loringaril nicht mehr ziehen lassen.
Und wenn Gaven eines nicht wollte, dann hier bleiben müssen,
so weit weg von der Heimat, wie das nur irgendwie ging, im Ausland,
noch dazu im Feindesland… Er wußte nicht mehr, was er
denken sollte. Und plötzlich, zum allerersten Mal, machte es
Sinn, was der Dämmervogel damals in Sharaz gesagt hatte:
Daß Varyn nicht Gavens Bruder war und nie gewesen. Zum ersten
Mal fühlte sich Gaven so, als ob er das selbst glaubte.
Dann sagte Kevan, nicht an Varyn gerichtet, sondern an die
Generäle: »In diesem Fall verlangen wir die Herausgabe
des Jungen, zumindest, bis wir diesen Fall hinreichend untersucht
haben. Es bedarf eines Engelsurteils, natürlich, Worte allein
reichen uns nicht aus, aber bis dahin wird er hier bleiben, in
Loringaril, wo er hingehört.« Gaven entging nicht die
zufriedene Erleichterung in seiner Stimme. Der Mann sah aus, als
hätte er von Anfang an vorgehabt, Varyn für sich zu
behalten, und freute sich jetzt über die gute Vorlage, die der
Dämmervogel ihm da geliefert hätte.
»Wir hatten unser Engelsurteil bereits«, entgegnete
General Dernik, und keinem der Männer schien es etwas
auszumachen, daß sie über Varyn redeten wie über
einen Gegenstand, eine Trophäe oder was man sonst so im Krieg
erbeutete. »Und es hat uns eindeutig gezeigt, daß Varyn
nach Doubladir gehört, und dorthin werden wir ihn auch
zurückbringen.«
»Wir bieten jedoch an«, setzte General Davor
hinterher, der entweder Varyn den Angriff komplett verziehen hatte
oder nur auf eine Gelegenheit wartete, ihm unter vier Augen ein
Schwert in den Leib zu rammen, »Loringaril unter unser
Protektorat zu nehmen, damit sich kein anderes Land Euren
herrscherlosen Zustand zunutze macht und versucht,
unrechtmäßig die Gewalt darüber zu erlangen.«
Er konnte sogar schon wieder lächeln, als hätte er auf
diesen Moment nur gewartet. Natürlich, die Generäle
wußten, wie es in Loringaril aussah und hatten auch ihre
Pläne gemacht.
Gaven sah Varyn an, wartete, daß der irgend etwas sagte,
aber Varyn sagte nichts, und seine Augen waren so groß und so
leer, daß nichts darin zu sehen war als das Spiegelbild des
Dämmervogels. Das Spiegelbild eines Spiegelbildes - hieß
das, die Frau in Varyns Augen waren wieder die echte? Gaven
schüttelte den Kopf und ging nun doch endlich zu Varyn hin.
Ohne lang zu überlegen, was er sagen sollte und was nicht,
nahm er ihn einfach bei der Hand, bei der linken, denn mit rechts
hielt Varyn immer noch das Schwert in der Hand. »Komm
mit«, sagte Gaven. »Laß sie reden. Keiner von
denen hat über dich zu entscheiden. Sollen sie sich zanken,
wir gehen heim.«
»Ich kann nicht«, antwortete Varyn tonlos und blickte
Gaven dabei nicht einmal an. »Ich habe es
versprochen.«
»Ach, das zählt nicht.« Gaven versuchte es
vergnügt, auch wenn ihm nicht danach war. »Was du den
Generälen versprochen hast, war, bevor du das mit Lorimander
gewußt hast, und die Berater hier, die haben ihr Land doch
immer irgendwie gut regiert, ob da jetzt noch ein König
zwischen steht oder nicht, die brauchen dich nicht wirklich.«
Er hielt Varyns Hand fester, um auszugleichen, daß Varyn
selbst keinen Finger dafür krumm machte. Als hielte man die
Hand eines Toten, nur wärmer - Gaven schüttelte sich. Da
versuchte er sich gerade mit dem Gedanken anzufreunden, daß
er einen Bruder von Lorimanders Blut hatte, aber Varyn hätte
ruhig etwas mehr mitspielen können!
»Nicht denen«, antwortete Varyn. »Ihr habe ich
es versprochen. Und ich muß abwarten, was sie von mir
verlangt.«
»Wie, verlangt?« fragte Gaven. »Ehrlich, du
gehörst der doch nicht!« Er wußte, daß Varyn
den Dämmervogel meinte, und das gefiel ihm gar nicht. Frauen,
die einfach so irgendwo auftauchten, durfte man nicht trauen und
erst recht nichts versprechen.
»Wir unterstellen unser Land Varyns Schutz«, sagte
einer der Loringarim gerade, »ihm und keinem anderen, nicht
Doubladir und nicht seinem Königshaus, sondern nur diesem
einen. Der Himmel hat ihn gesandt, aber nicht an Euch. Sucht Euch
einen König aus Euren eigenen Reihen, Varyn wird hierbleiben,
bis das Engelsurteil seinen Anspruch beweist.« Offenbar kamen
sie da also auch nicht voran. Sie hätten es nicht mal gemerkt,
wenn Varyn jetzt wirklich mit Gaven fortgegangen wäre, aber
leider, dazu gehörten immer zwei. Vielleicht konnten sie in
der Nacht abhauen, so wie sie damals desertiert waren - nur glaubte
Gaven nicht mehr daran. Was immer der Dämmervogel mit Varyn
angestellt hatte, es saß zu fest im Verstand dieses
Jungen.
»Ein Engelsurteil«, sagte der Dämmervogel laut
und erinnerte alle daran, daß sie noch da war - Gaven
hätte schwören können, daß sie einen Moment
vorher kurz unscharf wurde und ihre Form verschwamm, vielleicht
hielt so ein Spiegelbild nicht lange und mußte zwischendurch
erneuert werden, vielleicht hatte sie sich auch nur
unauffällig mit ihren Schwestern beraten müssen. Nun
jedenfalls war sie wieder da und so echt, wie sie auf ihre falsche
Art nur irgendwie sein konnte. »Ein Engelsurteil werdet ihr
haben, Bürger von Loringaril, so wie die Bürger von
Doubladir eines erlebt haben, das ihnen gezeigt hat, daß
dieser Junge hier, Varyniel, rechtmäßiger Erbe des
Elomaran Vigilanders ist.«
Vigilanders? Hatte sie das wirklich gesagt? War das nicht eben
noch Lorimander? Unruhe, Unglaube machte sich bereit im Burghof,
aber der Dämmervogel redete einfach weiter. »Das Heilige
Horn, Geschenk des Elomaran Lorimander an seine Kinder und Attribut
der Könige Loringarils, ist verschwunden. Ohne dieses Horn
konntet ihr den Krieg nicht gewinnen, und ohne dieses Horn werdet
ihr auch keinen neuen König krönen können. Aber
Varyniel wird dieses Horn nach Lomar zurückbringen als Zeichen
seines wahren Blutes und seiner Würdigkeit. Ihr, die ihr hier
versammelt steht, Bürger Loringarils und Doubladirs,
vernehmet, wen ihr in Euren Reihen stehen habt: Es ist Varyniel vom
Blute der Sechzehn, der die Länder einen wird und die Welt
erretten, und das Schicksal hat bestimmt, daß sein Weg in
Doubladir und Loringaril seinen Anfang nehmen wird. Beugt euch
seinem Wort, und eure Länder werden erblühen, doch
versagt ihm Hilfe, und es wird euer Untergang sein.«
Und dann, von einem Moment auf den anderen, als hätte sie nur
darauf gewartet und wollte vermeiden, daß noch irgend jemand
ihr eine Frage stellen konnte, war sie verschwunden.
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