Manchmal war es schrecklich,
nicht weglaufen zu können. Früher hatte Varyn immer einen
Fluchtweg gehabt - in den Wahn, in den Alkohol, in den Toten Mann,
in seine Träume, wenn es sein mußte, und aus seinen
Träumen. Jetzt gab es nichts mehr davon. Der letzte Moment, wo
er es noch selbst in der Hand hatte - wann war der vergangen?
Spätestens in dem Moment, als Varyn seine Seele an den
Dämmervogel verkaufte, war es zu spät.
Und nun war es an der Zeit, den Preis zu bezahlen. Mußte es
nicht eigentlich umgekehrt sein? Sollte er nicht eine Gegenleistung
dafür erhalten, daß er alles tat, was diese Frau sagte?
Je mehr Leute vor ihm auf die Knie gingen, ihn ihren König
nannten, den Auserwählten, das Engelsgeschenk, desto weniger
gehörte Varyn sich selbst. Früher war er nur sein eigener
Gefangener, aber was ihn damals bedrückte, war eigentlich
Freiheit. Wenn er damals nicht das Tal verlassen hätte - es
fühlte sich an, als sei es eine Ewigkeit her, dabei war es nur
ein halbes Jahr oder etwas mehr oder weniger - wäre das alles
nicht geschehen, und sie wären alle noch am Leben: Nicht nur
seine Familie, nicht nur das Königshaus von Loringaril,
sondern jeder verdammte Mensch, der in diesem verdammten Krieg
gestorben war. Von dem Moment an, daß Varyn den
Dämmervogel das erste Mal traf, daß er er sie in sein
Leben ließ, war alles, was in dieser Welt geschah, seine
eigene Schuld.
Den Herrscher von Doubladir zu spielen war eine Sache, da konnte
er sich immer noch vorstellen, daß alles bald ein Ende hatte,
wenn sie erst einmal wieder vor Dannen standen und die Leute, allen
voran die Generäle, begriffen, daß der wohl doch den
besseren König abgeben würde. Loringaril war etwas ganz
anderes. Es war niemand anderes mehr da bis auf Varyn. Daß er
nun auf einmal auch noch von Lorimander abstammen sollte, das nahm
Varyn ohne Überraschung hin, es paßte nahtlos zu allem
anderen, was die Schwestern von Sharaz ihm erzählt hatten, zu
all den geheimnisvollen Andeutungen - und es würde ihn auch
nicht mehr wundern, wenn noch weitere Engel dazukommen sollten,
warum wurde er nicht auch noch gleich König von Jelenandrea,
von Elysir oder Indiradin?
Varyn kämpfte mit seiner Beherrschung und mit einem Lachen,
das hinaus wollte und ihm den Wahnsinn zurückgeben, den er
jetzt so bitter vermißte, wie er ihn früher gehaßt
hatte. Sollte er sich gleich achtteilen, oder würde das
Tauziehen gar kein Ende nehmen? Eines war klar: Daß dieser
Alptraum kein Ende nehmen würde, und daß es zu spät
war für Varyn, sich noch anders zu entscheiden, abzuspringen
wie von einem Wagen, der ohne Pferde und Kutscher einen Hang
hinunterschoß. Selbst wenn er sich jetzt in sein Schwert
stürzte, bedeutete das nur, daß er es als sein Erbe
anerkannte. Es ging nicht mehr nur um die Frage, ob Noran lebte
oder nicht, ob Varyn erpreßbar war oder seine eigenen
Entscheidungen traf: Das Schicksal hatte sein Leben verplant bis
zum letzten Atemzug, und was man von ihm verlangte, war nicht mehr
und nicht weniger als die Rettung der Welt. Nur vor was, das
verriet ihm keiner. Vor dem Wahnsinn?
Die Worte des Dämmervogels hingen noch immer in der Luft wie
saure Trauben, wenn kein Schatten von ihrer Erscheinung
zurückgeblieben sein mochte: Nun war es an den Menschen, zu
handeln, an den richtigen Menschen, die Fleisch und Blut waren und
nicht nur ein Bild und ein Geist, aber Varyn hatte nicht das
Gefühl, daß er selbst noch zu dieser Gruppe gehören
sollte.
Dann ging Harven auf die Knie, und da er wohl nicht nur der
älteste, sondern auch der wichtigste Berater war, taten es die
anderen ihm nach. »Varyniel«, sagte er, und Varyn
hätte fluchen mögen und ausspucken, daß er nun
nicht nur seine Freiheit verlieren sollte, sondern auch noch seinen
richtigen Namen, »wir haben die Worte der Botin vernommen
werden nun auf das Engelsurteil warten.«
Gaven, Varyn hätte ihn herzen und küssen können
dafür, war wie immer der erste und einzige, der bei gesundem
Verstand blieb. »Was, ihr glaubt der Frau auch noch?«
fauchte er die Berater an - wenn sein Vater ihn jetzt hätte
sehen können, wie stolz wäre er auf ihn gewesen? Onkel
Tamrik, der sich von keinem Dummkopf etwas sagen ließ und der
keinen Unterschied machte zwischen Bauer, General oder König:
Wenn jemand dummes Zeug redete, war es dummes Zeug und nicht zu
entschuldigen… Varyn schluckte bei der Erinnerung, so oft
war das dumme Zeug aus seinem eigenen Mund gekommen und er hatte es
nicht begriffen - »Ihr könnt ihr nicht trauen«,
sagte Gaven, »ihr wißt doch nicht mal, wer sie ist oder
was - Dämmervogel, was heißt das schon? Ist sie ein
Engel? Hat sie Flügel? Nee. Und dann hängt ihr an ihren
Lippen, als wolltet ihr sie abknutschen? Was mich betrifft, kann
diese Frau ebensogut eine Abgründige sein.«
Und Varyn hoffte vielleicht mehr als alle anderen, daß dies
nicht die wahrsten Worte waren, die Gaven jemals gesprochen
hatte.
»Unsinn!« sagte Korant. »Wir wissen, was wir
gesehen haben, und das war nicht das Werk der Abgründigen! Wer
immer diese Frau auch ist, es war ein Engelsurteil, das den Ausgang
der Schlacht am Aleruan entschieden hat.« Es fehlte nur noch,
daß er sagte, der Dämmervogel sei doch viel zu
schön, um ein Geschöpf des Nilomar zu sein - die Wahrheit
war doch, daß sie alle keine Ahnung hatten, was sie glauben
sollten.
Tief in seinem Inneren glaubte Varyn, die Antwort zu kennen, aber
sein Inneres hatte ihn schon so oft in die Irre geführt - er
diente lieber den Elomaran als dem Abgrund. Aber er kannte auch die
Geschichte von Sharaz, er wußte um den Abgrund, der sich
unter dem mächtigen Krater auftat: Wer sagte denn, daß
Sharazander damals wirklich Erfolg gehabt hatte? Und daß
nicht an seiner Statt drei Schwestern aus der Tiefe emporgestiegen
waren, die nun vorgaben, dem Engel des Schicksals zu dienen?
Varyn schüttelte sich, und dann stieg ein Lächeln in ihm
auf. Wenn es wirklich der Abgrund war, dem er dienen sollte, dann
war er doch viel besser dran als andersherum, dann durfte er
Widerstand leisten, so wie es ihm gefiel, ohne zu befürchten,
daß seine Weigerung, mitzuspielen, die Welt erst recht zum
Untergang verdammte… Aber es half nichts. Varyn konnte sich
nicht über den Ruf seines eigenen Blutes hinwegsetzen. Ein
Mann wußte, ob er von einem Engel abstammte oder von einem
Abgründigen. Das, was in Varyn mehr tobte als floß, war
Engelsblut. Und das hieß: Der Dämmervogel sprach die
Wahrheit.
»Varyn? Varyn!« Die Stimme kam von weit her, so tief
war Varyn in seinen Gedanken versunken, daß er noch nicht
einmal mitbekam, daß Gaven ihn bei der Schulter packte. Varyn
zwinkerte und schüttelte den Kopf, aber die Konzentration
wollte nicht so recht zurück kommen.
»Ich… ich brauche einen Moment«, sagte er.
»Einen Moment für mich - das ist alles… alles
sehr viel für mich.« Was er eigentlich brauchte, war ein
Moment mit dem Dämmervogel, aber Alleinsein hatte auch einiges
für sich - es war so vieles, über das Varyn sich klar
werden mußte, Dinge zum Nachdenken, Dinge zum Verstehen,
Dinge zum Ärgern. Früher konnte er stolz auf sich sein,
da war er selbstbewußt und selbständig, ließ sich
nichts vormachen und nichts einreden, und die Leute mochten ihn,
weil er seinen eigenen Weg nicht nur ging, sondern auch kannte. Und
jetzt? Wenn er nicht aufwachte und sich einen Ruck gab, endete er
als Puppe - ob von Doubladir, Loringaril oder Sharaz, das war egal.
Aber er mußte endlich wieder einmal einen eigenen Gedanken
machen, und, wenn er ihn hatte, ihn auch durchsetzen.
»Dazu werdet Ihr nachher noch Gelegenheit haben«,
sagte Harven. »Aber zunächst gibt es einiges, das wir
mit Euch besprechen müssen, diese Situation muß
erfaßt und von allen Seiten beleuchtet werden -«
»Aber erst, wenn wir ein Wort unter vier Augen mit Varyniel
geführt haben!« fiel ihm Korant ins Wort, und Varyn
blieb nichts anderes übrig, als Gaven anzusehen und dessen
Schulternzucken zu erwidern, und dann war es an der Zeit, endlich
den ersten Schritt zu tun.
»Klärt das untereinander!« sagte er laut.
»Aber wenn ich sage, ich brauche einen Moment für mich,
dann brauche ich ihn auch, und dann nehme ich ihn mir. Ihr wollt
mich zum König? Dann solltet Ihr Euch daran gewöhnen,
daß mein Wort Gewicht hat.« Und mit diesen Worten
ließ Varyn seinen ganzen Anhang stehen, es war ihm egal, was
sie von ihm dachten - nein, war es nicht: Sie sollten wissen,
daß sie mit ihm nicht einfach so machen konnten, was sie
wollten.
Ein König war kein Knecht und keine Puppe. Die Generäle
und Berater durften das nicht vergessen, vor allem aber Varyn.
Wirklich, auf die Dauer konnte er sich an so etwas gewöhnen.
Wenn er nur endlich einmal zum Nachdenken kam und, was noch mehr
war, zum Begreifen.
Es war die erste Nacht, die
Varyn in einem königlichen Bett verbrachte, aber davon schlief
er nicht besser. Zu fremd fühlte sich alles an, zu weich, zu
warm - nicht, weil er noch nie in so einem Bett geschlafen hatte,
sondern weil er es von jetzt an vielleicht jede Nacht sollte. Er
wälzte sich nach links, er drehte sich nach rechts, er
versuchte es mit Federbett und ohne, aber der Schlaf wollte und
wollte nicht kommen. Aber offenbar tat er es doch, denn als
nächstes fand Varyn sich an einem völlig fremden Ort
wieder, ohne die leiseste Vorstellung, wie er dorthin gekommen sein
sollte, wenn nicht durch die Pforten eines Traumes.
Er stand im Freien, und es war Nacht. Unter seinen
Füßen fühlte er kühlen Sand, das sagte ihm,
daß er barfuß war, und als er sich dann seiner Selbst
besser gewahr wurde, begriff er, daß es nicht nur seine
Füße waren: Er war nackt von oben bis unten. In dem
Moment war Varyn sich sicher zu träumen, denn auch wenn in
Loringaril vom Winter deutlich weniger zu ahnen war als in
Doubladir und der Herbst sich von so schönen Seiten zeigte,
wie es sie im Tal nie gegeben hatte, war es doch kein Wetter, bei
dem man ohne Kleider herumlaufen wollte. Erleichterte schloß
Varyn die Augen, legte den Kopf in den Nacken, und atmete durch.
Früher hatte er seine Träume gefürchtet, aber jetzt
waren sie eine willkommene Abwechslung. Nach allem, was vorgefallen
war, konnte er mit seinen Träumen deutlich besser umgehen als
mit seiner Wirklichkeit.
Dann öffnete er die Augen und sah sich um. Er wollte den
Dämmervogel sehen oder zumindest einen Anhaltspunkt, wo er
gelandet war - probeweise sagte er ein paar Worte, »Ich bin
hier«, nur um zu sehen, ob sie zu stummen Zeichen wurden wie
im Königreich der Stille, aber er konnte sich hören, und
dieser Ort paßte auch nicht zu dem erstarrten Fluß, an
den er sich erinnerte - und überhaupt, er hatte keinen Grund
mehr, jemals wieder dort zu landen, er hatte es versprochen. Dieser
Ort war… seltsam. Künstlich. Auch wenn der Himmel
über Varyn schwarz war, mond- und sternlos, war er selbst von
einem Licht beschienen, das von nirgendwo her kam, aber es war so
weiß und strahlend, wie die Umgebung dunkel war. Der Sand
hätte es reflektieren müssen, doch es schien nicht auf
den Sand, nur auf Varyn.
So hell war es um ihn, das er fast glaubte, er selbst würde
leuchten, und es dauerte einen Moment, bis er etwas außer
sich selbst erkennen konnte. Er stand auf sandigem Grund, und am
Rand konnte er Mauern erkennen, hell wie die Wände von Lomar,
aber das war nur eine vage Vorstellung - dieser Ort war von
Wänden umgeben, aber um in Lomar zu liegen, mußte er
wirklich sein, und das konnte Varyn nicht sagen. Außer ihm
gab es nur eine Säule, die nur wenige Schritt von ihm entfernt
gen Himmel ragte. Sie war zu dick, als daß er um sie
herumlangen hätte können, dafür hätte es einen
zweiten Mann von Varyns Größe gebraucht. Aber daran
hochblicken, das konnte er, und er wunderte sich kaum, als es von
der Säule auf ihn hinunterblickte.
»Varyniel!«
Langsam fing Varyn an, auf diesen Namen zu hören, wenn es
auch noch lange dauern würde, bis er von sich selbst so denken
würde. Aber es war nicht die Stimme des Dämmervogels, die
er da hörte, ganz sicher nicht - es war eine männliche
Stimme, warm, volltönende, eine schönere Stimme, als ein
gewöhnlicher Mensch sie jemals haben konnte, und da auch die
Säule so plötzlich in weißes Licht getaucht war,
als hätte man eine Grubenlampe darauf ausgerichtet, konnte
Varyn nun auch genau sehen, wer da sprach: Oben auf der Säule
stand ein Engel, und der rief Varyns Namen.
Auf den ersten Blick sah er aus wie eine Statue, gemeißelt
aus weißem Stein. Er war groß, viel größer
als Varyn und alle anderen Menschen, und es waren keine Farben an
ihm, aber das konnte auch am Licht liegen - seine mächtigen
Flügel bewegten sich, als er sich vorneigte und auf Varyn
hinunterblickte, und einen Moment lang sah es aus, als wolle er zu
ihm hinunterfliegen, aber er blieb, wo er war. Vielleicht war er
doch eine Statue. »Varyniel«, sagte er noch einmal,
etwas strenger als zuvor.
»Ja?« Wenn Varyn eines über Träume gelernt
hatte, dann, daß man nie wußte, wie lang sie dauerten,
und dann machte es keinen Sinn, Zeit zu vertrödeln und
dafür das Ende zu versäumen. »Wer ruft
mich?«
Der Engel plusterte sich ein wenig auf, nicht, daß er nicht
auch so schon imposant ausgesehen hätte. »Frag nicht,
wer ich bin - frag, wer du bist!«
Varyn schüttelte den Kopf. »Das versuche ich schon so
lange, aber ich bekomme nie Antworten.« Die Hände des
Engels waren leer, daran konnte man ihn also nicht erkennen, aber
da er keinen Bart trug, war er zumindest schon mal nicht
Vigilander.
»Ich bin Lorimander, Engel der Stärke«, sagte der
Engel und beendete das Rätselraten. »Und du, Varyniel,
bist mein Fleisch und Blut.«
Es war nur ein Traum, und der Dämmervogel hatte schon das
gleiche gesagt - trotzdem, es jetzt gewissermaßen aus dem
Mund des Elomaran selbst zu hören, war dann doch etwas
anderes. Etwas, das Varyn fast schon glauben wollte. »Was
willst du von mir?« fragte er trotzdem und fühlte sich
sehr seltsam dabei - er hatte, alle Träume zum Trotz, noch nie
direkt mit einem Engel geredet, und so locker er auch mit Dannen
umgegangen sein mochte, war es doch ein großer Schritt vom
Engelsgeborenen zum Engel.
»Lauf nicht fort, Varyniel! Stell dich deiner Aufgabe! Sei
stark!«
Varyn blickte zu Boden, an sich hinunter, und dann schnell wieder
hoch, ehe er anfing, sich wegen seiner Nacktheit zu sorgen. Die
Engel beobachteten die Welt, da wußten sie auch wohl, wie
Varyn nackt aussah. »Wegen des Hornes…«, sagte
er und hörte seine Stimme zittern, »ich werde mich auf
die Suche machen, aber ich weiß nicht, wo -«
»Vergiß das Horn!« sagte der Elomaran.
»Das Horn ist nur ein Symbol meiner Stärke. Du bist
nicht wegen des Hornes hier. Deine Aufgabe ist viel, viel
größer.«
»Der Abgrund wird sich erheben.« Diese Stimme kam von
irgendwo hinter Varyn und ein Stückweit weg, aber auch das war
weder der Dämmervogel noch seine Schwestern. Ein weiterer
Engel. Varyn traute sich nicht, sich nach ihm umzudrehen, aber dann
tat er es doch: Jetzt war ein weiterer Lichtkegel dazugekommen, und
er beschien eine weitere Engelsstatue. Diese stand auf der Wand,
dort, wo zwei Mauern eine Ecke bildeten mit einem stumpfen Winkel.
Es konnte Vigilander sein, zumindest hatte er einen Bart, aber so
genau konnte Varyn das auf die Entfernung nicht sagen. Hatte der
Engel ein Schwert an seiner Seite? Und in dem Moment, wo sich Varyn
diesen Gedanken machte, hielt er es plötzlich selbst in der
Hand. »Du, Varyniel, bist von meinem Blute, und du wurdest
geboren, um sich dem Abgrund entgegenzustemmen. Laß nicht zu,
daß die Hälfte der Welt, die im Licht ist, von der
Finsternis überrannt wird und alles, wofür wir
gekämpft haben, vergebens ist!«
Varyn schluckte. Die Worte ‘Ich mache mich dann doch lieber
auf die Suche nach dem Horn’ lagen schon auf seinen Lippen,
aber ehe er sie aussprechen konnte, wurde eine weitere Ecke in
Licht gehüllt, und der nächste Engel erschien, um zu
Varyn zu sprechen.
»Sei ohne Furcht, Varyniel! Wir haben dir unsere Kraft
gegeben, nutze sie für das Gute!« Wer war das nun,
Sharazander? Oder noch irgend ein anderer Engel, von dessen Blut
Varyn noch nichts ahnte? Er konnte es nicht sagen. Engel um Engel
erschien auf der Mauer, ein Licht nach dem anderen erschien, bis
jede Ecke der der Mauer in Licht getaucht war. Sie sprachen zu ihm,
erst einer nach dem anderen, dann alle gleichzeitig, aber das, was
sie ihm zu sagen hatten, war immer das gleiche: Sie wollten,
daß Varyn es mit dem Abgrund aufnahm. Und jeder von ihnen war
überzeugt, Varyns Vorfahr zu sein…
»Halt!« schrie Varyn. Das machte keinen Sinn mehr. Er
konnte das Kind sein von Lorimander und Vigilander und auch noch
Sharazander, wenn es unbedingt sein mußte, aber doch nicht
von jedem verdammten Engel, den es gab! Sieben Elomaran standen auf
den Ecken der Wand, ein weiterer auf der Säule in der Mitte,
und um die, und um Varyn, begann sich alles zu drehen, die Engel
tanzten im Kreis und wurden dabei immer mehr, es konnten doppelt so
viele sein oder zehnmal so viele, es war egal, die Engel waren
überall um Varyn, sie riefen seinen Namen, daß ihre
Stimmen in seinem Kopf widerhallten…
»Varyniel!« riefen sie. »Varyniel! Stell dich
deinem Schicksal! Halte den Abgrund auf!«
Erst war nur das Schwert in seiner Hand, aber dann wurde es immer
mehr: Das mächtige Horn in seiner anderen. Der Druck einer
Krone auf seinem Kopf. Bilder jagten ihn, von Dingen, die er halten
mußte, ein Buch, eine Glocke, eine Perle, und wo Varyn nicht
genug Arme hatte, da wuchsen sie aus seinen Schultern, ein Dolch,
ein Szepter, und es wurden immer mehr Dinge und immer mehr Arme,
wie Schlangen sprossen sie, jeder hatte seine eigene Kraft, sein
eigenes Leben, ein Kelch, eine Feder, eine Flamme -
»Genug!« schrie Varyn. »Aufhören!« Er
konnte nicht mehr, er wollte nicht zählen, selbst wenn er es
gekonnt hätte, das war mehr, als er zu begreifen in der Lage
war. Alles war voller Engel, sie spielten ihr Spiel mit ihm, und
Varyn konnte nichts mehr tun, er ging in die Knie, und barg das
Gesicht in Händen, aber er wußte nicht einmal mehr, ob
das nun seine Hände waren, leer und frei, oder nur zwei, die
ihm gerade eben gewachsen waren, damit er keinen der Schätze,
die sich an ihm aufhäuften, fallen lassen mußte…
Ein Mantel hing sich um seine Schultern, eine Hand strich die
Seiten einer Harfe, ein Siegel, ein Spiegel, es wollte und wollte
nicht weniger werden. Die Gaben machten ihn nicht stärker, sie
zogen ihn nur zu Boden mit ihrem Gewicht, eine jede wollte seine
ungeteilte Aufmerksamkeit fordern und geriet in Konkurrenz zu den
anderen, so viele Arme, und jeder wollte der wichtigste
sein…
Varyn schrie, wie ein verletztes Tier. Nicht, weil er glaubte,
daß ihn irgend jemand hören und retten konnte, nicht
einmal, weil er hoffte, daß es ihn aufwecken ließ - so
billig konnte er einen Traum nicht beenden, das wußte er,
sonst hätte er das schon immer so gemacht. Nein, er tat es
nur, weil sein Mund noch ihm allein gehörte, wo es sein
Körper nicht mehr tat, weil es seinen Kopf dröhnen
ließ wie etwas eigenes, vertrautes. Er schrie, damit er die
Engel nicht mehr hören mußte, doch ihre Stimmen
durchdrangen alles; wo er selbst nur seinen Schädel vibrieren
ließ, erzitterten vor den Engelszungen alle Knochen in seinem
Körper.
Es fühlte sich nicht mehr wie ein Traum an. Viel zu
körperlich. In einem richtigen Traum bestand er nur aus Kopf
und Geist, doch die Träume, die Varyns Leben ruiniert hatten,
waren von einer anderen Sorte, einer, in der er mit Haut und Haaren
feststeckte. Ob er gleichzeitig noch in seinem Bett lag? Varyn
konnte es sich nicht vorstellen. Es gab keine andere Wirklichkeit
für ihn als diese.
Varyn schrie, und schrie, doch es änderte nichts, als
daß sein Hals zu schmerzen begann. Das Licht, die Engel, die
Gegenstände in seinen Händen - wenigstens wurden es nicht
mehr, aber das war ein schwacher Trost, Varyn hatte schon mehr
Hände, als er zählen und koordinieren konnte, sie
bewegten sich von selbst, als hätten sie ein eigenes Leben,
wie Schlangen oder Würmer, Varyn wollte loslassen, was er da
halten mußte, in der Hoffnung, daß die Arme
verschwanden, wenn sie keinen Sinn mehr zu erfüllen hatten,
aber das konnte er nicht. Er mußte warten, bis es
vorüber war, und der einfachste Weg, das zu erreichen, war,
den Traum weiterlaufen zu lassen bis zu dem Ende, daß das
Schicksal oder wer auch immer sich Varyns Träume ausdachte,
sich für ihn ausgedacht hatte.
Varyn hörte auf zu schreien, zitternd, atemlos, und wartete
ab. Es half. Langsam, eines nach dem anderen, verblassten die
Lichter und die Engel um ihn herum, und als die Engel verschwanden,
verschwanden auch die Dinger in Varyns Händen und die
Hände mit ihnen, bis er wieder alleine und nackt im Sand
stand, neben ihm eine Säule, und sonst gab es nichts mehr.
Zwei Hände waren noch da, seine eigenen Hände, er
fühlte sie an seinem Gesicht, es war warm, lebendig, sein
eigen. Varyn fühlte sich lautlos schluchzen und war froh,
daß niemand mehr da war, um ihn zu hören. Es konnte
nicht mehr lange dauern, bis es vorüber war…
»Varyniel.« Es war nur noch eine Stimme, zum
Glück. Varyn blickte auf, es konnte nur noch Lorimander sein,
der oben auf der Säule stand, aber auch die lag nun im Dunkeln
- eigentlich konnte es egal sein. Es gab zu viele Engel in diesem
Traum, und wenn sie alle das gleiche wollten, war einer so gut wie
der andere. »Hörst du mich, Varyniel?«
Varyn nickte. »Ja. Aber ich weiß nicht, was ich sagen
soll.« Es gab so vieles, das er noch fragen mußte, und
er wußte nicht, wo er anfangen sollte. »Was heißt
das, der Abgrund erhebt sich?« Er hatte zu viele Bilder vor
Augen - das, was er in Sharaz gesehen hatte, das, was in seinem Tal
passiert war - »Heißt das, er wird sich erheben, oder
heißt das, er hat es schon?« Wollte er das wirklich
wissen? Es setzte ihn doch nur unter Druck, nahm ihm die Zeit:
Besser war es doch, wenn er glauben konnte, daß der Abgrund
sich noch ein bißchen Zeit ließ, zehn Jahre oder
hundert, Varyn war nicht bereit, es mit ihm aufzunehmen, und so wie
er sich fühlte, würde er das auch wohl niemals sein. Aber
wenn er es jetzt wußte, konnte er sich darauf vorbereiten. Er
mußte nur versuchen, aus diesem Traum so viel wie
möglich in die Wirklichkeit, in das Wachsein
hinüberzuretten. »Und warum ich? Was ist mit euren
Kindern? Mit den Engelsgeborenen?«
»Unsere Kinder sind schwach«, sagte der Engel.
»Unsere Kinder haben versagt. Sie haben uns enttäuscht,
sie sind es nicht wert, über diese Welt zu herrschen, und nun
fallen ihre Häuser, eines nach dem anderen.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Aber das machte keinen
Sinn!« Er kannte nicht viele Engelsgeborene, aber immerhin
zwei, und das war mehr, als die meisten Leute von sich sagen
konnten. Dannen und Leota waren ziemlich wie normale Leute, nicht
unbedingt besser, aber schlechter waren sie auch nicht -
natürlich, daraus konnte man nicht ableiten, daß sie
unbedingt über das Land herrschen mußten, aber wenn
irgend jemand die Arbeit machen mußte, waren sie ebensogut
wie jeder andere. Und der Abgrund - war es da nicht besser, so
viele wie möglich stemmten sich dem entgegen? »Warum
einen einzigen nehmen, der von allen Engeln abstammt, wenn ihr
genausogut hundert haben könntet, die jeder von nur einem
Engel abstammen?« Wie stellten die sich das vor, sollte er
überall gleichzeitig sein? Sollte er sich entzwei teilen wie
ein Regenwurm und jedes Ende seinen eigenen Kampf gegen den Abgrund
ausfechten? »Und wenn das so wichtig ist, warum macht ihr es
dann nicht selbst?« Er lachte bei der Vorstellung. »Die
Nilomaran schicken doch nicht auch nur einen Vertreter!«
»Doch, Varyniel«, sagte der Engel, und das war das
erste Mal überhaupt, daß dieser Traum Varyn
überraschte. »Doch, das tun sie. Es gibt einen
Abgesandten des Abgrunds, und deine Aufgabe ist es, ihn
aufzuhalten.«
Und zum ersten Mal in diesem Traum bekam Varyn es mit der Angst zu
tun. Der Abgrund, der war schon so lange sein Gegner, er trug ihn
in sich, und daran war er fast schon gewöhnt. Er war etwas
dunkles, tiefes, diffuses. Aber wenn jetzt plötzlich der
Abgrund ein Gesicht bekam - dann wurde er von einem Feind zu einem
Gegner. Und dann wußte Varyn auch nicht mehr, wie er ihn
besiegen sollte. »Und das muß ich alleine tun?«
fragte er vorsichtig.
»Du bist nicht allein, Varyniel. Wir sind bei dir, wir sind
in dir mit unseren Gaben. Du mußt den Kampf kämpfen,
aber wir werden immer bei dir sein.«
Es war nicht die Antwort, die Varyn hören wollte. Was brachte
ihm Beistand, den er nur im Traum bekam, von sprechenden Statuen
und Armen, die sich gleich wieder auflösten? Er brauchte
Menschen an seiner Seite, die das gleiche Ziel hatten wie er, die
seinen Kampf teilten, die ihm tatkräftig halfen und nicht nur
guten Rat zuraunten - Varyn kämpfte gegen den Abgrund, seit
der sich in seiner eigenen Seele aufgetan hatte. Und es fühlte
sich nie so an, als ob er eine Chance hatte zu gewinnen.
»Und dieser… dieser Bote des Abgrunds?« fragte
er. »Ist der schon da? Oder wann kommt er?« Wenn er
darauf die Antwort wußte, konnte er zumindest versuchen, dann
nicht dort zu sein.
»Er ist unterwegs«, sagte der Engel. »Und die
Schrecken des Abgrunds eilen ihm voraus. Die Welt verändert
sich, Varyniel. Es ist an dir, dafür zu sorgen, daß sie
ihr heutiges Gesicht behalten kann. Sonst -«
Und als hätte Varyn es geahnt, war genau das der Moment, in
dem er dann aufwachte, und alles war nur noch ein Traum.
Vielleicht nahm er sich zu
ernst, und das war das eigentliche Problem. Mal angenommen, Gaven
wünschte ihm einen guten Morgen und sagte: ‘Ach,
übrigens, mit sind heute Nacht im Traum die Elomaran begegnet,
alle zwanzig oder wieviele es auch sein mögen, und sie wollen,
daß ich die Welt rette’ - wie würde er dann
reagieren? Gaven eine Hand auf die Schulter legen, nicken und sagen
‘Was immer geschieht, du weißt, daß du auf mich
zählen kannst’ - oder doch eher wütend werden und
sagen ‘Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Finger vom
Alkohol lassen’?. Eben. Und jetzt, wo das gleiche ihm
passierte, glaubte er statt dessen jedes Wort? Nur wegen eines
verdammten Traumes? Für was hielt er sich?
Varyn schüttelte sich. Das stieg ihm noch alles zu Kopf. Er
brauchte endlich wieder einen Tag, an dem er normal sein konnte,
oder zumindest so normal, wie das für ihn möglich war.
Einen Tag, an dem sich niemand vor ihm verbeugte und ihn mit Hoheit
anredete, einen Tag, an dem er mit Kraft seiner Hände arbeiten
konnte und nicht nur mit dem Kopf, einen Tag wieder Mensch
sein.
Aber vermutlich änderte das auch nichts mehr, nichts mehr
daran, daß Varyn längst jedes Wort glaubte, daß
ihm der Dämmervogel oder seine Träume oder irgendwelche
Engel erzählten. Er ärgerte sich über sich selbst,
daß er die falschen Fragen gestellt hatte oder zumindest
nicht genug - sollte er nicht eigentlich wissen, wie viele Elomaran
das nun eigentlich waren? Mehr als acht, soviel wußte er
schon: Mindestens einen mehr kannte er ja schon, aber das war nur
ein Teil der Wahrheit… Wie hatte der Dämmervogel
genannt? Varyniel vom Blut der Sechzehn? Varyn hustete,
darüber konnte er noch nicht einmal mehr lachen.
Sechzehn Engel? Reichte das langsam mal? Sechzehn? Kein Wunder,
daß er schon seit Jahren glaubte, den Verstand zu verlieren.
Als ob acht Engel nicht ausreichten! Und schon von achten wollte
man nicht abstammen, es war doch bekannt, daß die einander
ebensowenig ausstehen konnten wie ihre Nachkommen - jetzt trugen
sie ihre Kämpfe und Streitigkeiten in Varyn aus, das war ein
großartiger Einstand, wenn er außerdem den Abgrund
besiegen sollte: Eine klitzekleine Herausforderung im Vergleich mit
dem Rest.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Varyn stand auf und versenkte
sein Gesicht in der Waschschüssel, nur um das im nächsten
Moment zu bereuen. Das Wasser war nicht mehr frisch, alles andere
als das, auch wenn er es nicht trinken wollte, sondern sich nur
damit waschen: Es roch muffig und brackig und erinnerte daran,
daß nicht Varyn der Bewohner dieses Zimmers und dieses Bettes
war, sondern ein Mensch, der nicht mehr am Leben war, und daß
er das nicht mehr tat, war Varyns Schuld - plötzlich kam es
ihm so vor, als hätte er die Brieftauben nur deswegen
abgenickt, um jetzt in diesem feinen Bett zu schlafen…
Ihm wurde übel, aber er unterdrückte das Gefühl, es
änderte nichts mehr an dem, was geschehen war, und an Varyns
Schuld. Ein ganzes Engelshaus ausgerottet - und das nicht durch die
Hände des Abgrunds, sondern durch andere Engelsgeborene und
ihre Schergen: Das war doch widersinnig! Am liebsten hätte
Varyn den toten König aus seinem Grab gerissen oder wo immer
er jetzt liegen mochte, ihn geschüttelt und angeschrien und
ihm gesagt, daß er sich schämen sollte, aber vielleicht
war es genau das, was die Elomaran meinten, wenn sie sagten,
daß sie enttäuscht waren von dem, was ihre Nachkommen
sich erlaubten.
Jetzt war es an Varyn, alles auf einmal. Die Welt retten, den
Abgrund zurückstoßen - es ging nicht. Er konnte das
nicht allein tun. Die Häuser der Engelsgeborenen sollten
fallen? Nicht, wenn Varyn das verhindern konnte. Er brauchte sie,
oder genauer, die Welt brauchte sie. Eigentlich schon immer, darum
ging es doch eigentlich. Die Menschen damals - wie lang war das
jetzt her, tausend Jahre? - hatten die Kinder der Engel zu ihren
Königen gemacht, nicht um sie zu belohnen, weil sie so
großartig waren, sondern weil sie sich etwas davon
versprachen. Gute Herrscher. Schutz vor Feinden, ob aus dem Abgrund
oder dem Nachbarland… Es war das letzte Mal, daß sich
die Menschen ihren Herrn selbst ausgesucht hatte.
Vielleicht war es an der Zeit, daß sie das wieder taten. Und
wenn sie dann Varyn haben wollten? Dann sollten sie ihn haben, bis
sie merkten, daß mehr dazu gehörte, ein Land zu
regieren, als nur gut auszusehen und Kraft in den Armen zu haben.
Sie würden das noch früh genug merken. Aber bis dahin
konnte er zumindest versuchen, die Dinge richtig zu machen oder so
richtig wie möglich. Egal was der Dämmervogel sagte oder
die Engel oder wer auch immer - Varyn würde das nicht allein
machen. Er hatte ein paar Leute um sich, die ihm die Treue
geschworen hatten und alles tun würden, was er sagte. Und wo
das noch nicht reichte, konnte er immer noch versuchen, die
Engelsgeborenen der Welt zur Zusammenarbeit zu bewegen. Immerhin
ging es gegen den Abgrund. Und da sollte man auf Nickeligkeiten
verzichten, und wenn es um solche Kleinigkeiten ging wie die Frage,
wer nun König war und wer nicht, konnte man sich darum
hinterher immer noch kümmern.
»Hört ihr mich?« fragte Varyn und meinte die
Elomaran. Natürlich hörten sie ihn. Sie waren die
Wächter der Welt, sie sahen alles, ihnen entging nichts, und
wenn sie gerade nicht wußten, wo sie hinschauen sollten,
sahen sie sicher gerne nach Varyn, ihrem Lieblingsspielzeug.
»Ihr seid doch mächtig!« sagte er laut. »Ihr
seid Engel! Ihr könnt alles! Wenn es euch so wichtig ist, die
Welt vor dem Abgrund zu retten, warum macht ihr es dann nicht
selbst? Warum muß ich das machen? Ich bin doch immer noch nur
ein Mensch!«
Aber die Engel antworteten ihm nicht und auch sonst niemand in der
Nacht, und Varyn mußte seine Fragen weiter mit sich
herumschleppen und sich in den Hintern beißen dafür,
daß er sie nicht doch in seinem Traum gestellt hatte. Oder
dem Dämmervogel, oder sonst irgend jemanden, der Ohren hatte
und eine Stimme…
Varyn rieb sich die Augen vor Müdigkeit. Wieder einschlafen
und hoffen, daß er der Traum dann wiederkam: Das konnte er
vergessen, das eine wie das andere. Varyn war an wenig Schlaf
gewohnt; wenn es einen Engel des Wachseins gab, dann hatte der
nicht an guten Gaben für Varyn gespart. Überhaupt,
sechzehn Engel… Wenn man ein Bergmann war und mit seiner
Hacke das Gestein spaltete, dann wußte man, was einen
erwartete. Es gab Kohle, oder man fand Erz, Gold, Silber, Eisen,
vielleicht auch einen Edelstein - sie hatten sich das immer so
schön ausgemalt, was sie tun würden, wenn sie auf Gold
stießen oder dicke Juwelen aus der Erde holten, aber in
Wirklichkeit, das wußten sie genau, gab es da, wo sie
arbeiteten, nichts als Kohle. Jetzt fühlte sich Varyn wie ein
Stein, der alles enthalten konnte, und man wußte nicht, was
als nächstes zum Vorschein kommen sollte. Wenn es wirklich
sechzehn Engel waren, die sich an Varyn ausgetobt hatten mit
Fähigkeiten, die sie für großartig und
nützlich im Kampf gegen den Abgrund hielten, waren sieben
darunter, von denen Varyn nicht einmal Namen und Funktion kannte,
geschweige denn sich vorstellen konnte, was sie ihm vererbt haben
sollten. Und bei den meisten anderen konnte er es sich auch nicht
recht vorstellen. Stärke und Weisheit, das machte ja noch
Sinn, aber spätestens bei der Rache hörte es dann auf
-
Und das war der Moment, wo Varyn erkannte, was er zu tun hatte. Es
war eigentlich ein bißchen spät für so eine
Erkenntnis, wo Varyn seit Monaten wußte, daß er
Engelsblut hatte, und seit Tagen herauswar, daß Vigilander
irgendwie in ihm drinsteckte, aber besser spät als nie. Varyn
mußte mit einem Engelsgeborenen sprechen, was genau es
eigentlich bedeutete, ein Engelsgeborener zu sein. Kein Grund mehr,
sich zu verstecken, die Katze war aus dem Sack, Varyn hatte nichts
mehr zu verlieren. Und wenn er versuchen wollte, die
Engelsgeborenen zu vereinen, konnte er schon mal mit demjenigen
anfangen, den er direkt zur Hand hatte. Zu viel Zeit hatte Varyn
vertrödelt mit der Sorge, daß er nicht mit Dannen
sprechen konnte. Aber wozu? Schließlich hatte er Rul!
Es war eine Erkenntnis, bei der Varyn nicht ganz wohl war. Mit Rul
kam er nicht sonderlich gut zurecht. Natürlich, er war dankbar
um jeden, der nicht gleich vor gespielter Ehrfurcht am Boden lag,
wenn Varyn einen Raum betrat, aber das Gefühl, daß Rul
ihm gefährlich werden konnte und wollte, das machte das Ganze
unangenehm. Trotzdem, sie konnten miteinander reden, und das
sollten sie dann endlich auch mal tun.
Mit Gaven hingegen… mit Gaven sollte Varyn besser nicht
sprechen. Nicht über den Traum jedenfalls, nicht über die
sechzehn Engel: All das würde sie einander nur noch fremder
machen. Je weniger Varyn Engel war, desto mehr war er Gavens
Bruder, und umgekehrt. Gaven mußte aus der ganzen Sache
rausgehalten werden, er verdiente ein gutes Leben, aber er
gehörte an einen Hof ebensowenig wie in einen Krieg. Es war an
der Zeit, daß Varyn sich Gedanken machte, wie und wo er Gaven
am besten unterbringen konnte. Wenn Gaven etwas geschehen
sollte… Varyn war auch so schon erpreßbar genug.
Jedenfalls konnte er sich über all diesen Gedanken nicht
beschweren, daß ihm die Nacht zu lang war. Auch ohne
Schlaf.
Am anderen Morgen konnte Varyn
nicht umhin, sich zu wundern, wie groß sein Hofstaat schon
geworden war, egal ob er König war oder nicht. Er hatte vier
Generäle, einen Kriegsbotschafter, fünf Berater, dazu das
an Dienerschaft, was das Massaker von Lomar überlebt hatte,
vor der Stadt ein Heerlager, und alles, ohne auch nur einen Finger
dafür krumm gemacht zu haben! Andere Leute schufteten ihr
ganzes Leben lang, ohne jemals von der Stelle zu kommen - der
Schmied im Tal fiel Varyn da noch vor dem Hauptmann Mendrion ein -
und andere, ohne daß man sie auch nur fragte, durften
plötzlich am Kopfende einer langen Tafel sitzen und bekamen
ein Frühstück von goldenen Tellern serviert.
Es war unwirklicher als alle seine Träume, und daß
Varyn keinen Hunger hatte, um ausgerechnet gebratenes Täubchen
zu essen, wo doch eine Handvoll Tauben das Unheil über dieses
Schloß gebracht hatten, machte es nicht viel besser. Wenn er
schon König zweier Länder werden sollte, wollte Varyn
doch lieber von Doubladir aus herrschen, die kalte, dunkle Burg
dort mit den kargen Steinwänden paßte doch besser zu ihm
als das hier… Was dachte er da? Wirklich, ein König!
Wie schnell ihm das zu Kopf stieg - es war wirklich besser, schnell
wieder aufzubrechen. Loringaril war für Fortgeschrittene.
Erstmal sollte Varyn in Doubladir die Grundsätze des
Königsseins lernen, bevor er sich hier über die goldenen
Teller hermachte und völlig vergaß, daß zu einem
Land auch Leute gehörten. Konnte er die Schätze hier
verkaufen und das Geld da ausgeben, wo es dringender benötigt
wurde? Aber auch für solche Gedanken war es noch zu früh.
Viel zu früh.
Varyn war froh, als das Frühstück vorüber war und
er dem festlichen Saal entfliehen konnte, bevor sein Verstand ganz
vergiftet wurde von all den Herrlichkeiten, die er sich in Wahrheit
für soviel Blut erkauft hatte. Wenn sie noch länger
hierbleiben sollten, wollte er entweder ganz auf das
Frühstück verzichten oder es gleich in seinem Bett
einnehmen. Das war königlich genug. Aber erst einmal: Mit Rul
sprechen.
»Habt Ihr einen Moment für mich?« fragte Varyn
den Mann leise. »Unter vier Augen, wenn es geht?«
Rul fletschte die Zähne. »Ganz wie seine Hoheit
wünschen -«
»So nicht!« sagte Varyn scharf. Er hatte beschlossen,
nicht mehr vor den Generälen, Beratern oder sonstwem zu
kuschen. Und dazu gehörte auch der ehemalige königliche
Bastard - ehemalig, weil er schließlich nicht Varyns Sohn
war, und weil es gerade überhaupt keinen König gab.
»Ich habe etwas wichtiges, daß ich mit Euch besprechen
will, und dann will ich verdammt noch einmal ernst genommen werden.
Das ist auch in Eurem Sinne, denke ich -«
»Dann fang gefälligst bei dir selbst an und spar dir
das Ihrchsen und Euchsen bei mir«, höhnte Rul
zurück. »Ich red mit dir wie mit einem gewöhnlichen
Bengel deines Alters, ob du zehnmal König wirst oder nicht,
und dir fällt nichts besseres ein, als mich anzuschnauzen,
wenn ich einmal mit dir rede, wie es zu deinem Stand paßt?
Willst du mich beleidigen, dann mach nur so weiter!«
»Das habe ich nicht vor«, sagte Varyn, »und wenn
es dir Recht ist, spar ich mich diesen ganzen
Höflichkeitskram, da wo ich herkomme, gibt es den
schließlich auch nicht.« Im Gegenteil, seit der
Begegnung mit dem Hauptmann hatte Varyn soviel Energie aufbringen
müssen, um sich auf die richtige Anrede zu konzentrieren und
nicht am Ende jemanden zu duzen, der ihm vielleicht dafür
gleich den Kopf abschlagen würde; er war froh, wieder zur
normalen Form zurückkehren zu können. »Und
schließlich sind wir jetzt ja auch irgendwie verwandt.«
Es war eine gute Überleitung, um zum eigentlichen Thema zu
finden.
Zumindest konnte er jetzt von sich sagen, Rul zum Lachen gebracht
zu haben. »Verwandt? Mit mir? Freiwillig? Willst du mich
beschämen, oder glaubst du, mir in den Arsch kriechen zu
müssen?«
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich will keinen Streit mit
euch, nicht mit dir, auch nicht mit Dannen oder Leota oder eurem
anderen Bruder. Wir sind jetzt nicht eng verwandt oder so, aber du
hast den Dämmervogel gestern auch gehört - und dann
wunderst du dich, daß ich mit dir reden will?«
Rul fletschte die Zähne. »Ich bin nicht dran
gewöhnt, mit denen in einem Atemzug genannt zu werden, und
ehrlich, ich höre es auch nicht gern.«
»Warum?« fragte Varyn und schien ihn damit aus dem
Takt zu bringen.
Rul stutzte, blickte sich nach den Seiten um, dann sagte er:
»Du wolltest mit mir reden, ja? Sicher nicht hier mitten im
Saal, oder?«
»Unter vier Augen, irgendwo, wo niemand groß Notiz von
uns nimmt«, antwortete Varyn. »Im Mittelpunkt steh ich
schon genug.«
Es war schwer genug, einen passenden abgeschiedenen Ort zu finden
- dieses Schloß war zu fremd, zu groß, und jeder Raum
schrie mit vergoldeten Schnörkeln nach Aufmerksamkeit.
Schließlich fiel ihnen nichts besseres ein, sich in ein
leeres Schlafzimmer zurückzuziehen, wo es zwei Stühle am
Fenster gab und man sich halbwegs ruhig hinsetzen konnte. Wo dabei
Gaven steckte, wußte Varyn nicht, er hatte ihn beim
Frühstücken am entgegengesetzten Ende des Tisches zwar
gesehen, aber dabei schien Gaven ihm auszuweichen, und Varyn war
froh darum. Sollte Gaven allein das Schloß erkunden oder sich
bei den Pferden rumtreiben, irgendwas eigenes machen, womit er
nicht als ein Anhang von Varyn endete. Hauptsache, Varyn konnte in
Ruhe mit Rul reden, auch über Dinge, die Gaven nicht wissen
durfte.
»Also gut«, sagte Rul dann. »Sag, was du mir
sagen willst, aber erwarte nicht, daß ich dir um den Hals
falle für die Gnade deiner Aufmerksamkeit, das habe ich nicht
nötig.« Wenn er auch mit Dannen und seinen anderen
Geschwistern so war, konnte Varyn verstehen, daß sie einander
nicht so gern hatten.
»Mir ist egal, ob du ein Bastard bist«, sagte Varyn.
Besser gleich den Finger in den wunden Punkt drücken und es
hinter sich haben. »Du bist ein Engelsgeborener, der Rest ist
mit schnurz. Wenigstens weißt du, wer dein Vater war, da hast
du mir was voraus. Aber darum geht es hier und mir gar nicht. Es
geht noch nicht mal darum, wer jetzt König von Doubladir oder
Loringaril oder sonstwo wird. Ich denke nur, wenn sich wirklich der
Abgrund erhebt, dann sollten die Engelsgeborenen
zusammenhalten.«
»Warum?« fragte Rul, und diesmal war es Varyn, den
diese Frage aus dem Takt brachte.
»Weil - weil ich keine Lust habe, die Welt ganz allein
retten zu müssen.« Sagte er das wirklich? Die Welt
retten? Vor was? Oder wem? Wenigstens lachte Rul in dem Moment
nicht. »Und die Engelsgeborenen sind doch dafür da, die
Engel auf der Welt zu vertreten. Ich glaube einfach nicht,
daß sie jetzt alle untergehen müssen, nur weil ich
geboren bin. Die anderen sind auch wichtig, sie sollten ihren
ganzen Scheißstreit begraben, wirklich, ob du und Dannen euch
versteht, ist egal, wenn soviel auf dem Spiel steht.«
Daß seine Stimme dabei immer lauter wurde, das störte
ihn nicht. Er hatte so lange mit leiser Stimme geredet und sich
klein gemacht, wenn er mit den Generälen und den anderen, die
etwas zu sagen hatte, zusammentraf, zu oft betont, daß er ja
nur nach Hause wollte und das Schwert abgeben und ein normales
Leben führen, aber wenn er ehrlich mit sich war, konnte er
diese Hoffnung begraben, er wußte seit Jahren, daß er
zu Großem bestimmt war, und was erst nur ein Witz unter
Kindern war, wurde jetzt Wirklichkeit: Und es war an der Zeit,
daß Varyn auch dazu stand. Zu seinem Schicksal, und zu sich
selbst.
Nur wenn er die Leute überzeugen wollte, mußte er noch
daran arbeiten. Rul zumindest schien wenig überzeugt. Er
schüttelte den Kopf, stützte sich mit den Ellbogen auf
seinen Knien auf, denn das zierliche Stühlchen schien für
nicht ganz so kräftige Männer gebaut und ließ ihm
wenig Platz für große Gesten, und sagte dann: »Du
glaubst das also tatsächlich?«
»Was glaube ich?« fragte Varyn. »Das mit dem
Abgrund? Ich habe keine andere Wahl.« Und er hatte die
Vorzeichen gesehen, oder schon den ersten Vorstoß - es war
wirklich nicht so, daß er noch lange herumtrödeln
konnte.
Aber das war es nicht, was Dannen meinte. »Die
Engelsgeborenen«, sagte er. »Ich meine, es ist ziemlich
löblich, was du da vorhast, und so sehr ich mich auch
drüber geärgert habe, daß da plötzlich ein
halbwüchsiger Jungspund ankommt und mir alles kaputt macht,
worum ich mein halbes Leben gekämpft habe, vielleicht braucht
die Welt wirklich so einen wie dich, einen, der an das glaubt, was
er macht. Aber das mit den Engelsgeborenen, das kannst du
vergessen.«
Varyn schluckte und versuchte es nochmal. Wenn er es noch nicht
einmal schaffte, einen Bastard zu überzeugen, der in seinem
Land nicht wirklich viel zu sagen hatte, dann konnte er das mit den
anderen, mit den ans Herrschen und Bestimmen gewöhnten Kerlen
ganz vergessen. Plötzlich wünschte er sich, vielleicht
doch ein wenig mehr gegessen zu haben. Ihm war schwindelig,
entweder vom Hunger oder von der schlaflosen Nacht. »Ich
weiß, die sind einander spinnefeind«, sagte er.
»Und sie führen einen Krieg nach dem anderen
gegeneinander, aber das muß ein Ende haben. Wenn es einen
gemeinsamen Feind gibt, ob das jetzt der Abgrund ist oder was auch
immer, dann müssen die Engelsgeborenen einfach zusammenhalten.
Egal ob sie einander mögen oder nicht, es ist einfach ihre
Aufgabe, es ist das, wofür sie überhaupt erst in die Welt
gesetzt worden sind…« Er brach ab. Es war eine
ziemlich dumme Idee, einem Engelsgeborenen zu erklären, was
Engelsgeborene waren und wofür sie gut sein sollten. Rul
mußte irgendwo Anfang, Mitte zwanzig sein, und entweder
wußte er das schon längst, oder es interessierte ihn
nicht. In seinem Fall offenbar letzteres.
»Junge«, sagte Rul. »Varyn.« Seine Stimme
hatte diesen väterlichen Beiklang, den die Leute dann
benutzten, wenn sie ihrem Gegenüber zeigen wollten, daß
es wirklich keine Ahnung hatte. »Deinen Eifer in allen Ehren,
aber das bringt nichts. Du hast einen ganz patenten kleinen Bruder,
der zu dir hält. Such dir Leute wie den. Ruhig viele davon,
von mir aus ein ganzes Heer. Und dann stell dich mit denen dem
Abgrund entgegen, das wird mehr Erfolg haben. Die Engelsgeborenen,
die können nichts. Glaub mir das, ich bin selbst einer. Du
kannst von mir aus mit großartigen Gaben überhäuft
sein, was weiß ich, aber da bist du der Einzige. Das, was ich
oder die richtigen, offiziellen Engelsgeborenen noch an Engelsblut
in uns haben, damit kannst du keinen Verdurstenden retten. Die
anderen hören das nicht gern, aber wir können nicht mehr
als jeder normale Hinz oder Kunz.«
Varyn schluckte. Natürlich, er war längere Zeit mit
Dannen und Leota unterwegs gewesen, und da drängte sich die
Frage auf, was die nun von gewöhnlichen Menschen unterschied.
Aber die trockene Wahrheit gleich so heftig ins Gesicht geklatscht
zu bekommen… »Danke für deine Ehrlichkeit,
Rul«, hörte Varyn sich sagen und wußte
gleichzeitig nicht, ob er dem Mann trauen durfte, der sich doch
über jede Gelegenheit freute, schlecht von seinen Geschwistern
reden zu können. »Ist das… ist das bei allen so,
oder nur bei Vigilanders Haus?«
Rul zuckte die Schultern. »Das fragst du mich? Als ob ich
jemals irgendwelche diplomatischen Besuche hätte machen
müssen! Den anderen bin ich doch nie begegnet, im Moment bist
du das engelsgeborenste, was ich kenne. Man munkelt, die
Lichtfesser haben noch die eine oder andere Gabe, und wenn es dir
drum geht, eine Truppe um dich zu scharen, die aufs Essen
verzichten kann, sind sie dir sicher nützlich. Die hier in
Loringaril waren stark und sonst nichts, um die ist es nicht schad.
Koristan vielleicht noch, wenn du jemanden haben willst, der dir
das Denken abnimmt, aber auf der anderen Seite mögen die es
wohl nicht, wenn jemand doch lieber für sich selbst denkt, und
zum anderen herrscht bei denen am Hof noch größeres
Chaos als hier - also, such dir lieber richtige Leute, die hinter
dir stehen, da hast du mehr von.«
Es waren ernüchternde Worte, aber das war ganz gut. Nachdem
Varyn erst der Dämmervogel und dann sechzehn Engel auf einmal
erschienen waren, brauchte er etwas, jemanden, der ihm half, nicht
gleich abzuheben. Normalerweise wäre das Gaven gewesen, aber
da Varyn sich entschieden hatte, den so weit wie möglich aus
allem rauszuhalten, was Engel enthielt, war jetzt Rul eine gute
Alternative. »Und du?« fragte er. »Engelsgeboren
hin oder her, kann ich auf dich zählen?«
»Was erwartest du, was ich antworte?« fragte Rul
zurück. »Ich kann ja schlecht sagen, ich will, daß
der Abgrund die Welt verschlingt. Aber mit ihm anlegen? Das ist
eine Ecke zu groß für mich. Ich bin Soldat. Wenn du
deinen Kriegszug planen willst, wenn du meinem verdammten Bruder
eins auswischen willst, dann bin ich dein Mann. Aber du willst dich
mit Dannen verbünden - und dann denke ich, Bastard allein
reicht auch nicht. Da mußt du mir schon was besseres
bieten.«
Das fing gut an. Niemand schien ein Problem mit der Vorstellung zu
haben, daß Varyn allein dem ganzen Abgrund
gegenübertreten sollte, und dabei noch ein paar Länder
regieren, Kriege führen, Hunger und Not auf der Welt
beseitigen, alles auf einmal. Selbst die Engelsgeborenen der ersten
Stunde, und die stammten immerhin direkt von einem Elomaran ab und
nicht im wer weiß wievielten Glied, hatten diese Probleme
nicht gehabt - da durfte sich jeder auf ein Land beschränken,
wenn überhaupt, und gut war's. Aber nur, weil die sich jetzt
zu weit von ihren Engeln entfernt hatten, sollte Varyn das
richten?
»Ich wäre schön blöd, mich nicht mit Dannen
zu verbünden, wenn ich ihn kriegen kann«, sagte er.
»Und mir ist egal, wie du zu ihm stehst oder er zu dir, mal
ganz vom Abgrund abgesehen, wenn es um Doubladir geht, brauche ich
jede Hilfe, die ich kriegen kann.« Um Loringaril konnte er
sich immer noch kümmern. Das Horn lief ihm nicht weg, und wenn
doch, war es auch nicht schlimm. Er mußte irgendwo anfangen,
und Doubladir wartete drauf, einen neuen König zu bekommen.
Varyn würde das Heer nehmen und zurückreiten nach Caer
Diuree, dort hoffentlich auf den Rest der Sippschaft treffen, und
dann dafür sorgen, daß der richtige Mann auf dem Thron
landete. Egal, wie schlecht Rul sie auch machen mochte, Varyn
wollte die Engelsgeborenen hinter sich wissen, am besten alle von
ihnen, nicht wegen irgendwelcher Gaben, sondern damit die Kriege
ein Ende hatten, und auch, damit die Menschen sich nicht für
eine Seite entscheiden mußten, ihr altes Haus oder der neue
Varyn. Das war allein schon eine verdammt große Aufgabe. Und
Varyn hatte üble Lust zu trinken. Das Leben als
Auserwählter fing gut an.
»Du mußt das wissen«, sagte Rul. »Wer bin
ich, dir reinzureden? Aber ich sage dir, gegen die anderen wirst du
deutlich schneller zu einem Ergebnis kommen als mit ihnen.«
Er erhob sich, und man durfte sich fragen, wer darüber froher
war, das Stühlchen oder er. »Ich denke, wir haben
erstmal genug geredet. Wenn nicht, lerne dich kürzer zu
fassen. Aber ich habe noch Dinge, um die ich mich kümmern
muß, und die hast du erst Recht. Oder willst du nicht den
Beratern hier sagen, was sie in deiner Abwesenheit zu tun
haben?«
Varyn seufzte und blieb sitzen. Alkohol. Sofort. Und dann eine
Wand, gegen den er jeden Engel und jeden Berater und General und
überhaupt alle klatschen konnte. Am allermeisten den
Dämmervogel. Und am aller-allermeisten sich selbst.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2000 - 2015 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.
Kommentare und Diskussionen zu diesem Kapitel
Kommentar verfassen