»Bildet Euch bloß
nichts darauf ein«, sagte Leota. Und das noch vor, oder
anstelle von, einer Begrüßung war dann doch ziemlich
grob. Das schien die Fürstin dann auch selbst einzusehen, denn
sie machte eine entschuldigende Geste. »Versteht mich nicht
falsch, Mendrion, aber ich weiß ziemlich genau, was hier
abläuft und was Ihr mit meinem Bruder abgesprochen habt. Aber
ihn rumzukriegen ist eine Sache - mich eine andere.«
Mendrion schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als ob er
irgendwie die erste Hälfte der Unterhaltung verpaßt
hatte - eigentlich war er hier, um Leota zur Hand zu gehen, was die
Vorbereitung der Beisetzung anging: Sicher nicht seine
Lieblingsaufgabe, aber es gab schlechtere. Je nachdem, wie man
behandelt wurde, hieß das. »Ich weiß nicht, was
Ihr meint«, sagte er grober, als Leota es sonst von ihm
erwarten konnte. »Dannen hat mich gebeten, Euch zu helfen,
Euren Vater hier heile rauszubekommen, und dann -«
»Das könnt Ihr Euch sparen!« Leota schnitt ihm
das Wort ab. »Ich kann mir genau denken, was Ihr wirklich mit
Dannen geredet habt. Oder soll ich etwa denken, daß
ausgerechnet Ihr jetzt auf unserer Seite stehen wollte, hat keinen
Preis?« Sie schüttelte den Kopf, aber ihr Haar,
naßgeregnet und durchgeschwitzt, klebte an ihrem Kopf wie
gegossenes Eisen und rührte sich kein Stück dabei.
»Ihr steht uns bei, wo es sonst niemand mehr tut, und
dafür verspricht Euch mein Bruder gnädigerweise meine
Hand, ist es nicht so? Und Ihr glaubt, ich lasse mich verschachern
wie ein Stück Vieh? Dannen soll lieber daran denken, daß
ich selbst die Seiten wechseln kann…«
Mendrion ließ sie ausreden. Er wußte zu viel über
Frauen, und über diese insbesondere, um ihr ins Wort zu
fallen. Erst recht nicht, wenn sie sich aufregte - man konnte
Öl in ein Feuer gießen und sich daran weniger
verbrennen. Erst, als ihr Zorn langsam zu verpuffen schien, sagte
er leise: »Ihr liegt falsch. Dannen hat mir nichts
dergleichen versprochen, und ich habe ihn auch nicht darum
gebeten.« Sie glaubte ihm nicht, das wußte er auch so.
Aber es gab Dinge, die wollte er nicht auf sich sitzenlassen.
»Das, was Ihr mir da vorwerft, reduziert nicht nur Euch zu
einer Hure, sondern auch mich.« So derb wollte er das
eigentlich nicht sagen, aber da war es ihm schon rausgerutscht und
zu spät.
Leota ohrfeigte ihn, mehr symbolisch als schmerzhaft, aber das
stand ihr jetzt auch zu. Hätte Mendrion nicht schon am
gleichen Tag deutlich heftigere Prügel von Dannen einstecken
müssen, er hätte glatt darüber hinwegsehen
mögen, so ärgerte es ihn dann schon - da war er der
Einzige, der noch auf ihrer Seite stand von allen Leuten, die auch
nur ein Bißchen zu sagen hatten bei der königlichen
Armee, und trotzdem fiel diesen Personen nichts Besseres ein, als
ihn zu schlagen und wie Dreck zu behandeln? Auch Mendrion hatte
noch seinen Stolz, es ging ihm nicht nur darum, sich meistbietend
zu verkaufen. Und zum ersten Mal fragte er sich ernsthaft, ob er
nicht einen gewaltigen Fehler machte, ob er nicht doch auf Varyns
Seiten viel, viel besser untergebracht war.
»Untersteht Euch!« fauchte Leota. »Mein Vater
ist gestorben, und Ihr nennt mich Hure?«
»Leota«, sagte Mendrion und machte, nur zur
Sicherheit, einen Schritt rückwärts, »Ihr kennt
mich inzwischen zu lang und zu gut, um es nicht besser zu wissen.
Ja, ich wäre überglücklich, um Eure Hand anhalten zu
dürfen, das wißt Ihr, es war noch nie ein Geheimnis.
Aber es geht mir nicht darum, über Euren gebrochenen Willen zu
triumphieren wie Euer Bruder am Tag seiner Hochzeit, wirklich, wenn
meine Braut bei der Trauung so ein Gesicht ziehen würde,
könnte ich mich gleich aufhängen gehen, sondern darum, es
verdient zu haben, Euch verdient zu haben, es wert zu sein. Ich bin
bereit, dafür zu arbeiten und darum zu kämpfen, aber ich
muß dafür nicht Dannens Herz erringen, sondern
Eures.« Er wunderte sich über sich selbst. Das war immer
ein offenes Geheimnis und sein Werben mehr verstohlener Natur, so
deutlich wie jetzt hatte er es noch nie ausgesprochen, und es
fehlte nur noch, daß er die Worte 'Ich liebe Euch'
hineingebracht hätte, um sich vollends zum Narren zu
machen.
»Ihr solltet mich besser kennen«, sagte Leota, aber
zumindest hatte sie sich jetzt wieder einigermaßen unter
Kontrolle. »Erstmal habe ich im Moment wirklich mehr und
Besseres zu tun, als mich Euren Annäherungsversuchen
auszusetzen, und zum anderen hatten wir in Elad Courblaka genug
Zeit, uns besser kennenzulernen, und so sehr ich Euch schätze,
als Soldaten und auch als Mann, will ich sicher nicht mit Euch
verheiratet sein.«
»Und mit jemand anderem?« Sicher keine kluge Frage,
aber Mendrion hatte eine Grenze, wie viel Zurückweisung er an
einem Tag einstecken wollte. Er hoffte, daß er die Antwort
kannte, und wenn ja, war sie tröstlich.
Tatsächlich, Leota lächelte, ein kleines Bisschen.
»Auch mit keinem anderen«, sagte sie. »Dannen
weiß das. Und glaubt mir, auch wenn er wirklich nicht mit
Euch darüber gesprochen hat und das alles allein auf seinem
Mist gewachsen ist, der einzige Grund, warum Ihr jetzt hier seid,
bei mir, wo ich Euch wirklich nicht brauchen kann, ist, daß
er Euch zumindest in dem Glauben lassen möchte, er könne
Euch mit mir verheiraten. Weil er weiß, daß Ihr das im
Grunde Eures Herzens immer hofft, und weil er denkt, daß er
jetzt die Macht und das Recht dazu hat.«
»Ihr klingt nicht gerade so, als ob Ihr hinter Eurem Bruder
steht, komme was wolle«, sagte Mendrion leise. Er war nach
der langen gemeinsamen Reise für Leota sicher kein
Heiratskandidat, aber zumindest hatte man sie als Kameraden
bezeichnen können, und an diese Vertrautheit wollte er jetzt
gern wieder anknüpfen. Selbst wenn Leota behandelt werden
wollte wie einer von den Jungs, konnte daraus doch zumindest eine
Freundschaft erwachsen, und eine Freundschaft war ein fruchtbarerer
Boden für manche gute Ehe als die große heiße
Liebe.
»Was erwartet Ihr?« Leota fletschte sehr undamenhaft
die Zähne. »Da ist ihm einiges zu Kopfe gestiegen, und
er verdient es, wieder auf ein normales Maß runtergestutzt zu
werden. Das, was hier passiert ist, das geschieht ihm doch nur ganz
recht und tut ihm gut. Er wird immer mein Bruder bleiben, aber was
das betrifft, mein kleiner.« Sie raufte sich kurz durch die
Haare und schüttelte den Kopf. »Aber Ihr raubt mir die
Zeit, Mendrion, ich habe wirklich andere Dinge zu tun, als mit Euch
zu schwätzen. Ich habe immer noch einen Vater zu begraben, und
das kann ich nicht hier.«
Mendrion nickte wortlos. Mehr als das hatte er auch nicht
erwartet. Und egal, was nun mit Varyn geschehen war oder mit
Dannen, dies war immer noch ein Kriegsschauplatz, und statt einem
warmen Feuer und schwülstiger Romantik erwartete sie ein
Schlachtfeld, das nur die Lebenden schon verlassen
hatten.
Bevor der Krieg kam, hatten auf
diesem Gelände vielleicht einmal Tiere geweidet - Mendrion
wußte nicht, wozu man einen grasbewachsenen Hang sonst noch
nutzen sollte, er war kein Bauer, wenn er eine Wiese sah, einen
Wald, ein Feld, war sein erster Gedanke, was man beachten
mußte, wenn die Truppe hier kämpfen sollte. Gelände
war so wichtig, und wer es wählen konnte, war klar im Vorteil
- hier hatte der König von Doubladir einen guten Griff getan,
keine Frage, aber nun war die Schlacht vorbei, und das, was
übrigblieb, war weder grüne Wiese noch stolzes
Schlachtfeld.
Der Regen und die Schuhe der Soldaten hatten den Boden in braunen
Schlamm verwandelt, zumindest dort, wo es zur Sache gegangen war,
und das waren die Orte, wo die Toten lagen. Sie waren eins geworden
mit ihrer Umgebung, und nun, da es dämmerte, waren sie so
schlecht zu sehen, daß Mendrion auf mehr als einen armen Kerl
trat, den er vorher nicht gesehen hatte - aber das durfte ihm
nichts mehr ausmachen, wer tot war, störte sich an einem
Stiefel im Gesicht mehr oder weniger auch nicht mehr. Schwerer war
es zu entscheiden, welche Toten nun zu Doubladir gehörten und
welche zu Loringaril, aber wer wollte das schon wissen, am Ende
würde man das ganze Feld umpflügen, im Abgrund kam alles
zusammen.
Nur den König, den konnten sie nicht einfach hier
liegenlassen. Es war unter seiner Würde, Seite an Seite mit
gemeinen Fußsoldaten oder Reitern beigesetzt zu werden, und
überhaupt - er hatte ein Recht, feierlich in seine Heimat
überführt zu werden, was immer danach auch mit seinem
Schwert passiert war und ob nun das Volk hinter Dannen stand oder
nicht, der König war der König, Punkt. Er war nicht mehr
Held und nicht weniger als jeder dieser gesichtslosen Toten, aber
in Doubladir war es immer besser, wenn ein König in der
Schlacht starb und nicht im Bett, gerade, wenn man sein Leben sonst
eher mit Betten in Verbindung brachte, denn mit Schlachten.
Mendrion kämpfte ein drückendes Gefühl in der
Magengegend nieder, als er sich plötzlich fragen mußte,
ob einer der Männer unter seinen Füßen vielleicht
aus seiner Einheit stammte - nicht der, mit der er hier
gekämpft hatte, da wußte er ungefähr, wen er
verloren hatte, und gerade bei seinen Schützen hielten sich
die Todesfälle in Grenzen. Aber seine erste Einheit, das
Fußvolk, das er aus den Bergen geholt hatte - sie konnten
hier überall liegen, jeder von ihnen konnte tot sein, und
Mendrion würde das nie erfahren…
Leota und Mendrion waren nicht die einzigen Lebenden, die das
Schlachtfeld abgingen, ob das gierige Kerle beim Leichenfleddern
waren oder treue Kameraden, die nach ihren gefallenen Freunden
suchten, war Mendrion egal, solange Bakonyn nicht dabei war. Wenn
es einen Mann gab, den Mendrion heute nicht mehr treffen wollte,
dann Bakonyn. Er wollte nicht Name für Name hören
müssen, wer gefallen war, auch wenn die meisten Namen ihm gar
nichts mehr sagen dürften oder nie etwas gesagt hatten.
Wenn der Krieg begann, ritten die Rekrutierungspatrouillen
übers Land mit ihren eindrucksvollen Rüstungen und
Pferden, froh um das Aufsehen, das sie erregten, und je mehr Leute
nicht nur eingezogen wurden, sondern mit Freude gingen, desto
besser war es. Aber nach dem Krieg schickte man nur den Schreiber
übers Land oder irgend einen anderen Kerl, der lesen konnte,
er sollte kein großes Aufsehen erregen, nur die Namen
derjenigen verlesen, die nicht zurückkommen würden - wenn
überhaupt. Es reichte eigentlich die Meldung, daß der
Krieg vorüber war, und wenn die Söhne, Väter,
Brüder dann nach ein paar Monaten immer noch nicht wieder
daheim waren oder die Freunde und Vettern ohne ihn ankamen, konnten
sich die Überlebenden auch an zwei Fingern abzählen, was
passiert war. Und die Vorstellung, daß sie vielleicht nur mit
einem Mädchen durchgebrannt waren, würde nicht
überall als Trost herhalten. Die eigentliche Kunst war nur, es
so hinzubekommen, daß bis zum nächsten Krieg alle Trauer
vergessen war und die Söhne, Väter, Brüder mit der
gleichen Begeisterung in die Schlacht ziehen würden wie beim
letzten Mal. Und was immer man über Doubladir auch sagen
mochte, das war eine Sache, in der das Land gut war.
Immerhin mußten sie nicht wirklich suchen. Nicht
stehenbleiben, sich hinknien, einen schlammbedeckten Toten
herumwälzen und sich ärgern, keine Fackel dabeizuhaben,
um in dem langsam schwindenden Licht die Gesichtszüge besser
erkennen zu können. Mendrion wußte ziemlich genau, wo
der König gestorben war, sie mußten nur dorthin gehen,
aber wenn man die Wahl hatte, das Schlachtfeld eiligen Schrittes zu
überqueren oder den weiten Weg drumherum zu laufen, um ans
andere Ende zu kommen, fiel die Wahl leicht. Sie hatten keine Zeit
mehr zu vertrödeln, zu lange hatte Leota mit Dannen beraten
und Mendrion gewartet, ohne selbst auf die Idee zu kommen, sich um
den toten König zu kümmern - aber das bedauerte er kaum,
er war nicht für die Toten da, nach dem, was an diesem Tag
geschehen war, waren die Lebenden viel interessanter und sicher
auch wichtiger.
Dann blieb Leota plötzlich stehen und faßte Mendrion
beim Arm. »Halt!« sagte sie. »Seht Ihr
das?«
Mendrion blinzelte. Schluckte. Zwinkerte. Rieb sich die Augen.
Doch die grauen Gestalten wurden davon nicht klarer. Graue
Gestalten, die sich plötzlich über das Schlachtfeld
verteilten wie die Krähen auf einem frisch eingesähten
Feld. Wo sie so schnell hergekommen waren, konnte Mendrion nicht
sagen, aber plötzlich waren sie überall, Dutzende
Gestalten in Grau, die sich ohne jeden Laut bewegten und deren
Füße den Boden kaum zu berühren schienen, vor allem
aber nicht die Körper, die dort lagen. Einen kurzen
entsetzlichen Moment lang dachte Mendrion, die Toten würden
aufstehen, einer nach dem anderen, oder ihre rastlosen Geister, die
den Ort der Schlacht noch in dreihundert Jahren heimsuchen
würden - er hatte zu viele Nächte lang den
Erzählungen seiner Großmutter gelauscht, die eine wahre
Expertin war für alles, was spukte, als daß er
ausgerechnet in diesem Moment die Erinnerung daran vergessen
konnte. Aber er fing sich wieder, bevor Leota diesen Augenblick der
Schwäche bemerken konnte.
»Das sind die Totenmägde«, flüsterte Leota.
»Habt Ihr jemals so viele von ihnen gesehen?«
Mendrion schüttelte den Kopf. Totenmägde waren etwas, um
das er doch eigentlich lieber einen Bogen machte. Seine Eltern
waren lange tot und auch seine Großmutter, jedes Mal kam eine
Totenmagd ins Haus, aber wohlgemerkt: Eine. Nicht hundert. Hier
waren es… Mendrion konnte es nicht sagen. Das Licht war zu
schlecht und die Totenmägde in ihren grauen Kutten zu
unwirklich - schon eine einzelne hatte etwas an sich, das nicht von
dieser Welt war, aber nun waren es so viele, daß Zahlen viel
zu wirklich gewesen wären, um diesem Anblick gerecht zu
werden.
»Sie sind eine Art Orden«, sagte Leota leise.
»Ich glaube nicht, daß irgend jemand viel über sie
weiß, wer will schon eine Totenmagd ausfragen? Es gibt
diejenigen, die in einem Ort niedergelassen sind und sich da um
alles war stirbt kümmern, und es gibt diejenigen, die in ihrer
Ordensburg sitzen - wo immer die liegen mag, auch das weiß
keiner außer ihnen selbst - darauf warten, daß irgendwo
ein Krieg ausbricht oder eine Seuche oder sonst etwas, wo eine
einzelne Totenmagd im Leben nicht mehr nachkommen kann mit dem
Beisetzen. Sie beobachten den Krieg, und wenn die Toten da sind,
sind sie es auch.« Ihre Stimme wurde immer leiser,
während sie sprach. »Manche behaupten, sie sind selbst
die Sendboten des Todes und wandeln in seinen Fußspuren,
lautlos und nicht weniger tödlich als der Tod an sich. Und
manche glauben« - hier erstarb Leotas Stimme einen Augenblick
lang - »sie dienen dem Abgrund selbst.«
Mendrion sagte nichts und rührte sich nicht, selbst ein
Schlucken blieb ihm im Hals stecken und nahm ihm den Atem. In
diesem Moment, angesichts dieser grauen Frauen, die über das
Schlachtfeld glitten wie unmenschliche Schatten, war er bereit,
fast alles zu glauben, außer an das Licht. Es war Leota, die
ihn zurückholte, bevor die Angst ihn überkommen
konnte.
»Hört nicht darauf«, sagte sie fester und lauter.
»Die Totenmägde sind anständige Frauen, die ihre
Arbeit tun, und glaubt mir, sie sind erbittertere Gegnerinnen des
Abgrunds als alle Engelsgeborenen zusammen. Wir müssen nur
eine finden, die uns hilft, meinen Vater zu bergen und zu
überführen. Es sind viele Totenmägde hier - aber
immer noch mehr Tote.«
Es war eine Seite des Krieges, an die niemand gerne dachte, aber
da mußten sie jetzt durch. Niemand warb um neue Rekruten mit
dem Anblick eines Heeres von Totenmägden, aber die Wahrheit
war doch, wer dieses Bild sehen konnte, hatte überlebt. Es war
ein Grund zur Freude, oder zumindest zu stillem Triumph, egal ob
man auf der Seite der Sieger stand oder der Verlierer: Hauptsache
am Leben. Und wenn die Totenmägde dafür sorgten,
daß dieses Gelände bald wieder vom Schlacht- zum
Weizenfeld wurde, sollte das Mendrion recht sein.
Es würde irgendwann einen neuen Krieg geben, aber was bis
dahin aus der Welt werden sollte - Mendrion wollte sich
darüber keine langen Gedanken machen. Varyn war dabei, alles
auf den Kopf zu stellen, und Mendrion, der froh war um jeden
Gedanken an Varyn, den er nicht denken mußte, war sich nicht
sicher, auf der richtigen Seite zu stehen. Besser war es, sich um
die grundsätzlichen Probleme des Augenblicks zu kümmern,
um Leota, das Schlachtfeld, und vor allem um den Leichnam des
Königs. Sie waren fast an der Stelle angekommen, als Mendrion
begriff, daß er etwas ganz und gar Wichtiges übersehen
hatte: Es war nicht nur ein toter König. Es waren zwei. Und
Leota und Mendrion kamen zu ihrem zu spät.
Die Stelle, an der erst Lorimander und dann Vigilander gefallen
waren, wimmelte von Soldaten, aber auch wenn vor Regen und Schlamm
nicht mehr viel zu erkennen war von den himmelblauen Abzeichen der
Armee Loringarils, wußte Mendrion sofort, daß diese
Männer auf der falschen Seite standen, als die einen Kessel um
die Toten bildeten. Es waren genug Loringarim, um den Ort komplett
abzuriegeln, und Mendrion verfluchte und schämte sich seiner
eigenen Truppe, daß die ihren König so sang- und ehrlos
liegengelassen hatten, um hinter Varyn herzurennen, als hätten
sie nie einen anderen Herrn gekannt. Sich selbst durfte er da nicht
ausnehmen, auch wenn er sich statt dessen auf den schnellsten Weg
zu Dannen gemacht hatte - aber die Wahrheit war doch, keiner hatte
sich um den König gekümmert, und wenn die Loringarim nun
seinen Leichnam plünderten und schändeten, waren sie das
alle selbst schuld.
»He!« rief er mit seiner Kommandierstimme.
»Zurück! Gebt den König frei!« Das waren nur
Fußsoldaten, die waren gewöhnt zu gehorchen, egal
welcher Seite, sie konnten froh sein, daß sie noch standen,
zur Sicherheit noch die Hand an den Schwertknauf…
Aber die Männer wichen nicht zurück. Sie schoben sich
nur enger zusammen, Schulter an Schulter, und diejenigen, die noch
Waffen hatten, richteten diese auf Mendrion und Leota.
»In Vigilanders Namen gebt den Weg frei!« brüllte
Mendrion. Es war ihm egal, daß es eigentlich an Leota war,
diese Situation zu lösen, aber sie war keine Kommandantin,
sicher ging ihr das auch viel zu nahe, und überhaupt, Mendrion
wollte auch mal zu etwas gut sein. »Wir geben euch freies
Geleit, aber laßt uns an unseren Toten!«
Höhnisches Gelächter schlug ihnen entgegen.
»Räudige Doubladai!« rief einer der Loringarim.
»Ihr steht auf unsrem Land, hier haben wir das
Sagen!«
»Ja, aber ihr habt verloren!« rief Mendrion.
»Und das Sagen hat der Sieger!« Die Wörter
mußten groß sein. Auf einen Kampf durfte er es nicht
ankommen lassen. Egal wie abgerissen und geschwächt diese
Männer auch sein mochten und, egal wie scharf Mendrions
Schwert, gegen so eine Überzahl konnten, sie nicht gewinnen.
Und von Vigilanders siegreichem Heer war keiner mehr zu sehen,
zumindest keiner, der lebte. Es war eine Schande.
»Wenn ihr euren König wiederhaben wollt, gebt unser
Land frei!«
»Die Engel selbst haben diesen Kampf entschieden!«
Einen Moment lang fragte sich Mendrion, ob es richtig war,
ausgerechnet jetzt Varyn zum Sieger und Herrn der Welt zu
erklären; wenn es danach ging, war nicht nur Lorimanders Haus
unterlegen, sondern auch Vigilanders, aber alles war Recht, was
diesen Hunden Ehrfurcht einjagte, und Engel waren immer ein gutes
Werkzeug.
Leota legte ihm eine Hand auf die Schulter, und Mendrion begriff,
daß er das Maul zu halten hatte, wollte er es sich jetzt
nicht für immer mit ihr verscherzen. Ihr Vater. Ihr Kommando.
»Ich bin Leota von Vigilanders Blute!« rief sie, und es
war das erste Mal, daß Mendrion sie ihren vollen Namen
benutzen hörte. »Hört mir zu, Männer von
Loringaril, wenn ihr nicht wollt, daß auf diese Schlacht
weiteres Blutvergießen folgt, dann laßt mich meinen
Vater begraben, so wie ihr euren König begraben dürft.
Dieser Krieg wird nicht zwischen den Toten ausgefochten, und nicht
um die Toten.« Sie hatte den Überraschungsmoment auf
ihrer Seite. Wer sie von weitem kommen sah in ihrer Rüstung
und mit dem Helm auf dem Kopf, begriff nicht, daß es sich um
eine Frau handelte, aber wenn dann ihre Stimme erklang,
unzweifelhaft weiblich, etwas, das diese Männer vielleicht
seit Monaten nicht mehr gehört hatten -
Mendrion irrte, und Leota auch, wenn sie dachten, daß dies
die Loringarim beeindrucken würde. Nur einen Moment lang
herrschte irritiertes Schweigen. Dann griffen die Männer an.
Auch wenn sie vorher vielleicht nichts anderes im Sinn gehabt
hatten, als den Leichnam ihres eigenen Königs vor den Feinden
zu schützen; auch wenn sie Loringarim waren und das Prinzip
der Rache ihnen nicht wie den Doubladai ins Blut eingebrannt war,
hier hatten sie eine Chance, es Doubladir direkt heimzuzahlen -
wann bekam man schon die Tochter seines ärgsten Gegners
serviert wie auf einem Silberteller? Die Tochter, von allen
Dingen!
Mendrion riß das Schwert heraus, bereit zu kämpfen bis
zum Letzten. Der Krieg war noch nicht vorüber, und auch wenn
Mendrion als Hauptmann nicht selbst vorne, sein Leben nicht auf dem
Spiel stand, war jetzt der Moment gekommen, Blut nicht nur durch
seine Männer und die Kraft seiner lauten Stimme zu
vergießen. Direkt am Anfang so viele wie möglich
treffen, am besten töten, dann erschrak der Mob und zog wieder
zurück… Aber noch, bevor er den ersten Schlag tun
konnte, noch bevor auch nur der Spieß des ersten Feindes ihn
erreicht hatte, fror er in der Bewegung ein und die Luft um ihn und
die ganze Welt. Von einem Moment auf den anderen herrschte Stille.
Wie gelähmt blieb Mendrion stehen, begriff die Welt nicht,
blickte zum Himmel, wartete auf das nächste engelhafte goldene
Licht, den nächsten Blitz- und Donnerschlag, und sein
Schwertarm, dessen Herr er nicht mehr selbst war, sank langsam nach
unten.
»Was ist…«, wollte er fragen, doch die Worte
wollten seinen Mund nicht verlassen, flüchteten zurück in
seine Zunge, als fürchteten sie sich, die Stille zu
zerschneiden, die dicker war als Nebel und schwerer als ein
Alpdruck. Um ihn herum ließen Männer ihre Waffen fallen,
ihre Gesichter so verwirrt und hilflos, wie jetzt auch Mendrion
selbst aussehen mochte. Langsam schritten seine Füße
rückwärts, auch das nicht durch eigene Entscheidung, so
wie sich die Loringarim zurückzogen, bis keine Seite mehr in
der Reichweite der anderen war. Mendrion wollte etwas sagen, wollte
die Arme heben, wollte vorwärtsgehen können, aber
für all das war er wie gelähmt, er konnte nur zusehen,
sich selbst, Leota, den Loringarim, und den Totenmägden, die
wie eine stille Prozession geschritten kamen und zwischen die
Fronten traten.
Ihre Bewegungen waren weich und ohne den verzweifelten Drang, der
Mendrion rückwärtsgehen hieß; er wußte nicht,
was sie da taten oder wie, aber diese grauen Frauen waren es, die
über das Schlachtfeld herrschten und ihm ihren Frieden
aufzwangen. Die Stille raubte ihm den Atem, drang tief in ihn ein
mit gnadenloser Sanftheit, die keinen Widerspruch duldete, und wie
die Wärme von einem Feuer breitete sie sich von den
Totenmägden aus, erfüllte erst die Körper, dann die
Herzen, daß kein Gedanke an Kämpfen oder Töten mehr
möglich war. Mendrion hatte erst zweimal in seinem Leben die
Anwesenheit eines Engels gespürt: Einmal in der Nacht, als er
Varyn das Kämpfen lehrte, dann in der Schlacht in dem Moment,
als das Schwert in die Hand des Jungen flog - und jetzt. Und
während er bei den ersten beiden Malen nur ein Zuschauer war,
ein atemloser Zeuge, griff die Macht dieses Engels nun direkt nach
ihm, daß er nur noch auf die Knie gehen und sich ihr ergeben
wollte.
Es mochte tröstlich klingen, doch es war kein gutes
Gefühl. Mendrion war ein Mann des Krieges, und jetzt
fühlte es sich an, als ob genau das, seine wahre Seele, aus
ihm hinausgequetscht wurde. Und daß er nichts dagegen tun
konnte als warten, bis es vorüber war, machte es nicht viel
besser. Nur warten, und froh sein, daß auf diese Weise
zumindest sein Leben gerettet wurde. Die Totenmägde formten
eine Mauer zwischen Doubladir und Loringaril und trieben die Feinde
auseinander, und keiner konnte auch nur ein Wort sagen.
Dann löste sich die seltsame Versammlung auf. Hier waren nur
zwei Tote von vielen, die alle Beistand brauchten. Mendrion blieb
stehen, blickte Leota an und wagte nicht, sich wieder zu
rühren - wovor hatte er Angst? Vor diesem entsetzlichen
Frieden? Er schüttelte sich, das war die erste Regung, ein
Schauder lief ihm den Rücken hinunter, dann bückte
Mendrion sich nach seinem Schwert und war zumindest endlich wieder
am Leben, Mensch, und Mann. Leota nickte grimmig. Sie machte einen
Schritt auf den Leichnam ihres Vaters zu, den die Loringarim
endlich freigegeben hatten - und Mendrion sah mit Erleichterung und
Scham zugleich, daß er immer noch lag, wie er gefallen war,
und das geschlossene Visier seines Helmes schützte vor dem
direkten Anblick eines Mannes, den der Blitz erschlagen hatte. Doch
sie waren nicht zu früh gekommen, das Pferd hatten die
Loringarim schon von seinem Körper gewälzt, und daß
sich noch niemand an der Rüstung oder dem Toten selbst
vergriffen hatte, mußte reines Glück sein, oder letzte
Ehrfurcht, oder Angst.
Aber als sich Leota über ihn beugen wollte, Mendrion blieb
ein kleines Stück hinter ihr stehen, denn immerhin war es ihr
Vater, trat eine Totenmagd an sie heran, legte ihr erst von hinten
die Hände auf die Schultern, dann, als Leota hochfuhr und
herum, nahm sie die Hände der Königstochter in ihre,
sprach kein Wort, aber Mendrion sah, wie sich Leotas Haltung
veränderte. Wie sie einen Moment weich und schwach wurde in
den Schultern, sich dann wieder fing, nickte, und dann die alte
Grimmigkeit wieder die Herrschaft über ihren Körper
übernahm.
Nur ein kurzer Moment, in dem Mendrion wieder begriff, wie wenig
sie ihn brauchte, noch nicht einmal als Stütze und für
Trost. Er zögerte, ehe er zu den beiden Frauen trat, es war
nicht an ihm, zuerst das Wort zu ergreifen, aber irgend jemand
mußte langsam mal etwas sagen, damit dieses Schlachtfeld vom
Schweigen gereinigt wurde. Sollten die Totenmägde die Stille
ehren, er lebte, und er wollte wieder reden können. Doch Leota
verstand den Wink auch so.
»Werdet Ihr uns begleiten?« fragte sie die Totenmagd.
Diese nickte, doch ihr Blick schüttelte den Kopf. 'Ihr werdet
mich begleiten', sagte er - und sie alle den König auf seiner
letzten Fahrt. Der einzige tote Doubladai, der das Glück haben
sollte, nach dieser Schlacht in der Heimat begraben zu werden.
Manchmal lohnte es sich doch, König zu sein. Auch wenn er
jetzt wohl nicht mehr viel davon haben würde. So brachen sie
dann auf.
Mit einer Totenmagd zu reisen,
war kein Vergnügen - ob das nun an der grau gekleideten Frau
selbst lag oder an der Tatsache, daß dort mit ihnen auf dem
Wagen ein ausgesprochen toter König reiste. Aber die Glocke
aus Schweigen, die über dem Gespann lag, war groß genug,
um auch Mendrion und Leota einzuhüllen. Nicht, daß sie
einander noch viel zu sagen hatten, die harten Worte waren
gewechselt und die weichen auch, und die Fronten zwischen ihnen war
lange geklärt.
Vielleicht hätte es Mendrion und Leota überhaupt nicht
mehr gebraucht, um den Leichenzug zu bewachen. Nach dem, was er auf
dem Schlachtfeld erlebt hatte, zweifelte Mendrion kaum mehr daran,
daß die Totenmägde in der Lage waren, ganz ohne Waffen
jeden Angriff zum Schweigen zu bringen - ob das auch für eine
einzelne Frau galt oder doch eine Hundertschaft brauchte, sei
dahingestellt, feststand jedenfalls, daß sie so den toten
König gänzlich unbehelligt nach Doubladir bringen
konnten. Unbehelligt, und überflüssig.
Es war, zumindest auf den ersten Blick, in Ordnung, er und Leota
verstanden hatten sich ja grundsätzlich, aber trotzdem
fühlte sich Mendrion mit jedem Tag unwohler. Er war Hauptmann,
er hatte sich Dannen angeschlossen, um ihm mit seinem Schwert und
seinen strategischen Ideen zur Seite zu stehen. Aber im Schritt vor
einem Leichenzug herreiten und dabei eine ernste Miene machen, das
war letztlich noch unerträglicher, als mit einem Trupp
Bauerntrampel durch die Gegend zu reiten, denn was immer man
über die denken konnte, die waren zumindest irgendwie
unterhaltend.
Vielleicht hatte Dannen mit mehr Widerstand gerechnet - nicht
durch Varyn oder die Männer, die sich ihm angeschlossen
hatten, sondern durch die Loringarim. Aber am wahrscheinlichsten
war wirklich Leotas Idee, daß Dannen Mendrion nur bei seiner
Schwester abgestellt hatte, um ihn in dem Glauben zu wiegen,
daß es bald noch eine Hochzeit geben würde, und Mendrion
fühlte sich verarscht. Wenn Dannen keine echte Verwendung
für ihn hatte, wenn er ihn sich nur warmhalten wollte für
irgendwann in der Zukunft, hätte Mendrion seine Entscheidung
doch gern noch einmal überdacht. Er hatte mehr von Dannen
erwartet, Entscheidungskraft, beherztes Einschreiten oder auch nur
einen Versuch, sein Schwert zurückzugewinnen. Damit Mendrion
dann, wenn sich alles aufklärte und Dannen zum König
gekrönt wurde, sagen konnte, daß er von Anfang an auf
der richtigen Seite stand. Nicht, um sich an der Seite eines Narren
zum Narren zu machen. Der tote König hätte ihm die Ehre
gedankt, die Mendrion ihm nun als Leibwächter im wahrsten
Sinne des Wortes erwies, aber was brachte das schon, der König
war tot.
Mendrion hatte viel Zeit für solche Gedanken. Es reichte ihm
schon, daß sein Körper komplett unterfordert war, da
wollte er wenigstens seinem Kopf eine Beschäftigung geben.
Nicht das richtige Organ, um die Hauptbeschäftigung für
einen Krieger darzustellen, aber was sollte er tun? Die Grashalme
am Wegesrand zählen? Gereicht hätte die Zeit dafür
allemal. Das Gefährt kam so langsam voran, daß wohl
jeder Ochsenkarren es hätte überholen können. Das
mußte auch die verdammte Totenmagd sein, welche die Pferde so
lähmte, daß sie nur noch Schritt gehen konnten, und was
für einen! Hatte die Frau Angst, jeder Huppel, jedes
Schlagloch auf der Straße könne den Frieden des
Königs stören, wenn der Karren einmal darüber hinweg
rumpelte? Und wenn schon! Der König hatte Frieden immer
gehaßt, ihm den nun im Krieg aufzuzwängen, war fast
schon ein letzter Akt der Grausamkeit.
Wann immer jemand auf der Straße an ihnen vorüberzog,
zuckte Mendrion vor Scham zusammen und blickte zu Boden.
Natürlich, die Leute konnten sehen, daß dies ein
Leichenzug war, weniger wegen des Anblicks des Toten, der
gnädig von einem Tuch verhüllt war, sondern wegen der
Totenmagd, die so offensichtlich war, was sie war, daß keine
Fragen nötig waren. Natürlich, es war beeindruckend, wie
lange die den Mund halten konnte, manchmal fragte sich Mendrion, ob
sie vielleicht in Wirklichkeit stumm war, aber zumindest hören
schien die Frau zu können, sonst hätte sie sich nicht die
Mühe machen müssen, überall ihre Stille zu
verhängen wie einen Arrest. Mendrion kannte nicht einmal ihren
Namen, aber wozu auch, er wollte nicht mit ihr anbandeln - wenn er
so wenig wie möglich mit Totenmägden zu tun hatte, war
das nur gut.
Aber er wartete. Wartete kommentarlos und mit Bauchschmerzen, die
mit jedem Tag größer wurden. Das Heer von Doubladir war
mit Varyn gezogen, das letzte Stück bis Lomar wollten sie sich
wohl nicht entgehen lassen, und das konnte Mendrion ganz recht
sein, aber irgendwann würden sie den Heimweg antreten. Dann
ritt ein Varyn, vielleicht inzwischen gekrönt, voran, und die
Soldaten folgten ihm so treu ergeben wie die Generäle und
jeder andere, der in der Schlacht den Verstand verloren hatte und
Recht nicht mehr von Unrecht zu unterscheiden wußte, und wenn
sie dann den Leichenzug überholten - würden sie dann noch
wissen, daß dieser graubedeckte Tote einmal ihr König
gewesen war, oder hatten sie alles vergessen, was ihr Land war?
Mendrion sprach mit Leota nicht darüber, wie auch, er wollte
sie nicht beunruhigen und ihr keinen Kummer machen, zumindest nicht
noch mehr, als sie schon haben mußte. Diese ständige
Anwesenheit des Todes ging ihnen beiden an die Eingeweide, aber
Leota noch mehr als Mendrion, denn es war immerhin ihr Vater, und
während Mendrion sich immerhin noch einen Kopf machen konnte
wegen all der Dinge, die ihn unterwegs bewegten, war die
Fürstin in sich gekehrt und still.
Während Loringaril an ihnen vorbeizog, konnten sie zumindest
die ersten Spuren von Dannens Ritt sehen und der Idee seines
Bruders Jaro. Die Wegstationen, die der Nachhut und den
Versorgungskarren den Weg weisen sollten, waren aufgelöst und
verlassen, und ihnen kamen auch keine neuen Einheiten oder Wagen
entgegen. Nicht, daß Mendrion nicht auch so nach Doubladir
zurückgefunden hätte, aber die Verpflegung hätten
sie brauchen können - sie hatten Proviant dabei, aber wer
hatte ahnen können, daß der Rückweg derart lang
dauern würde?
Noch herrschte zu wenig Frieden, als daß sie einfach in
einem loringaresischem Gasthaus einkehren können, abgesehen
davon, daß zu wenig entlang ihrer Strecke überhaupt noch
lebte - ob die Bewohner vertrieben waren oder tot, konnte egal
sein, in niedergebrannten Häusern wollte kein Mensch wohnen,
und wer bis nach Lomar geflohen war, würde wohl kaum wieder
zurückkehren. Wenn Kriege für eines gut waren, dann, die
Bevölkerung einmal tüchtig durchzuschütteln und
dafür zu sorgen, daß die Leute vom Land endlich mal
jemand anderen zum Heiraten hatten als ihre eigenen Cousinen. Auch,
wenn das hier nicht für die Könige galt…
Zwischendurch fragte sich Mendrion, wie es Varyn wohl in der
Hauptstadt ergangen sein mochte - mit ein bißchen Glück
hatten ihn Lorimanders Erben dort mit der Kraft, die ihnen noch
blieb, auch nachdem das Horn verloren gegangen war, erschlagen, und
die ganzen Sorgen waren umsonst - nein, das wünschte Mendrion
dem Kohlenjungen doch nicht, da gefiel ihm der Gedanke deutlich
besser, daß sie ihn doch gleich dabehalten und zum König
gemacht hatten. Auch das löste Dannens Probleme und Mendrions
gleich mit, wenn es ihn auch nicht schneller nach Hause brachte.
Aber dann wußte er zumindest, daß er die richtige
Entscheidung getroffen hatte. Mendrion gehörte nach Doubladir
und sonst nirgendwo hin, er war nicht irgendein schäbiger
Söldner, der sein Fähnchen nach dem Wind hing, wenn man
ihm nur genug Geld und Ruhm bot. Obwohl…
So ging es hin und her. Es wurde ein wenig besser, als sie endlich
die Brücke nach Doubladir überqueren konnten und
wußten, daß sie heimatlichen Boden unter den
Füßen hatten. Auch wenn das bedeutete, daß jetzt
wirklich nichts mehr passieren würde, daß Mendrion sein
Schwert nur noch zur Zierde trug und es nicht mehr gegen
irgendwelche Feinde brauchen würde - dafür herrschte hier
keine verbrannte Erde, sie waren wieder auf der Seite, wo es etwas
zu essen gab und auch mal ein Bett zum drin schlafen statt nur ein
Schlafsack unter einem Baum.
Mendrion sehnte sich nach richtigen Menschen, Menschen, die
redeten und lärmten und sangen und anderen die Ruhe nahmen,
von der Mendrion schon viel zu viel mitgemacht hatte. Aber die
Totenmagd blieb an ihm kleben wie Scheiße unterm Schuh.
Selbst wenn sie auf dem Wagen übernachtete, direkt bei der
Leiche, wobei ‘übernachten’ nicht hieß,
daß sie dabei auch schlief - Mendrion wollte gar nicht
wissen, was eine Totenmagd tags oder nachts oder sonst wann machte
- drang ihr Schweigen doch bis in die Gaststube, als hätten
die Leute da drinnen Angst, sie zu stören, oder als ob einfach
Ehrfurcht die Menschen befiel, wenn sie wußten, daß
dort nicht irgendein Leichnam durch die Gegend gefahren wurde,
sondern immerhin ein König.
Aber was hieß schon Menschen? Das, was das Leben in einer
Wirtsstube ausmachen sollte, die Männer allen Alters, die das
Rückgrat und das Leben ihres Dorfes waren, fehlten. Frauen
waren da, Kinder, alte Leute, niemand, der in ein Wirtshaus
gehörte - und auch wenn ein Teil der Soldaten aus dem Krieg
zurückgekehrt war, denn nicht jeder war so dumm oder so
begeistert, Varyn nach Lomar zu folgen, genügend von ihnen
hatte mit der Schlacht am Techemiel den Krieg und ihre Dienstzeit
für beendet erklärt, das Chaos ausgenutzt und sich selbst
entlassen, ohne sich zu fragen, ob sie das jetzt zu Verrätern
und Deserteuren machte oder ob nicht vielmehr der Rest der Truppe
die Verräter waren, war das doch kein Vergleich zu vorher.
Und zu viele würden gar nicht mehr zurückkehren, nicht,
weil sie sich im Feindesland ein Mädchen angelacht hatten und
dafür ihre Frauen und Kinder in der Heimat sitzenließen,
sondern weil sie auf dem Schlachtfeld geblieben waren, fortgetragen
von den Totenmägden oder mit Erde bedeckt, aus der bald Blumen
wachsen würden. Mendrion wußte das, und die Leute in den
Gasthäusern wußten, daß Mendrion es wußte.
Vielleicht waren sie deswegen so still. Da waren Mendrion und Leota
in ihren prachtvollen Rüstungen, und sie konnten keine Fragen
beantworten, keine Namen nennen - wer lebte, wer tot war, wer
geflohen und wer ein Verräter.
Die gleichen alten Mütterchen, die hinausliefen, um weinend
die Hände des Königs zu küssen, von dem sie gar
nicht wissen wollten, wie lang er jetzt schon tot war, damit seine
engelsgleiche Gnade auf sie abfärben und ihr kümmerliches
Leben verlängern würde; die Streifen von seinem
Totengewand, seinem Bart oder seinem Haar abschneiden und als
Heiligtum behalten wollten, starrten danach dessen leibhaftige
lebendige Tochter so feindselig an, als ob Leota selbst Schuld
daran trüge, daß die Söhne und Enkel noch nicht
heimgekehrt waren.
Mendrion hatte zu wenig von diesem Krieg selbst erlebt. Aber jetzt
trug er die Verantwortung für alles, was darin geschehen
war.
Fast hätten sie es doch
noch geschafft. Fast - wenn Doubladir nicht so verdammt groß
gewesen wäre. So waren Mendrion und Leota mit ihrem Leichenzug
zwar schon weit ins Landesinnere vorgedrungen, aber nicht weit
genug, als Varyn sie mit seinem Heer einholte.
Mendrion hörte sie, lange bevor sie bei ihnen angekommen
waren: Da hatte er sie, seine lärmenden Menschen, und da half
auch die Totenmagd nicht mehr: Varyn hatte so viele Männer
dabei, daß schon das Trappen ihrer Füße im
Gleichschritt am Horizont ausreichte, um die Stille zu
durchdringen. Dazu noch Pferde und Stimmen - Mendrion und Leota
blickten einander an, und Mendrion fragte sich, ob er dabei genauso
bleich aussah wie die Königstochter.
»Da haben wir sie«, sagte er leise. »Oder sie
uns.«
Leota verzog keine Miene. »Früher oder später
mußte das so kommen«, erwiderte sie. »Aber wir
haben nichts mit ihnen zu schaffen, das ist Dannens Bier. Wir
können nichts gegen sie ausrichten, außer, sie zu
ignorieren.«
Mendrion nickte. Leota hatte das Sagen. Er setzte sein
eingefrorenes Gesicht auf, zog das Visier herunter und versuchte,
nichts anderes zu sein als die Ehrengarde eines Leichenzugs.
Zumindest gehörte die Straße ihnen. Niemand konnte
erwarten, daß ein Totenkarren in den Graben auswich - da
sollte Varyn fein seine Männer drumherum führen, niemand
war hier höher als der Mann unter dem grauen Tuch. Und mit
etwas Glück hatten sie die Begegnung schnell
überstanden…
Unter dem Helm veränderten sich die Geräusche, alles
klang dumpf und hallte, und da Mendrion starr nach vorne blickte
und sich nicht umdrehte, konnte er schlecht sagen, wie weit die
Bedrohung noch weg war - alles, was er als Anhaltspunkt noch hatte,
war das Erzittern des Bodens unter seinen Füßen, und die
verhieß nichts Gutes. Das, was Varyn an Männern dabei
hatte, war nur noch ein Bruchteil von Vigilanders stolzem Heer, die
meisten mußten sich also doch auf den Heimweg gemacht haben,
aber immer noch genug, um eine eindrucksvolle Einheit darzustellen.
Und er, oder die Generäle und Hauptmänner, die er sich
unter den Nagel gerissen hatte, kontrollierte sie gut. Egal. Nicht
hinsehen. Ruhig bleiben, abwarten, die würden
vorüberziehen.
Hinter dem Schutz seines Visiers knirschte Mendrion mit den
Zähnen. Das wäre jetzt endlich die Gelegenheit gewesen,
sich als treuer Gefolgsmann Dannens zu beweisen, wenn er auch nicht
wußte, wie er das zeigen sollte - aber einfach nur stur
spielen und so tun, als wäre niemand außer ihnen auf der
Straße, das war seine Sache nicht. Wenn er die Gelegenheit
nutzte, um Varyn den Kopf zurechtzurücken - aber dafür
war es jetzt zu spät, viele Wochen zu spät. Varyns Kopf
mußte inzwischen irgendwo zwischen den Wolken thronen.
Dann hatte der Trupp sie erreicht. Mendrion hörte Varyn keine
Befehle brüllen, die Stimme des Kohlenjungen hätte er
unter Tausenden erkannt, aber trotzdem schienen die Männer zu
wissen, was zu tun war - sie wichen zur Seite aus, wie sich das
gehörte, und zogen dann in Zweierreihen an dem langsamen
Gefährt vorbei, nachdem sie die Reiter hatten vorbeiziehen
lassen. Sie gingen auf Leotas Seite, deswegen konnte Mendrion nicht
viel erkennen, auch wenn er versuchte, seitlich an seinem Visier
vorbeizuschielen - er hörte aber, daß sie ihre Schritte
verlangsamt hatten, ob aus Ehrfurcht oder weil es schlichtweg
schwieriger war, am Straßenrand zu gehen und nicht ins
Gebüsch zu fallen, wollte er mal so dahinstellen. Aber eines
begriff er: Daß Varyn selbst nicht bei vorbeiziehenden
Reitern war. »Majestät«, hörte er sie leise
murmeln, wenn sie auf Höhe des Toten waren,
»Majestät.«
Immerhin, sie wußten, wen sie vor sich hatten, und was sich
gehörte. Mendrion hatte mit Schlimmerem gerechnet, mit
unverschämten Kerlen, die nach der Leiche spuckten oder sich
sonst wie abscheulich verhielten; fast enttäuschte es ihn,
daß Varyn seine Leute so gut unter Kontrolle hielt, daß
sie noch wußten, was sich gehörte. Es hätte
Mendrion besser gefallen - auch wenn er dann vor Scham im Boden
versunken wäre - wenn unter Varyns Herrschaft das schiere
unkontrollierbare Chaos ausgebrochen wäre, betrunkene,
marodierende Horden ohne Sinn und Verstand, daß das Volk sie
aus dem Land jagte und wußte, wen es als
rechtmäßigen Herrscher haben wollte: Aber statt dessen
verhielten sie sich genau so, wie Mendrion es von seinen eigenen
Männern verlangt hätte.
Ob es Leota war, die den Wink gab, oder doch die Totenmagd,
wußte Mendrion nicht; es konnten auch die Pferde selbst
beschlossen haben, anzuhalten, jedenfalls blieb das Gefährt
stehen, was sicher das Beste war. Es war kein Eingeständnis
irgendeiner Unterlegenheit, sondern einfach nur Vernunft, den
Überholvorgang nicht noch künstlich in die Länge zu
ziehen. Zu spät kam Mendrion auf die Idee, Varyns Männer
zu zählen, wo er sie in so handlichen Gruppen vor sich hatte,
aber eigentlich wollte er es auch nicht wissen, um sich nicht noch
unnötig zu ärgern. Er stand wie eingefroren, eine
dekorative hauptmannsförmige Statue aus geschwärztem
Stahl, und wartete, daß die Begegnung vorüberging.
Aber das tat sie nicht. Varyn wartete nur, bis alle Einheiten
vorbeigezogen waren. Dann ging er zum Angriff über, und auch
wenn er das nur mit Worten tat, war es unverschämt genug.
Egal, für wen er sich jetzt auch halten mochte, es stand ihm
nicht zu, den königlichen Leichenzug zu stören.
»Fürstin Leota, Hauptmann Mendrion - endlich finde ich
Euch!«
Mendrion machte sich noch ein wenig steifer und fragte sich, ob
Varyn ihn erkannt oder einfach nur gut geraten hatte.
Leota antwortete nicht, drehte nur ihren Kopf ein wenig zur Seite,
und selbst aus seiner ungünstigen Position heraus erkannte
Mendrion die schwarzen Blitze, die aus ihrem Sehschlitz schossen.
Dann deutete sie wortlos auf den Wagen und die verhüllte
Gestalt, die dort lag. Mendrion fletschte die Zähne, solange
das niemand sehen konnte, und wandte dann den Kopf nach hinten.
Wenn Leota sich bewegen durfte, reichte aus, daß sich der
alte König nicht mehr rührte.
Da stand Varyn, die Zügel seines Pferdes in der Hand, und ein
Stück weiter hinten, hoch zu Roß, thronte der kleine
Gaven. Das, was ihm an Größe fehlte, um auf so einem
großen Pferd nicht verloren zu wirken, machte der Junge mit
sichtbarem Stolz wett, aber Varyn gestikulierte ihm,
gefälligst abzusteigen, bevor er selbst auf die Knie ging,
Hand am Herzen. »Majestät«, sagte er leise, und
Mendrion konnte nicht sagen, ob das jetzt ernst gemeint war oder
nur gespielt. Wenigstens hielt er ehrfürchtigem Abstand zu dem
Toten; Mendrion war es leid, dauernd zu verhindern, daß
jemand an dem Tuch rumzuppelte und versuchte, dem König
irgendwie zu nahe zu kommen.
Mendrion hörte Leota seltsam knurren und dachte erst,
daß sie nicht besonders überzeugt war von Varyns
Kniefall, dann erst sah er den dritten Reiter, noch ein Stück
hinter Varyn und seinem Bruder, und der stellte dann wohl das
eigentliche Problem dar. Rul war nicht abgesessen; von seinem Pferd
aus blickte er zu ihnen hinüber, und wenn Mendrion versuchte,
seinen Blick auf die Entfernung und durch das Visier hindurch
richtig zu lesen, hielt er es für Verachtung.
»Seid Ihr hier, um uns zu verhöhnen?« fragte
Leota kalt. »Oder um das zurückzugeben, was ihr uns
gestohlen habt?«
Varyn erhob sich wieder und machte eine Handbewegung in Ruls
Richtung, die Abwarten signalisierte. »Ich möchte gern
mit Euch reden, Leota. Ihr müßt mir glauben, ich habe
überall nach Euch suchen lassen und nach Dannen auch
-«
»Ich sehe, du hast Ersatz dafür gefunden«,
schnitt ihm Leota das Wort ab, während sich Mendrion noch
über den hochherrschaftlichen Klang von 'suchen lassen'
insgeheim amüsierte. »Hat der Bastard dir die Treue
geschworen, um unsere Familie endgültig zu zerstören,
oder hast du ihn dafür bestechen müssen?« Wenn
Mendrion geglaubt hatte, der Tonfall, den Leota ihm gegenüber
anwandte, sei eisig, wurde er hier eines besseren belehrt: Im
Vergleich zu der Art, wie sie mit Varyn sprach, war alles andere
sanftes Liebesgesäusel.
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß
Ihr mich jetzt haßt, aber Ihr müßt mir
zuhören!«
»Ganz sicher nicht, solange der Bastard dabei ist.«
Mendrion fragte sich, ob das Leota wirklich mehr störte als
das Schwert, das Varyn am Gürtel trug. Es war nicht gut zu
erkennen in der Scheide, Mendrion war immer froh gewesen, so wenig
wie möglich mit Vigilanders Schwert zu tun zu haben, als
daß er es eindeutig am Knauf hätte erkennen können,
aber Leota mußte das wissen - und welches Schwert sollte
Varyn auch sonst tragen, wenn er so vor dem Heer ritt?
»Ich bin auch ein Bastard«, sagte Varyn ruhig.
»Rul ist hier, um sich von seinem Vater zu verabschieden, wie
es sein Recht ist als Sohn und Untertan. Aber ich will mit Euch
reden, ich will erklären können, was geschehen ist, schon
damit Ihr mir helfen könnt, daß auch Dannen es
begreift.«
»Also behältst du, was du gestohlen hast?« fragte
Leota.
»Ich habe nichts gestohlen«, antwortete Varyn.
»Und wärt Ihr nicht davongelaufen, Ihr und Dannen, ich
hätte ihm Vigilanders Schwert zehnmal gegeben. Aber
jetzt…« Er schüttelte den Kopf. Hatte Mendrion
noch einen Moment lang geglaubt, Varyn würde vielleicht das
Schwert dem toten König in die Arme drücken, um fein aus
der Sache heraus zu sein, ohne vor Leota einzuknicken oder seinen
Generälen, begriff, daß Varyn tatsächlich vorhatte,
das heilige Schwert zu behalten. Und das sagte er Leota ins
Gesicht, die vor ihm stand mit einem Schwert in der Hand, das sie
auch benutzen konnte?
»Ich verhandle nicht mit Dieben und Bastarden«,
erwiderte Leota. »Ihr reitet nach Car Diuree? Dann rede dort
mit meinem Bruder. Aber wage es nicht, die Stille und den Frieden
dieses Leichenzuges mit deiner Dreistigkeit zu
stören.«
Mendrion, immer noch durch sein Visier, das ihn zunehmend
störte, sah, wie Varyn das Gesicht verzog und sich auf die
Lippe biß - was hatte der Junge erwartet? Begeisterung?
»Das respektiere ich«, sagte Varyn dann.
»Verzeiht, Leota, wenn ich Eure Gefühle und Eure Trauer
mißachtet habe. Werdet Ihr dennoch Eurem Bruder gestatten,
seinem Vater die Ehre zu erweisen, während ich mit dem
Hauptmann rede?«
»Kein Bruder von mir ist anwesend«, antwortete Leota.
Mendrion hatte Dannen schon oft schlecht von Rul reden hören,
und da Mendrion den Kerl selbst nicht mochte, fiel das bei ihm auch
immer auf halbwegs fruchtbaren Grund, aber wenn dieser Haß so
tief in der ganzen Familie verankert war, wie das jetzt
herausklang, wunderte sich Mendrion nicht mehr, warum der
Königsbastard sich Varyn angeschlossen haben sollte.
»Ihr wißt es besser«, sagte Varyn. »Und
Ihr wißt auch, was der Wunsch Eures Vaters in dieser Hinsicht
gewesen wäre. Wollt Ihr ihm den wirklich verweigern, vor
seinem kalten toten Körper, wo er sich nicht mehr wehren kann?
Soll das Eure Rache sein?« Mendrion blieb der Atem weg, wie
weit der Junge jetzt zu gehen bereit war - die Bereitschaft, Leota
bei ihrer Ehre und ihren eigenen Gefühlen zu packen und daran
durch die Gegend zu schleifen, überstieg bei weitem das, was
sich der Kohlenjunge damals gegenüber seinem Hauptmann
herausgenommen hatte, aber tatsächlich mußte Mendrion
zugeben, daß er es Varyn abkaufte und der dabei eine bessere
Figur machte als die Königstochter selbst. Einen Moment lang
sah es aus, als wolle Leota Varyn eigenhändig den Kopf
abreißen, aber sie verkrampfte nur vor unterdrücktem
Zorn, warf einen Blick zu der Totenmagd hin, während sie
murmelte »Wage es nicht…« und von dem
Leichenwagen wegtrat.
Eines stand fest, Varyn hatte sich eine Feindin gemacht, soviel zu
seinem Ansinnen, in Frieden mit ihr reden zu wollen, eine Feindin,
die seinen wie auch immer gearteten Absichten, Doubladir zu
beherrschen, zutiefst gefährlich werden konnte - und er ging
dieses Risiko willentlich ein, nur um Rul die Möglichkeit zu
geben, Abschied vom Vater zu nehmen? Mendrion schüttelte den
Kopf. Er verstand den Jungen nicht, weniger denn je, aber
vielleicht, auf eine gewisse Weise, bewunderte er ihn. Wer zwischen
Rul und Leota wählen mußte, wo es um Einfluß ging,
der hätte wohl immer Leota gewählt, trotz ihrer heiklen
Position als Frau, aber da Varyn Rul als Gefolgsmann einmal hatte,
schien er an einem Tausch nicht mehr interessiert.
Varyn nickte Rul zu, der die Oberlippe hämisch verzog und
nicht im Geringsten aussah wie der trauernde Sohn, als den Varyn
ihn vielleicht gerne dargestellt hätte, und als er an Varyn
vorbeiritt, immer noch ohne abzusteigen, hörte Mendrion ihn
sagen: »Halt dich raus aus unserer Familie« - wirklich,
der Kerl war das nicht wert, keinen Pfifferling, und er schien auch
nicht zu begreifen oder es interessierte ihn nicht, was Varyn da
gerade für ihn getan hatte. Aber er hielt an der Seite seines
Vaters an, und die Totenmagd schlug das Tuch weg, damit er seinem
Vater ein letztes Mal ins Gesicht blicken konnte - Mendrion
hätte es interessiert, was er ihm jetzt noch zu sagen hatte,
so wenig ihn das auch angehen mochte, aber da kam statt dessen
Varyn zu ihm. »Ich würde gerne mit Euch reden,
Hauptmann«, sagte er leise.
Mendrion suchte Leotas Blick, um sich von ihr Zustimmung zu holen,
aber alles, was er von der Königstochter sehen konnte, war ein
demonstrativ zugekehrter Rücken, und überhaupt, es war
seine eigene Sache, mit wem er redete und mit wem nicht. Er schob
das Visier hoch, endlich, diese Renommierrüstung war eine Qual
und der Helm das allerschlimmste. »Was willst du?«
fragte er, nicht freundlich, aber auch nicht zu schroff.
»Nicht hier vorn«, sagte Varyn. »Kommt bitte ein
Stück mit mir zurück, wo wir unter uns sind, ich habe
diese Leichenruhe schon zu sehr gestört.«
Mendrion nickte und wollte schon absitzen, aber Varyn
schüttelte den Kopf und zeigte auf sein eigenes Pferd -
eigenes war gut, er würde es sich genauso ausgeborgt haben wie
Schwert, Scheide, die gute Kleidung, die er trug und alles andere,
was ihn von dem abgerissenen Kohlenjungen von damals unterschied.
Aber der größte Unterschied war dieser Hauch von
Selbstverständlichkeit, der Varyn jetzt umgab, als ob alles
genau so sein mußte und nicht anders. Mendrion versuchte sich
an den Moment zu erinnern, als Varyn das wirbelnde Schwert aus der
Luft fing, aber es war irgendwie… verschwommen. Doch das
danach, das hatte er vor Augen: Varyns ungläubigen Blick, als
er da stand mit dem Schwert in der Hand, als wisse er selbst nicht,
wie es dorthin gekommen war. Jetzt sah er aus, als ob er die
Antwort auf diese Frage gefunden hätte, und
akzeptiert.
Sie ritten ein Stück
zurück, ließen den Leichenwagen hinter sich und auch die
Truppen, die sich jenseits des Wagens wieder formatiert hatten und
in sicherem Abstand auf ihren Varyn warteten, und Mendrion brannten
viele Fragen auf den Lippen - in der Zwischenzeit schien viel
geschehen zu sein, und ehrlich gesprochen wäre Mendrion gern
dabei gewesen, um diese Verwandlung mit eigenen Augen zu erleben.
Aber er hielt den Mund. Nur nicht zu neugierig klingen, nur nicht
zu begeistert: Varyn sollte nicht auf die Idee kommen, daß
der Mendrion einfach auf seine Seite ziehen konnte.
Dann hielten sie an und stiegen ab. Varyn atmete tief durch, als
müsse er sich die richtigen Wörter erst noch
zusammensuchen. Mendrion ließ ihn reden. »Hauptmann,
Ihr glaubt mir nicht, wie sehr ich mich freue, Euch zu
sehen.« Doch, Mendrion glaubte ihm. Nicht, weil er Varyn
für so einen ehrlichen Burschen hielt, dafür hatte ihn
der Junge zu oft angelogen. Sondern, weil er sich zwar verstellen
konnte, aber nicht gut seine Augen. »Werdet Ihr mir
zuhören?«
Mendrion fletschte die Zähne. »Ich wär nicht so
weit geritten wenn nicht - das hätt ich dir auch einfacher
sagen können.«
»Danke«, sagte Varyn. »Wenn ich Euch darum bitte
- werdet Ihr mich begleiten?«
Mendrion schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob
du das gemerkt hast, aber ich stehe hier auf der Seite von
Dannen.«
Varyn nickte, und seine Augen schienen dabei zu leuchten.
»Ja, genau deswegen.«
Es fiel Mendrion schwer, nicht zu lachen. »Du weißt
aber schon, was das heißt - auf Dannens Seite? Das
heißt, nicht auf deiner.« Auch wenn es sich jetzt mehr
denn je so anfühlte, als wäre diese Seite die
falsche.
»Ihr werdet mir das vielleicht nicht glauben«, sagte
Varyn, »aber das tue ich auch. Leota glaubt mir nicht,
natürlich, und ich weiß, mit Dannen selbst wird das noch
schwieriger - aber ich will denen nichts Böses, ich will denen
nicht einfach ihr Land wegnehmen, und das möchte ich ihnen
sagen können. Wenn ich Euch dabei hätte, wäre das
vielleicht einfacher, und… ich finde es gut, daß Ihr
Euch so entschieden habt.«
Mendrion mußte ihn wohl ziemlich blöd anblicken und
bereute es, das Visier aufgeklappt zu haben. Es fühlte sich
an, als ob Varyn auf ihn hinunterblickte, und anders als bei ihrer
letzten Begegnung war nicht mehr eindeutig klar, wer hier wem etwas
zu sagen hatte - und da half es auch nichts, daß Varyn ihn
immer noch mit 'Hauptmann' anredete, das konnte ebensogut eine
Frage der Gewöhnung sein denn der Hochachtung.
»Ihr rennt nicht dem ersten besten Kerl hinterher, nur weil
das alle anderen auch tun«, erklärte Varyn. »Die
Männer, die mich jetzt begleiten, können mich schon
morgen im Stich lassen, wenn sie jemand anderes eindrucksvoller
finden. Ihr habt Euch Dannen angeschlossen, weil Ihr nicht Eure
jahrelange Loyalität oder sogar Freundschaft aufgeben wollt,
nur weil Ihr einmal die Engel singen gehört habt.« Es
klang sehr schmeichelhaft, natürlich, aber auch irgendwie
hoffnungslos, als ob Varyn seinen eigenen Männern nicht
über den Weg traute. »Darum hätte ich lieber Euch
auf meiner Seite als irgend einen von denen, die gleich auf die
Knie gegangen sind.«
Mendrion schaffte es zu lächeln. »Wie ich schon sagte -
ich bin auf Dannens Seite.«
»Und wenn ich Euch sage, daß es gar keine zwei Seiten
sein dürfen? Daß ich Dannen brauche, vielleicht sogar
noch mehr als Euch?«
»Weil du nicht gegen seinen Widerstand König werden
kannst?«
Da brach Varyn aus. Mendrion wußte nicht, ob es in dem
Moment passierte oder ob Varyn es schon die ganze Zeit
niederkämpfte, aber er schrie: »Damit hat es gar nichts
zu tun, verdammt! Hört nicht mal Ihr mir noch zu?«
Mendrion war sich nicht bewußt, so ein guter Zuhörer zu
sein, aber wenn Varyn ihn als solchen sehen wollte…
»Ich brauche Euch und Dannen und Leota und alle anderen,
Gaven, Rul, die Generäle, die Loringarim, jeden, den ich
irgendwie bekommen kann, weil ich es nicht allein mit dem Abgrund
aufnehmen kann! Und nein, das ist kein Wahn mehr, den ich mir
irgendwie einbilde, Ihr könnt die Männer fragen, die
dabei waren - und ich habe keine Zeit, mich mit denjenigen zu
streiten, die in Wirklichkeit auf der gleichen Seite stehen wie
ich! Ich kann es mir nicht erlauben; alles Gequengel um Thone und
Kronen führt doch nur dazu, daß der Abgrund sich freuen
kann. Wenn selbst Ihr Euch gegen mich stellt und ich es nicht
schaffe, Euch zu überzeugen, daß wir Dannen für
unsere Sache gewinnen müssen, dann kann ich gleich wieder nach
Hause gehen. Der Abgrund ist ein zäherer Gegner als
Ihr.«
Das war er wieder, der Varyn, den Mendrion kannte und
fürchtete. Dieses Feuer in seinen Augen, dieses Glänzen
in seinem Gesicht wie vom Fieber, und dieses dunkle Glühen um
ihn, das vielleicht niemand außer Mendrion sehen konnte und
der auch nur wegen der Nacht, in der er Varyns Flügel gesehen
hatte - es war egal, daß Varyn gute Kleider trug statt der
ausgeblichenen Joppe und ein Schwert an der Seite trug, das alles
war egal. Aber diese Glut in Varyns Blick, dieses Gefühl,
daß er jedes Wort, das er sprach, auch genau so
meinte… Männer wie Varyn waren gefährlich. Es war
egal, ob er recht hatte, ob er wirklich bestimmt war, den Abgrund
zu bekämpfen, oder ob er nur ein Verrückter war: Varyn
war wahrhaftig. Wahrhaftiger, als Dannen es jemals sein
würde.
Es wunderte Mendrion nicht mehr, daß die Männer dem
Jungen folgten. Wenn Varyn es befahl, würden sie sich für
ihn in den Abgrund stürzen. Wenn Dannen das versuchte, war er
selbst derjenige, der an Armen und Beinen gepackt dort
hineingeschleudert wurde, von einem Volk, das sich nicht für
dumm verkaufen und zum Narren halten ließ. Aber gerade
deswegen wollte sich Mendrion nicht einlullen lassen, auch wenn ihm
klar war, daß er auf verlorenem Posten stand, auf der Seite
der Verlierer, daß er einem den Rücken stärkte, der
im direkten Vergleich nur verlieren konnte. Es hatte Mendrion immer
auf die Seite der Gewinner gezogen, weil er Ziele hatte, die es auf
anderem Weg nicht zu erreichen gab.
»Wenn ich mich dir anschließe«, fragte er leise,
»machst du mich dann zum General?«
Varyn blickte ihn an, blickte in ihn hinein aus dunkelgrauen
Augen, die noch nicht einmal ein Spiegelbild zurückgeben
mochten. In seinem Leben hatte Mendrion sich noch nicht so entlarvt
gefühlt, und es war nur gut, daß die Frage eine
Fangfrage war und sie das nun beide wußten - besser, als wenn
Mendrion wirklich seine Entscheidung von einem 'Ja' abhängig
hätte machen wollen.
»Generäle habe ich schon«, sagte Varyn.
»Was ich brauche, ist ein Mendrion.« Es war vielleicht
das erste Mal, daß er den Namen aussprach, statt 'Hauptmann'
zu sagen, oder zumindest das erste Mal, daß Mendrion das so
wahrnahm. »Ich will Euch nicht ködern, wenn ich das
täte, wär ich nicht besser als der Abgrund mit seinen
Verführungen und Versprechungen. Was Ihr seid und was Ihr
werdet, das müßt Ihr Euch selbst
erkämpfen.«
Mendrion wollte den Blick abwenden. Er fühlte sich verkauft,
nicht von Varyn, aber von Dannen, der ihm mit Leota vor der Nase
herumwedelte wie dem Esel mit einer Karotte an einer Schnur, damit
er lief und lief, ohne zu klagen… Dannen meinte es nicht
böse, er war einfach der Sohn seines Vaters, im Guten wie im
Schlechten. Varyn war nur er selbst, etwas, das es zuvor noch nicht
gegeben hatte oder zumindest nicht mehr, seit die Engel auf der
Welt wandelten.
Mendrion würde sich niemals einem Kohlejungen unterordnen.
Aber vor ihm stand kein Kohlejunge mehr.
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