Zehntes Kapitel

»Bildet Euch bloß nichts darauf ein«, sagte Leota. Und das noch vor, oder anstelle von, einer Begrüßung war dann doch ziemlich grob. Das schien die Fürstin dann auch selbst einzusehen, denn sie machte eine entschuldigende Geste. »Versteht mich nicht falsch, Mendrion, aber ich weiß ziemlich genau, was hier abläuft und was Ihr mit meinem Bruder abgesprochen habt. Aber ihn rumzukriegen ist eine Sache - mich eine andere.«
Mendrion schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als ob er irgendwie die erste Hälfte der Unterhaltung verpaßt hatte - eigentlich war er hier, um Leota zur Hand zu gehen, was die Vorbereitung der Beisetzung anging: Sicher nicht seine Lieblingsaufgabe, aber es gab schlechtere. Je nachdem, wie man behandelt wurde, hieß das. »Ich weiß nicht, was Ihr meint«, sagte er grober, als Leota es sonst von ihm erwarten konnte. »Dannen hat mich gebeten, Euch zu helfen, Euren Vater hier heile rauszubekommen, und dann -«
»Das könnt Ihr Euch sparen!« Leota schnitt ihm das Wort ab. »Ich kann mir genau denken, was Ihr wirklich mit Dannen geredet habt. Oder soll ich etwa denken, daß ausgerechnet Ihr jetzt auf unserer Seite stehen wollte, hat keinen Preis?« Sie schüttelte den Kopf, aber ihr Haar, naßgeregnet und durchgeschwitzt, klebte an ihrem Kopf wie gegossenes Eisen und rührte sich kein Stück dabei. »Ihr steht uns bei, wo es sonst niemand mehr tut, und dafür verspricht Euch mein Bruder gnädigerweise meine Hand, ist es nicht so? Und Ihr glaubt, ich lasse mich verschachern wie ein Stück Vieh? Dannen soll lieber daran denken, daß ich selbst die Seiten wechseln kann…«
Mendrion ließ sie ausreden. Er wußte zu viel über Frauen, und über diese insbesondere, um ihr ins Wort zu fallen. Erst recht nicht, wenn sie sich aufregte - man konnte Öl in ein Feuer gießen und sich daran weniger verbrennen. Erst, als ihr Zorn langsam zu verpuffen schien, sagte er leise: »Ihr liegt falsch. Dannen hat mir nichts dergleichen versprochen, und ich habe ihn auch nicht darum gebeten.« Sie glaubte ihm nicht, das wußte er auch so. Aber es gab Dinge, die wollte er nicht auf sich sitzenlassen. »Das, was Ihr mir da vorwerft, reduziert nicht nur Euch zu einer Hure, sondern auch mich.« So derb wollte er das eigentlich nicht sagen, aber da war es ihm schon rausgerutscht und zu spät.
Leota ohrfeigte ihn, mehr symbolisch als schmerzhaft, aber das stand ihr jetzt auch zu. Hätte Mendrion nicht schon am gleichen Tag deutlich heftigere Prügel von Dannen einstecken müssen, er hätte glatt darüber hinwegsehen mögen, so ärgerte es ihn dann schon - da war er der Einzige, der noch auf ihrer Seite stand von allen Leuten, die auch nur ein Bißchen zu sagen hatten bei der königlichen Armee, und trotzdem fiel diesen Personen nichts Besseres ein, als ihn zu schlagen und wie Dreck zu behandeln? Auch Mendrion hatte noch seinen Stolz, es ging ihm nicht nur darum, sich meistbietend zu verkaufen. Und zum ersten Mal fragte er sich ernsthaft, ob er nicht einen gewaltigen Fehler machte, ob er nicht doch auf Varyns Seiten viel, viel besser untergebracht war.
»Untersteht Euch!« fauchte Leota. »Mein Vater ist gestorben, und Ihr nennt mich Hure?«
»Leota«, sagte Mendrion und machte, nur zur Sicherheit, einen Schritt rückwärts, »Ihr kennt mich inzwischen zu lang und zu gut, um es nicht besser zu wissen. Ja, ich wäre überglücklich, um Eure Hand anhalten zu dürfen, das wißt Ihr, es war noch nie ein Geheimnis. Aber es geht mir nicht darum, über Euren gebrochenen Willen zu triumphieren wie Euer Bruder am Tag seiner Hochzeit, wirklich, wenn meine Braut bei der Trauung so ein Gesicht ziehen würde, könnte ich mich gleich aufhängen gehen, sondern darum, es verdient zu haben, Euch verdient zu haben, es wert zu sein. Ich bin bereit, dafür zu arbeiten und darum zu kämpfen, aber ich muß dafür nicht Dannens Herz erringen, sondern Eures.« Er wunderte sich über sich selbst. Das war immer ein offenes Geheimnis und sein Werben mehr verstohlener Natur, so deutlich wie jetzt hatte er es noch nie ausgesprochen, und es fehlte nur noch, daß er die Worte 'Ich liebe Euch' hineingebracht hätte, um sich vollends zum Narren zu machen.
»Ihr solltet mich besser kennen«, sagte Leota, aber zumindest hatte sie sich jetzt wieder einigermaßen unter Kontrolle. »Erstmal habe ich im Moment wirklich mehr und Besseres zu tun, als mich Euren Annäherungsversuchen auszusetzen, und zum anderen hatten wir in Elad Courblaka genug Zeit, uns besser kennenzulernen, und so sehr ich Euch schätze, als Soldaten und auch als Mann, will ich sicher nicht mit Euch verheiratet sein.«
»Und mit jemand anderem?« Sicher keine kluge Frage, aber Mendrion hatte eine Grenze, wie viel Zurückweisung er an einem Tag einstecken wollte. Er hoffte, daß er die Antwort kannte, und wenn ja, war sie tröstlich.
Tatsächlich, Leota lächelte, ein kleines Bisschen. »Auch mit keinem anderen«, sagte sie. »Dannen weiß das. Und glaubt mir, auch wenn er wirklich nicht mit Euch darüber gesprochen hat und das alles allein auf seinem Mist gewachsen ist, der einzige Grund, warum Ihr jetzt hier seid, bei mir, wo ich Euch wirklich nicht brauchen kann, ist, daß er Euch zumindest in dem Glauben lassen möchte, er könne Euch mit mir verheiraten. Weil er weiß, daß Ihr das im Grunde Eures Herzens immer hofft, und weil er denkt, daß er jetzt die Macht und das Recht dazu hat.«
»Ihr klingt nicht gerade so, als ob Ihr hinter Eurem Bruder steht, komme was wolle«, sagte Mendrion leise. Er war nach der langen gemeinsamen Reise für Leota sicher kein Heiratskandidat, aber zumindest hatte man sie als Kameraden bezeichnen können, und an diese Vertrautheit wollte er jetzt gern wieder anknüpfen. Selbst wenn Leota behandelt werden wollte wie einer von den Jungs, konnte daraus doch zumindest eine Freundschaft erwachsen, und eine Freundschaft war ein fruchtbarerer Boden für manche gute Ehe als die große heiße Liebe.
»Was erwartet Ihr?« Leota fletschte sehr undamenhaft die Zähne. »Da ist ihm einiges zu Kopfe gestiegen, und er verdient es, wieder auf ein normales Maß runtergestutzt zu werden. Das, was hier passiert ist, das geschieht ihm doch nur ganz recht und tut ihm gut. Er wird immer mein Bruder bleiben, aber was das betrifft, mein kleiner.« Sie raufte sich kurz durch die Haare und schüttelte den Kopf. »Aber Ihr raubt mir die Zeit, Mendrion, ich habe wirklich andere Dinge zu tun, als mit Euch zu schwätzen. Ich habe immer noch einen Vater zu begraben, und das kann ich nicht hier.«
Mendrion nickte wortlos. Mehr als das hatte er auch nicht erwartet. Und egal, was nun mit Varyn geschehen war oder mit Dannen, dies war immer noch ein Kriegsschauplatz, und statt einem warmen Feuer und schwülstiger Romantik erwartete sie ein Schlachtfeld, das nur die Lebenden schon verlassen hatten.

Bevor der Krieg kam, hatten auf diesem Gelände vielleicht einmal Tiere geweidet - Mendrion wußte nicht, wozu man einen grasbewachsenen Hang sonst noch nutzen sollte, er war kein Bauer, wenn er eine Wiese sah, einen Wald, ein Feld, war sein erster Gedanke, was man beachten mußte, wenn die Truppe hier kämpfen sollte. Gelände war so wichtig, und wer es wählen konnte, war klar im Vorteil - hier hatte der König von Doubladir einen guten Griff getan, keine Frage, aber nun war die Schlacht vorbei, und das, was übrigblieb, war weder grüne Wiese noch stolzes Schlachtfeld.
Der Regen und die Schuhe der Soldaten hatten den Boden in braunen Schlamm verwandelt, zumindest dort, wo es zur Sache gegangen war, und das waren die Orte, wo die Toten lagen. Sie waren eins geworden mit ihrer Umgebung, und nun, da es dämmerte, waren sie so schlecht zu sehen, daß Mendrion auf mehr als einen armen Kerl trat, den er vorher nicht gesehen hatte - aber das durfte ihm nichts mehr ausmachen, wer tot war, störte sich an einem Stiefel im Gesicht mehr oder weniger auch nicht mehr. Schwerer war es zu entscheiden, welche Toten nun zu Doubladir gehörten und welche zu Loringaril, aber wer wollte das schon wissen, am Ende würde man das ganze Feld umpflügen, im Abgrund kam alles zusammen.
Nur den König, den konnten sie nicht einfach hier liegenlassen. Es war unter seiner Würde, Seite an Seite mit gemeinen Fußsoldaten oder Reitern beigesetzt zu werden, und überhaupt - er hatte ein Recht, feierlich in seine Heimat überführt zu werden, was immer danach auch mit seinem Schwert passiert war und ob nun das Volk hinter Dannen stand oder nicht, der König war der König, Punkt. Er war nicht mehr Held und nicht weniger als jeder dieser gesichtslosen Toten, aber in Doubladir war es immer besser, wenn ein König in der Schlacht starb und nicht im Bett, gerade, wenn man sein Leben sonst eher mit Betten in Verbindung brachte, denn mit Schlachten.
Mendrion kämpfte ein drückendes Gefühl in der Magengegend nieder, als er sich plötzlich fragen mußte, ob einer der Männer unter seinen Füßen vielleicht aus seiner Einheit stammte - nicht der, mit der er hier gekämpft hatte, da wußte er ungefähr, wen er verloren hatte, und gerade bei seinen Schützen hielten sich die Todesfälle in Grenzen. Aber seine erste Einheit, das Fußvolk, das er aus den Bergen geholt hatte - sie konnten hier überall liegen, jeder von ihnen konnte tot sein, und Mendrion würde das nie erfahren…
Leota und Mendrion waren nicht die einzigen Lebenden, die das Schlachtfeld abgingen, ob das gierige Kerle beim Leichenfleddern waren oder treue Kameraden, die nach ihren gefallenen Freunden suchten, war Mendrion egal, solange Bakonyn nicht dabei war. Wenn es einen Mann gab, den Mendrion heute nicht mehr treffen wollte, dann Bakonyn. Er wollte nicht Name für Name hören müssen, wer gefallen war, auch wenn die meisten Namen ihm gar nichts mehr sagen dürften oder nie etwas gesagt hatten.
Wenn der Krieg begann, ritten die Rekrutierungspatrouillen übers Land mit ihren eindrucksvollen Rüstungen und Pferden, froh um das Aufsehen, das sie erregten, und je mehr Leute nicht nur eingezogen wurden, sondern mit Freude gingen, desto besser war es. Aber nach dem Krieg schickte man nur den Schreiber übers Land oder irgend einen anderen Kerl, der lesen konnte, er sollte kein großes Aufsehen erregen, nur die Namen derjenigen verlesen, die nicht zurückkommen würden - wenn überhaupt. Es reichte eigentlich die Meldung, daß der Krieg vorüber war, und wenn die Söhne, Väter, Brüder dann nach ein paar Monaten immer noch nicht wieder daheim waren oder die Freunde und Vettern ohne ihn ankamen, konnten sich die Überlebenden auch an zwei Fingern abzählen, was passiert war. Und die Vorstellung, daß sie vielleicht nur mit einem Mädchen durchgebrannt waren, würde nicht überall als Trost herhalten. Die eigentliche Kunst war nur, es so hinzubekommen, daß bis zum nächsten Krieg alle Trauer vergessen war und die Söhne, Väter, Brüder mit der gleichen Begeisterung in die Schlacht ziehen würden wie beim letzten Mal. Und was immer man über Doubladir auch sagen mochte, das war eine Sache, in der das Land gut war.
Immerhin mußten sie nicht wirklich suchen. Nicht stehenbleiben, sich hinknien, einen schlammbedeckten Toten herumwälzen und sich ärgern, keine Fackel dabeizuhaben, um in dem langsam schwindenden Licht die Gesichtszüge besser erkennen zu können. Mendrion wußte ziemlich genau, wo der König gestorben war, sie mußten nur dorthin gehen, aber wenn man die Wahl hatte, das Schlachtfeld eiligen Schrittes zu überqueren oder den weiten Weg drumherum zu laufen, um ans andere Ende zu kommen, fiel die Wahl leicht. Sie hatten keine Zeit mehr zu vertrödeln, zu lange hatte Leota mit Dannen beraten und Mendrion gewartet, ohne selbst auf die Idee zu kommen, sich um den toten König zu kümmern - aber das bedauerte er kaum, er war nicht für die Toten da, nach dem, was an diesem Tag geschehen war, waren die Lebenden viel interessanter und sicher auch wichtiger.
Dann blieb Leota plötzlich stehen und faßte Mendrion beim Arm. »Halt!« sagte sie. »Seht Ihr das?«
Mendrion blinzelte. Schluckte. Zwinkerte. Rieb sich die Augen. Doch die grauen Gestalten wurden davon nicht klarer. Graue Gestalten, die sich plötzlich über das Schlachtfeld verteilten wie die Krähen auf einem frisch eingesähten Feld. Wo sie so schnell hergekommen waren, konnte Mendrion nicht sagen, aber plötzlich waren sie überall, Dutzende Gestalten in Grau, die sich ohne jeden Laut bewegten und deren Füße den Boden kaum zu berühren schienen, vor allem aber nicht die Körper, die dort lagen. Einen kurzen entsetzlichen Moment lang dachte Mendrion, die Toten würden aufstehen, einer nach dem anderen, oder ihre rastlosen Geister, die den Ort der Schlacht noch in dreihundert Jahren heimsuchen würden - er hatte zu viele Nächte lang den Erzählungen seiner Großmutter gelauscht, die eine wahre Expertin war für alles, was spukte, als daß er ausgerechnet in diesem Moment die Erinnerung daran vergessen konnte. Aber er fing sich wieder, bevor Leota diesen Augenblick der Schwäche bemerken konnte.
»Das sind die Totenmägde«, flüsterte Leota. »Habt Ihr jemals so viele von ihnen gesehen?«
Mendrion schüttelte den Kopf. Totenmägde waren etwas, um das er doch eigentlich lieber einen Bogen machte. Seine Eltern waren lange tot und auch seine Großmutter, jedes Mal kam eine Totenmagd ins Haus, aber wohlgemerkt: Eine. Nicht hundert. Hier waren es… Mendrion konnte es nicht sagen. Das Licht war zu schlecht und die Totenmägde in ihren grauen Kutten zu unwirklich - schon eine einzelne hatte etwas an sich, das nicht von dieser Welt war, aber nun waren es so viele, daß Zahlen viel zu wirklich gewesen wären, um diesem Anblick gerecht zu werden.
»Sie sind eine Art Orden«, sagte Leota leise. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand viel über sie weiß, wer will schon eine Totenmagd ausfragen? Es gibt diejenigen, die in einem Ort niedergelassen sind und sich da um alles war stirbt kümmern, und es gibt diejenigen, die in ihrer Ordensburg sitzen - wo immer die liegen mag, auch das weiß keiner außer ihnen selbst - darauf warten, daß irgendwo ein Krieg ausbricht oder eine Seuche oder sonst etwas, wo eine einzelne Totenmagd im Leben nicht mehr nachkommen kann mit dem Beisetzen. Sie beobachten den Krieg, und wenn die Toten da sind, sind sie es auch.« Ihre Stimme wurde immer leiser, während sie sprach. »Manche behaupten, sie sind selbst die Sendboten des Todes und wandeln in seinen Fußspuren, lautlos und nicht weniger tödlich als der Tod an sich. Und manche glauben« - hier erstarb Leotas Stimme einen Augenblick lang - »sie dienen dem Abgrund selbst.«
Mendrion sagte nichts und rührte sich nicht, selbst ein Schlucken blieb ihm im Hals stecken und nahm ihm den Atem. In diesem Moment, angesichts dieser grauen Frauen, die über das Schlachtfeld glitten wie unmenschliche Schatten, war er bereit, fast alles zu glauben, außer an das Licht. Es war Leota, die ihn zurückholte, bevor die Angst ihn überkommen konnte.
»Hört nicht darauf«, sagte sie fester und lauter. »Die Totenmägde sind anständige Frauen, die ihre Arbeit tun, und glaubt mir, sie sind erbittertere Gegnerinnen des Abgrunds als alle Engelsgeborenen zusammen. Wir müssen nur eine finden, die uns hilft, meinen Vater zu bergen und zu überführen. Es sind viele Totenmägde hier - aber immer noch mehr Tote.«
Es war eine Seite des Krieges, an die niemand gerne dachte, aber da mußten sie jetzt durch. Niemand warb um neue Rekruten mit dem Anblick eines Heeres von Totenmägden, aber die Wahrheit war doch, wer dieses Bild sehen konnte, hatte überlebt. Es war ein Grund zur Freude, oder zumindest zu stillem Triumph, egal ob man auf der Seite der Sieger stand oder der Verlierer: Hauptsache am Leben. Und wenn die Totenmägde dafür sorgten, daß dieses Gelände bald wieder vom Schlacht- zum Weizenfeld wurde, sollte das Mendrion recht sein.
Es würde irgendwann einen neuen Krieg geben, aber was bis dahin aus der Welt werden sollte - Mendrion wollte sich darüber keine langen Gedanken machen. Varyn war dabei, alles auf den Kopf zu stellen, und Mendrion, der froh war um jeden Gedanken an Varyn, den er nicht denken mußte, war sich nicht sicher, auf der richtigen Seite zu stehen. Besser war es, sich um die grundsätzlichen Probleme des Augenblicks zu kümmern, um Leota, das Schlachtfeld, und vor allem um den Leichnam des Königs. Sie waren fast an der Stelle angekommen, als Mendrion begriff, daß er etwas ganz und gar Wichtiges übersehen hatte: Es war nicht nur ein toter König. Es waren zwei. Und Leota und Mendrion kamen zu ihrem zu spät.
Die Stelle, an der erst Lorimander und dann Vigilander gefallen waren, wimmelte von Soldaten, aber auch wenn vor Regen und Schlamm nicht mehr viel zu erkennen war von den himmelblauen Abzeichen der Armee Loringarils, wußte Mendrion sofort, daß diese Männer auf der falschen Seite standen, als die einen Kessel um die Toten bildeten. Es waren genug Loringarim, um den Ort komplett abzuriegeln, und Mendrion verfluchte und schämte sich seiner eigenen Truppe, daß die ihren König so sang- und ehrlos liegengelassen hatten, um hinter Varyn herzurennen, als hätten sie nie einen anderen Herrn gekannt. Sich selbst durfte er da nicht ausnehmen, auch wenn er sich statt dessen auf den schnellsten Weg zu Dannen gemacht hatte - aber die Wahrheit war doch, keiner hatte sich um den König gekümmert, und wenn die Loringarim nun seinen Leichnam plünderten und schändeten, waren sie das alle selbst schuld.
»He!« rief er mit seiner Kommandierstimme. »Zurück! Gebt den König frei!« Das waren nur Fußsoldaten, die waren gewöhnt zu gehorchen, egal welcher Seite, sie konnten froh sein, daß sie noch standen, zur Sicherheit noch die Hand an den Schwertknauf…
Aber die Männer wichen nicht zurück. Sie schoben sich nur enger zusammen, Schulter an Schulter, und diejenigen, die noch Waffen hatten, richteten diese auf Mendrion und Leota.
»In Vigilanders Namen gebt den Weg frei!« brüllte Mendrion. Es war ihm egal, daß es eigentlich an Leota war, diese Situation zu lösen, aber sie war keine Kommandantin, sicher ging ihr das auch viel zu nahe, und überhaupt, Mendrion wollte auch mal zu etwas gut sein. »Wir geben euch freies Geleit, aber laßt uns an unseren Toten!«
Höhnisches Gelächter schlug ihnen entgegen. »Räudige Doubladai!« rief einer der Loringarim. »Ihr steht auf unsrem Land, hier haben wir das Sagen!«
»Ja, aber ihr habt verloren!« rief Mendrion. »Und das Sagen hat der Sieger!« Die Wörter mußten groß sein. Auf einen Kampf durfte er es nicht ankommen lassen. Egal wie abgerissen und geschwächt diese Männer auch sein mochten und, egal wie scharf Mendrions Schwert, gegen so eine Überzahl konnten, sie nicht gewinnen. Und von Vigilanders siegreichem Heer war keiner mehr zu sehen, zumindest keiner, der lebte. Es war eine Schande.
»Wenn ihr euren König wiederhaben wollt, gebt unser Land frei!«
»Die Engel selbst haben diesen Kampf entschieden!« Einen Moment lang fragte sich Mendrion, ob es richtig war, ausgerechnet jetzt Varyn zum Sieger und Herrn der Welt zu erklären; wenn es danach ging, war nicht nur Lorimanders Haus unterlegen, sondern auch Vigilanders, aber alles war Recht, was diesen Hunden Ehrfurcht einjagte, und Engel waren immer ein gutes Werkzeug.
Leota legte ihm eine Hand auf die Schulter, und Mendrion begriff, daß er das Maul zu halten hatte, wollte er es sich jetzt nicht für immer mit ihr verscherzen. Ihr Vater. Ihr Kommando. »Ich bin Leota von Vigilanders Blute!« rief sie, und es war das erste Mal, daß Mendrion sie ihren vollen Namen benutzen hörte. »Hört mir zu, Männer von Loringaril, wenn ihr nicht wollt, daß auf diese Schlacht weiteres Blutvergießen folgt, dann laßt mich meinen Vater begraben, so wie ihr euren König begraben dürft. Dieser Krieg wird nicht zwischen den Toten ausgefochten, und nicht um die Toten.« Sie hatte den Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Wer sie von weitem kommen sah in ihrer Rüstung und mit dem Helm auf dem Kopf, begriff nicht, daß es sich um eine Frau handelte, aber wenn dann ihre Stimme erklang, unzweifelhaft weiblich, etwas, das diese Männer vielleicht seit Monaten nicht mehr gehört hatten -
Mendrion irrte, und Leota auch, wenn sie dachten, daß dies die Loringarim beeindrucken würde. Nur einen Moment lang herrschte irritiertes Schweigen. Dann griffen die Männer an. Auch wenn sie vorher vielleicht nichts anderes im Sinn gehabt hatten, als den Leichnam ihres eigenen Königs vor den Feinden zu schützen; auch wenn sie Loringarim waren und das Prinzip der Rache ihnen nicht wie den Doubladai ins Blut eingebrannt war, hier hatten sie eine Chance, es Doubladir direkt heimzuzahlen - wann bekam man schon die Tochter seines ärgsten Gegners serviert wie auf einem Silberteller? Die Tochter, von allen Dingen!
Mendrion riß das Schwert heraus, bereit zu kämpfen bis zum Letzten. Der Krieg war noch nicht vorüber, und auch wenn Mendrion als Hauptmann nicht selbst vorne, sein Leben nicht auf dem Spiel stand, war jetzt der Moment gekommen, Blut nicht nur durch seine Männer und die Kraft seiner lauten Stimme zu vergießen. Direkt am Anfang so viele wie möglich treffen, am besten töten, dann erschrak der Mob und zog wieder zurück… Aber noch, bevor er den ersten Schlag tun konnte, noch bevor auch nur der Spieß des ersten Feindes ihn erreicht hatte, fror er in der Bewegung ein und die Luft um ihn und die ganze Welt. Von einem Moment auf den anderen herrschte Stille. Wie gelähmt blieb Mendrion stehen, begriff die Welt nicht, blickte zum Himmel, wartete auf das nächste engelhafte goldene Licht, den nächsten Blitz- und Donnerschlag, und sein Schwertarm, dessen Herr er nicht mehr selbst war, sank langsam nach unten.
»Was ist…«, wollte er fragen, doch die Worte wollten seinen Mund nicht verlassen, flüchteten zurück in seine Zunge, als fürchteten sie sich, die Stille zu zerschneiden, die dicker war als Nebel und schwerer als ein Alpdruck. Um ihn herum ließen Männer ihre Waffen fallen, ihre Gesichter so verwirrt und hilflos, wie jetzt auch Mendrion selbst aussehen mochte. Langsam schritten seine Füße rückwärts, auch das nicht durch eigene Entscheidung, so wie sich die Loringarim zurückzogen, bis keine Seite mehr in der Reichweite der anderen war. Mendrion wollte etwas sagen, wollte die Arme heben, wollte vorwärtsgehen können, aber für all das war er wie gelähmt, er konnte nur zusehen, sich selbst, Leota, den Loringarim, und den Totenmägden, die wie eine stille Prozession geschritten kamen und zwischen die Fronten traten.
Ihre Bewegungen waren weich und ohne den verzweifelten Drang, der Mendrion rückwärtsgehen hieß; er wußte nicht, was sie da taten oder wie, aber diese grauen Frauen waren es, die über das Schlachtfeld herrschten und ihm ihren Frieden aufzwangen. Die Stille raubte ihm den Atem, drang tief in ihn ein mit gnadenloser Sanftheit, die keinen Widerspruch duldete, und wie die Wärme von einem Feuer breitete sie sich von den Totenmägden aus, erfüllte erst die Körper, dann die Herzen, daß kein Gedanke an Kämpfen oder Töten mehr möglich war. Mendrion hatte erst zweimal in seinem Leben die Anwesenheit eines Engels gespürt: Einmal in der Nacht, als er Varyn das Kämpfen lehrte, dann in der Schlacht in dem Moment, als das Schwert in die Hand des Jungen flog - und jetzt. Und während er bei den ersten beiden Malen nur ein Zuschauer war, ein atemloser Zeuge, griff die Macht dieses Engels nun direkt nach ihm, daß er nur noch auf die Knie gehen und sich ihr ergeben wollte.
Es mochte tröstlich klingen, doch es war kein gutes Gefühl. Mendrion war ein Mann des Krieges, und jetzt fühlte es sich an, als ob genau das, seine wahre Seele, aus ihm hinausgequetscht wurde. Und daß er nichts dagegen tun konnte als warten, bis es vorüber war, machte es nicht viel besser. Nur warten, und froh sein, daß auf diese Weise zumindest sein Leben gerettet wurde. Die Totenmägde formten eine Mauer zwischen Doubladir und Loringaril und trieben die Feinde auseinander, und keiner konnte auch nur ein Wort sagen.
Dann löste sich die seltsame Versammlung auf. Hier waren nur zwei Tote von vielen, die alle Beistand brauchten. Mendrion blieb stehen, blickte Leota an und wagte nicht, sich wieder zu rühren - wovor hatte er Angst? Vor diesem entsetzlichen Frieden? Er schüttelte sich, das war die erste Regung, ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, dann bückte Mendrion sich nach seinem Schwert und war zumindest endlich wieder am Leben, Mensch, und Mann. Leota nickte grimmig. Sie machte einen Schritt auf den Leichnam ihres Vaters zu, den die Loringarim endlich freigegeben hatten - und Mendrion sah mit Erleichterung und Scham zugleich, daß er immer noch lag, wie er gefallen war, und das geschlossene Visier seines Helmes schützte vor dem direkten Anblick eines Mannes, den der Blitz erschlagen hatte. Doch sie waren nicht zu früh gekommen, das Pferd hatten die Loringarim schon von seinem Körper gewälzt, und daß sich noch niemand an der Rüstung oder dem Toten selbst vergriffen hatte, mußte reines Glück sein, oder letzte Ehrfurcht, oder Angst.
Aber als sich Leota über ihn beugen wollte, Mendrion blieb ein kleines Stück hinter ihr stehen, denn immerhin war es ihr Vater, trat eine Totenmagd an sie heran, legte ihr erst von hinten die Hände auf die Schultern, dann, als Leota hochfuhr und herum, nahm sie die Hände der Königstochter in ihre, sprach kein Wort, aber Mendrion sah, wie sich Leotas Haltung veränderte. Wie sie einen Moment weich und schwach wurde in den Schultern, sich dann wieder fing, nickte, und dann die alte Grimmigkeit wieder die Herrschaft über ihren Körper übernahm.
Nur ein kurzer Moment, in dem Mendrion wieder begriff, wie wenig sie ihn brauchte, noch nicht einmal als Stütze und für Trost. Er zögerte, ehe er zu den beiden Frauen trat, es war nicht an ihm, zuerst das Wort zu ergreifen, aber irgend jemand mußte langsam mal etwas sagen, damit dieses Schlachtfeld vom Schweigen gereinigt wurde. Sollten die Totenmägde die Stille ehren, er lebte, und er wollte wieder reden können. Doch Leota verstand den Wink auch so.
»Werdet Ihr uns begleiten?« fragte sie die Totenmagd. Diese nickte, doch ihr Blick schüttelte den Kopf. 'Ihr werdet mich begleiten', sagte er - und sie alle den König auf seiner letzten Fahrt. Der einzige tote Doubladai, der das Glück haben sollte, nach dieser Schlacht in der Heimat begraben zu werden. Manchmal lohnte es sich doch, König zu sein. Auch wenn er jetzt wohl nicht mehr viel davon haben würde. So brachen sie dann auf.

Mit einer Totenmagd zu reisen, war kein Vergnügen - ob das nun an der grau gekleideten Frau selbst lag oder an der Tatsache, daß dort mit ihnen auf dem Wagen ein ausgesprochen toter König reiste. Aber die Glocke aus Schweigen, die über dem Gespann lag, war groß genug, um auch Mendrion und Leota einzuhüllen. Nicht, daß sie einander noch viel zu sagen hatten, die harten Worte waren gewechselt und die weichen auch, und die Fronten zwischen ihnen war lange geklärt.
Vielleicht hätte es Mendrion und Leota überhaupt nicht mehr gebraucht, um den Leichenzug zu bewachen. Nach dem, was er auf dem Schlachtfeld erlebt hatte, zweifelte Mendrion kaum mehr daran, daß die Totenmägde in der Lage waren, ganz ohne Waffen jeden Angriff zum Schweigen zu bringen - ob das auch für eine einzelne Frau galt oder doch eine Hundertschaft brauchte, sei dahingestellt, feststand jedenfalls, daß sie so den toten König gänzlich unbehelligt nach Doubladir bringen konnten. Unbehelligt, und überflüssig.
Es war, zumindest auf den ersten Blick, in Ordnung, er und Leota verstanden hatten sich ja grundsätzlich, aber trotzdem fühlte sich Mendrion mit jedem Tag unwohler. Er war Hauptmann, er hatte sich Dannen angeschlossen, um ihm mit seinem Schwert und seinen strategischen Ideen zur Seite zu stehen. Aber im Schritt vor einem Leichenzug herreiten und dabei eine ernste Miene machen, das war letztlich noch unerträglicher, als mit einem Trupp Bauerntrampel durch die Gegend zu reiten, denn was immer man über die denken konnte, die waren zumindest irgendwie unterhaltend.
Vielleicht hatte Dannen mit mehr Widerstand gerechnet - nicht durch Varyn oder die Männer, die sich ihm angeschlossen hatten, sondern durch die Loringarim. Aber am wahrscheinlichsten war wirklich Leotas Idee, daß Dannen Mendrion nur bei seiner Schwester abgestellt hatte, um ihn in dem Glauben zu wiegen, daß es bald noch eine Hochzeit geben würde, und Mendrion fühlte sich verarscht. Wenn Dannen keine echte Verwendung für ihn hatte, wenn er ihn sich nur warmhalten wollte für irgendwann in der Zukunft, hätte Mendrion seine Entscheidung doch gern noch einmal überdacht. Er hatte mehr von Dannen erwartet, Entscheidungskraft, beherztes Einschreiten oder auch nur einen Versuch, sein Schwert zurückzugewinnen. Damit Mendrion dann, wenn sich alles aufklärte und Dannen zum König gekrönt wurde, sagen konnte, daß er von Anfang an auf der richtigen Seite stand. Nicht, um sich an der Seite eines Narren zum Narren zu machen. Der tote König hätte ihm die Ehre gedankt, die Mendrion ihm nun als Leibwächter im wahrsten Sinne des Wortes erwies, aber was brachte das schon, der König war tot.
Mendrion hatte viel Zeit für solche Gedanken. Es reichte ihm schon, daß sein Körper komplett unterfordert war, da wollte er wenigstens seinem Kopf eine Beschäftigung geben. Nicht das richtige Organ, um die Hauptbeschäftigung für einen Krieger darzustellen, aber was sollte er tun? Die Grashalme am Wegesrand zählen? Gereicht hätte die Zeit dafür allemal. Das Gefährt kam so langsam voran, daß wohl jeder Ochsenkarren es hätte überholen können. Das mußte auch die verdammte Totenmagd sein, welche die Pferde so lähmte, daß sie nur noch Schritt gehen konnten, und was für einen! Hatte die Frau Angst, jeder Huppel, jedes Schlagloch auf der Straße könne den Frieden des Königs stören, wenn der Karren einmal darüber hinweg rumpelte? Und wenn schon! Der König hatte Frieden immer gehaßt, ihm den nun im Krieg aufzuzwängen, war fast schon ein letzter Akt der Grausamkeit.
Wann immer jemand auf der Straße an ihnen vorüberzog, zuckte Mendrion vor Scham zusammen und blickte zu Boden. Natürlich, die Leute konnten sehen, daß dies ein Leichenzug war, weniger wegen des Anblicks des Toten, der gnädig von einem Tuch verhüllt war, sondern wegen der Totenmagd, die so offensichtlich war, was sie war, daß keine Fragen nötig waren. Natürlich, es war beeindruckend, wie lange die den Mund halten konnte, manchmal fragte sich Mendrion, ob sie vielleicht in Wirklichkeit stumm war, aber zumindest hören schien die Frau zu können, sonst hätte sie sich nicht die Mühe machen müssen, überall ihre Stille zu verhängen wie einen Arrest. Mendrion kannte nicht einmal ihren Namen, aber wozu auch, er wollte nicht mit ihr anbandeln - wenn er so wenig wie möglich mit Totenmägden zu tun hatte, war das nur gut.
Aber er wartete. Wartete kommentarlos und mit Bauchschmerzen, die mit jedem Tag größer wurden. Das Heer von Doubladir war mit Varyn gezogen, das letzte Stück bis Lomar wollten sie sich wohl nicht entgehen lassen, und das konnte Mendrion ganz recht sein, aber irgendwann würden sie den Heimweg antreten. Dann ritt ein Varyn, vielleicht inzwischen gekrönt, voran, und die Soldaten folgten ihm so treu ergeben wie die Generäle und jeder andere, der in der Schlacht den Verstand verloren hatte und Recht nicht mehr von Unrecht zu unterscheiden wußte, und wenn sie dann den Leichenzug überholten - würden sie dann noch wissen, daß dieser graubedeckte Tote einmal ihr König gewesen war, oder hatten sie alles vergessen, was ihr Land war?
Mendrion sprach mit Leota nicht darüber, wie auch, er wollte sie nicht beunruhigen und ihr keinen Kummer machen, zumindest nicht noch mehr, als sie schon haben mußte. Diese ständige Anwesenheit des Todes ging ihnen beiden an die Eingeweide, aber Leota noch mehr als Mendrion, denn es war immerhin ihr Vater, und während Mendrion sich immerhin noch einen Kopf machen konnte wegen all der Dinge, die ihn unterwegs bewegten, war die Fürstin in sich gekehrt und still.
Während Loringaril an ihnen vorbeizog, konnten sie zumindest die ersten Spuren von Dannens Ritt sehen und der Idee seines Bruders Jaro. Die Wegstationen, die der Nachhut und den Versorgungskarren den Weg weisen sollten, waren aufgelöst und verlassen, und ihnen kamen auch keine neuen Einheiten oder Wagen entgegen. Nicht, daß Mendrion nicht auch so nach Doubladir zurückgefunden hätte, aber die Verpflegung hätten sie brauchen können - sie hatten Proviant dabei, aber wer hatte ahnen können, daß der Rückweg derart lang dauern würde?
Noch herrschte zu wenig Frieden, als daß sie einfach in einem loringaresischem Gasthaus einkehren können, abgesehen davon, daß zu wenig entlang ihrer Strecke überhaupt noch lebte - ob die Bewohner vertrieben waren oder tot, konnte egal sein, in niedergebrannten Häusern wollte kein Mensch wohnen, und wer bis nach Lomar geflohen war, würde wohl kaum wieder zurückkehren. Wenn Kriege für eines gut waren, dann, die Bevölkerung einmal tüchtig durchzuschütteln und dafür zu sorgen, daß die Leute vom Land endlich mal jemand anderen zum Heiraten hatten als ihre eigenen Cousinen. Auch, wenn das hier nicht für die Könige galt…
Zwischendurch fragte sich Mendrion, wie es Varyn wohl in der Hauptstadt ergangen sein mochte - mit ein bißchen Glück hatten ihn Lorimanders Erben dort mit der Kraft, die ihnen noch blieb, auch nachdem das Horn verloren gegangen war, erschlagen, und die ganzen Sorgen waren umsonst - nein, das wünschte Mendrion dem Kohlenjungen doch nicht, da gefiel ihm der Gedanke deutlich besser, daß sie ihn doch gleich dabehalten und zum König gemacht hatten. Auch das löste Dannens Probleme und Mendrions gleich mit, wenn es ihn auch nicht schneller nach Hause brachte. Aber dann wußte er zumindest, daß er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Mendrion gehörte nach Doubladir und sonst nirgendwo hin, er war nicht irgendein schäbiger Söldner, der sein Fähnchen nach dem Wind hing, wenn man ihm nur genug Geld und Ruhm bot. Obwohl…
So ging es hin und her. Es wurde ein wenig besser, als sie endlich die Brücke nach Doubladir überqueren konnten und wußten, daß sie heimatlichen Boden unter den Füßen hatten. Auch wenn das bedeutete, daß jetzt wirklich nichts mehr passieren würde, daß Mendrion sein Schwert nur noch zur Zierde trug und es nicht mehr gegen irgendwelche Feinde brauchen würde - dafür herrschte hier keine verbrannte Erde, sie waren wieder auf der Seite, wo es etwas zu essen gab und auch mal ein Bett zum drin schlafen statt nur ein Schlafsack unter einem Baum.
Mendrion sehnte sich nach richtigen Menschen, Menschen, die redeten und lärmten und sangen und anderen die Ruhe nahmen, von der Mendrion schon viel zu viel mitgemacht hatte. Aber die Totenmagd blieb an ihm kleben wie Scheiße unterm Schuh. Selbst wenn sie auf dem Wagen übernachtete, direkt bei der Leiche, wobei ‘übernachten’ nicht hieß, daß sie dabei auch schlief - Mendrion wollte gar nicht wissen, was eine Totenmagd tags oder nachts oder sonst wann machte - drang ihr Schweigen doch bis in die Gaststube, als hätten die Leute da drinnen Angst, sie zu stören, oder als ob einfach Ehrfurcht die Menschen befiel, wenn sie wußten, daß dort nicht irgendein Leichnam durch die Gegend gefahren wurde, sondern immerhin ein König.
Aber was hieß schon Menschen? Das, was das Leben in einer Wirtsstube ausmachen sollte, die Männer allen Alters, die das Rückgrat und das Leben ihres Dorfes waren, fehlten. Frauen waren da, Kinder, alte Leute, niemand, der in ein Wirtshaus gehörte - und auch wenn ein Teil der Soldaten aus dem Krieg zurückgekehrt war, denn nicht jeder war so dumm oder so begeistert, Varyn nach Lomar zu folgen, genügend von ihnen hatte mit der Schlacht am Techemiel den Krieg und ihre Dienstzeit für beendet erklärt, das Chaos ausgenutzt und sich selbst entlassen, ohne sich zu fragen, ob sie das jetzt zu Verrätern und Deserteuren machte oder ob nicht vielmehr der Rest der Truppe die Verräter waren, war das doch kein Vergleich zu vorher.
Und zu viele würden gar nicht mehr zurückkehren, nicht, weil sie sich im Feindesland ein Mädchen angelacht hatten und dafür ihre Frauen und Kinder in der Heimat sitzenließen, sondern weil sie auf dem Schlachtfeld geblieben waren, fortgetragen von den Totenmägden oder mit Erde bedeckt, aus der bald Blumen wachsen würden. Mendrion wußte das, und die Leute in den Gasthäusern wußten, daß Mendrion es wußte. Vielleicht waren sie deswegen so still. Da waren Mendrion und Leota in ihren prachtvollen Rüstungen, und sie konnten keine Fragen beantworten, keine Namen nennen - wer lebte, wer tot war, wer geflohen und wer ein Verräter.
Die gleichen alten Mütterchen, die hinausliefen, um weinend die Hände des Königs zu küssen, von dem sie gar nicht wissen wollten, wie lang er jetzt schon tot war, damit seine engelsgleiche Gnade auf sie abfärben und ihr kümmerliches Leben verlängern würde; die Streifen von seinem Totengewand, seinem Bart oder seinem Haar abschneiden und als Heiligtum behalten wollten, starrten danach dessen leibhaftige lebendige Tochter so feindselig an, als ob Leota selbst Schuld daran trüge, daß die Söhne und Enkel noch nicht heimgekehrt waren.
Mendrion hatte zu wenig von diesem Krieg selbst erlebt. Aber jetzt trug er die Verantwortung für alles, was darin geschehen war.

Fast hätten sie es doch noch geschafft. Fast - wenn Doubladir nicht so verdammt groß gewesen wäre. So waren Mendrion und Leota mit ihrem Leichenzug zwar schon weit ins Landesinnere vorgedrungen, aber nicht weit genug, als Varyn sie mit seinem Heer einholte.
Mendrion hörte sie, lange bevor sie bei ihnen angekommen waren: Da hatte er sie, seine lärmenden Menschen, und da half auch die Totenmagd nicht mehr: Varyn hatte so viele Männer dabei, daß schon das Trappen ihrer Füße im Gleichschritt am Horizont ausreichte, um die Stille zu durchdringen. Dazu noch Pferde und Stimmen - Mendrion und Leota blickten einander an, und Mendrion fragte sich, ob er dabei genauso bleich aussah wie die Königstochter.
»Da haben wir sie«, sagte er leise. »Oder sie uns.«
Leota verzog keine Miene. »Früher oder später mußte das so kommen«, erwiderte sie. »Aber wir haben nichts mit ihnen zu schaffen, das ist Dannens Bier. Wir können nichts gegen sie ausrichten, außer, sie zu ignorieren.«
Mendrion nickte. Leota hatte das Sagen. Er setzte sein eingefrorenes Gesicht auf, zog das Visier herunter und versuchte, nichts anderes zu sein als die Ehrengarde eines Leichenzugs. Zumindest gehörte die Straße ihnen. Niemand konnte erwarten, daß ein Totenkarren in den Graben auswich - da sollte Varyn fein seine Männer drumherum führen, niemand war hier höher als der Mann unter dem grauen Tuch. Und mit etwas Glück hatten sie die Begegnung schnell überstanden…
Unter dem Helm veränderten sich die Geräusche, alles klang dumpf und hallte, und da Mendrion starr nach vorne blickte und sich nicht umdrehte, konnte er schlecht sagen, wie weit die Bedrohung noch weg war - alles, was er als Anhaltspunkt noch hatte, war das Erzittern des Bodens unter seinen Füßen, und die verhieß nichts Gutes. Das, was Varyn an Männern dabei hatte, war nur noch ein Bruchteil von Vigilanders stolzem Heer, die meisten mußten sich also doch auf den Heimweg gemacht haben, aber immer noch genug, um eine eindrucksvolle Einheit darzustellen. Und er, oder die Generäle und Hauptmänner, die er sich unter den Nagel gerissen hatte, kontrollierte sie gut. Egal. Nicht hinsehen. Ruhig bleiben, abwarten, die würden vorüberziehen.
Hinter dem Schutz seines Visiers knirschte Mendrion mit den Zähnen. Das wäre jetzt endlich die Gelegenheit gewesen, sich als treuer Gefolgsmann Dannens zu beweisen, wenn er auch nicht wußte, wie er das zeigen sollte - aber einfach nur stur spielen und so tun, als wäre niemand außer ihnen auf der Straße, das war seine Sache nicht. Wenn er die Gelegenheit nutzte, um Varyn den Kopf zurechtzurücken - aber dafür war es jetzt zu spät, viele Wochen zu spät. Varyns Kopf mußte inzwischen irgendwo zwischen den Wolken thronen.
Dann hatte der Trupp sie erreicht. Mendrion hörte Varyn keine Befehle brüllen, die Stimme des Kohlenjungen hätte er unter Tausenden erkannt, aber trotzdem schienen die Männer zu wissen, was zu tun war - sie wichen zur Seite aus, wie sich das gehörte, und zogen dann in Zweierreihen an dem langsamen Gefährt vorbei, nachdem sie die Reiter hatten vorbeiziehen lassen. Sie gingen auf Leotas Seite, deswegen konnte Mendrion nicht viel erkennen, auch wenn er versuchte, seitlich an seinem Visier vorbeizuschielen - er hörte aber, daß sie ihre Schritte verlangsamt hatten, ob aus Ehrfurcht oder weil es schlichtweg schwieriger war, am Straßenrand zu gehen und nicht ins Gebüsch zu fallen, wollte er mal so dahinstellen. Aber eines begriff er: Daß Varyn selbst nicht bei vorbeiziehenden Reitern war. »Majestät«, hörte er sie leise murmeln, wenn sie auf Höhe des Toten waren, »Majestät.«
Immerhin, sie wußten, wen sie vor sich hatten, und was sich gehörte. Mendrion hatte mit Schlimmerem gerechnet, mit unverschämten Kerlen, die nach der Leiche spuckten oder sich sonst wie abscheulich verhielten; fast enttäuschte es ihn, daß Varyn seine Leute so gut unter Kontrolle hielt, daß sie noch wußten, was sich gehörte. Es hätte Mendrion besser gefallen - auch wenn er dann vor Scham im Boden versunken wäre - wenn unter Varyns Herrschaft das schiere unkontrollierbare Chaos ausgebrochen wäre, betrunkene, marodierende Horden ohne Sinn und Verstand, daß das Volk sie aus dem Land jagte und wußte, wen es als rechtmäßigen Herrscher haben wollte: Aber statt dessen verhielten sie sich genau so, wie Mendrion es von seinen eigenen Männern verlangt hätte.
Ob es Leota war, die den Wink gab, oder doch die Totenmagd, wußte Mendrion nicht; es konnten auch die Pferde selbst beschlossen haben, anzuhalten, jedenfalls blieb das Gefährt stehen, was sicher das Beste war. Es war kein Eingeständnis irgendeiner Unterlegenheit, sondern einfach nur Vernunft, den Überholvorgang nicht noch künstlich in die Länge zu ziehen. Zu spät kam Mendrion auf die Idee, Varyns Männer zu zählen, wo er sie in so handlichen Gruppen vor sich hatte, aber eigentlich wollte er es auch nicht wissen, um sich nicht noch unnötig zu ärgern. Er stand wie eingefroren, eine dekorative hauptmannsförmige Statue aus geschwärztem Stahl, und wartete, daß die Begegnung vorüberging.
Aber das tat sie nicht. Varyn wartete nur, bis alle Einheiten vorbeigezogen waren. Dann ging er zum Angriff über, und auch wenn er das nur mit Worten tat, war es unverschämt genug. Egal, für wen er sich jetzt auch halten mochte, es stand ihm nicht zu, den königlichen Leichenzug zu stören. »Fürstin Leota, Hauptmann Mendrion - endlich finde ich Euch!«
Mendrion machte sich noch ein wenig steifer und fragte sich, ob Varyn ihn erkannt oder einfach nur gut geraten hatte.
Leota antwortete nicht, drehte nur ihren Kopf ein wenig zur Seite, und selbst aus seiner ungünstigen Position heraus erkannte Mendrion die schwarzen Blitze, die aus ihrem Sehschlitz schossen. Dann deutete sie wortlos auf den Wagen und die verhüllte Gestalt, die dort lag. Mendrion fletschte die Zähne, solange das niemand sehen konnte, und wandte dann den Kopf nach hinten. Wenn Leota sich bewegen durfte, reichte aus, daß sich der alte König nicht mehr rührte.
Da stand Varyn, die Zügel seines Pferdes in der Hand, und ein Stück weiter hinten, hoch zu Roß, thronte der kleine Gaven. Das, was ihm an Größe fehlte, um auf so einem großen Pferd nicht verloren zu wirken, machte der Junge mit sichtbarem Stolz wett, aber Varyn gestikulierte ihm, gefälligst abzusteigen, bevor er selbst auf die Knie ging, Hand am Herzen. »Majestät«, sagte er leise, und Mendrion konnte nicht sagen, ob das jetzt ernst gemeint war oder nur gespielt. Wenigstens hielt er ehrfürchtigem Abstand zu dem Toten; Mendrion war es leid, dauernd zu verhindern, daß jemand an dem Tuch rumzuppelte und versuchte, dem König irgendwie zu nahe zu kommen.
Mendrion hörte Leota seltsam knurren und dachte erst, daß sie nicht besonders überzeugt war von Varyns Kniefall, dann erst sah er den dritten Reiter, noch ein Stück hinter Varyn und seinem Bruder, und der stellte dann wohl das eigentliche Problem dar. Rul war nicht abgesessen; von seinem Pferd aus blickte er zu ihnen hinüber, und wenn Mendrion versuchte, seinen Blick auf die Entfernung und durch das Visier hindurch richtig zu lesen, hielt er es für Verachtung.
»Seid Ihr hier, um uns zu verhöhnen?« fragte Leota kalt. »Oder um das zurückzugeben, was ihr uns gestohlen habt?«
Varyn erhob sich wieder und machte eine Handbewegung in Ruls Richtung, die Abwarten signalisierte. »Ich möchte gern mit Euch reden, Leota. Ihr müßt mir glauben, ich habe überall nach Euch suchen lassen und nach Dannen auch -«
»Ich sehe, du hast Ersatz dafür gefunden«, schnitt ihm Leota das Wort ab, während sich Mendrion noch über den hochherrschaftlichen Klang von 'suchen lassen' insgeheim amüsierte. »Hat der Bastard dir die Treue geschworen, um unsere Familie endgültig zu zerstören, oder hast du ihn dafür bestechen müssen?« Wenn Mendrion geglaubt hatte, der Tonfall, den Leota ihm gegenüber anwandte, sei eisig, wurde er hier eines besseren belehrt: Im Vergleich zu der Art, wie sie mit Varyn sprach, war alles andere sanftes Liebesgesäusel.
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß Ihr mich jetzt haßt, aber Ihr müßt mir zuhören!«
»Ganz sicher nicht, solange der Bastard dabei ist.« Mendrion fragte sich, ob das Leota wirklich mehr störte als das Schwert, das Varyn am Gürtel trug. Es war nicht gut zu erkennen in der Scheide, Mendrion war immer froh gewesen, so wenig wie möglich mit Vigilanders Schwert zu tun zu haben, als daß er es eindeutig am Knauf hätte erkennen können, aber Leota mußte das wissen - und welches Schwert sollte Varyn auch sonst tragen, wenn er so vor dem Heer ritt?
»Ich bin auch ein Bastard«, sagte Varyn ruhig. »Rul ist hier, um sich von seinem Vater zu verabschieden, wie es sein Recht ist als Sohn und Untertan. Aber ich will mit Euch reden, ich will erklären können, was geschehen ist, schon damit Ihr mir helfen könnt, daß auch Dannen es begreift.«
»Also behältst du, was du gestohlen hast?« fragte Leota.
»Ich habe nichts gestohlen«, antwortete Varyn. »Und wärt Ihr nicht davongelaufen, Ihr und Dannen, ich hätte ihm Vigilanders Schwert zehnmal gegeben. Aber jetzt…« Er schüttelte den Kopf. Hatte Mendrion noch einen Moment lang geglaubt, Varyn würde vielleicht das Schwert dem toten König in die Arme drücken, um fein aus der Sache heraus zu sein, ohne vor Leota einzuknicken oder seinen Generälen, begriff, daß Varyn tatsächlich vorhatte, das heilige Schwert zu behalten. Und das sagte er Leota ins Gesicht, die vor ihm stand mit einem Schwert in der Hand, das sie auch benutzen konnte?
»Ich verhandle nicht mit Dieben und Bastarden«, erwiderte Leota. »Ihr reitet nach Car Diuree? Dann rede dort mit meinem Bruder. Aber wage es nicht, die Stille und den Frieden dieses Leichenzuges mit deiner Dreistigkeit zu stören.«
Mendrion, immer noch durch sein Visier, das ihn zunehmend störte, sah, wie Varyn das Gesicht verzog und sich auf die Lippe biß - was hatte der Junge erwartet? Begeisterung? »Das respektiere ich«, sagte Varyn dann. »Verzeiht, Leota, wenn ich Eure Gefühle und Eure Trauer mißachtet habe. Werdet Ihr dennoch Eurem Bruder gestatten, seinem Vater die Ehre zu erweisen, während ich mit dem Hauptmann rede?«
»Kein Bruder von mir ist anwesend«, antwortete Leota. Mendrion hatte Dannen schon oft schlecht von Rul reden hören, und da Mendrion den Kerl selbst nicht mochte, fiel das bei ihm auch immer auf halbwegs fruchtbaren Grund, aber wenn dieser Haß so tief in der ganzen Familie verankert war, wie das jetzt herausklang, wunderte sich Mendrion nicht mehr, warum der Königsbastard sich Varyn angeschlossen haben sollte.
»Ihr wißt es besser«, sagte Varyn. »Und Ihr wißt auch, was der Wunsch Eures Vaters in dieser Hinsicht gewesen wäre. Wollt Ihr ihm den wirklich verweigern, vor seinem kalten toten Körper, wo er sich nicht mehr wehren kann? Soll das Eure Rache sein?« Mendrion blieb der Atem weg, wie weit der Junge jetzt zu gehen bereit war - die Bereitschaft, Leota bei ihrer Ehre und ihren eigenen Gefühlen zu packen und daran durch die Gegend zu schleifen, überstieg bei weitem das, was sich der Kohlenjunge damals gegenüber seinem Hauptmann herausgenommen hatte, aber tatsächlich mußte Mendrion zugeben, daß er es Varyn abkaufte und der dabei eine bessere Figur machte als die Königstochter selbst. Einen Moment lang sah es aus, als wolle Leota Varyn eigenhändig den Kopf abreißen, aber sie verkrampfte nur vor unterdrücktem Zorn, warf einen Blick zu der Totenmagd hin, während sie murmelte »Wage es nicht…« und von dem Leichenwagen wegtrat.
Eines stand fest, Varyn hatte sich eine Feindin gemacht, soviel zu seinem Ansinnen, in Frieden mit ihr reden zu wollen, eine Feindin, die seinen wie auch immer gearteten Absichten, Doubladir zu beherrschen, zutiefst gefährlich werden konnte - und er ging dieses Risiko willentlich ein, nur um Rul die Möglichkeit zu geben, Abschied vom Vater zu nehmen? Mendrion schüttelte den Kopf. Er verstand den Jungen nicht, weniger denn je, aber vielleicht, auf eine gewisse Weise, bewunderte er ihn. Wer zwischen Rul und Leota wählen mußte, wo es um Einfluß ging, der hätte wohl immer Leota gewählt, trotz ihrer heiklen Position als Frau, aber da Varyn Rul als Gefolgsmann einmal hatte, schien er an einem Tausch nicht mehr interessiert.
Varyn nickte Rul zu, der die Oberlippe hämisch verzog und nicht im Geringsten aussah wie der trauernde Sohn, als den Varyn ihn vielleicht gerne dargestellt hätte, und als er an Varyn vorbeiritt, immer noch ohne abzusteigen, hörte Mendrion ihn sagen: »Halt dich raus aus unserer Familie« - wirklich, der Kerl war das nicht wert, keinen Pfifferling, und er schien auch nicht zu begreifen oder es interessierte ihn nicht, was Varyn da gerade für ihn getan hatte. Aber er hielt an der Seite seines Vaters an, und die Totenmagd schlug das Tuch weg, damit er seinem Vater ein letztes Mal ins Gesicht blicken konnte - Mendrion hätte es interessiert, was er ihm jetzt noch zu sagen hatte, so wenig ihn das auch angehen mochte, aber da kam statt dessen Varyn zu ihm. »Ich würde gerne mit Euch reden, Hauptmann«, sagte er leise.
Mendrion suchte Leotas Blick, um sich von ihr Zustimmung zu holen, aber alles, was er von der Königstochter sehen konnte, war ein demonstrativ zugekehrter Rücken, und überhaupt, es war seine eigene Sache, mit wem er redete und mit wem nicht. Er schob das Visier hoch, endlich, diese Renommierrüstung war eine Qual und der Helm das allerschlimmste. »Was willst du?« fragte er, nicht freundlich, aber auch nicht zu schroff.
»Nicht hier vorn«, sagte Varyn. »Kommt bitte ein Stück mit mir zurück, wo wir unter uns sind, ich habe diese Leichenruhe schon zu sehr gestört.«
Mendrion nickte und wollte schon absitzen, aber Varyn schüttelte den Kopf und zeigte auf sein eigenes Pferd - eigenes war gut, er würde es sich genauso ausgeborgt haben wie Schwert, Scheide, die gute Kleidung, die er trug und alles andere, was ihn von dem abgerissenen Kohlenjungen von damals unterschied. Aber der größte Unterschied war dieser Hauch von Selbstverständlichkeit, der Varyn jetzt umgab, als ob alles genau so sein mußte und nicht anders. Mendrion versuchte sich an den Moment zu erinnern, als Varyn das wirbelnde Schwert aus der Luft fing, aber es war irgendwie… verschwommen. Doch das danach, das hatte er vor Augen: Varyns ungläubigen Blick, als er da stand mit dem Schwert in der Hand, als wisse er selbst nicht, wie es dorthin gekommen war. Jetzt sah er aus, als ob er die Antwort auf diese Frage gefunden hätte, und akzeptiert.

Sie ritten ein Stück zurück, ließen den Leichenwagen hinter sich und auch die Truppen, die sich jenseits des Wagens wieder formatiert hatten und in sicherem Abstand auf ihren Varyn warteten, und Mendrion brannten viele Fragen auf den Lippen - in der Zwischenzeit schien viel geschehen zu sein, und ehrlich gesprochen wäre Mendrion gern dabei gewesen, um diese Verwandlung mit eigenen Augen zu erleben. Aber er hielt den Mund. Nur nicht zu neugierig klingen, nur nicht zu begeistert: Varyn sollte nicht auf die Idee kommen, daß der Mendrion einfach auf seine Seite ziehen konnte.
Dann hielten sie an und stiegen ab. Varyn atmete tief durch, als müsse er sich die richtigen Wörter erst noch zusammensuchen. Mendrion ließ ihn reden. »Hauptmann, Ihr glaubt mir nicht, wie sehr ich mich freue, Euch zu sehen.« Doch, Mendrion glaubte ihm. Nicht, weil er Varyn für so einen ehrlichen Burschen hielt, dafür hatte ihn der Junge zu oft angelogen. Sondern, weil er sich zwar verstellen konnte, aber nicht gut seine Augen. »Werdet Ihr mir zuhören?«
Mendrion fletschte die Zähne. »Ich wär nicht so weit geritten wenn nicht - das hätt ich dir auch einfacher sagen können.«
»Danke«, sagte Varyn. »Wenn ich Euch darum bitte - werdet Ihr mich begleiten?«
Mendrion schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob du das gemerkt hast, aber ich stehe hier auf der Seite von Dannen.«
Varyn nickte, und seine Augen schienen dabei zu leuchten. »Ja, genau deswegen.«
Es fiel Mendrion schwer, nicht zu lachen. »Du weißt aber schon, was das heißt - auf Dannens Seite? Das heißt, nicht auf deiner.« Auch wenn es sich jetzt mehr denn je so anfühlte, als wäre diese Seite die falsche.
»Ihr werdet mir das vielleicht nicht glauben«, sagte Varyn, »aber das tue ich auch. Leota glaubt mir nicht, natürlich, und ich weiß, mit Dannen selbst wird das noch schwieriger - aber ich will denen nichts Böses, ich will denen nicht einfach ihr Land wegnehmen, und das möchte ich ihnen sagen können. Wenn ich Euch dabei hätte, wäre das vielleicht einfacher, und… ich finde es gut, daß Ihr Euch so entschieden habt.«
Mendrion mußte ihn wohl ziemlich blöd anblicken und bereute es, das Visier aufgeklappt zu haben. Es fühlte sich an, als ob Varyn auf ihn hinunterblickte, und anders als bei ihrer letzten Begegnung war nicht mehr eindeutig klar, wer hier wem etwas zu sagen hatte - und da half es auch nichts, daß Varyn ihn immer noch mit 'Hauptmann' anredete, das konnte ebensogut eine Frage der Gewöhnung sein denn der Hochachtung.
»Ihr rennt nicht dem ersten besten Kerl hinterher, nur weil das alle anderen auch tun«, erklärte Varyn. »Die Männer, die mich jetzt begleiten, können mich schon morgen im Stich lassen, wenn sie jemand anderes eindrucksvoller finden. Ihr habt Euch Dannen angeschlossen, weil Ihr nicht Eure jahrelange Loyalität oder sogar Freundschaft aufgeben wollt, nur weil Ihr einmal die Engel singen gehört habt.« Es klang sehr schmeichelhaft, natürlich, aber auch irgendwie hoffnungslos, als ob Varyn seinen eigenen Männern nicht über den Weg traute. »Darum hätte ich lieber Euch auf meiner Seite als irgend einen von denen, die gleich auf die Knie gegangen sind.«
Mendrion schaffte es zu lächeln. »Wie ich schon sagte - ich bin auf Dannens Seite.«
»Und wenn ich Euch sage, daß es gar keine zwei Seiten sein dürfen? Daß ich Dannen brauche, vielleicht sogar noch mehr als Euch?«
»Weil du nicht gegen seinen Widerstand König werden kannst?«
Da brach Varyn aus. Mendrion wußte nicht, ob es in dem Moment passierte oder ob Varyn es schon die ganze Zeit niederkämpfte, aber er schrie: »Damit hat es gar nichts zu tun, verdammt! Hört nicht mal Ihr mir noch zu?« Mendrion war sich nicht bewußt, so ein guter Zuhörer zu sein, aber wenn Varyn ihn als solchen sehen wollte… »Ich brauche Euch und Dannen und Leota und alle anderen, Gaven, Rul, die Generäle, die Loringarim, jeden, den ich irgendwie bekommen kann, weil ich es nicht allein mit dem Abgrund aufnehmen kann! Und nein, das ist kein Wahn mehr, den ich mir irgendwie einbilde, Ihr könnt die Männer fragen, die dabei waren - und ich habe keine Zeit, mich mit denjenigen zu streiten, die in Wirklichkeit auf der gleichen Seite stehen wie ich! Ich kann es mir nicht erlauben; alles Gequengel um Thone und Kronen führt doch nur dazu, daß der Abgrund sich freuen kann. Wenn selbst Ihr Euch gegen mich stellt und ich es nicht schaffe, Euch zu überzeugen, daß wir Dannen für unsere Sache gewinnen müssen, dann kann ich gleich wieder nach Hause gehen. Der Abgrund ist ein zäherer Gegner als Ihr.«
Das war er wieder, der Varyn, den Mendrion kannte und fürchtete. Dieses Feuer in seinen Augen, dieses Glänzen in seinem Gesicht wie vom Fieber, und dieses dunkle Glühen um ihn, das vielleicht niemand außer Mendrion sehen konnte und der auch nur wegen der Nacht, in der er Varyns Flügel gesehen hatte - es war egal, daß Varyn gute Kleider trug statt der ausgeblichenen Joppe und ein Schwert an der Seite trug, das alles war egal. Aber diese Glut in Varyns Blick, dieses Gefühl, daß er jedes Wort, das er sprach, auch genau so meinte… Männer wie Varyn waren gefährlich. Es war egal, ob er recht hatte, ob er wirklich bestimmt war, den Abgrund zu bekämpfen, oder ob er nur ein Verrückter war: Varyn war wahrhaftig. Wahrhaftiger, als Dannen es jemals sein würde.
Es wunderte Mendrion nicht mehr, daß die Männer dem Jungen folgten. Wenn Varyn es befahl, würden sie sich für ihn in den Abgrund stürzen. Wenn Dannen das versuchte, war er selbst derjenige, der an Armen und Beinen gepackt dort hineingeschleudert wurde, von einem Volk, das sich nicht für dumm verkaufen und zum Narren halten ließ. Aber gerade deswegen wollte sich Mendrion nicht einlullen lassen, auch wenn ihm klar war, daß er auf verlorenem Posten stand, auf der Seite der Verlierer, daß er einem den Rücken stärkte, der im direkten Vergleich nur verlieren konnte. Es hatte Mendrion immer auf die Seite der Gewinner gezogen, weil er Ziele hatte, die es auf anderem Weg nicht zu erreichen gab.
»Wenn ich mich dir anschließe«, fragte er leise, »machst du mich dann zum General?«
Varyn blickte ihn an, blickte in ihn hinein aus dunkelgrauen Augen, die noch nicht einmal ein Spiegelbild zurückgeben mochten. In seinem Leben hatte Mendrion sich noch nicht so entlarvt gefühlt, und es war nur gut, daß die Frage eine Fangfrage war und sie das nun beide wußten - besser, als wenn Mendrion wirklich seine Entscheidung von einem 'Ja' abhängig hätte machen wollen.
»Generäle habe ich schon«, sagte Varyn. »Was ich brauche, ist ein Mendrion.« Es war vielleicht das erste Mal, daß er den Namen aussprach, statt 'Hauptmann' zu sagen, oder zumindest das erste Mal, daß Mendrion das so wahrnahm. »Ich will Euch nicht ködern, wenn ich das täte, wär ich nicht besser als der Abgrund mit seinen Verführungen und Versprechungen. Was Ihr seid und was Ihr werdet, das müßt Ihr Euch selbst erkämpfen.«
Mendrion wollte den Blick abwenden. Er fühlte sich verkauft, nicht von Varyn, aber von Dannen, der ihm mit Leota vor der Nase herumwedelte wie dem Esel mit einer Karotte an einer Schnur, damit er lief und lief, ohne zu klagen… Dannen meinte es nicht böse, er war einfach der Sohn seines Vaters, im Guten wie im Schlechten. Varyn war nur er selbst, etwas, das es zuvor noch nicht gegeben hatte oder zumindest nicht mehr, seit die Engel auf der Welt wandelten.
Mendrion würde sich niemals einem Kohlejungen unterordnen. Aber vor ihm stand kein Kohlejunge mehr.