Eines begriff Hana allzu
schnell: Daß sie die falschen Tage gezählt hatte. Bis
der König starb - bis der König starb, wollte sie warten,
dann sollte es ein Ende haben mit der Gefangenschaft. Daß es
wirklich so schnell gehen würde bis zu dem Tag hin, das hatte
sie nicht zu hoffen gewagt, aber als es dann geschehen war,
änderte es nichts. Hana war immer noch in fremder Hand, immer
noch nicht Herrin ihrer eigenen Schritte, und daß ihr Mann am
Ende der schlimmste von allen sein sollte, das hätte sie schon
am Tag der Hochzeit ahnen können -
Ihr Mann! Am liebsten hätte Hana ausgespien bei den Worten.
Wer sollte das sein, ihr Mann? Der, dem sie sich verweigerte mit
allem, was sie hatte? Der, der sie geschlagen hatte, nur einmal
zwar, aber wo das herkam, würde noch mehr kommen? Der, mit dem
sie nicht mehr sprach, nicht einmal das Nötigste? Wirklich, so
jemand konnte sich doch kaum ihr Mann nennen! Wäre es nicht so
schrecklich gewesen, Hana hätte versucht, noch darüber zu
lachen, aber so wie es war, blieb ihr selbst das im Halse
stecken.
Und niemand sagte ihr, was geschehen war - vielleicht, weil es
selbst niemanden gab, der das so recht wußte. Der König
war tot, das stand fest, ließ sich in Stein meißeln und
würde sich niemals ändern, egal, von welcher Seite man es
betrachtete. Der König, dessen Leib nun Leota auf seiner
letzten Reise begleitete, so wie sie es eben noch mit Gerrat getan
hatten, eine Totenmagd an seiner Seite… Hana fragte sich, ob
es wohl die gleiche Totenmagd sein würde, ob die Frau
rechtzeitig wieder zurück am Schlachtfeld gewesen war, um sich
nun schon wieder auf den Weg zu machen. Aber daß ausgerechnet
Leota sich um ihren toten Vater kümmerte, das war schlimm,
schlimm für Hana zumindest. Leota war und blieb in dieser Burg
ihre einzige Freundin und Vertraute, doch wann war sie schon jemals
da? Hana wünschte sich, der alte König hätte sich
durchsetzen und Leota aus dem Krieg heraushalten mögen, nicht
weil sie dem als Frau nicht gewachsen war, aber weil Hana sie
brauchte, mehr als jeden anderen Menschen, seit Gerrat tot war.
Der König war tot. Eigentlich sollte man nun nur noch die
Tage zählen, bis Dannen gekrönt wurde, und sollte der
sich nicht freuen auf den Moment, da er den Thron bestieg und Herr
wurde nicht nur über Hana, sondern auch über das ganze
Land? Aber niemand sah in diesen Tagen weniger wie ein
Thronanwärter aus als Dannen, und niemand verhielt sich
weniger so. Denn was Dannen tat, war nicht, alles für eine
große Feier vorzubereiten, sondern Car Diuree in eine Art
Belagerungszustand zu versetzen.
»Wenn er kommt«, sagte Dannen, nicht zu Hana
persönlich, sondern mehr wie eine Ansprache an alle, die sich
in der Burg aufhielten, »dann muß er sich den Weg hier
hinein freikämpfen. Wir geben nicht auf, nicht kampflos. Es
ist unsere Burg, nicht seine. Und wenn er sich auf den Kopf stellt,
wir werden nicht weichen, da kann er machen, was er
will.«
Worte, die rätselhaft klangen für Hana. Erst dachte sie,
er meine seinen toten Vater damit, wolle ihm die Beisetzung in der
Gruft seiner Ahnen, an der Seite seines Sohnes, verweigern - es war
ein offenes Geheimnis, daß Dannen und sein Vater einander
haßten, und diese Form von später Rache hätte
Dannen nicht unähnlich gesehen, vor allem, wo sein Vater tot
war und sich nicht mehr wehren konnte, daß der letzte Sieg
auf jeden Fall an Dannen gehen konnte. Wie sehr mußte man
einen Menschen hassen, um ihn selbst im Tod nicht loslassen zu
können?
Aber es ging nicht um den König. Und es ging auch nicht, wie
Hana dann vermutete, um Dannens Halbbruder Rul, den sie irgendwo im
Krieg zurückgelassen hatten, froh ihn los zu sein, wo niemand
mehr da war, um ein gutes Wort für ihn einzulegen, und auch
Hana mußte zugeben, daß sie nicht traurig war um Ruls
Abwesenheit. Nur weil Dannen und er einander nicht mochten,
hieß das nicht, daß Hana für ihn auch nur einen
freundlichen Gedanken übrig hatte. Rul hatte sich ihr
gegenüber stets schäbig verhalten, und das war es, was
zählte.
Doch was wirklich geschehen war, wußte Hana nicht. Sie
verbrachte zu viel Zeit wie eine Gefangene in ihrem Zimmer, froh um
jeden Moment, in dem sie Dannen nicht begegnen mußte, und so
war sie weit entfernt vom Klatsch und Tratschen der Mägde. Zur
Freifrau mochte sie nicht gehen, die hatte sie doch selbst an
Dannen verkauft und war nicht besser als der ganze Rest der Sippe -
und so konnte sie nur sich wundern und warten und fragen, was wohl
eher kommen sollte, der Tag ihrer Niederkunft oder die Antwort auf
ihre Fragen.
Und so sehr sie auch auf die Antworten hoffte, sah es doch
deutlich mehr aus nach Niederkunft. Jeden Augenblick, ob sie daran
dachte oder nicht, konnte sie die Bewegung ihres Kindes
spüren, Hiebe und Tritte, als ob das Kleine gegen einen
unsichtbaren Feind kämpfte oder versuchte, sich vor der Zeit
ins Freie zu strampeln. Ihr Leib war so sehr angeschwollen,
daß sie die Bewegungen des Kindes unter der Haut sogar sehen
konnte, zumindest wenn sie nackt war - aber daran hatte sie nur
wenig Vergnügen; ob Dannen nun dabei war oder nicht, erinnerte
sie der Anblick ihres eigenen Körpers mit aller Macht daran,
daß er nicht mehr ihr selbst gehören sollte.
An manchen Tagen wünschte sich Hana, das Kind möge
lieber sofort auf die Welt kommen als erst in einer Woche, nicht,
weil sie sich so sehr nach ihm sehnte, nicht weil sie glaubte,
daß es sie aus ihrer Einsamkeit erlösen konnte, und
nicht weil sie glaubte, daß es ihr Gerrat zurückbringen
konnte. Aber um es hinter sich zu haben, um ihrer Gefangenschaft
ein Ende zu setzen, um wieder gehen zu können, wohin sie
wollte - und sei es nur in die andere Ecke des Zimmers, ohne
Schmerzen, wenn sie auch nur von ihrem Fenstersitz aufstand. Ihr
Körper hielt sie gefangener, als jede Tür der Welt das
vermochte.
Aber an anderen Tagen wünschte sie sich, oder besser ihrem
Kind, es möge gar nicht auf die Welt kommen, nicht in die
Welt, wie sie jetzt war. Nicht, um einen Mann wie Dannen zum Vater
zu haben, und nicht eine Frau wie Hana zur Mutter - sie konnte
nicht sagen, was schlimmer sein würde, sie konnte sich nicht
zutrauen, dem Kind das zu sein, was es brauchte. Wenn sie es
mitnehmen konnte, weit fort, in die Wälder oder in die Berge
oder irgendwo hin, wo niemand sie finden würde, wenn es noch
so lange wartete, bis daß es in Freiheit geboren werden
konnte… Aber den Gefallen konnte Hana ihrem Kind nicht tun,
und es nicht ihr.
Dann kam Dannen in ihr Zimmer, und er sah aus, als ob er etwas
sagen wollte, etwas wichtiges. Es war nicht das erste Mal,
daß er das tat - meist blieb er in der Tür stehen oder
einen Schritt von ihr entfernt, blickte sich um mit etwas Wildem im
Blick, das Hana Angst machte und gleichzeitig mitleidig, Dannen sah
aus wie eine gehetzte Kreatur, und er mußte kein Wort sagen,
damit man wußte, daß ihn etwas umtrieb - aber so sah er
auch aus in der Nacht, als er Hana geschlagen hatte, und da war es
ihr lieber, er vertraute sich jemand anderem an, sei es ein Freund
oder ein Weinkrug, und ließe ihr ihren Frieden. Er stand da,
sah nach links und nach rechts, machte einen halben Schritt auf
Hana zu und wieder zurück, und dann schüttelte er den
Kopf und verschwand wieder, und alles, was noch an seinen Besuch
erinnerte, war das dumpfe Schwingen der zugeschlagenen Tür,
das nicht nur in der Luft widerhallte, sondern auch in Hanas
Innerstem. Dannen war alles, was das Kind jemals als Vater kennen
würde, und so konnte man fast meinen, es kenne ihn jetzt
schon.
Wenn er sich wenigstens entschuldigen wollte, wenn er die
richtigen Worte nicht fand, wenn er sich schämte und nicht
wußte, wie er Hana unter die Augen treten sollte… Aber
dann genügte ein Blick in sein Gesicht, und alle Hoffnung, ihm
doch verzeihen zu können und, wenn schon nicht als Freunde,
dann doch zumindest nicht als Feinde nebeneinander zu leben, war
wieder dahin. Bis zu diesem Tag, als Dannen nicht wieder floh und
nicht die Tür hinter sich zuschmetterte, sondern
tatsächlich einmal etwas sagte.
»Hana«, sagte er, und das war zumindest ein Anfang,
wenigstens schrie er nicht. »Hör mir zu. Ich weiß,
die Dinge sind nicht so gelaufen, wie sie sollten, ich habe Fehler
gemacht, die mir leidtun. Aber es sind Dinge geschehen…
Dinge, die ich nicht verstehe und die du auch nicht verstehen
würdest, ich habe es mit eigenen Augen gesehen und kann es
nicht glauben, du kannst alle anderen fragen, denen geht das
genauso…«
Er schüttelte den Kopf und schwankte dabei leicht; Hana
vermutete aber schon vorher, daß er getrunken hatte, in
seiner Familie offenbar immer ein beliebter Fluchtpunkt, wenn ihnen
etwas gegen den Strich ging. Aber er war nicht betrunken, nicht so,
daß er die Kontrolle über sich verloren hätte, und
er schien zu wissen, was er sagte.
»Ich bitte dich um etwas, ich weiß, das ist nicht
einfach für dich, weil du mich nicht ausstehen kannst, das
mußt du nicht mehr sagen, wir wissen das doch alle, jeder
hier im Haus weiß es -« Er lachte bitter und fing sich
dann wieder: »Ich bitte dich, daß du zu mir
hältst, auch wenn - wenn ich kein König werden
sollte.« Dannen atmete tief durch. »Gerade dann, meine
ich.«
Hana blickte ihn nur an. Sollte das eine Entschuldigung sein, dann
war sie mehr als dürftig und an Bedingungen geknüpft, die
Hana keine Lust zu erfüllen hatte. »Wäre das so
schlimm?« fragte sie. Nicht, daß sie sich Dannen als
König wünschte, sie hatte auch nie das Gefühl
gehabt, er wünsche sich das selbst. Wenn er kein König
wurde, machte das die Dinge dann nicht am Ende viel einfacher.
»Und wer wird es dann?« Sie hatte sich ja schon das
eine oder andere Ding zusammengereimt, daß etwas nicht
stimmte, aber ihr fehlte zu viel Hintergrundwissen, um jetzt eine
Antwort geben zu können. Und auch Dannen half ihr nicht
weiter.
»Stell dir vor, du tust etwas, von dem du denkst, es ist
deine Pflicht. Du tust es nicht gerne, aber weil man es von dir
erwartet, und du hoffst, es geht alles gut aus - und dann kommt
einer, reißt dir den Boden unter den Füßen weg,
nimmt dir alles, was dir wichtig ist und woran du jemals geglaubt
hast, und läßt dich da stehen mit einem Scherbenhaufen,
der einmal dein Leben war -«
Und dann hielt Hana es nicht mehr länger aus.
»Ja!« schrie sie. »Ja, verdammt! Das habe ich
alles getan, und es ist genau so gekommen, wie du sagst, und
daß es so gekommen ist, daran hat kein anderer Schuld
als du!« Als sie ihn das letzte Mal angeschrien hatte, schlug
er sie. Aber davor hatte sie jetzt keine Angst mehr. Wenn er es
noch einmal tat, dann schlug sie zurück, und was ihr an Kraft
fehlte, das konnte sie an kaltem Haß wettmachen, aber sie
ließ sich nicht von ihm anwinseln wegen seines verkorksten
Lebens, das niemand auf dem Gewissen hatte außer ihm
selbst.
Doch er schlug sie nicht. Er schrumpfte nicht unter ihren Worten,
verwandelte sich weder in einen geprügelten Hund noch in
Gerrats unsicheren kleinen Bruder, wie sie ihn damals kennengelernt
hatte - statt dessen wurde er ruhiger, gefaßter, als ob sie
tatsächlich zu ihm durchdrang und nicht an diesem Panzer aus
Engelsblut abprallte, an dem sonst alle Vernunft zum Scheitern
verdammt war. Wenn Hana noch mal in ein Engelshaus einheiraten
mußte, dann bitte in das der Weisheit, aber dafür war es
jetzt zu spät -
»Sieht aus, als hätten wir mehr gemeinsam, als uns lieb
ist«, sagte er leise. »Jetzt ist es zu spät, wir
können es nicht mehr ändern - aber verdammt, rede
wenigstens mit mir. Du bist immer noch meine Frau - es ist mir
egal, daß du nicht mit mir schläfst, dafür finde
ich Ersatz, wenn ich es drauf anlege, auch ohne lange zu suchen.
Aber ich möchte eine Frau haben, mit der ich reden kann wie
mit einem Menschen, dem ich vertraue, und im Gegenzug biete ich dir
an, daß du mir auch vertrauen kannst…« Seine
Stimme erstarb, als Hana den Kopf schüttelte.
»Dafür ist es zu spät«, sagte Hana.
»Dafür hast du zu viel kaputt gemacht. Mir ist egal, ob
du König wirst oder nicht, von mir aus kann euer ganzes Haus
zusammenstürzen, und ich denke, es ist gerade dabei - aber
wenn es das tut, dann habt ihr keinen Grund mehr, mir die Freiheit
zu verweigern.« Kurz zögerte sie, ehe sie
hinterhersetzte: »Wenn du bereit bist, mit mir zu gehen,
dahin wo du niemand bist, dann können die Dinge sich noch
einmal ändern.« Sie wußte, das würde er nicht
tun. Und wenn er es tausendmal wollte, er würde es nicht tun.
Sie wußte es, und er wußte es auch.
»Das wird nicht geschehen«, antwortete Dannen dumpf.
»Ich habe eine Pflicht, eine Aufgabe, eine Verantwortung. Ich
werde diese Burg halten mit allem, was ich habe, und ich werde mir
nicht noch einmal etwas wegnehmen lassen, das mir
gehört.« Sie verstanden beide, was er mit diesen Worten
meinte: Nämlich sie. Und darum war dies auch die letzte
Unterhaltung zwischen ihnen, die an irgendeiner Stelle Sympathie
erforderte oder Verständnis oder die Bereitschaft, dem anderen
auch nur einen Schritt entgegen zu gehen. Danach waren die Fronten
klar, in Stein gemeißelt und so unumstößlich wie
die Rache, die Dannens Haus auf ihr Wappen geschrieben hatte.
Hana wußte nicht, warum es ausgerechnet für sie so
hatte kommen müssen. Aber zumindest würde sie nun Dannen
die Frau sein, die er verdiente, und nicht die, die er haben
wollte.
Draußen wie drinnen wurde
es grau. Wenn es wenigstens angefangen hätte zu schneien!
Schnee war hell, funkelte und leuchtete und versprach mit dem Glanz
von tausend Edelsteinen, daß alles gut werden würde.
Aber alles, was Hana von ihrem Fenstersitz aus sehen konnte, war
trist und trostlos. Trotzdem, das Fenster war Hanas Tor zur Welt,
wo die Zimmertür nur das Tor zu ihrem Gefängnis war. Sie
konnte in den Hof blicken, auf das große Tor, doch wo es
früher offen stand und sie auf seiner anderen Seite die
Freiheit sehen konnte, war es nun, seit Dannens Rückkehr, Tag
und Nacht geschlossen. Was blieb, waren die grauen Mauern,
gekrönt von hohen Zinnen, und das Wissen, daß jeder
Vogel dort hinüberfliegen konnte, hinein und hinaus, ohne
daß sie etwas hielt.
Manchmal wünschte sich Hana, sie könnte sich
hinausschleichen in die Falknerei, wo ihr Vogel nur noch einer von
vielen war und von einem Mann versorgt wurde, der sicher sein
Handwerk verstand, viel über die Jagd wußte und ein
Händchen für Falken hatte, aber das war nicht das Gleiche
- und halb fürchtete Hana, ihr Vogel würde sie nicht
einmal mehr wiedererkennen. Aber die Vorstellung, zumindest dem
Falken die Freiheit zu schenken… Sie tat es nicht. Hana
saß auf ihrer Fensterbank, als wäre sie mit ihr
verwachsen, und sie fühlte, wie ihr Körper jede Form
verlor - nicht nur wegen der Schwangerschaft, die einfach kein Ende
nehmen wollte und noch wochenlang so weitergehen konnte, sondern
auch, weil ihre Arme weich und schwach wurden; die Kraft, mit der
sie früher durch Wald und Feld gelaufen war, schneller als ihr
Falke flog, reichte jetzt kaum noch aus, um von einem Ende des
Zimmers zum anderen zu kommen. Alles sollte ein Ende haben, wenn
das Kind da war. Wenn es lebte, war sie nicht mehr einsam. Wenn es
starb, hielt sie nichts mehr in der Burg. Und wenn sie selbst starb
-
Hana fuhr aus dem leichten Nachmittagsschlaf hoch - sie schlief
schon viel zu viel, aber so oft war sie erschöpft, wie eine
alte Frau - und obwohl von draußen kein Laut hereindrang,
wußte sie plötzlich, daß dort draußen gerade
etwas geschehen mußte. So schnell, wie sie gerne wollte, kam
sie nicht vom Bett zum Fenster, aber was sich ihr dann darbot, war
wirklich ein Schauspiel, wie es ihr das Fenster lange nicht gezeigt
hatte. Über dem Tor, an den Zinnen, stand ihr Mann.
Es gab Sachen, die erkannte Hana von weitem, im Dunkeln oder, wie
jetzt, auch durch das Fensterglas, das die Welt verschwimmen
ließ, als blicke man durch einen zugefrorenen See auf die
Fische, und dazugehörte Dannen. Seine Schultern, sein
Rücken, sein Hinterkopf - nichts davon war wirklich so
bemerkenswert, daß es Sinn gemacht hätte, ihn daran von
anderen Männern unterscheiden zu können, dunkle Haare,
ein breites Kreuz, alles gewöhnlicher, als man von einem
Engelsgeborenen erwarten sollte, aber es war Dannen, und Hana
hätte ihn unter Tausenden erkannt. Er stand über dem Tor,
und was er dort machte, sollte sein Geheimnis sein, bis es Hana
gelungen war, den schweren Fensterriegel zu lösen und sich
darüber zu ärgern, daß sie es überhaupt
geschlossen hatte - auch wenn von draußen kalte und feuchte
Luft hereinkommen mochte, sie hatte einen Kamin, der ihr Zimmer von
einem grauen Loch zu einem Frauengemach machte, und dem konnte so
ein bißchen Draußen nichts ausmachen. Nur der Gedanke,
daß eine hochschwangere Frau keiner feuchten Zugluft
ausgesetzt werden durfte, wenn sie einen Jungen empfangen sollte -
als ob das jetzt noch einen Unterschied machte…
Endlich hatte Hana das Fenster offen, immerhin hatte sie es allein
geschafft und sich keine Hilfe dafür holen müssen, sie
wäre ja vor Scham gestorben, wenn sie noch nicht einmal mehr
ein Fenster öffnen konnte! Von draußen hörte sie
Stimmen, die lauteste davon war Dannens, und auch wenn sie kaum ein
Wort richtig verstehen konnte, begriff sie doch, daß Dannen
völlig außer sich war.
»Verräter!« war etwas, das sie verstehen konnte,
es wehte direkt zu ihr hinüber, auch wenn es sicher nicht an
sie gerichtet war, und es fiel mehr als einmal. »Dreckiger
Hund! Bei allen Engeln -« Und den Rest wollte Hana
dann gar nicht mehr richtig verstehen können.
Es waren noch andere Männer im Hof, sie redeten oder riefen
auf Dannen ein, es war ein großes Durcheinander, aber das
zentrale Element war und blieb Dannen.
Hana hatte schon mehr als einmal erlebt, daß er sich
aufregte und aus der Haut fuhr, aber um ihm seltene Gerechtigkeit
angedeihen zu lassen, das kam nicht ganz so häufig vor, wie
sie sich das manchmal einbildete. Er konnte sehr beherrscht sein
und berechnend, laut wurde er immer nur dann, wenn er getrunken
hatte oder nicht mehr wußte, wie er sonst einer Situation
Herr werden sollte, und meistens ging dem einen das andere voraus
und umgekehrt. Auch Gerrat hatte den einen oder anderen Moment
gehabt, wo sich Hana etwas mehr Beherrschung für ihn
gewünscht hätte, aber bei Dannen war das doch
häufiger und heftiger. Gerrat, das war der Unterschied,
hörte dann auf Hana, während Dannen um so mehr aus der
Haut zu fahren schien, je ruhiger ihm Hana ins Gewissen redete.
Vielleicht war das der Unterschied zwischen Liebe und
Haß.
Aber dieser Anblick, Dannen, der nicht mehr zwischen den Zinnen
stand, sondern auf ihnen, eine große dunkle Gestalt wie eine
Attrappe für Zielübungen, man hätte ihn von der
anderen Seite herunterschießen können und von dieser
auch, und es schien ihm völlig egal zu sein. Hände in die
Hüften gestemmt, das Schwert an seiner Seite jederzeit bereit
zum Ziehen - man konnte fast meinen, daß er hinunterspringen
wollte und auf der anderen Seite wüten, aber was oder wer dort
stand, das wußte Hana nicht. Sie konnte sich zusammenreimen,
daß es derjenige war, wegen dem Dannen das Tor geschlossen
hielt, derjenige, der in so vielen Flüchen vorkam und in so
wenig Tatsachen, aber um mehr zu wissen, hätte Hana schon
durch das dicke schwarze Holz blicken können müssen. So
blieb ihr nur der Anblick von Dannen, aufgeplustert wie ein
Auerhahn oder ein Hirsch, der einen Rivalen aus seinem Gebiet
vertreiben wollte - und das, vermutete sie, kam der Sache sicher
ziemlich nahe.
Aber das Ganze schien ihn mehr aus der Fassung gebracht zu haben,
als Hana wirklich nachvollziehen konnte - daß jemand anderes
das Schwert des Königs hatte und die Generäle sich ihm
angeschlossen hatten, das wußte er schon, und darauf,
daß die früher oder später in Car Diuree eintreffen
würden, hatte er sich schon vorbereiten können, und
normalerweise war Dannen, was immer man über ihn sagen konnte,
kein hirnloser Dummkopf - aber hier war nichts mehr zu spüren
von Besonnenheit oder Vorbereitung oder irgendetwas anderem als
fassungsloser Aufregung.
Während sich im Hof immer mehr Leute sammelten, Männer,
Frauen, Kinder, die der Lärm und die Neugier hinaus gelockt
hatten, stieg ein zweiter Mann zu Dannen auf den Wehrgang über
dem Tor, wenn er auch nicht die Dummheit beging, auf die Zinnen
selbst hinaufzuklettern - Hana brauchte einen Moment, um Dannens
Bruder Jaro zu erkennen, trotz des offenen Fensters, aber mit dem
hatte sie so wenig zu tun und verband sie so wenig schlimme
Gefühle, daß er auf die Entfernung jeder andere Mann
hätte sein können. Seine Körpersprache war ruhig, er
versuchte wohl, auf Dannen einzureden, aber als sich Hana weiter
aus dem Fenster vorbeugen wollte, um besser hören, was dort
draußen vorging, klopfte es an ihrer eigenen
Zimmertür.
Erst zuckte Hana zusammen, fühlte sich ertappt und
heimgesucht. Dann atmete sie durch. Wenigstens wußte sie,
daß es diesmal nicht Dannen sein konnte, und jede andere
Begegnung sollte besser verlaufen. Sie ließ das Fenster offen
stehen und erhob sich schwerfällig, um sich zur Tür zu
schleppen - was war das, brauchte sie jetzt auch noch einen
Krückstock? »Einen Augenblick!« rief sie - das war
der Preis dafür, daß sie die Tür jetzt auf ihrer
Seite verschlossen hielt: Als man sie von außen einsperrte
und Wachen vor der Tür postierte, war das noch ein
ungeheuerlicher Eingriff in ihre Freiheit, aber jetzt hatte sie den
Schlüssel zu ihrem eigenen Diener gemacht und die Freiheit
dafür in Zahlung gegeben, am Tag ihrer Hochzeit oder danach,
wie lang war das jetzt her? Keine drei Monate, dessen war sie sich
sicher…
Es klopfte nicht noch einmal. Natürlich, jeder, der mit Hana
Kontakt hatte, wußte, wie langsam die Schwangerschaft sie
gemacht hatte und daß da auch kein Drängeln half. Hana
hoffte, daß der andere zumindest noch da sein würde,
wenn sie die Tür erreicht hatte, es fühlte sich zu
mühsam an, um am Ende vergebens zu sein, und all die Zeit
über sah sie nicht, was draußen vorging. Der
Schlüssel drehte sich so schwerfällig wie immer, die
Schmiede von Doubladir waren gut mit allem Groben, sei es Schwert
oder Pflugschar, aber das Feine, Zierliche lag ihnen weniger. Hana
unterdrückte einen Fluch, sie hatte selbst abgeschlossen, dann
mußte sie auch aufsperren können, und doch war sie
selbst dafür zu schwach, und dann, endlich, hatte sie die
Tür geöffnet.
»Da bist du ja, Mädchen!« Draußen stand die
Freifrau. Nicht, daß Hana nicht im Grund ihres Herzens damit
gerechnet hatte! »Und jetzt komm, zieh dich an, dein Mann
braucht dich.«
Hana machte einen Schritt zurück, doch etwas
überrumpelt. So war nun einmal die Art der Freifrau, und wer
neben ihr bestehen wollte, mußte selbst Raum um sich
schaffen. »Um was geht es hier überhaupt?« fragte
sie - es gab tausend andere Fragen, die ihr auf der Zunge lagen,
aber irgendwo mußte sie anfangen.
»Red nicht lang, laß dich ankleiden, draußen ist
es zu kalt, um dich in dem Kleid vor die Tür zu lassen, nicht
in deinem Zustand.« Da stand die Freifrau auch schon im
Zimmer, stemmte Hanas Truhe mit solcher Seelenruhe auf, als ob es
ihre eigene wäre, und vielleicht war sie das auch - damals,
als die Freifrau noch Königin war und selbst eine der
Kemenaten ihr Reich nannte. Sie zog Kleidungsstücke hervor und
ließ sie wieder fallen, nichts davon ging sie etwas an, aber
das war in diesem Moment Hanas geringstes Problem und das, auf das
die Freifrau am wenigsten eingehen würde.
»Du bist ja fein heraus, Mädchen, hast deinen Mann all
die letzte Zeit mit seinen Sorgen allein gelassen, eine feine
Ehefrau bist du ihm - laß mich ausreden, Mädchen, ich
weiß genau, was du sagen willst, aber solange du in diesen
Mauern wohnst und in diesem Bett schläfst, bist du Dannens
Frau mit allen Rechten und Pflichten, die sich daraus ergeben, und
er kann im Moment nicht noch jemanden brauchen, der ihm das Leben
schwermacht, und da magst du dich noch so sehr anstrengen, an den
eigentlichen Widersacher kommst du nicht ran.« Endlich hatte
sie ein Kleidungsstück gefunden, das ihr zusagte, ein langer
Wollmantel, der weit genug war, um Hana komplett einzuhüllen,
Brust, Bauch und Rücken. Hana biß die Lippen zusammen
bei dem Anblick, das war eine von ihren Sachen, ihren eigenen, die
sie hatte, bevor Gerrat ihre Kleidung dem Königshof
anpaßte. Er roch nach früher, nach Schnee und nach
Freiheit. Genau das Richtige, um damit jetzt vor die Tür zu
treten.
»Wieso sollte er mich ausgerechnet jetzt brauchen?«
fragte Hana, während sie sich von der Freifrau in den Mantel
wickeln ließ und das vertraute Kratzen auf der Haut
fühlte.
»Du lernst nie, Mädchen, kann das sein?«
schnaubte die Freifrau. »Er braucht dich die ganze Zeit. Er
ist außerstande, das zu äußern, wie alle
Männer, er muß den dicken Mann raushängen lassen,
aber glaubst du ehrlich, Gerrat wäre da auch nur einen Deut
anders gewesen? Er hat dich ins Haus geholt, dir den Vorzug gegeben
gegenüber allen Frauen, die sicher eine bessere Partie gewesen
wären, weil er was in dir gesehen hat, irgendwas, das du
offenbar nicht hast - sagst mir noch, wie stark du bist, und was
ist draus geworden? Nichts. Du müßtest gerade stark
sein, Mädchen, einmal für dich und einmal für
Dannen, und bringst es nicht mal für dich selbst auf die Reihe
- dann versuch es jetzt wenigstens für Dannen.«
»Ihr verlangt da viel von mir«, sagte Hana leise.
Wußte die Freifrau, daß Dannen Hana geschlagen hatte?
Oder konnte sie sich das einfach denken, weil der König das
Gleiche mit ihr gemacht hatte?
»Das ganze Leben verlangt viel, und das von jedem«,
knurrte die Freifrau. »Also stell dich jetzt nicht an, mein
Sohn steht da auf der Mauer und macht nicht nur einen Narren aus
sich, das kann er ja von mir aus jeden Tag tun, aber er bringt uns
alle in Gefahr, Todesgefahr, und du bist seine Frau, also bring ihn
gefälligst zur Vernunft.«
Hana fror plötzlich unter dem Mantel, und von ihren
Füßen, die gerade von der Freifrau in Stiefel gezwungen
wurden, die viel zu eng waren für das geschwollene Fleisch,
bis zu ihren Haaren zog sich Gänsehaut über ihren
Körper. »Was für Gefahr?« fragte sie.
»Wo fange ich an?« fragte die Freifrau. »Liebes
Kind, willst du lieber Stiefel von mir haben? Meine Beine sind
immer dick, da habe ich dir viel voraus. Aber sie haben dir
natürlich nichts erzählt, ich weiß nicht, ob sie
sich schämen, vermutlich ist das so. Dannen hat im Krieg nicht
nur erst seinen Bruder und dann seinen Vater verloren, nein, er hat
es auch noch geschafft, Vigilanders Schwert zu verlieren. Jetzt hat
es ein anderer Bursche, den will das Pack offenbar als König
haben, wirklich, kann es ihnen nicht verdenken, wenn ich mir Dannen
so ansehe, aber das können wir nicht auf uns sitzenlassen.
Dannen hatte die großartige Idee, sich trotzdem krönen
zu lassen, aber wenigstens den Verstand, das nicht groß
anzukündigen, bevor er mit dem Richter gesprochen hat, und
selbstverständlich wußte der Richter schon
Bescheid.«
Jetzt war der Fuß doch im Stiefel und so schmerzhaft
eingeschnürt, daß Hana sich nicht vorstellen konnte,
damit auch nur einen Schritt zu tun. Sie war zu lange barfuß
gelaufen, aber sie biß die Zähne zusammen und war froh,
daß die Freifrau weiterredete und dabei nicht hörte, wie
Hana zischte und sich wand. »Dreimal hat Dannen noch
versucht, den Richter umzustimmen, die letzten zwei Male davon
hätte er sich sicher schenken können, und jetzt steht der
Bursche mit dem Schwert vor dem Tor, und Dannen will ihn nicht
reinlassen.«
Hana nickte. Sie konnte schlecht sagen, daß sie das freute -
sie wünschte es Dannen, daß er und seine ganze Familie
einfach davongejagt wurden, aber zu dieser Familie gehörte
inzwischen auch sie. »Und das ist die Gefahr?« fragte
sie. Der rechte Fuß war irgendwie dünner als der linke,
jedenfalls fand er deutlich schneller in seinen Stiefel als der
erste.
»Nein«, sagte die Freifrau. »Die Gefahr ist,
daß dieser Bursche nicht nur das Schwert dabeihat, sondern
auch das halbe Heer, und daß Dannen gerade versucht, die
Zinnen mit Bogenschützen zu bemannen. Er denkt, wir sind gut
für eine Belagerung ausgerüstet, aber wenn die es drauf
anlegen, haben sie die Burg im Handumdrehen gestürmt - die
Hälfte unserer Wachen ist in den Krieg gezogen, und jetzt
stehen sie alle draußen vor der Tür mit ihren Bögen
und Schwertern, und wenn Dannen nicht zu Vernunft kommt, bringt er
uns noch alle um.«
Sie zog Hana auf die Füße und kümmerte sich nicht
darum, daß die kaum stehen konnte in den Stiefeln; sie
ließ Hana sich bei ihr aufstützen und schleppte sie
durch den Flur. Die Nähe war ungewohnt, normalerweise war die
Freifrau mit einem unsichtbaren Panzer umgeben, der Hana von ihr
fernhielt, mindestens auf Armlänge - und nun war sie dieser
kleinen dicken Frau so nah wie zuletzt nur Gerrat, und Dannen in
besonders scheußlichen Momenten. Es mußte wirklich viel
passiert sein, daß die Freifrau das zuließ und Hana
auch, und vielleicht war die Gefahr wirklich so groß,
daß all das es wert war.
Es ging aber alles zu schnell, als daß Hana wirklich alles
hätte erfassen können. Dafür waren das zu viele
Informationen auf einmal, die sie lieber innerhalb der letzten Tage
erfahren hätte - es erzählte eine lange Geschichte von
dem fehlenden Vertrauen zwischen Dannen und Hana, daß er mit
seiner Mutter redete und mit dem Richter, aber um seine eigene Frau
einen Bogen machte: Es machte Sinn und geschah ihr recht, und sie
fühlte sich auch nicht schlecht oder zurückgewiesen
deswegen, aber so war das alles so unwirklich im Vergleich zu ihren
geschwollenen Füßen. Hana hastete mit der Freifrau durch
die Burg, bis sie der Atem verließ und sie aus dem Arm der
anderen Frau rutschte und fast zu Boden fiel, hätte sie sich
nicht noch an der Wand abstützen können.
»Hoppala, Mädchen!« sagte die Freifrau. Hana war
inzwischen daran gewöhnt, daß sie füreinander keine
Namen hatten, auch wenn sie nicht für alle Zeit als
Mädchen durch die Welt laufen wollte, es war nichts mehr, wo
sie Protest einlegte. »Nicht fallen. Durchatmen.«
Hana schüttelte den Kopf. Ihr Herz raste und hämmerte,
als hätte sie an seiner Stelle ein zweites Kind in sich, das
gerade um sein Leben strampelte. »Ich…«, brachte
sie heraus, und dann, völlig ohne Zusammenhang: »Wie
kommt Ihr auf die Idee, daß er ausgerechnet auf mich
hören sollte?« War es nicht besser, die Freifrau redete
selbst mit ihrem Sohn? Sie war resolut, duldete keinen Widerspruch,
und im Zweifelsfall konnte sie ihn schlicht abführen wie ein
unartiges Kind. Wenn Jaro schon keinen Erfolg hatte und die
Freifrau sich nicht vorstellen konnte, es selbst zu versuchen,
warum dann ausgerechnet Hana? Oder die Männer im Hof, warum
machten sie nicht einfach das Tor auf und ließen die
Männer von draußen rein, um Blutvergießen zu
verhindern? Niemand zwang sie, auf Dannen zu hören, vor allem,
wenn er überhaupt kein Anrecht mehr auf den Thron haben
sollte…
»Unsinn«, sagte die Freifrau. »Das ist die
Aufgabe seiner Frau. Und weißt du auch, warum? Weil er dich
liebt.« Und danach schleifte sie Hana die Treppen hinunter
und in den Hof, und jede Form von Widerspruch war
zwecklos.
Wie sie auf die Mauer
hinaufkam, konnte Hana nicht sagen. An der Seite führte eine
Treppe nach oben, so schmal, daß Hana sich mindestens doppelt
so breit fühlte. Aber irgendwie kam sie hinauf, und hatten
sich nicht schon genug Leute nach ihr umgedreht, als die Freifrau
sie mit einem energischen »Platz da, Leute, Platz da!«
quer über den Hof geführt hatte, waren jetzt so viele
Augen auf Hana gerichtet wie seit ihrer Hochzeit nicht mehr. Wie
viel Zeit vergangen war, seit sie zuletzt aus dem Fenster geschaut
hatte, wußte sie nicht, aber es fühlte sich wie eine
Ewigkeit an - das Ankleiden, der weite Weg, aber vor allem die
Unmenge an Wörtern, welche die Freifrau in der Zwischenzeit
geredet hatte… Aber wenigstens schien die Situation noch die
gleiche zu sein, Dannen stand immer noch oben auf der Mauer, und
derjenige, den er nicht hineinlassen wollte, stand immer noch
draußen. Kein Blutvergießen, keine Toten. Aber
daß es jetzt an Hana liegen sollte, daß das auch so
blieb…
Hana stützte sich an einer Zinne ab, ignorierte ihr immer
noch hämmerndes Herz und ihre zitternden, schmerzenden Beine.
Sie schluckte. Schaute nicht nach unten in den Hof, nicht auf den
Vorplatz - auf der einen Seite die Erwartung, auf der anderen Seite
die Gefahr. Und vor allem schaute sie nicht zu Dannen, von dem man
zumindest sagen konnte, daß er nicht mehr oben auf der Zinne
stand, sondern wieder auf dem Wehrgang, wo er hingehörte. Nur
geradeaus schaute sie, in den Himmel. Tief durchatmen. Wenn sie es
nicht schaffte, gab es immer noch andere Lösungen. Sie konnten
immer noch einfach das Tor aufmachen und sehen, was dann passierte.
Dann sagte sie: »Dannen.« Ihre Stimme war zu leise,
aber Dannen war nicht blind, er hatte sie lange kommen sehen, jetzt
schien er abzuwarten, was sie ihm sagen sollte. Er mußte am
Ende genauso erschöpft sein wie sie.
»Hana«, sagte er, und jetzt mußte sie doch zu
ihm hinsehen. Seine Stimme war heiser; wer wußte, wie lange
und wie laut er schon herumgebrüllt hatte? »Was willst
du hier?« Seine Augen sagten mehr als seine Zunge; er
wußte ebenso gut wie Hana, daß sie hier nicht hinter
verschlossenen Türen ihres Zimmers Gemeinheiten austauschen
konnte, wo niemand es hörte, sondern daß die Augen und
Ohren von Freund und Feind, vor allem Feind, auf sie gerichtet
waren. Dannens Blick war verletzt und anklagend zugleich,
erwartete, daß Hana gekommen war, um einen schlechten Tag
erst so richtig schlecht zu machen - und es war eine ungleiche
Situation, in der sie waren, denn Dannen hatte schon zu viel Kraft
verbraucht, um einem Angriff von Seiten Hanas noch viel
entgegensetzen zu können.
Hana schluckte, dann sagte sie: »Ich bin hier, um dir zu
helfen.«
Dannen sagte nichts, aber sein Körper fing langsam an zu
zittern und zu zucken, und als sich dann auch noch seine Lippen zu
einem Grinsen kräuselten, begriff Hana, daß er ein
Lachen unterdrückte. Hana wartete, bis er sich wieder gefangen
hatte. »Und du glaubst, wenn du ihnen sagst, sie
sollen sich zum Abgrund scheren, hören sie auf dich? Weil es
überzeugender kommt aus dem Mund einer schönen
Frau?« Er schüttelte den Kopf, und daß seine
Belustigung nur eine andere Maske für Haß war,
wußten sie beide.
»Also gut«, sagte Hana dann. »Ich will dir
überhaupt nicht helfen. Mir ist egal, was deine Mutter sagt.
Aber weißt du, wem ich helfen will? Mir selbst. Du legst es
hier darauf an, daß bewaffnete Truppen diese Burg
stürmen und uns alle umbringen, und ich will leben. Ich will,
daß mein Kind lebt.« Sie zitterte. Plötzlich
fühlten sich ihre Wörter an, als würden sie
stimmen.
»Niemand stürmt diese Burg«, antwortete Dannen
schroff. »Und darum bin ich hier, genau darum, verstehst du
das? Um das hier zu verhindern.«
»Indem du den Befehl gibst, auf die Männer da
draußen zu schießen?« fragte Hana zurück.
»Was sind das für Leute, sind das Feinde? Oder sind das
Doubladai?«
»Das verstehst du nicht!« fuhr Dannen sie an.
»Diese Männer haben mich verraten, und wenn sie das tun,
verraten sie ihr ganzes Volk -«
»Sagt der Mann, der bereit ist, auf seine eigenen
Männer zu schießen?« Hana war froh, daß
Dannen nur das Schwert dabei hatte und selbst keine Schusswaffen;
einen Befehl geben war eine Sache, aber selbst schießen eine
andere - Hana war sich nicht sicher, ob Dannen dazu wirklich in der
Lage gewesen wäre oder ob er doch nur herumbrüllte.
»Und du glaubst, daß irgend jemand dich dann noch zum
König haben will?«
»Einen König will man nicht!« Dannen lief der
Schweiß über das Gesicht, seine Wangen brannten rot vor
Aufregung, aber das, was ihn in diesem Moment wirklich fremd
machte, waren seine Augen. Dannens Augen waren sonst irgendwo
zwischen grau und braun, aber jetzt waren sie grün, ein
flammendes Grün, das sie noch nie an ihm gesehen hatte.
»Einen König hat man! Dies ist Doubladir! Hier herrschen
Vigilanders Erben!«
»Und das hast du den Männern dort unten laut genug
gesagt, möchte ich meinen.« Hana wagte es immer noch
nicht, zu ihnen hinunterzublicken, sie wollte nicht wissen, wie
viele es in Wirklichkeit waren und ob nicht dort längst die
Bogenschützen auf sie anlegten. Solange sie hinter ihrer Zinne
stand, war sie in Sicherheit. Sie konzentrierte sich jetzt nur noch
auf Dannen. »Hast du sie jemals gefragt, was sie
wollen?«
»Sie haben nichts zu wollen!«
»Vielleicht wollen sie verhandeln?«
»Ich verhandle nicht mit Verrätern!« Es
interessierte Hana eigentlich nicht, ob Dannen glücklich war
oder nicht, aber sie hatte ihn noch nie so unglücklich
gesehen. Er hatte sich in einen Käfig hineingebrüllt, aus
dem er jetzt nicht mehr selbst hinauskam. »Du verstehst das
nicht - das ist nicht irgendwer. Das sind Männer, denen habe
ich vertraut. Mein sogenannter Bruder, von dem habe ich ja nichts
anderes erwartet, aber hier sind Männer, die ich Freund
genannt habe, und sie stehen vor meiner Burg und verlangen,
daß ich sie einlasse, aber da haben sie sich geschnitten, und
wenn ich meine Burg mit meinem Blut verteidigen
muß.«
»Aber es ist nicht nur deine Burg!« schrie Hana ihn
an. »Es ist auch meine! Und die von deiner Mutter und deinen
Geschwistern und allen anderen, die hier leben, und ich lasse nicht
zu, daß hier irgendjemand stirbt!« Und mit diesen
Worten trat sie hinter der Zinne hervor und blickte direkt hinunter
auf die Männer, die vor dem Tor versammelt waren.
Schwindel überkam sie. Ihr eigenes Fenster war viel
höher als diese Mauer, und sie hatte die Höhe nie
gefürchtet - aber das hier war anders. Auch wenn eine
Brüstung da war und Hana nicht hinunterstürzen
würde, selbst wenn ihre Beine nachgeben sollten - sie hatte
plötzlich Angst. Dort unten stand nicht das große Heer,
das sie nach den Worten der Freifrau erwartet hatte, und nicht
Dannens mordlüsternde Verräter. Es war eine Gruppe von
Männern, sie hatten Pferde dabei, die genau so müde
aussahen wie sie selbst. Sie hatten keine Bögen auf sie
angelegt, aber die hielten ihre Waffen in den Händen, und nach
ihren Mienen zu sprechen, hatten sie es satt zu warten, und erst
recht hatten sie Dannen satt.
Hana versuchte, auf die Schnelle irgendwelche bekannten Gesichter
darunter zu erkennen, Dannens falsche Freunde, aber auch wenn der
eine oder andere auf ihrer Hochzeit gewesen sein konnte - dort
wimmelte es nur so von Männern, die Hana fremd waren - konnte
sie doch nur die wenigsten von ihnen zuordnen. Rul war darunter,
das hatte sie schon geahnt, und er schien wenig beeindruckt zu sein
von dem, was er sah, kopfschüttelnd an eine Mauer gelehnt -
Hana hielt sich nicht lange bei ihm auf, er war nicht das Problem,
und sie mochte ihn zu wenig, um ihn lange ansehen zu
mögen.
Aber der Rest? Schwarze Rüstungen, die Farben Doubladirs,
aber derjenige, der Hana wirklich ins Auge stach, ihren Blick fing
und nicht wieder hergeben mochte, war ein Junge, der keine
Rüstung trug und, auch wenn er ein Schwert in der Hand hatte,
irgendwie verloren aussah. Er hatte schöne Augen, und Hana
blickte ihn direkt an, nur ihn und sonst keinen, als sie laut
sagte: »Hier sind Menschen in der Burg!« Und dann kam
der Rest irgendwie von selbst, und mit jedem Wort verschwanden
Angst und Schwindel. »Ich bin schwanger, hochschwanger sogar,
das seht ihr. Es sind andere Frauen in der Burg, auch wenn die
nicht schwanger sind, wollen sie doch trotzdem kein
Blutvergießen hier. Wir wollen keine Belagerung, wir wollen
keinen Krieg, wie wollen mit euch reden. Ich weiß, Dannen
hier will nicht verhandeln, aber ich will es.«
Das war der Moment, als Dannen sie rüde zurückriß.
»Wirst du wohl still sein!« fuhr er sie an. »Du
hast hier nichts zu sagen, du hast keine Ahnung -« Und dann
schlug sie ihn. Nicht aus Rache, auch wenn dies zehnmal Doubladir
war. Nicht um ihm wegzutun. Nur, damit er still war, damit er
einmal sie reden ließ. Er zuckte zurück, grimassierte
überrascht oder erschrocken, aber er ließ sie nicht los.
Hana war das egal.
»Ich will verhandeln!« rief sie noch einmal.
»Und wenn mein Mann sich weigert, das Tor zu öffnen und
euch hineinzulassen, dann komme ich eben hinaus.« Es war ihr
egal, ob sie in irgendeiner Position zu verhandeln war. Keine
Engelsgeborene, kein Mann, niemand, der etwas zu sagen hatte, aber
sie wußte, was sie wollte, vielleicht zum ersten Mal seit
Monaten. »Laß mich los, Dannen!« sagte sie
scharf. »Oder wenn ich hier hinunterspringen, nehme ich dich
mit.« Sie wollte nicht springen und gleichzeitig wollte sie
es doch. Draußen vor dem Tor waren die Männer mit ihren
Waffen. Aber dort war auch die Freiheit.
Dannen sah aus, als ob er sie am liebsten noch einmal schlagen
würde. Doch er sagte: »Also gut. Ich komme hinunter. Wir
verhandeln.« Wie viele Niederlagen er im Leben auch erlebt
hatte, dies mußte seine bitterste sein. Von seiner eigenen
Frau mundtot gemacht vor den Augen aller Freunde und aller Feinde -
jetzt hatte er wirklich nichts mehr zu verlieren. Und genau das
konnte die Burg mit allen Menschen darin jetzt retten.
»Hana«, sagte er. »Du kommst mit.«
Er hatte ihr schon ein paarmal gesagt, daß er sie liebte,
früher, bevor sie zu Feinden wurden. Aber dies war das erste
Mal, daß es sich auch so anfühlte, ausgerechnet. Hana
senkte den Blick. Es half ihr nichts, Dannen zu verstehen, besser
als ihr manchmal lieb war. Sie wollte seine Liebe nicht, noch nicht
einmal in diesem Moment. Sie wollte nur ihren Frieden.
Als sie schließlich mit
Dannen durch die Schlupfpforte trat, nur mit Dannen, ohne die
Freifrau oder Jaro oder sonst irgendjemanden, der zum Hof
gehörte, fiel ihr kurz ein, daß dies ihr erster
offizieller Auftritt als Mann und Frau war, seit sie geheiratet
hatten. Und was für ein Auftritt! Sie hätten vorher die
Zeit nehmen sollen, miteinander zu reden, und wenn schon nicht
reden, dann zumindest Dannen die Gelegenheit geben, sich in
irgendwelche königlichen Gewänder zu Dannen nahm sich
noch nicht einmal die Zeit, wieder zu Atem zu kommen und eine Tasse
heißen Tee gegen die Heiserkeit und Aufregung zu trinken, als
hätte er Angst, seine Meinung wieder zu ändern und doch
nicht mit den Männern zu reden.
»Du weißt nicht, auf was wir uns hier
einlassen«, sagte er leise. »Mir ist jemand, den ich
für einen meiner letzten Freunde gehalten habe, komplett in
den Rücken gefallen, und jetzt erwartest du, daß ich mit
ihm rede?« Sein Lachen klang rauer als sonst und verriet
Hana, daß er nicht mehr viel Stimme übrig hatte, um
überhaupt die Verhandlungen hinter sich zu bringen, aber mit
ein bißchen Glück würde er ihr vielleicht doch das
eine oder andere Wort überlassen. Wenn er sich schon
wünschte, daß sie dabei war…
Dann lag die Burg hinter ihnen, und die Männer, die Dannen
den halben Tag lang sinnlos angeschrien hatten, standen vor ihnen.
Und plötzlich hatte jeder von ihnen die gleichen Rechte, am
Ende der Verhandlung den Burghof zu betreten und sich Herr des
Hauses zu nennen.
»Also gut«, sagte er. »Hier bin ich, bedankt
euch bei meiner Frau dafür, aber wenn ihr glaubt, das
heißt, ich gebe kampflos auf, dann irrt ihr.«
Er sagte das einfach in die Luft hinein, ohne irgend jemanden
anzublicken, aber angesprochen fühlten sich nur zwei unter den
Männern, die immerhin den halben Tag auf diesen Moment
gewartet haben mußten: Der Junge mit den hellen Haaren und
großen Augen, der Hana schon vorher aufgefallen war, und ein
gerüsteter Mann mit blondem Bart, der Hana auch vage genug
bekannt vorkam, um ein Gast auf der Hochzeit gewesen sein
können. Und es war der Mann, der als erstes das Wort
erwiderte.
»Dannen, hör mir zu, ich kann das -«
»Mit dir rede ich nicht!« brüllte Dannen, und
daß er in dem Moment nicht sein Schwert durch die Brust des
anderen rammte, war auch alles. »Mit dir rede ich nicht!
Verschwinde aus meinen Augen, wenn du nicht willst, daß ich
mich vergesse! Ein dreckiger Verräter hat auch nur im Schatten
meiner Burg nichts verloren, und wenn du nicht sofort machst,
daß du wegkommst, dann werde ich…« Er zog das
Schwert aus seiner Scheide, eine Handbreit nur, aber die Drohung
war klar. »Und jetzt verschwinde, hörst du!«
Hana wäre ihm fast in den Arm gefallen, hätte versucht,
das Schwert aufzuhalten, es war eine Dummheit, auch nur zu drohen,
wenn dort ein Dutzend Männer mit Schwertern versammelt war,
aber es war der Junge, der dazwischenging. Nicht mit Gewalt, nicht
mit dem Schwert an seiner Seite, das viel zu alt wirkte für so
ein junges Geschöpf, nur mit Worten.
»Dannen«, sagte er leise, und seine Stimme drang durch
alles und direkt in Hanas Innerstes, ohne daß er sie auch nur
heben mußte. »Danke, daß Ihr heruntergekommen
seid. Ich weiß, was das hier für Euch bedeutet und was
Ihr jetzt denkt, aber wir sind keine Feinde. Ich will, daß
Ihr das wißt.«
»Wir nicht«, schnaubte Dannen, »aber er hier,
Hauptmann Schweinebacke, das ist eine ganz andere Sache
-«
»Ist es nicht«, unterbrach ihn der Junge, und Hana
wünschte sich plötzlich, er würde überhaupt
nicht mehr zu reden aufhören. So etwas war ihr noch nie
passiert. Das war ein Junge, kein Mann, er mochte von der zwanzig
so weit entfernt sein wie Hana selbst, nur von der anderen Seite,
und doch konnte sie nicht aufhören, ihn anzuschauen…
»Ich habe ihn gebeten, mitzukommen«, sagte er.
»Weil er Euch kennt, und weil er mir helfen soll, mit Euch zu
reden. Eben damit Ihr wißt, daß ich kein Feind
bin.«
Dannen hustete heiser. »Also gut, Varyn«, sagte er,
und Hana trank den Namen des Jungen, als ob sonst kein Mensch auf
der Welt einen Namen hatte, »du kannst mir ganz leicht
beweisen, daß du kein Feind bist. Gib mir das Schwert meiner
Väter zurück.« Er machte einen Schritt von dem
Jungen weg, während er sprach, und hielt die Hände dabei
in die Hüften gestemmt, als rechne er niemals mit einer
positiven Antwort, oder als müsse er die Hände mit Gewalt
von seinem eigenen Schwertgriff fernhalten.
Der Junge - Varyn - blickte ihn an, ohne zu blinzeln, daß
man, oder zumindest Hana, sich in seinen Augen ganz und gar
verlaufen konnte. Sie waren tiefer als der Abgrund und wahrhaftiger
als alle Augen, die sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte, von
den Augen ihres Falken abgesehen, und es war die gleiche Sehnsucht
darin, die gleiche Wildheit, und die gleiche Hoffnung, und dann
lächelte er, daß die Welt um Hana herum stehenblieb.
»Es ist nicht nur das Schwert Eurer Väter,
Dannen«, sagte er. »Es ist auch das meiner.«
»Gib es mir«, sagte Dannen, »und ich
entschuldige mich, daß ich mich heute zum Narren gemacht
habe.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich habe tagelang von
nichts anderem geredet, als daß ich Euch das Schwert
zurückgeben will, sobald Ihr vor mir steht. Ich habe es
verteidigt gegen alle, die es mir wegzunehmen versucht haben, weil
ich es in keine andere Hand geben wollte als Eure.«
»Dann ist ja alles gut«, sagte Dannen. »Ich bin
jetzt hier. Also, worauf wartest du noch?«
»Die Dinge haben sich geändert«, sagte Varyn noch
leiser als zuvor. »Dinge, die ich nicht in der Hand habe und
Ihr auch nicht. Es ist nicht mehr meine Entscheidung. Ich kann Euch
das Schwert nicht geben.«
»Und das ist dein letztes Wort?«
Hana rechnete fest damit, daß der Junge noch einmal nicken
würde und beharren, doch er sagte: »Nein, das ist es
nicht.«
Womit auch Dannen niemals gerechnet zu haben schien, denn ihm
entfuhr ein »Was?« Er rettete sich in ein hohles
Lachen, doch Hana hatte ihn schon zu viel durchschaut und Varyn
sicher auch. »Willst du mich verarschen? Gibst du mir das
Schwert jetzt, oder gibst du es mir nicht?«
»Es hat ein Engelsurteil gegeben, und Ihr wart nicht dabei,
um es zu sehen«, sagte Varyn ernst. »Und eine
Prophezeiung, und Ihr wart nicht da, um sie zu hören. Das
gefällt mir nicht, denn ich möchte Euch das Schwert nicht
wegnehmen, ohne daß Ihr selbst eine Möglichkeit hattet,
einzugreifen. Darum möchte ich Euch etwas
vorschlagen.«
»Und ich schlage dir vor, daß du mir das Schwert
gibst.«
Hana war froh, daß Dannen und Varyn sich die Wörter hin
und her spielten und sie selbst nichts sagen mußte, sie
hätte kein Wort herausgebracht, nur hilfloses Kichern, das sie
verraten hätte und in dieser Situation alles zerstört
hätte. Ihr Gesicht war heiß, sie fühlte ihre Wangen
brennen, und alles, was sie rettete, war ihre Schwangerschaft -
dann konnte sich der Körper einer Frau jede Art von
Absonderlichkeit erlauben, ohne daß irgendjemand ihr
unterstellte, sie hätte sich da gerade in diesen Jungen
verliebt.
Varyn schüttelt den Kopf. »Ein Duell. Oder etwas in der
Art. Was würdet Ihr davon halten?«
Einen Moment herrschte Stille auf dem Burgvorplatz, als müsse
jeder der Anwesenden diese Worte erst einmal verdauen. Dann schob
sich von hinten ein junger Bursche an Varyn heran, kaum mehr als
ein Kind, den Hana zwar vorher gesehen, aber für einen Knecht
oder Pferdejungen gehalten hatte, doch er zog Varyn zur Seite wie
einer, der etwas zu sagen hat. »Spinnst du?« zischte
er, laut genug, daß auch Hana das hören konnte.
»Der kann kämpfen, der macht dich fertig, das kannst du
nicht machen!«
Doch Varyn schüttelte den Kopf, schob den Jungen beiseite und
sagte leise: »Laß mich. Ich weiß, was ich tue.
Halt dich hinten.« Laut setzte er hinter, an seine anderen
Männer gerichtet: »Haltet Euch alle hinten. Das ist eine
Sache nur zwischen Fürst Dannen und mir, und ich dulde keine
Einmischung.« Dann nickte er Dannen zu. »Was sagt
Ihr?«
»Ein Duell?« fragte Dannen. »Du gegen mich, mit
dem Schwert, das willst du wirklich wagen? Und wer soll dann
Vigilanders Schwert führen, du etwa? Niemals, Junge. Nicht mit
mir.«
»Ihr versteht mich falsch«, sagte Varyn. »Ich
will keinen Schwertkampf. Man kann nicht mit dem Schwert um ein
Schwert kämpfen, das geht einfach nicht. Nein, ich dachte an
etwas Einfacheres. Ein Engelsurteil, hier im Hof, vor allen Leuten,
wärt Ihr damit einverstanden?«
Dannen hustete. »Eben noch ein Duell, jetzt gleich ein
Engelsurteil, wo willst du das hernehmen? Wenn du Engelsurteile
scheißen kannst, gehört dir das Schwert, so oder
so.«
Irgendeiner von den Männern hinter Varyn lachte, Hana konnte
nicht erkennen, wer es war, aber es klang nach Rul. Doch der Rest
ließ sich davon nicht anstecken. Entweder hatte Varyn diesen
Trupp, von denen bis auf den anderen Jungen jeder deutlich
älter als er sein mußte, gut unter Kontrolle, oder
keiner von ihnen wollte sich wirklich gegen Dannen stellen, nur
für den Fall, daß der am Ende doch recht behalten sollte
und das Schwert zurückgewinnen. Was Hana nicht hoffte.
»Wir lassen das Schwert entscheiden«, sagte Varyn.
»Vigilanders heiliges Schwert. Wer soll das entscheiden, wenn
nicht das Ding, um das sich hier alles dreht, die Frage wer das
Land regiert, wer das Heer führt, wer recht hat.«
»Und wie soll das gehen?« fragte Dannen grob.
»Willst du es fragen? Redet es mit dir? Du hast mir voraus,
daß ich es noch niemals geführt habe, es ist an dich
gegangen, als es an mich hätte gehen müssen, aber mit
meinem Vater hat es niemals geredet, das wüßte ich. Wenn
du das ans Reden bringst -«
»Dannen!« fiel ihm Varyn scharf ins Wort.
»Laßt mich einmal ausreden, verdammt! Ich
müßte das hier nicht machen, ich könnte einfach nur
das Schwert nehmen und sagen, es ist jetzt meins und die Burg und
das Land auch - also, bleibt vernünftig, das habt Ihr mir
selbst auch so oft gesagt.« Er machte eine kurze Pause und
sah plötzlich müde aus, wenn auch nur für einen
Augenblick. »Was ich meine, ist, dieses Schwert hat eine
besondere Bewandtnis, die jeder in diesem Land kennt. Nehmen wir
an, ich gebe es Euch in die Hand, und ich habe es zuvor zu Unrecht
geführt und Euch, dem rechtmäßigen Erben,
vorenthalten. Ich habe den Namen Eurer Familie beschmutzt, indem
ich die Menschen habe denken lassen, Ihr hättet Vigilander
erzürnt und würdet Thron und Schwert nicht mehr
verdienen, kurz, ich hätte Euch in jeder Hinsicht übel
mitgespielt - dann hättet Ihr keine andere Wahl, als Euch an
mir zu rächen, um den Ruf Eurer Familie wiederherzustellen.
Und das Schwert…«
»Nein«, sagte Dannen.
Hana mußte sich zwingen, ihn anzusehen und nicht Varyn, sie
konnte ihre Augen kaum von dem Jungen nehmen, aber in dem Moment
war Dannen wichtiger - wußte er, was er da gerade tat? Wenn
er das wirklich ablehnte, die vielleicht einzige Möglichkeit,
wieder als rechtmäßiger Erbe des Schwertes anerkannt zu
werden, vor all den Leuten… Hana wußte nicht, was
geschehen war, als der König starb und wie das Schwert bei
diesem Jungen gelandet war, aber Dannen konnte ebenso gleich
eingestehen, daß das Schwert ihn nicht haben wollte.
Zumindest versuchen konnte er es doch - Hana stand nicht auf der
Seite ihres Mannes, sicher nicht, aber daß er sich jetzt so
schlecht, mutlos und unfähig darstellen mußte, das
gefiel ihr erst recht nicht.
»Nein«, sagte Dannen noch einmal. »Dein Angebot
in allen Ehren, Varyn, aber da kenne ich das Schwert besser als du,
und es gibt eine Sache, die mag es, oder Vigilander, ganz und gar
nicht, und das ist es, benutzt zu werden.«
Es klang wie eine müde Ausrede, und Varyn hätte
vielleicht ganz gut daran getan, gar nicht darauf einzugehen, aber
er fragte: »Wie meint Ihr das - benutzen? Im Sinne von damit
kämpfen?«
Dannen schüttelte den Kopf, und es war erstaunlich: Jetzt
schien er mit jedem Wort selbstsicherer zu werden; war er eben noch
sichtbar auf dem falschen Fuß erwischt, bog er jetzt alles
für seine Seite passend zurecht. Vielleicht hatte Hana ihn
doch falsch eingeschätzt. »Das Schwert entscheidet, wann
eine Heilige Rache zu vollbringen ist. Mehr noch: Es entscheidet,
wann es das entscheiden will. Wenn du Vigilander gegen dich
aufbringen willst, mach genau so weiter. Es ist verlockend,
natürlich, das Schwert in eine Situation zu bringen, wo du
denkst, jetzt hat es keine Wahl, als sich schwarz zu färben.
Aber nur weil du es gerade so willst, weil du gegen dieses Land
oder jenes gerade gerne Krieg führen möchtest, kannst du
nicht dem Schwert deinen Willen aufzwingen. Vigilander führt
das Schwert, und Vigilander läßt sich nicht erpressen.
Wenn du das nicht begreifst, dann gehört das heilige Schwert
ganz sicher nicht in deine Hände. Was machst du als
Nächstes, wenn dir die Klinge nicht gehört und sich nicht
schwarz färbt? Hilfst du mit Ruß nach?«
Dannen lachte laut, aber interessanter war es, wie Varyn diese
Worte aufnahm: Seine Augen begannen dabei zu strahlen, als
hätte er nicht üble Kritik einstecken müssen,
sondern eine wichtige Lektion gelernt. Nur Hana hoffte, daß
die beiden sich doch schneller einig werden mochten - jetzt war
wieder alles ausgeglichen, das war nicht gut, denn noch viel
länger stehen konnte Hana nicht, und wenn Dannen nicht
zumindest Varyn mit hineinnahm und sie sich in einem Raum
besprechen konnten, wo es Stühle gab, würde Hana es nicht
mehr lange durchhalten. Aber sie sagte es nicht, sie wollte sich
keine Blöße geben und keine Schwäche zeigen - nicht
vor Dannen, und vor allem nicht vor Varyn. Sie wollte sich nicht
darauf reduzieren, eine hochschwangere Frau zu sein, die man nicht
weiter belasten konnte, sie wollte das durchstehen, solange sie
konnte, damit hinterher zumindest sie selbst auf sie stolz sein
konnte.
»Es war ein Vorschlag«, sagte Varyn, »für
Euch, um Euch das Engelsurteil nachzureichen, das Ihr verpaßt
habt. Ich wollte ganz sicher nicht Vigilander gegen mich
aufbringen, aber den kennt Ihr einfach besser als ich - ich brauche
Euch, nicht nur deswegen, und die Frage, wer von uns das Schwert
hat, sollte nicht entscheiden, wer auf welcher Seite steht. Ich war
ja auch für Euch, als Ihr noch der Erbe wart -«
»Und das Duell, das du mir angeboten hast?« unterbrach
ihn Dannen, bevor es unbequem werden konnte. »Oder willst du
so schnell einen Rückzieher machen, weil dein kleiner Bruder
recht hat und ich dich zusammenfalte, bevor du auch nur den Arm
nach oben bekommst?«
»Ein Duell muß kein Kampf sein«, sagte Varyn -
aber er wußte schon, in welchem Land er sich befand, oder?
»Es kommt mir eben falsch vor, es mit einem Schwertkampf
regeln zu wollen, weil ich auch nicht will, daß einer von uns
verletzt wird oder stirbt, und Schwerter - Schwerter sind immer
noch zum Töten da. Aber ich will auch keinen Wettlauf oder
Ringkampf oder irgendwas in der Art gegen Euch, wo es auf
Stärke ankommt, denn das wäre von Anfang an ungerecht und
hätte nichts mehr mit Doubladir zu tun oder dem
Schwert.«
»Wenn du Gerechtigkeit willst, bist du im falschen
Land«, erwiderte Dannen und hätte die Worte ebenso gut
für sich selbst beherzigen können. »Traust du dich
nicht, gegen mich anzutreten?«
Varyn machte eine abwehrende Geste und hob die Hände.
»Nein, aber… ich weiß inzwischen, daß ich
nicht nur ein Nachfahr von Vigilander bin. Ich bin auch ein
Nachfahr von Lorimander, und wenn Ihr es genau wissen wollt, von
jedem anderen Engel, den es gibt.«
»Das glaube ich dir nicht.« Dannens Stimme war ganz
ruhig, anders konnte man diesen Satz auch nicht sagen. Hana glaubte
es. Hana wollte es glauben. Es erklärte soviel. Es
erklärte, warum dieser Junge, der soviel jünger war als
sie und von dem sie nichts wußte, als daß er an das
Schwert eines Engels gekommen war, so eine Faszination auf sie
ausüben konnte und sie so in seinen Bann schlagen. Wenn man
sie gefragt hätte, ob Varyn selbst ein Engel war, sie
hätte genickt, ohne zu zögern. Nachfahr aller Engel, das
kam da nah genug heran.
»Ich will es auch nicht glauben«, sagte Varyn,
»aber ich habe keine andere Wahl. Und ich will nicht,
daß mir das einen Vorteil Euch gegenüber verschafft, der
Ihr nur von einem Engel abstammt - als ob das ein Nur wäre,
das ist immer noch sehr viel! Aber hier geht es um Doubladir und
sonst um nichts, und darum -«
»Dann gib mir das Schwert«, sagte Dannen, und sie
waren schon wieder da, wo sie angefangen waren, und Hana
wußte, lange konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen
halten, alles Blut schien aus ihrem Körper gewichen zu sein
und sich in den Füßen zu sammeln, sie hatte Schmerzen,
ihr war schwindelig, gleich mußte sie es sagen…
»Du hast genug andere Engel und genug andere Länder, wo
du König werden kannst. Geh nach Loringaril, von mir aus, und
wir alle sind glücklich -«
»Ich war schon in Loringaril«, entgegnete Varyn mit
sanfter Stimme, »und ja, dort wollen sie mich auch
krönen. Aber das ändert nichts am Urteil Vigilanders und
daran, daß ich das Schwert jetzt führen werde, und ich
will nur wissen, was ich tun muß, um Euch zu überzeugen
und Euch auf meine Seite zu bringen, es gibt ganz andere Gegner, um
die wir uns zu kümmern haben. Ich will Euch nicht aus Eurer
Burg vertreiben und nicht aus Eurem Land, und ich
dachte…«
»Mendrion hatte recht, du denkst zu viel«, schnitt ihm
Dannen das Wort ab. »Besieg mich im Schwertkampf, dann reden
wir weiter. Du willst das nicht, um so mehr will ich das. Weil ich
weiß, was ich kann. Du bist stark, das kann dir von mir aus
in Loringaril helfen, aber beim Schwertkampf kommt es aufs
Können an, nicht auf die reine Kraft. Besieg mich mit dem
Schwert - und von mir aus soll dabei keiner von uns das Heilige
Schwert führen, damit wir die gleichen Voraussetzungen haben.
Wenn du mich besiegst, sollst du recht haben. Aber wenn ich dich
besiege, rechne nicht damit, daß ich dich am Leben
lasse.«
»Genau das wollte ich zu Euch nicht sagen
müssen«, flüsterte Varyn. »Fragen wir doch
Eure Frau, was für ein Duell sie wünscht. Sie will nicht,
daß ihr Kind ohne Vater aufwachsen muß, und sie will
sicher auch, daß es ein Anrecht auf den Thron
hat…« Hana wurde es schwarz vor Augen. Er hatte sie
bemerkt! Er hatte sie angesehen! Aber alles was ihn interessierte,
war Hanas Schwangerschaft…
»Meine Frau hat damit nichts zu schaffen«, sagte
Dannen. »Mein Schwert, mein Leben, meine Entscheidung.
Besiege mich mit dem Schwert. Und das ist mehr als alles, was du
sonst von mir erwarten kannst.«
Was danach kam, falls noch etwas kam, hörte Hana nicht mehr.
Und sie wußte auch nicht, ob es Dannen war, der sie auffing -
aber sie wünschte sich, es wäre Varyn.
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