Elftes Kapitel

Eines begriff Hana allzu schnell: Daß sie die falschen Tage gezählt hatte. Bis der König starb - bis der König starb, wollte sie warten, dann sollte es ein Ende haben mit der Gefangenschaft. Daß es wirklich so schnell gehen würde bis zu dem Tag hin, das hatte sie nicht zu hoffen gewagt, aber als es dann geschehen war, änderte es nichts. Hana war immer noch in fremder Hand, immer noch nicht Herrin ihrer eigenen Schritte, und daß ihr Mann am Ende der schlimmste von allen sein sollte, das hätte sie schon am Tag der Hochzeit ahnen können -
Ihr Mann! Am liebsten hätte Hana ausgespien bei den Worten. Wer sollte das sein, ihr Mann? Der, dem sie sich verweigerte mit allem, was sie hatte? Der, der sie geschlagen hatte, nur einmal zwar, aber wo das herkam, würde noch mehr kommen? Der, mit dem sie nicht mehr sprach, nicht einmal das Nötigste? Wirklich, so jemand konnte sich doch kaum ihr Mann nennen! Wäre es nicht so schrecklich gewesen, Hana hätte versucht, noch darüber zu lachen, aber so wie es war, blieb ihr selbst das im Halse stecken.
Und niemand sagte ihr, was geschehen war - vielleicht, weil es selbst niemanden gab, der das so recht wußte. Der König war tot, das stand fest, ließ sich in Stein meißeln und würde sich niemals ändern, egal, von welcher Seite man es betrachtete. Der König, dessen Leib nun Leota auf seiner letzten Reise begleitete, so wie sie es eben noch mit Gerrat getan hatten, eine Totenmagd an seiner Seite… Hana fragte sich, ob es wohl die gleiche Totenmagd sein würde, ob die Frau rechtzeitig wieder zurück am Schlachtfeld gewesen war, um sich nun schon wieder auf den Weg zu machen. Aber daß ausgerechnet Leota sich um ihren toten Vater kümmerte, das war schlimm, schlimm für Hana zumindest. Leota war und blieb in dieser Burg ihre einzige Freundin und Vertraute, doch wann war sie schon jemals da? Hana wünschte sich, der alte König hätte sich durchsetzen und Leota aus dem Krieg heraushalten mögen, nicht weil sie dem als Frau nicht gewachsen war, aber weil Hana sie brauchte, mehr als jeden anderen Menschen, seit Gerrat tot war.
Der König war tot. Eigentlich sollte man nun nur noch die Tage zählen, bis Dannen gekrönt wurde, und sollte der sich nicht freuen auf den Moment, da er den Thron bestieg und Herr wurde nicht nur über Hana, sondern auch über das ganze Land? Aber niemand sah in diesen Tagen weniger wie ein Thronanwärter aus als Dannen, und niemand verhielt sich weniger so. Denn was Dannen tat, war nicht, alles für eine große Feier vorzubereiten, sondern Car Diuree in eine Art Belagerungszustand zu versetzen.
»Wenn er kommt«, sagte Dannen, nicht zu Hana persönlich, sondern mehr wie eine Ansprache an alle, die sich in der Burg aufhielten, »dann muß er sich den Weg hier hinein freikämpfen. Wir geben nicht auf, nicht kampflos. Es ist unsere Burg, nicht seine. Und wenn er sich auf den Kopf stellt, wir werden nicht weichen, da kann er machen, was er will.«
Worte, die rätselhaft klangen für Hana. Erst dachte sie, er meine seinen toten Vater damit, wolle ihm die Beisetzung in der Gruft seiner Ahnen, an der Seite seines Sohnes, verweigern - es war ein offenes Geheimnis, daß Dannen und sein Vater einander haßten, und diese Form von später Rache hätte Dannen nicht unähnlich gesehen, vor allem, wo sein Vater tot war und sich nicht mehr wehren konnte, daß der letzte Sieg auf jeden Fall an Dannen gehen konnte. Wie sehr mußte man einen Menschen hassen, um ihn selbst im Tod nicht loslassen zu können?
Aber es ging nicht um den König. Und es ging auch nicht, wie Hana dann vermutete, um Dannens Halbbruder Rul, den sie irgendwo im Krieg zurückgelassen hatten, froh ihn los zu sein, wo niemand mehr da war, um ein gutes Wort für ihn einzulegen, und auch Hana mußte zugeben, daß sie nicht traurig war um Ruls Abwesenheit. Nur weil Dannen und er einander nicht mochten, hieß das nicht, daß Hana für ihn auch nur einen freundlichen Gedanken übrig hatte. Rul hatte sich ihr gegenüber stets schäbig verhalten, und das war es, was zählte.
Doch was wirklich geschehen war, wußte Hana nicht. Sie verbrachte zu viel Zeit wie eine Gefangene in ihrem Zimmer, froh um jeden Moment, in dem sie Dannen nicht begegnen mußte, und so war sie weit entfernt vom Klatsch und Tratschen der Mägde. Zur Freifrau mochte sie nicht gehen, die hatte sie doch selbst an Dannen verkauft und war nicht besser als der ganze Rest der Sippe - und so konnte sie nur sich wundern und warten und fragen, was wohl eher kommen sollte, der Tag ihrer Niederkunft oder die Antwort auf ihre Fragen.
Und so sehr sie auch auf die Antworten hoffte, sah es doch deutlich mehr aus nach Niederkunft. Jeden Augenblick, ob sie daran dachte oder nicht, konnte sie die Bewegung ihres Kindes spüren, Hiebe und Tritte, als ob das Kleine gegen einen unsichtbaren Feind kämpfte oder versuchte, sich vor der Zeit ins Freie zu strampeln. Ihr Leib war so sehr angeschwollen, daß sie die Bewegungen des Kindes unter der Haut sogar sehen konnte, zumindest wenn sie nackt war - aber daran hatte sie nur wenig Vergnügen; ob Dannen nun dabei war oder nicht, erinnerte sie der Anblick ihres eigenen Körpers mit aller Macht daran, daß er nicht mehr ihr selbst gehören sollte.
An manchen Tagen wünschte sich Hana, das Kind möge lieber sofort auf die Welt kommen als erst in einer Woche, nicht, weil sie sich so sehr nach ihm sehnte, nicht weil sie glaubte, daß es sie aus ihrer Einsamkeit erlösen konnte, und nicht weil sie glaubte, daß es ihr Gerrat zurückbringen konnte. Aber um es hinter sich zu haben, um ihrer Gefangenschaft ein Ende zu setzen, um wieder gehen zu können, wohin sie wollte - und sei es nur in die andere Ecke des Zimmers, ohne Schmerzen, wenn sie auch nur von ihrem Fenstersitz aufstand. Ihr Körper hielt sie gefangener, als jede Tür der Welt das vermochte.
Aber an anderen Tagen wünschte sie sich, oder besser ihrem Kind, es möge gar nicht auf die Welt kommen, nicht in die Welt, wie sie jetzt war. Nicht, um einen Mann wie Dannen zum Vater zu haben, und nicht eine Frau wie Hana zur Mutter - sie konnte nicht sagen, was schlimmer sein würde, sie konnte sich nicht zutrauen, dem Kind das zu sein, was es brauchte. Wenn sie es mitnehmen konnte, weit fort, in die Wälder oder in die Berge oder irgendwo hin, wo niemand sie finden würde, wenn es noch so lange wartete, bis daß es in Freiheit geboren werden konnte… Aber den Gefallen konnte Hana ihrem Kind nicht tun, und es nicht ihr.
Dann kam Dannen in ihr Zimmer, und er sah aus, als ob er etwas sagen wollte, etwas wichtiges. Es war nicht das erste Mal, daß er das tat - meist blieb er in der Tür stehen oder einen Schritt von ihr entfernt, blickte sich um mit etwas Wildem im Blick, das Hana Angst machte und gleichzeitig mitleidig, Dannen sah aus wie eine gehetzte Kreatur, und er mußte kein Wort sagen, damit man wußte, daß ihn etwas umtrieb - aber so sah er auch aus in der Nacht, als er Hana geschlagen hatte, und da war es ihr lieber, er vertraute sich jemand anderem an, sei es ein Freund oder ein Weinkrug, und ließe ihr ihren Frieden. Er stand da, sah nach links und nach rechts, machte einen halben Schritt auf Hana zu und wieder zurück, und dann schüttelte er den Kopf und verschwand wieder, und alles, was noch an seinen Besuch erinnerte, war das dumpfe Schwingen der zugeschlagenen Tür, das nicht nur in der Luft widerhallte, sondern auch in Hanas Innerstem. Dannen war alles, was das Kind jemals als Vater kennen würde, und so konnte man fast meinen, es kenne ihn jetzt schon.
Wenn er sich wenigstens entschuldigen wollte, wenn er die richtigen Worte nicht fand, wenn er sich schämte und nicht wußte, wie er Hana unter die Augen treten sollte… Aber dann genügte ein Blick in sein Gesicht, und alle Hoffnung, ihm doch verzeihen zu können und, wenn schon nicht als Freunde, dann doch zumindest nicht als Feinde nebeneinander zu leben, war wieder dahin. Bis zu diesem Tag, als Dannen nicht wieder floh und nicht die Tür hinter sich zuschmetterte, sondern tatsächlich einmal etwas sagte.
»Hana«, sagte er, und das war zumindest ein Anfang, wenigstens schrie er nicht. »Hör mir zu. Ich weiß, die Dinge sind nicht so gelaufen, wie sie sollten, ich habe Fehler gemacht, die mir leidtun. Aber es sind Dinge geschehen… Dinge, die ich nicht verstehe und die du auch nicht verstehen würdest, ich habe es mit eigenen Augen gesehen und kann es nicht glauben, du kannst alle anderen fragen, denen geht das genauso…«
Er schüttelte den Kopf und schwankte dabei leicht; Hana vermutete aber schon vorher, daß er getrunken hatte, in seiner Familie offenbar immer ein beliebter Fluchtpunkt, wenn ihnen etwas gegen den Strich ging. Aber er war nicht betrunken, nicht so, daß er die Kontrolle über sich verloren hätte, und er schien zu wissen, was er sagte.
»Ich bitte dich um etwas, ich weiß, das ist nicht einfach für dich, weil du mich nicht ausstehen kannst, das mußt du nicht mehr sagen, wir wissen das doch alle, jeder hier im Haus weiß es -« Er lachte bitter und fing sich dann wieder: »Ich bitte dich, daß du zu mir hältst, auch wenn - wenn ich kein König werden sollte.« Dannen atmete tief durch. »Gerade dann, meine ich.«
Hana blickte ihn nur an. Sollte das eine Entschuldigung sein, dann war sie mehr als dürftig und an Bedingungen geknüpft, die Hana keine Lust zu erfüllen hatte. »Wäre das so schlimm?« fragte sie. Nicht, daß sie sich Dannen als König wünschte, sie hatte auch nie das Gefühl gehabt, er wünsche sich das selbst. Wenn er kein König wurde, machte das die Dinge dann nicht am Ende viel einfacher. »Und wer wird es dann?« Sie hatte sich ja schon das eine oder andere Ding zusammengereimt, daß etwas nicht stimmte, aber ihr fehlte zu viel Hintergrundwissen, um jetzt eine Antwort geben zu können. Und auch Dannen half ihr nicht weiter.
»Stell dir vor, du tust etwas, von dem du denkst, es ist deine Pflicht. Du tust es nicht gerne, aber weil man es von dir erwartet, und du hoffst, es geht alles gut aus - und dann kommt einer, reißt dir den Boden unter den Füßen weg, nimmt dir alles, was dir wichtig ist und woran du jemals geglaubt hast, und läßt dich da stehen mit einem Scherbenhaufen, der einmal dein Leben war -«
Und dann hielt Hana es nicht mehr länger aus. »Ja!« schrie sie. »Ja, verdammt! Das habe ich alles getan, und es ist genau so gekommen, wie du sagst, und daß es so gekommen ist, daran hat kein anderer Schuld als du!« Als sie ihn das letzte Mal angeschrien hatte, schlug er sie. Aber davor hatte sie jetzt keine Angst mehr. Wenn er es noch einmal tat, dann schlug sie zurück, und was ihr an Kraft fehlte, das konnte sie an kaltem Haß wettmachen, aber sie ließ sich nicht von ihm anwinseln wegen seines verkorksten Lebens, das niemand auf dem Gewissen hatte außer ihm selbst.
Doch er schlug sie nicht. Er schrumpfte nicht unter ihren Worten, verwandelte sich weder in einen geprügelten Hund noch in Gerrats unsicheren kleinen Bruder, wie sie ihn damals kennengelernt hatte - statt dessen wurde er ruhiger, gefaßter, als ob sie tatsächlich zu ihm durchdrang und nicht an diesem Panzer aus Engelsblut abprallte, an dem sonst alle Vernunft zum Scheitern verdammt war. Wenn Hana noch mal in ein Engelshaus einheiraten mußte, dann bitte in das der Weisheit, aber dafür war es jetzt zu spät -
»Sieht aus, als hätten wir mehr gemeinsam, als uns lieb ist«, sagte er leise. »Jetzt ist es zu spät, wir können es nicht mehr ändern - aber verdammt, rede wenigstens mit mir. Du bist immer noch meine Frau - es ist mir egal, daß du nicht mit mir schläfst, dafür finde ich Ersatz, wenn ich es drauf anlege, auch ohne lange zu suchen. Aber ich möchte eine Frau haben, mit der ich reden kann wie mit einem Menschen, dem ich vertraue, und im Gegenzug biete ich dir an, daß du mir auch vertrauen kannst…« Seine Stimme erstarb, als Hana den Kopf schüttelte.
»Dafür ist es zu spät«, sagte Hana. »Dafür hast du zu viel kaputt gemacht. Mir ist egal, ob du König wirst oder nicht, von mir aus kann euer ganzes Haus zusammenstürzen, und ich denke, es ist gerade dabei - aber wenn es das tut, dann habt ihr keinen Grund mehr, mir die Freiheit zu verweigern.« Kurz zögerte sie, ehe sie hinterhersetzte: »Wenn du bereit bist, mit mir zu gehen, dahin wo du niemand bist, dann können die Dinge sich noch einmal ändern.« Sie wußte, das würde er nicht tun. Und wenn er es tausendmal wollte, er würde es nicht tun. Sie wußte es, und er wußte es auch.
»Das wird nicht geschehen«, antwortete Dannen dumpf. »Ich habe eine Pflicht, eine Aufgabe, eine Verantwortung. Ich werde diese Burg halten mit allem, was ich habe, und ich werde mir nicht noch einmal etwas wegnehmen lassen, das mir gehört.« Sie verstanden beide, was er mit diesen Worten meinte: Nämlich sie. Und darum war dies auch die letzte Unterhaltung zwischen ihnen, die an irgendeiner Stelle Sympathie erforderte oder Verständnis oder die Bereitschaft, dem anderen auch nur einen Schritt entgegen zu gehen. Danach waren die Fronten klar, in Stein gemeißelt und so unumstößlich wie die Rache, die Dannens Haus auf ihr Wappen geschrieben hatte.
Hana wußte nicht, warum es ausgerechnet für sie so hatte kommen müssen. Aber zumindest würde sie nun Dannen die Frau sein, die er verdiente, und nicht die, die er haben wollte.

Draußen wie drinnen wurde es grau. Wenn es wenigstens angefangen hätte zu schneien! Schnee war hell, funkelte und leuchtete und versprach mit dem Glanz von tausend Edelsteinen, daß alles gut werden würde. Aber alles, was Hana von ihrem Fenstersitz aus sehen konnte, war trist und trostlos. Trotzdem, das Fenster war Hanas Tor zur Welt, wo die Zimmertür nur das Tor zu ihrem Gefängnis war. Sie konnte in den Hof blicken, auf das große Tor, doch wo es früher offen stand und sie auf seiner anderen Seite die Freiheit sehen konnte, war es nun, seit Dannens Rückkehr, Tag und Nacht geschlossen. Was blieb, waren die grauen Mauern, gekrönt von hohen Zinnen, und das Wissen, daß jeder Vogel dort hinüberfliegen konnte, hinein und hinaus, ohne daß sie etwas hielt.
Manchmal wünschte sich Hana, sie könnte sich hinausschleichen in die Falknerei, wo ihr Vogel nur noch einer von vielen war und von einem Mann versorgt wurde, der sicher sein Handwerk verstand, viel über die Jagd wußte und ein Händchen für Falken hatte, aber das war nicht das Gleiche - und halb fürchtete Hana, ihr Vogel würde sie nicht einmal mehr wiedererkennen. Aber die Vorstellung, zumindest dem Falken die Freiheit zu schenken… Sie tat es nicht. Hana saß auf ihrer Fensterbank, als wäre sie mit ihr verwachsen, und sie fühlte, wie ihr Körper jede Form verlor - nicht nur wegen der Schwangerschaft, die einfach kein Ende nehmen wollte und noch wochenlang so weitergehen konnte, sondern auch, weil ihre Arme weich und schwach wurden; die Kraft, mit der sie früher durch Wald und Feld gelaufen war, schneller als ihr Falke flog, reichte jetzt kaum noch aus, um von einem Ende des Zimmers zum anderen zu kommen. Alles sollte ein Ende haben, wenn das Kind da war. Wenn es lebte, war sie nicht mehr einsam. Wenn es starb, hielt sie nichts mehr in der Burg. Und wenn sie selbst starb -
Hana fuhr aus dem leichten Nachmittagsschlaf hoch - sie schlief schon viel zu viel, aber so oft war sie erschöpft, wie eine alte Frau - und obwohl von draußen kein Laut hereindrang, wußte sie plötzlich, daß dort draußen gerade etwas geschehen mußte. So schnell, wie sie gerne wollte, kam sie nicht vom Bett zum Fenster, aber was sich ihr dann darbot, war wirklich ein Schauspiel, wie es ihr das Fenster lange nicht gezeigt hatte. Über dem Tor, an den Zinnen, stand ihr Mann.
Es gab Sachen, die erkannte Hana von weitem, im Dunkeln oder, wie jetzt, auch durch das Fensterglas, das die Welt verschwimmen ließ, als blicke man durch einen zugefrorenen See auf die Fische, und dazugehörte Dannen. Seine Schultern, sein Rücken, sein Hinterkopf - nichts davon war wirklich so bemerkenswert, daß es Sinn gemacht hätte, ihn daran von anderen Männern unterscheiden zu können, dunkle Haare, ein breites Kreuz, alles gewöhnlicher, als man von einem Engelsgeborenen erwarten sollte, aber es war Dannen, und Hana hätte ihn unter Tausenden erkannt. Er stand über dem Tor, und was er dort machte, sollte sein Geheimnis sein, bis es Hana gelungen war, den schweren Fensterriegel zu lösen und sich darüber zu ärgern, daß sie es überhaupt geschlossen hatte - auch wenn von draußen kalte und feuchte Luft hereinkommen mochte, sie hatte einen Kamin, der ihr Zimmer von einem grauen Loch zu einem Frauengemach machte, und dem konnte so ein bißchen Draußen nichts ausmachen. Nur der Gedanke, daß eine hochschwangere Frau keiner feuchten Zugluft ausgesetzt werden durfte, wenn sie einen Jungen empfangen sollte - als ob das jetzt noch einen Unterschied machte…
Endlich hatte Hana das Fenster offen, immerhin hatte sie es allein geschafft und sich keine Hilfe dafür holen müssen, sie wäre ja vor Scham gestorben, wenn sie noch nicht einmal mehr ein Fenster öffnen konnte! Von draußen hörte sie Stimmen, die lauteste davon war Dannens, und auch wenn sie kaum ein Wort richtig verstehen konnte, begriff sie doch, daß Dannen völlig außer sich war.
»Verräter!« war etwas, das sie verstehen konnte, es wehte direkt zu ihr hinüber, auch wenn es sicher nicht an sie gerichtet war, und es fiel mehr als einmal. »Dreckiger Hund! Bei allen Engeln -« Und den Rest wollte Hana dann gar nicht mehr richtig verstehen können.
Es waren noch andere Männer im Hof, sie redeten oder riefen auf Dannen ein, es war ein großes Durcheinander, aber das zentrale Element war und blieb Dannen.
Hana hatte schon mehr als einmal erlebt, daß er sich aufregte und aus der Haut fuhr, aber um ihm seltene Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, das kam nicht ganz so häufig vor, wie sie sich das manchmal einbildete. Er konnte sehr beherrscht sein und berechnend, laut wurde er immer nur dann, wenn er getrunken hatte oder nicht mehr wußte, wie er sonst einer Situation Herr werden sollte, und meistens ging dem einen das andere voraus und umgekehrt. Auch Gerrat hatte den einen oder anderen Moment gehabt, wo sich Hana etwas mehr Beherrschung für ihn gewünscht hätte, aber bei Dannen war das doch häufiger und heftiger. Gerrat, das war der Unterschied, hörte dann auf Hana, während Dannen um so mehr aus der Haut zu fahren schien, je ruhiger ihm Hana ins Gewissen redete. Vielleicht war das der Unterschied zwischen Liebe und Haß.
Aber dieser Anblick, Dannen, der nicht mehr zwischen den Zinnen stand, sondern auf ihnen, eine große dunkle Gestalt wie eine Attrappe für Zielübungen, man hätte ihn von der anderen Seite herunterschießen können und von dieser auch, und es schien ihm völlig egal zu sein. Hände in die Hüften gestemmt, das Schwert an seiner Seite jederzeit bereit zum Ziehen - man konnte fast meinen, daß er hinunterspringen wollte und auf der anderen Seite wüten, aber was oder wer dort stand, das wußte Hana nicht. Sie konnte sich zusammenreimen, daß es derjenige war, wegen dem Dannen das Tor geschlossen hielt, derjenige, der in so vielen Flüchen vorkam und in so wenig Tatsachen, aber um mehr zu wissen, hätte Hana schon durch das dicke schwarze Holz blicken können müssen. So blieb ihr nur der Anblick von Dannen, aufgeplustert wie ein Auerhahn oder ein Hirsch, der einen Rivalen aus seinem Gebiet vertreiben wollte - und das, vermutete sie, kam der Sache sicher ziemlich nahe.
Aber das Ganze schien ihn mehr aus der Fassung gebracht zu haben, als Hana wirklich nachvollziehen konnte - daß jemand anderes das Schwert des Königs hatte und die Generäle sich ihm angeschlossen hatten, das wußte er schon, und darauf, daß die früher oder später in Car Diuree eintreffen würden, hatte er sich schon vorbereiten können, und normalerweise war Dannen, was immer man über ihn sagen konnte, kein hirnloser Dummkopf - aber hier war nichts mehr zu spüren von Besonnenheit oder Vorbereitung oder irgendetwas anderem als fassungsloser Aufregung.
Während sich im Hof immer mehr Leute sammelten, Männer, Frauen, Kinder, die der Lärm und die Neugier hinaus gelockt hatten, stieg ein zweiter Mann zu Dannen auf den Wehrgang über dem Tor, wenn er auch nicht die Dummheit beging, auf die Zinnen selbst hinaufzuklettern - Hana brauchte einen Moment, um Dannens Bruder Jaro zu erkennen, trotz des offenen Fensters, aber mit dem hatte sie so wenig zu tun und verband sie so wenig schlimme Gefühle, daß er auf die Entfernung jeder andere Mann hätte sein können. Seine Körpersprache war ruhig, er versuchte wohl, auf Dannen einzureden, aber als sich Hana weiter aus dem Fenster vorbeugen wollte, um besser hören, was dort draußen vorging, klopfte es an ihrer eigenen Zimmertür.
Erst zuckte Hana zusammen, fühlte sich ertappt und heimgesucht. Dann atmete sie durch. Wenigstens wußte sie, daß es diesmal nicht Dannen sein konnte, und jede andere Begegnung sollte besser verlaufen. Sie ließ das Fenster offen stehen und erhob sich schwerfällig, um sich zur Tür zu schleppen - was war das, brauchte sie jetzt auch noch einen Krückstock? »Einen Augenblick!« rief sie - das war der Preis dafür, daß sie die Tür jetzt auf ihrer Seite verschlossen hielt: Als man sie von außen einsperrte und Wachen vor der Tür postierte, war das noch ein ungeheuerlicher Eingriff in ihre Freiheit, aber jetzt hatte sie den Schlüssel zu ihrem eigenen Diener gemacht und die Freiheit dafür in Zahlung gegeben, am Tag ihrer Hochzeit oder danach, wie lang war das jetzt her? Keine drei Monate, dessen war sie sich sicher…
Es klopfte nicht noch einmal. Natürlich, jeder, der mit Hana Kontakt hatte, wußte, wie langsam die Schwangerschaft sie gemacht hatte und daß da auch kein Drängeln half. Hana hoffte, daß der andere zumindest noch da sein würde, wenn sie die Tür erreicht hatte, es fühlte sich zu mühsam an, um am Ende vergebens zu sein, und all die Zeit über sah sie nicht, was draußen vorging. Der Schlüssel drehte sich so schwerfällig wie immer, die Schmiede von Doubladir waren gut mit allem Groben, sei es Schwert oder Pflugschar, aber das Feine, Zierliche lag ihnen weniger. Hana unterdrückte einen Fluch, sie hatte selbst abgeschlossen, dann mußte sie auch aufsperren können, und doch war sie selbst dafür zu schwach, und dann, endlich, hatte sie die Tür geöffnet.
»Da bist du ja, Mädchen!« Draußen stand die Freifrau. Nicht, daß Hana nicht im Grund ihres Herzens damit gerechnet hatte! »Und jetzt komm, zieh dich an, dein Mann braucht dich.«
Hana machte einen Schritt zurück, doch etwas überrumpelt. So war nun einmal die Art der Freifrau, und wer neben ihr bestehen wollte, mußte selbst Raum um sich schaffen. »Um was geht es hier überhaupt?« fragte sie - es gab tausend andere Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, aber irgendwo mußte sie anfangen.
»Red nicht lang, laß dich ankleiden, draußen ist es zu kalt, um dich in dem Kleid vor die Tür zu lassen, nicht in deinem Zustand.« Da stand die Freifrau auch schon im Zimmer, stemmte Hanas Truhe mit solcher Seelenruhe auf, als ob es ihre eigene wäre, und vielleicht war sie das auch - damals, als die Freifrau noch Königin war und selbst eine der Kemenaten ihr Reich nannte. Sie zog Kleidungsstücke hervor und ließ sie wieder fallen, nichts davon ging sie etwas an, aber das war in diesem Moment Hanas geringstes Problem und das, auf das die Freifrau am wenigsten eingehen würde.
»Du bist ja fein heraus, Mädchen, hast deinen Mann all die letzte Zeit mit seinen Sorgen allein gelassen, eine feine Ehefrau bist du ihm - laß mich ausreden, Mädchen, ich weiß genau, was du sagen willst, aber solange du in diesen Mauern wohnst und in diesem Bett schläfst, bist du Dannens Frau mit allen Rechten und Pflichten, die sich daraus ergeben, und er kann im Moment nicht noch jemanden brauchen, der ihm das Leben schwermacht, und da magst du dich noch so sehr anstrengen, an den eigentlichen Widersacher kommst du nicht ran.« Endlich hatte sie ein Kleidungsstück gefunden, das ihr zusagte, ein langer Wollmantel, der weit genug war, um Hana komplett einzuhüllen, Brust, Bauch und Rücken. Hana biß die Lippen zusammen bei dem Anblick, das war eine von ihren Sachen, ihren eigenen, die sie hatte, bevor Gerrat ihre Kleidung dem Königshof anpaßte. Er roch nach früher, nach Schnee und nach Freiheit. Genau das Richtige, um damit jetzt vor die Tür zu treten.
»Wieso sollte er mich ausgerechnet jetzt brauchen?« fragte Hana, während sie sich von der Freifrau in den Mantel wickeln ließ und das vertraute Kratzen auf der Haut fühlte.
»Du lernst nie, Mädchen, kann das sein?« schnaubte die Freifrau. »Er braucht dich die ganze Zeit. Er ist außerstande, das zu äußern, wie alle Männer, er muß den dicken Mann raushängen lassen, aber glaubst du ehrlich, Gerrat wäre da auch nur einen Deut anders gewesen? Er hat dich ins Haus geholt, dir den Vorzug gegeben gegenüber allen Frauen, die sicher eine bessere Partie gewesen wären, weil er was in dir gesehen hat, irgendwas, das du offenbar nicht hast - sagst mir noch, wie stark du bist, und was ist draus geworden? Nichts. Du müßtest gerade stark sein, Mädchen, einmal für dich und einmal für Dannen, und bringst es nicht mal für dich selbst auf die Reihe - dann versuch es jetzt wenigstens für Dannen.«
»Ihr verlangt da viel von mir«, sagte Hana leise. Wußte die Freifrau, daß Dannen Hana geschlagen hatte? Oder konnte sie sich das einfach denken, weil der König das Gleiche mit ihr gemacht hatte?
»Das ganze Leben verlangt viel, und das von jedem«, knurrte die Freifrau. »Also stell dich jetzt nicht an, mein Sohn steht da auf der Mauer und macht nicht nur einen Narren aus sich, das kann er ja von mir aus jeden Tag tun, aber er bringt uns alle in Gefahr, Todesgefahr, und du bist seine Frau, also bring ihn gefälligst zur Vernunft.«
Hana fror plötzlich unter dem Mantel, und von ihren Füßen, die gerade von der Freifrau in Stiefel gezwungen wurden, die viel zu eng waren für das geschwollene Fleisch, bis zu ihren Haaren zog sich Gänsehaut über ihren Körper. »Was für Gefahr?« fragte sie.
»Wo fange ich an?« fragte die Freifrau. »Liebes Kind, willst du lieber Stiefel von mir haben? Meine Beine sind immer dick, da habe ich dir viel voraus. Aber sie haben dir natürlich nichts erzählt, ich weiß nicht, ob sie sich schämen, vermutlich ist das so. Dannen hat im Krieg nicht nur erst seinen Bruder und dann seinen Vater verloren, nein, er hat es auch noch geschafft, Vigilanders Schwert zu verlieren. Jetzt hat es ein anderer Bursche, den will das Pack offenbar als König haben, wirklich, kann es ihnen nicht verdenken, wenn ich mir Dannen so ansehe, aber das können wir nicht auf uns sitzenlassen. Dannen hatte die großartige Idee, sich trotzdem krönen zu lassen, aber wenigstens den Verstand, das nicht groß anzukündigen, bevor er mit dem Richter gesprochen hat, und selbstverständlich wußte der Richter schon Bescheid.«
Jetzt war der Fuß doch im Stiefel und so schmerzhaft eingeschnürt, daß Hana sich nicht vorstellen konnte, damit auch nur einen Schritt zu tun. Sie war zu lange barfuß gelaufen, aber sie biß die Zähne zusammen und war froh, daß die Freifrau weiterredete und dabei nicht hörte, wie Hana zischte und sich wand. »Dreimal hat Dannen noch versucht, den Richter umzustimmen, die letzten zwei Male davon hätte er sich sicher schenken können, und jetzt steht der Bursche mit dem Schwert vor dem Tor, und Dannen will ihn nicht reinlassen.«
Hana nickte. Sie konnte schlecht sagen, daß sie das freute - sie wünschte es Dannen, daß er und seine ganze Familie einfach davongejagt wurden, aber zu dieser Familie gehörte inzwischen auch sie. »Und das ist die Gefahr?« fragte sie. Der rechte Fuß war irgendwie dünner als der linke, jedenfalls fand er deutlich schneller in seinen Stiefel als der erste.
»Nein«, sagte die Freifrau. »Die Gefahr ist, daß dieser Bursche nicht nur das Schwert dabeihat, sondern auch das halbe Heer, und daß Dannen gerade versucht, die Zinnen mit Bogenschützen zu bemannen. Er denkt, wir sind gut für eine Belagerung ausgerüstet, aber wenn die es drauf anlegen, haben sie die Burg im Handumdrehen gestürmt - die Hälfte unserer Wachen ist in den Krieg gezogen, und jetzt stehen sie alle draußen vor der Tür mit ihren Bögen und Schwertern, und wenn Dannen nicht zu Vernunft kommt, bringt er uns noch alle um.«
Sie zog Hana auf die Füße und kümmerte sich nicht darum, daß die kaum stehen konnte in den Stiefeln; sie ließ Hana sich bei ihr aufstützen und schleppte sie durch den Flur. Die Nähe war ungewohnt, normalerweise war die Freifrau mit einem unsichtbaren Panzer umgeben, der Hana von ihr fernhielt, mindestens auf Armlänge - und nun war sie dieser kleinen dicken Frau so nah wie zuletzt nur Gerrat, und Dannen in besonders scheußlichen Momenten. Es mußte wirklich viel passiert sein, daß die Freifrau das zuließ und Hana auch, und vielleicht war die Gefahr wirklich so groß, daß all das es wert war.
Es ging aber alles zu schnell, als daß Hana wirklich alles hätte erfassen können. Dafür waren das zu viele Informationen auf einmal, die sie lieber innerhalb der letzten Tage erfahren hätte - es erzählte eine lange Geschichte von dem fehlenden Vertrauen zwischen Dannen und Hana, daß er mit seiner Mutter redete und mit dem Richter, aber um seine eigene Frau einen Bogen machte: Es machte Sinn und geschah ihr recht, und sie fühlte sich auch nicht schlecht oder zurückgewiesen deswegen, aber so war das alles so unwirklich im Vergleich zu ihren geschwollenen Füßen. Hana hastete mit der Freifrau durch die Burg, bis sie der Atem verließ und sie aus dem Arm der anderen Frau rutschte und fast zu Boden fiel, hätte sie sich nicht noch an der Wand abstützen können.
»Hoppala, Mädchen!« sagte die Freifrau. Hana war inzwischen daran gewöhnt, daß sie füreinander keine Namen hatten, auch wenn sie nicht für alle Zeit als Mädchen durch die Welt laufen wollte, es war nichts mehr, wo sie Protest einlegte. »Nicht fallen. Durchatmen.«
Hana schüttelte den Kopf. Ihr Herz raste und hämmerte, als hätte sie an seiner Stelle ein zweites Kind in sich, das gerade um sein Leben strampelte. »Ich…«, brachte sie heraus, und dann, völlig ohne Zusammenhang: »Wie kommt Ihr auf die Idee, daß er ausgerechnet auf mich hören sollte?« War es nicht besser, die Freifrau redete selbst mit ihrem Sohn? Sie war resolut, duldete keinen Widerspruch, und im Zweifelsfall konnte sie ihn schlicht abführen wie ein unartiges Kind. Wenn Jaro schon keinen Erfolg hatte und die Freifrau sich nicht vorstellen konnte, es selbst zu versuchen, warum dann ausgerechnet Hana? Oder die Männer im Hof, warum machten sie nicht einfach das Tor auf und ließen die Männer von draußen rein, um Blutvergießen zu verhindern? Niemand zwang sie, auf Dannen zu hören, vor allem, wenn er überhaupt kein Anrecht mehr auf den Thron haben sollte…
»Unsinn«, sagte die Freifrau. »Das ist die Aufgabe seiner Frau. Und weißt du auch, warum? Weil er dich liebt.« Und danach schleifte sie Hana die Treppen hinunter und in den Hof, und jede Form von Widerspruch war zwecklos.

Wie sie auf die Mauer hinaufkam, konnte Hana nicht sagen. An der Seite führte eine Treppe nach oben, so schmal, daß Hana sich mindestens doppelt so breit fühlte. Aber irgendwie kam sie hinauf, und hatten sich nicht schon genug Leute nach ihr umgedreht, als die Freifrau sie mit einem energischen »Platz da, Leute, Platz da!« quer über den Hof geführt hatte, waren jetzt so viele Augen auf Hana gerichtet wie seit ihrer Hochzeit nicht mehr. Wie viel Zeit vergangen war, seit sie zuletzt aus dem Fenster geschaut hatte, wußte sie nicht, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an - das Ankleiden, der weite Weg, aber vor allem die Unmenge an Wörtern, welche die Freifrau in der Zwischenzeit geredet hatte… Aber wenigstens schien die Situation noch die gleiche zu sein, Dannen stand immer noch oben auf der Mauer, und derjenige, den er nicht hineinlassen wollte, stand immer noch draußen. Kein Blutvergießen, keine Toten. Aber daß es jetzt an Hana liegen sollte, daß das auch so blieb…
Hana stützte sich an einer Zinne ab, ignorierte ihr immer noch hämmerndes Herz und ihre zitternden, schmerzenden Beine. Sie schluckte. Schaute nicht nach unten in den Hof, nicht auf den Vorplatz - auf der einen Seite die Erwartung, auf der anderen Seite die Gefahr. Und vor allem schaute sie nicht zu Dannen, von dem man zumindest sagen konnte, daß er nicht mehr oben auf der Zinne stand, sondern wieder auf dem Wehrgang, wo er hingehörte. Nur geradeaus schaute sie, in den Himmel. Tief durchatmen. Wenn sie es nicht schaffte, gab es immer noch andere Lösungen. Sie konnten immer noch einfach das Tor aufmachen und sehen, was dann passierte. Dann sagte sie: »Dannen.« Ihre Stimme war zu leise, aber Dannen war nicht blind, er hatte sie lange kommen sehen, jetzt schien er abzuwarten, was sie ihm sagen sollte. Er mußte am Ende genauso erschöpft sein wie sie.
»Hana«, sagte er, und jetzt mußte sie doch zu ihm hinsehen. Seine Stimme war heiser; wer wußte, wie lange und wie laut er schon herumgebrüllt hatte? »Was willst du hier?« Seine Augen sagten mehr als seine Zunge; er wußte ebenso gut wie Hana, daß sie hier nicht hinter verschlossenen Türen ihres Zimmers Gemeinheiten austauschen konnte, wo niemand es hörte, sondern daß die Augen und Ohren von Freund und Feind, vor allem Feind, auf sie gerichtet waren. Dannens Blick war verletzt und anklagend zugleich, erwartete, daß Hana gekommen war, um einen schlechten Tag erst so richtig schlecht zu machen - und es war eine ungleiche Situation, in der sie waren, denn Dannen hatte schon zu viel Kraft verbraucht, um einem Angriff von Seiten Hanas noch viel entgegensetzen zu können.
Hana schluckte, dann sagte sie: »Ich bin hier, um dir zu helfen.«
Dannen sagte nichts, aber sein Körper fing langsam an zu zittern und zu zucken, und als sich dann auch noch seine Lippen zu einem Grinsen kräuselten, begriff Hana, daß er ein Lachen unterdrückte. Hana wartete, bis er sich wieder gefangen hatte. »Und du glaubst, wenn du ihnen sagst, sie sollen sich zum Abgrund scheren, hören sie auf dich? Weil es überzeugender kommt aus dem Mund einer schönen Frau?« Er schüttelte den Kopf, und daß seine Belustigung nur eine andere Maske für Haß war, wußten sie beide.
»Also gut«, sagte Hana dann. »Ich will dir überhaupt nicht helfen. Mir ist egal, was deine Mutter sagt. Aber weißt du, wem ich helfen will? Mir selbst. Du legst es hier darauf an, daß bewaffnete Truppen diese Burg stürmen und uns alle umbringen, und ich will leben. Ich will, daß mein Kind lebt.« Sie zitterte. Plötzlich fühlten sich ihre Wörter an, als würden sie stimmen.
»Niemand stürmt diese Burg«, antwortete Dannen schroff. »Und darum bin ich hier, genau darum, verstehst du das? Um das hier zu verhindern.«
»Indem du den Befehl gibst, auf die Männer da draußen zu schießen?« fragte Hana zurück. »Was sind das für Leute, sind das Feinde? Oder sind das Doubladai?«
»Das verstehst du nicht!« fuhr Dannen sie an. »Diese Männer haben mich verraten, und wenn sie das tun, verraten sie ihr ganzes Volk -«
»Sagt der Mann, der bereit ist, auf seine eigenen Männer zu schießen?« Hana war froh, daß Dannen nur das Schwert dabei hatte und selbst keine Schusswaffen; einen Befehl geben war eine Sache, aber selbst schießen eine andere - Hana war sich nicht sicher, ob Dannen dazu wirklich in der Lage gewesen wäre oder ob er doch nur herumbrüllte. »Und du glaubst, daß irgend jemand dich dann noch zum König haben will?«
»Einen König will man nicht!« Dannen lief der Schweiß über das Gesicht, seine Wangen brannten rot vor Aufregung, aber das, was ihn in diesem Moment wirklich fremd machte, waren seine Augen. Dannens Augen waren sonst irgendwo zwischen grau und braun, aber jetzt waren sie grün, ein flammendes Grün, das sie noch nie an ihm gesehen hatte. »Einen König hat man! Dies ist Doubladir! Hier herrschen Vigilanders Erben!«
»Und das hast du den Männern dort unten laut genug gesagt, möchte ich meinen.« Hana wagte es immer noch nicht, zu ihnen hinunterzublicken, sie wollte nicht wissen, wie viele es in Wirklichkeit waren und ob nicht dort längst die Bogenschützen auf sie anlegten. Solange sie hinter ihrer Zinne stand, war sie in Sicherheit. Sie konzentrierte sich jetzt nur noch auf Dannen. »Hast du sie jemals gefragt, was sie wollen?«
»Sie haben nichts zu wollen!«
»Vielleicht wollen sie verhandeln?«
»Ich verhandle nicht mit Verrätern!« Es interessierte Hana eigentlich nicht, ob Dannen glücklich war oder nicht, aber sie hatte ihn noch nie so unglücklich gesehen. Er hatte sich in einen Käfig hineingebrüllt, aus dem er jetzt nicht mehr selbst hinauskam. »Du verstehst das nicht - das ist nicht irgendwer. Das sind Männer, denen habe ich vertraut. Mein sogenannter Bruder, von dem habe ich ja nichts anderes erwartet, aber hier sind Männer, die ich Freund genannt habe, und sie stehen vor meiner Burg und verlangen, daß ich sie einlasse, aber da haben sie sich geschnitten, und wenn ich meine Burg mit meinem Blut verteidigen muß.«
»Aber es ist nicht nur deine Burg!« schrie Hana ihn an. »Es ist auch meine! Und die von deiner Mutter und deinen Geschwistern und allen anderen, die hier leben, und ich lasse nicht zu, daß hier irgendjemand stirbt!« Und mit diesen Worten trat sie hinter der Zinne hervor und blickte direkt hinunter auf die Männer, die vor dem Tor versammelt waren.
Schwindel überkam sie. Ihr eigenes Fenster war viel höher als diese Mauer, und sie hatte die Höhe nie gefürchtet - aber das hier war anders. Auch wenn eine Brüstung da war und Hana nicht hinunterstürzen würde, selbst wenn ihre Beine nachgeben sollten - sie hatte plötzlich Angst. Dort unten stand nicht das große Heer, das sie nach den Worten der Freifrau erwartet hatte, und nicht Dannens mordlüsternde Verräter. Es war eine Gruppe von Männern, sie hatten Pferde dabei, die genau so müde aussahen wie sie selbst. Sie hatten keine Bögen auf sie angelegt, aber die hielten ihre Waffen in den Händen, und nach ihren Mienen zu sprechen, hatten sie es satt zu warten, und erst recht hatten sie Dannen satt.
Hana versuchte, auf die Schnelle irgendwelche bekannten Gesichter darunter zu erkennen, Dannens falsche Freunde, aber auch wenn der eine oder andere auf ihrer Hochzeit gewesen sein konnte - dort wimmelte es nur so von Männern, die Hana fremd waren - konnte sie doch nur die wenigsten von ihnen zuordnen. Rul war darunter, das hatte sie schon geahnt, und er schien wenig beeindruckt zu sein von dem, was er sah, kopfschüttelnd an eine Mauer gelehnt - Hana hielt sich nicht lange bei ihm auf, er war nicht das Problem, und sie mochte ihn zu wenig, um ihn lange ansehen zu mögen.
Aber der Rest? Schwarze Rüstungen, die Farben Doubladirs, aber derjenige, der Hana wirklich ins Auge stach, ihren Blick fing und nicht wieder hergeben mochte, war ein Junge, der keine Rüstung trug und, auch wenn er ein Schwert in der Hand hatte, irgendwie verloren aussah. Er hatte schöne Augen, und Hana blickte ihn direkt an, nur ihn und sonst keinen, als sie laut sagte: »Hier sind Menschen in der Burg!« Und dann kam der Rest irgendwie von selbst, und mit jedem Wort verschwanden Angst und Schwindel. »Ich bin schwanger, hochschwanger sogar, das seht ihr. Es sind andere Frauen in der Burg, auch wenn die nicht schwanger sind, wollen sie doch trotzdem kein Blutvergießen hier. Wir wollen keine Belagerung, wir wollen keinen Krieg, wie wollen mit euch reden. Ich weiß, Dannen hier will nicht verhandeln, aber ich will es.«
Das war der Moment, als Dannen sie rüde zurückriß. »Wirst du wohl still sein!« fuhr er sie an. »Du hast hier nichts zu sagen, du hast keine Ahnung -« Und dann schlug sie ihn. Nicht aus Rache, auch wenn dies zehnmal Doubladir war. Nicht um ihm wegzutun. Nur, damit er still war, damit er einmal sie reden ließ. Er zuckte zurück, grimassierte überrascht oder erschrocken, aber er ließ sie nicht los. Hana war das egal.
»Ich will verhandeln!« rief sie noch einmal. »Und wenn mein Mann sich weigert, das Tor zu öffnen und euch hineinzulassen, dann komme ich eben hinaus.« Es war ihr egal, ob sie in irgendeiner Position zu verhandeln war. Keine Engelsgeborene, kein Mann, niemand, der etwas zu sagen hatte, aber sie wußte, was sie wollte, vielleicht zum ersten Mal seit Monaten. »Laß mich los, Dannen!« sagte sie scharf. »Oder wenn ich hier hinunterspringen, nehme ich dich mit.« Sie wollte nicht springen und gleichzeitig wollte sie es doch. Draußen vor dem Tor waren die Männer mit ihren Waffen. Aber dort war auch die Freiheit.
Dannen sah aus, als ob er sie am liebsten noch einmal schlagen würde. Doch er sagte: »Also gut. Ich komme hinunter. Wir verhandeln.« Wie viele Niederlagen er im Leben auch erlebt hatte, dies mußte seine bitterste sein. Von seiner eigenen Frau mundtot gemacht vor den Augen aller Freunde und aller Feinde - jetzt hatte er wirklich nichts mehr zu verlieren. Und genau das konnte die Burg mit allen Menschen darin jetzt retten. »Hana«, sagte er. »Du kommst mit.«
Er hatte ihr schon ein paarmal gesagt, daß er sie liebte, früher, bevor sie zu Feinden wurden. Aber dies war das erste Mal, daß es sich auch so anfühlte, ausgerechnet. Hana senkte den Blick. Es half ihr nichts, Dannen zu verstehen, besser als ihr manchmal lieb war. Sie wollte seine Liebe nicht, noch nicht einmal in diesem Moment. Sie wollte nur ihren Frieden.

Als sie schließlich mit Dannen durch die Schlupfpforte trat, nur mit Dannen, ohne die Freifrau oder Jaro oder sonst irgendjemanden, der zum Hof gehörte, fiel ihr kurz ein, daß dies ihr erster offizieller Auftritt als Mann und Frau war, seit sie geheiratet hatten. Und was für ein Auftritt! Sie hätten vorher die Zeit nehmen sollen, miteinander zu reden, und wenn schon nicht reden, dann zumindest Dannen die Gelegenheit geben, sich in irgendwelche königlichen Gewänder zu Dannen nahm sich noch nicht einmal die Zeit, wieder zu Atem zu kommen und eine Tasse heißen Tee gegen die Heiserkeit und Aufregung zu trinken, als hätte er Angst, seine Meinung wieder zu ändern und doch nicht mit den Männern zu reden.
»Du weißt nicht, auf was wir uns hier einlassen«, sagte er leise. »Mir ist jemand, den ich für einen meiner letzten Freunde gehalten habe, komplett in den Rücken gefallen, und jetzt erwartest du, daß ich mit ihm rede?« Sein Lachen klang rauer als sonst und verriet Hana, daß er nicht mehr viel Stimme übrig hatte, um überhaupt die Verhandlungen hinter sich zu bringen, aber mit ein bißchen Glück würde er ihr vielleicht doch das eine oder andere Wort überlassen. Wenn er sich schon wünschte, daß sie dabei war…
Dann lag die Burg hinter ihnen, und die Männer, die Dannen den halben Tag lang sinnlos angeschrien hatten, standen vor ihnen. Und plötzlich hatte jeder von ihnen die gleichen Rechte, am Ende der Verhandlung den Burghof zu betreten und sich Herr des Hauses zu nennen.
»Also gut«, sagte er. »Hier bin ich, bedankt euch bei meiner Frau dafür, aber wenn ihr glaubt, das heißt, ich gebe kampflos auf, dann irrt ihr.«
Er sagte das einfach in die Luft hinein, ohne irgend jemanden anzublicken, aber angesprochen fühlten sich nur zwei unter den Männern, die immerhin den halben Tag auf diesen Moment gewartet haben mußten: Der Junge mit den hellen Haaren und großen Augen, der Hana schon vorher aufgefallen war, und ein gerüsteter Mann mit blondem Bart, der Hana auch vage genug bekannt vorkam, um ein Gast auf der Hochzeit gewesen sein können. Und es war der Mann, der als erstes das Wort erwiderte.
»Dannen, hör mir zu, ich kann das -«
»Mit dir rede ich nicht!« brüllte Dannen, und daß er in dem Moment nicht sein Schwert durch die Brust des anderen rammte, war auch alles. »Mit dir rede ich nicht! Verschwinde aus meinen Augen, wenn du nicht willst, daß ich mich vergesse! Ein dreckiger Verräter hat auch nur im Schatten meiner Burg nichts verloren, und wenn du nicht sofort machst, daß du wegkommst, dann werde ich…« Er zog das Schwert aus seiner Scheide, eine Handbreit nur, aber die Drohung war klar. »Und jetzt verschwinde, hörst du!«
Hana wäre ihm fast in den Arm gefallen, hätte versucht, das Schwert aufzuhalten, es war eine Dummheit, auch nur zu drohen, wenn dort ein Dutzend Männer mit Schwertern versammelt war, aber es war der Junge, der dazwischenging. Nicht mit Gewalt, nicht mit dem Schwert an seiner Seite, das viel zu alt wirkte für so ein junges Geschöpf, nur mit Worten.
»Dannen«, sagte er leise, und seine Stimme drang durch alles und direkt in Hanas Innerstes, ohne daß er sie auch nur heben mußte. »Danke, daß Ihr heruntergekommen seid. Ich weiß, was das hier für Euch bedeutet und was Ihr jetzt denkt, aber wir sind keine Feinde. Ich will, daß Ihr das wißt.«
»Wir nicht«, schnaubte Dannen, »aber er hier, Hauptmann Schweinebacke, das ist eine ganz andere Sache -«
»Ist es nicht«, unterbrach ihn der Junge, und Hana wünschte sich plötzlich, er würde überhaupt nicht mehr zu reden aufhören. So etwas war ihr noch nie passiert. Das war ein Junge, kein Mann, er mochte von der zwanzig so weit entfernt sein wie Hana selbst, nur von der anderen Seite, und doch konnte sie nicht aufhören, ihn anzuschauen… »Ich habe ihn gebeten, mitzukommen«, sagte er. »Weil er Euch kennt, und weil er mir helfen soll, mit Euch zu reden. Eben damit Ihr wißt, daß ich kein Feind bin.«
Dannen hustete heiser. »Also gut, Varyn«, sagte er, und Hana trank den Namen des Jungen, als ob sonst kein Mensch auf der Welt einen Namen hatte, »du kannst mir ganz leicht beweisen, daß du kein Feind bist. Gib mir das Schwert meiner Väter zurück.« Er machte einen Schritt von dem Jungen weg, während er sprach, und hielt die Hände dabei in die Hüften gestemmt, als rechne er niemals mit einer positiven Antwort, oder als müsse er die Hände mit Gewalt von seinem eigenen Schwertgriff fernhalten.
Der Junge - Varyn - blickte ihn an, ohne zu blinzeln, daß man, oder zumindest Hana, sich in seinen Augen ganz und gar verlaufen konnte. Sie waren tiefer als der Abgrund und wahrhaftiger als alle Augen, die sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte, von den Augen ihres Falken abgesehen, und es war die gleiche Sehnsucht darin, die gleiche Wildheit, und die gleiche Hoffnung, und dann lächelte er, daß die Welt um Hana herum stehenblieb. »Es ist nicht nur das Schwert Eurer Väter, Dannen«, sagte er. »Es ist auch das meiner.«
»Gib es mir«, sagte Dannen, »und ich entschuldige mich, daß ich mich heute zum Narren gemacht habe.«
Varyn schüttelte den Kopf. »Ich habe tagelang von nichts anderem geredet, als daß ich Euch das Schwert zurückgeben will, sobald Ihr vor mir steht. Ich habe es verteidigt gegen alle, die es mir wegzunehmen versucht haben, weil ich es in keine andere Hand geben wollte als Eure.«
»Dann ist ja alles gut«, sagte Dannen. »Ich bin jetzt hier. Also, worauf wartest du noch?«
»Die Dinge haben sich geändert«, sagte Varyn noch leiser als zuvor. »Dinge, die ich nicht in der Hand habe und Ihr auch nicht. Es ist nicht mehr meine Entscheidung. Ich kann Euch das Schwert nicht geben.«
»Und das ist dein letztes Wort?«
Hana rechnete fest damit, daß der Junge noch einmal nicken würde und beharren, doch er sagte: »Nein, das ist es nicht.«
Womit auch Dannen niemals gerechnet zu haben schien, denn ihm entfuhr ein »Was?« Er rettete sich in ein hohles Lachen, doch Hana hatte ihn schon zu viel durchschaut und Varyn sicher auch. »Willst du mich verarschen? Gibst du mir das Schwert jetzt, oder gibst du es mir nicht?«
»Es hat ein Engelsurteil gegeben, und Ihr wart nicht dabei, um es zu sehen«, sagte Varyn ernst. »Und eine Prophezeiung, und Ihr wart nicht da, um sie zu hören. Das gefällt mir nicht, denn ich möchte Euch das Schwert nicht wegnehmen, ohne daß Ihr selbst eine Möglichkeit hattet, einzugreifen. Darum möchte ich Euch etwas vorschlagen.«
»Und ich schlage dir vor, daß du mir das Schwert gibst.«
Hana war froh, daß Dannen und Varyn sich die Wörter hin und her spielten und sie selbst nichts sagen mußte, sie hätte kein Wort herausgebracht, nur hilfloses Kichern, das sie verraten hätte und in dieser Situation alles zerstört hätte. Ihr Gesicht war heiß, sie fühlte ihre Wangen brennen, und alles, was sie rettete, war ihre Schwangerschaft - dann konnte sich der Körper einer Frau jede Art von Absonderlichkeit erlauben, ohne daß irgendjemand ihr unterstellte, sie hätte sich da gerade in diesen Jungen verliebt.
Varyn schüttelt den Kopf. »Ein Duell. Oder etwas in der Art. Was würdet Ihr davon halten?«
Einen Moment herrschte Stille auf dem Burgvorplatz, als müsse jeder der Anwesenden diese Worte erst einmal verdauen. Dann schob sich von hinten ein junger Bursche an Varyn heran, kaum mehr als ein Kind, den Hana zwar vorher gesehen, aber für einen Knecht oder Pferdejungen gehalten hatte, doch er zog Varyn zur Seite wie einer, der etwas zu sagen hat. »Spinnst du?« zischte er, laut genug, daß auch Hana das hören konnte. »Der kann kämpfen, der macht dich fertig, das kannst du nicht machen!«
Doch Varyn schüttelte den Kopf, schob den Jungen beiseite und sagte leise: »Laß mich. Ich weiß, was ich tue. Halt dich hinten.« Laut setzte er hinter, an seine anderen Männer gerichtet: »Haltet Euch alle hinten. Das ist eine Sache nur zwischen Fürst Dannen und mir, und ich dulde keine Einmischung.« Dann nickte er Dannen zu. »Was sagt Ihr?«
»Ein Duell?« fragte Dannen. »Du gegen mich, mit dem Schwert, das willst du wirklich wagen? Und wer soll dann Vigilanders Schwert führen, du etwa? Niemals, Junge. Nicht mit mir.«
»Ihr versteht mich falsch«, sagte Varyn. »Ich will keinen Schwertkampf. Man kann nicht mit dem Schwert um ein Schwert kämpfen, das geht einfach nicht. Nein, ich dachte an etwas Einfacheres. Ein Engelsurteil, hier im Hof, vor allen Leuten, wärt Ihr damit einverstanden?«
Dannen hustete. »Eben noch ein Duell, jetzt gleich ein Engelsurteil, wo willst du das hernehmen? Wenn du Engelsurteile scheißen kannst, gehört dir das Schwert, so oder so.«
Irgendeiner von den Männern hinter Varyn lachte, Hana konnte nicht erkennen, wer es war, aber es klang nach Rul. Doch der Rest ließ sich davon nicht anstecken. Entweder hatte Varyn diesen Trupp, von denen bis auf den anderen Jungen jeder deutlich älter als er sein mußte, gut unter Kontrolle, oder keiner von ihnen wollte sich wirklich gegen Dannen stellen, nur für den Fall, daß der am Ende doch recht behalten sollte und das Schwert zurückgewinnen. Was Hana nicht hoffte.
»Wir lassen das Schwert entscheiden«, sagte Varyn. »Vigilanders heiliges Schwert. Wer soll das entscheiden, wenn nicht das Ding, um das sich hier alles dreht, die Frage wer das Land regiert, wer das Heer führt, wer recht hat.«
»Und wie soll das gehen?« fragte Dannen grob. »Willst du es fragen? Redet es mit dir? Du hast mir voraus, daß ich es noch niemals geführt habe, es ist an dich gegangen, als es an mich hätte gehen müssen, aber mit meinem Vater hat es niemals geredet, das wüßte ich. Wenn du das ans Reden bringst -«
»Dannen!« fiel ihm Varyn scharf ins Wort. »Laßt mich einmal ausreden, verdammt! Ich müßte das hier nicht machen, ich könnte einfach nur das Schwert nehmen und sagen, es ist jetzt meins und die Burg und das Land auch - also, bleibt vernünftig, das habt Ihr mir selbst auch so oft gesagt.« Er machte eine kurze Pause und sah plötzlich müde aus, wenn auch nur für einen Augenblick. »Was ich meine, ist, dieses Schwert hat eine besondere Bewandtnis, die jeder in diesem Land kennt. Nehmen wir an, ich gebe es Euch in die Hand, und ich habe es zuvor zu Unrecht geführt und Euch, dem rechtmäßigen Erben, vorenthalten. Ich habe den Namen Eurer Familie beschmutzt, indem ich die Menschen habe denken lassen, Ihr hättet Vigilander erzürnt und würdet Thron und Schwert nicht mehr verdienen, kurz, ich hätte Euch in jeder Hinsicht übel mitgespielt - dann hättet Ihr keine andere Wahl, als Euch an mir zu rächen, um den Ruf Eurer Familie wiederherzustellen. Und das Schwert…«
»Nein«, sagte Dannen.
Hana mußte sich zwingen, ihn anzusehen und nicht Varyn, sie konnte ihre Augen kaum von dem Jungen nehmen, aber in dem Moment war Dannen wichtiger - wußte er, was er da gerade tat? Wenn er das wirklich ablehnte, die vielleicht einzige Möglichkeit, wieder als rechtmäßiger Erbe des Schwertes anerkannt zu werden, vor all den Leuten… Hana wußte nicht, was geschehen war, als der König starb und wie das Schwert bei diesem Jungen gelandet war, aber Dannen konnte ebenso gleich eingestehen, daß das Schwert ihn nicht haben wollte. Zumindest versuchen konnte er es doch - Hana stand nicht auf der Seite ihres Mannes, sicher nicht, aber daß er sich jetzt so schlecht, mutlos und unfähig darstellen mußte, das gefiel ihr erst recht nicht.
»Nein«, sagte Dannen noch einmal. »Dein Angebot in allen Ehren, Varyn, aber da kenne ich das Schwert besser als du, und es gibt eine Sache, die mag es, oder Vigilander, ganz und gar nicht, und das ist es, benutzt zu werden.«
Es klang wie eine müde Ausrede, und Varyn hätte vielleicht ganz gut daran getan, gar nicht darauf einzugehen, aber er fragte: »Wie meint Ihr das - benutzen? Im Sinne von damit kämpfen?«
Dannen schüttelte den Kopf, und es war erstaunlich: Jetzt schien er mit jedem Wort selbstsicherer zu werden; war er eben noch sichtbar auf dem falschen Fuß erwischt, bog er jetzt alles für seine Seite passend zurecht. Vielleicht hatte Hana ihn doch falsch eingeschätzt. »Das Schwert entscheidet, wann eine Heilige Rache zu vollbringen ist. Mehr noch: Es entscheidet, wann es das entscheiden will. Wenn du Vigilander gegen dich aufbringen willst, mach genau so weiter. Es ist verlockend, natürlich, das Schwert in eine Situation zu bringen, wo du denkst, jetzt hat es keine Wahl, als sich schwarz zu färben. Aber nur weil du es gerade so willst, weil du gegen dieses Land oder jenes gerade gerne Krieg führen möchtest, kannst du nicht dem Schwert deinen Willen aufzwingen. Vigilander führt das Schwert, und Vigilander läßt sich nicht erpressen. Wenn du das nicht begreifst, dann gehört das heilige Schwert ganz sicher nicht in deine Hände. Was machst du als Nächstes, wenn dir die Klinge nicht gehört und sich nicht schwarz färbt? Hilfst du mit Ruß nach?«
Dannen lachte laut, aber interessanter war es, wie Varyn diese Worte aufnahm: Seine Augen begannen dabei zu strahlen, als hätte er nicht üble Kritik einstecken müssen, sondern eine wichtige Lektion gelernt. Nur Hana hoffte, daß die beiden sich doch schneller einig werden mochten - jetzt war wieder alles ausgeglichen, das war nicht gut, denn noch viel länger stehen konnte Hana nicht, und wenn Dannen nicht zumindest Varyn mit hineinnahm und sie sich in einem Raum besprechen konnten, wo es Stühle gab, würde Hana es nicht mehr lange durchhalten. Aber sie sagte es nicht, sie wollte sich keine Blöße geben und keine Schwäche zeigen - nicht vor Dannen, und vor allem nicht vor Varyn. Sie wollte sich nicht darauf reduzieren, eine hochschwangere Frau zu sein, die man nicht weiter belasten konnte, sie wollte das durchstehen, solange sie konnte, damit hinterher zumindest sie selbst auf sie stolz sein konnte.
»Es war ein Vorschlag«, sagte Varyn, »für Euch, um Euch das Engelsurteil nachzureichen, das Ihr verpaßt habt. Ich wollte ganz sicher nicht Vigilander gegen mich aufbringen, aber den kennt Ihr einfach besser als ich - ich brauche Euch, nicht nur deswegen, und die Frage, wer von uns das Schwert hat, sollte nicht entscheiden, wer auf welcher Seite steht. Ich war ja auch für Euch, als Ihr noch der Erbe wart -«
»Und das Duell, das du mir angeboten hast?« unterbrach ihn Dannen, bevor es unbequem werden konnte. »Oder willst du so schnell einen Rückzieher machen, weil dein kleiner Bruder recht hat und ich dich zusammenfalte, bevor du auch nur den Arm nach oben bekommst?«
»Ein Duell muß kein Kampf sein«, sagte Varyn - aber er wußte schon, in welchem Land er sich befand, oder? »Es kommt mir eben falsch vor, es mit einem Schwertkampf regeln zu wollen, weil ich auch nicht will, daß einer von uns verletzt wird oder stirbt, und Schwerter - Schwerter sind immer noch zum Töten da. Aber ich will auch keinen Wettlauf oder Ringkampf oder irgendwas in der Art gegen Euch, wo es auf Stärke ankommt, denn das wäre von Anfang an ungerecht und hätte nichts mehr mit Doubladir zu tun oder dem Schwert.«
»Wenn du Gerechtigkeit willst, bist du im falschen Land«, erwiderte Dannen und hätte die Worte ebenso gut für sich selbst beherzigen können. »Traust du dich nicht, gegen mich anzutreten?«
Varyn machte eine abwehrende Geste und hob die Hände. »Nein, aber… ich weiß inzwischen, daß ich nicht nur ein Nachfahr von Vigilander bin. Ich bin auch ein Nachfahr von Lorimander, und wenn Ihr es genau wissen wollt, von jedem anderen Engel, den es gibt.«
»Das glaube ich dir nicht.« Dannens Stimme war ganz ruhig, anders konnte man diesen Satz auch nicht sagen. Hana glaubte es. Hana wollte es glauben. Es erklärte soviel. Es erklärte, warum dieser Junge, der soviel jünger war als sie und von dem sie nichts wußte, als daß er an das Schwert eines Engels gekommen war, so eine Faszination auf sie ausüben konnte und sie so in seinen Bann schlagen. Wenn man sie gefragt hätte, ob Varyn selbst ein Engel war, sie hätte genickt, ohne zu zögern. Nachfahr aller Engel, das kam da nah genug heran.
»Ich will es auch nicht glauben«, sagte Varyn, »aber ich habe keine andere Wahl. Und ich will nicht, daß mir das einen Vorteil Euch gegenüber verschafft, der Ihr nur von einem Engel abstammt - als ob das ein Nur wäre, das ist immer noch sehr viel! Aber hier geht es um Doubladir und sonst um nichts, und darum -«
»Dann gib mir das Schwert«, sagte Dannen, und sie waren schon wieder da, wo sie angefangen waren, und Hana wußte, lange konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten, alles Blut schien aus ihrem Körper gewichen zu sein und sich in den Füßen zu sammeln, sie hatte Schmerzen, ihr war schwindelig, gleich mußte sie es sagen… »Du hast genug andere Engel und genug andere Länder, wo du König werden kannst. Geh nach Loringaril, von mir aus, und wir alle sind glücklich -«
»Ich war schon in Loringaril«, entgegnete Varyn mit sanfter Stimme, »und ja, dort wollen sie mich auch krönen. Aber das ändert nichts am Urteil Vigilanders und daran, daß ich das Schwert jetzt führen werde, und ich will nur wissen, was ich tun muß, um Euch zu überzeugen und Euch auf meine Seite zu bringen, es gibt ganz andere Gegner, um die wir uns zu kümmern haben. Ich will Euch nicht aus Eurer Burg vertreiben und nicht aus Eurem Land, und ich dachte…«
»Mendrion hatte recht, du denkst zu viel«, schnitt ihm Dannen das Wort ab. »Besieg mich im Schwertkampf, dann reden wir weiter. Du willst das nicht, um so mehr will ich das. Weil ich weiß, was ich kann. Du bist stark, das kann dir von mir aus in Loringaril helfen, aber beim Schwertkampf kommt es aufs Können an, nicht auf die reine Kraft. Besieg mich mit dem Schwert - und von mir aus soll dabei keiner von uns das Heilige Schwert führen, damit wir die gleichen Voraussetzungen haben. Wenn du mich besiegst, sollst du recht haben. Aber wenn ich dich besiege, rechne nicht damit, daß ich dich am Leben lasse.«
»Genau das wollte ich zu Euch nicht sagen müssen«, flüsterte Varyn. »Fragen wir doch Eure Frau, was für ein Duell sie wünscht. Sie will nicht, daß ihr Kind ohne Vater aufwachsen muß, und sie will sicher auch, daß es ein Anrecht auf den Thron hat…« Hana wurde es schwarz vor Augen. Er hatte sie bemerkt! Er hatte sie angesehen! Aber alles was ihn interessierte, war Hanas Schwangerschaft…
»Meine Frau hat damit nichts zu schaffen«, sagte Dannen. »Mein Schwert, mein Leben, meine Entscheidung. Besiege mich mit dem Schwert. Und das ist mehr als alles, was du sonst von mir erwarten kannst.«
Was danach kam, falls noch etwas kam, hörte Hana nicht mehr. Und sie wußte auch nicht, ob es Dannen war, der sie auffing - aber sie wünschte sich, es wäre Varyn.