Zwölftes Kapitel

Eigentlich war es ganz einfach. Einfach beschissen. Immer wenn Dannen dachte, daß er jetzt endlich wieder die Kontrolle über sein Leben bekam, passierte etwas, das all seine Pläne unmöglich machte. Er hatte inzwischen raus, was los war. So fühlte es sich an, wenn sich Vigilander, Engel der Rache, an seinem eigenen Haus rächte. Natürlich, sie hatten nichts Besseres verdient nach dem, was Dannens Vater unternommen hatte, um seine Kriege zu bekommen, dann und wie er sie haben wollte, und sicher war er nicht der Erste, der auf die Idee kam. Aber warum ausgerechnet Dannen? Er hatte doch nie die Gelegenheit bekommen, irgendwas besser zu machen - was war das, Sippenhaft? Oh, es sah Vigilander ähnlich, so ähnlich… Nun gab es also ein Duell. Und Dannen wußte jetzt schon, daß er nicht einfach in Ehre verlieren konnte - so leicht kam er aus der Geschichte nicht raus. Wenn nicht Vigilander selbst, dann würde sein Werkzeug, das verdammte Schicksal, es schon so einfädeln, daß Dannen am Ende tot am Boden lag. Und darauf hatte Dannen zugegeben wenig Lust.
Im Ernst, er hatte nicht damit gerechnet, daß ihn irgendwer zum König krönen würde - nicht der Richter und auch sonst niemand. Egal, ob er das richtige Schwert hatte oder das falsche, egal ob er es mit Ruß einschmierte oder nicht, er konnte gar nicht gekrönt werden. Wer immer die Gesetze gemacht hatte, Dannen kam nicht um sie herum, und es konnte nun einmal kein neuer König gekrönt werden, bevor der alte begraben war. Wer war auf die Idee gekommen? Die Koristoi? Hatten die Angst, daß der Tote doch noch mal aufwachen würde und sich dann ärgern, daß ein anderer auf seinem Stuhl saß? Dies war Doubladir! Das war keine Frage von ‘Er sieht aus, als ob er nur schläft’ - das war eine Frage von ‘Kommt der Kopf in die gleiche Kiste wie der Rest?’ Und selbst wenn, wurde es dann besser, wenn man den Scheintoten erst mal in seinem Sarg eingeschmiedet hatte?
Dannen konnte mit niemandem darüber reden. Wie auch? Es war ja nur gegen ihn gerichtet, nicht gegen den Rest der Familie: Jaro ging es gut, der freute sich, daß er sich mal vor seinem großen Bruder nützlich machen konnte und nicht nur der kleine Weichling war - man konnte fast meinen, Jaro freute sich über die ganze Geschichte mit Varyn. Leota hatte sich nicht zu beklagen, die hatte den einfachsten Teil von allen, da konnte ihr nichts passieren. Seine Mutter? Dannen hätte ausspucken mögen. Seine Mutter hätte er zwanzig Jahre früher gebraucht; daß sie ausgerechnet jetzt wieder einziehen wollte, war nur peinlich, aber er hatte nicht die Macht, sie rauszuschmeißen - das hätte sein Vater tun müssen, und nun, da der tot war, bekam man die kleine dicke Klette wohl gar nicht mehr los.
Gerrat. Mit dem hätte er reden können, damals. Dannen mochte nicht zugeben, wie sehr Gerrat ihm fehlte. Und das nicht nur, weil er selbst aus dem Schneider gewesen wäre, wenn Gerrat noch gelebt hätte, um sich Vigilanders Rache selbst anzuziehen. Aber vielleicht hieß das auch nur, daß Dannen der Nächste war. Dann Jaro, oder erst Leota, bis am Ende nur der verdammte Bastard noch übrig war… Aber nicht so. Nicht mit Dannen. Dannen hatte nicht darum gebeten, einhändig die Familie retten zu müssen. Und auch nicht, König zu werden. Der einfachste Weg aus der Sache raus war, die Brocken hinzuschmeißen, aber so, daß es niemand merkte. Alles hatte er geplant. Mit Varyn konnte man reden, irgendwie, es durfte nur kein anderer dabei sein -
Und dann kam Mendrion. Verdammter verdammter verdammter Mendrion. Er dachte, es wäre Verrat, daß er sich auf Varyns Seite geschlagen hatte. Aber der eigentliche Verrat war, daß er Dannens perfekten Plan ruinierte, unauffällig seine Familie aus der Geschichte rauszuziehen und, während er so tat, als hielte er das Wappen seines Hauses hoch und kämpfe um Ruf und Recht, sich ein ruhiges Leben auf dem Land sichern. Statt dessen kam der Hauptmann an. Dannens oh so guter Freund, bereit, zwischen beiden Fronten zu vermitteln, kam und machte alles kaputt. Dannen hatte ein Gesicht zu wahren, und jetzt mußte er es mit seinem Blut verteidigen. Irgendwie freute er sich darauf.
Und selbst das war nur die halbe Wahrheit. Dannen wußte nicht, was er wollte - was sein, was werden; alle Möglichkeiten, die er im Kopf durchspielte, gefielen ihm nicht. Ein Arschloch, ein Feigling, alles zusammen - er hätte nie gedacht, daß er mal dazu ausersehen sein sollte, ein Schurke zu sein, ein Ekel, einer, den es zu besiegen galt, wenn die Welt gerettet werden sollte: Die Chance hätte Dannen doch gern selbst gehabt. Warum erschien ihm kein Engel? Warum sagte keiner, Dannen, das Schicksal der Menschheit liegt in deinen Händen? All die Jahre, während der Dannen versucht hatte, ein mustergültiger Sohn seines Hauses zu sein, die Familie vor Schande zu bewahren, alles zu tun, was und wie sein Engel wollte? Was bekam er dafür? Nur Arschtritte. Nichts als Arschtritte.
Dannen hätte sich betrinken mögen, er trank oft in letzter Zeit, wie passend zu der Rolle eines Schufts, aber zum einen durfte er das nicht so kurz vor dem alles entscheidenden Duell, und zum anderen hatte er nicht die Zeit dazu. Gerade lang genug, um zu versuchen, einen klaren Kopf zu bekommen und seine Dinge zu ordnen - keinen Wein. Es sollte schon so aussehen, als böte er Varyn den Kampf seines Lebens. Und dann nur gerade so eben verlieren, aufrecht und ehrenvoll. Das konnte so schwer doch nicht sein -
Aber das Schicksal ließ nicht mehr zu, daß irgendjemand Dannens Namen und das Wort Ehre in einen Mund nahm.
»Also gut«, hatte Varyn gesagt. »Wie Ihr wünscht. Ich hätte Euch gern eine andere Lösung angeboten, aber es geht um Euer Land - dann werden wir uns duellieren.«
Und da standen sie nun im Burghof, jeder mit einem Schwert in der Hand, bereit, einander die Knochen zu brechen. Das Schwert in Varyns Hand gehörte Mendrion, welch gnädiges Angebot, auf Vigilanders Schwert zu verzichten, und Dannen hatte sich dann vergleichbar edelmütig gezeigt und sich selbst irgendein fremdes Schwert ausgeliehen - gleiche Chancen für beide, und niemand sollte mehr sagen können, Sieg oder Niederlage lägen am Schwert. Aber was Dannen nicht bekommen hatte, war die Gelegenheit, unter vier Augen mit Varyn zu reden. Vielleicht war es ganz gut so; wenn Varyn wüßte, daß Dannen vorhatte, ihn gewinnen zu lassen, wäre sicher der Edelmut mit ihm durchgegangen oder sein Sinn für Ehre oder was auch immer, so sollte er denken, daß er aus eigener Kraft über Dannen siegte, zumindest, bis der Kampf vorüber war. Danach konnte, und würde, Dannen ihm das noch unter die Nase reiben, kraftvoll und häufig. Aber bis es soweit war…
Dannen legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. So blieb er einen Moment stehen, in sich gekehrt wie einer, der Kraft aus seiner Tiefe schöpfte oder aus dem Blut seiner Ahnen, vielleicht hielt er ja auch stille Zwiesprach mit dem Engel, der ihm das Ganze eingebrockt hatte, egal, Hauptsache es sah eindrucksvoll aus. Es war nicht das erste Duell, das im Burghof stattfand; es gab kleine Tribünen an den Seiten für die Zuschauer, und auch wenn es schweinekalt war und kein Vergnügen, dort zu sitzen. In jedem Fall hockten sie dort dicht an dicht - ihnen konnte immer noch der Hintern abfrieren, aber zumindest nach den Seiten hielten sie sich kuschelig war - und konnten es nicht erwarten, das erste Blut zu sehen.
Die Fronten waren ungerecht verteilt. Natürlich, Dannens Familie saß in der ersten Reihe, aber was hieß das schon? Das waren Jaro, Hana und seine Mutter, selbst wenn die versuchen sollten, ihn anzufeuern, würde man sie nicht hören können unter dem Johlen und Grölen von Varyns Männern. Mußte der Junge unbedingt gleich das halbe Heer mitbringen, nur um zu zeigen, wie toll er war? So sah es für Dannen aus, als wäre er von Feinden umgeben, und ehrlich, zu denen zählte er zumindest seine Frau. Mußte sich in alles einmischen, fiel im unpassendsten Moment in Ohnmacht, und wenn sie ihm richtig eins auswischen wollte, würde sie gleich auch noch ihr Kind bekommen und alle Leute ablenken, die doch eigentlich sehen sollten, wie Varyn Dannen dramatisch in die Knie zwang.
Dannen hoffte, daß Varyn gut war. Es war viel leichter, gegen jemanden zu verlieren, der gut war. Varyn hatte niemals richtig kämpfen gelernt, er mußte mit Stärke wettmachen können, was Dannen ihm voraushatte. Und Dannen kämpfte mit dem Schwert, seit er ein kleiner Junge war. Jede freie Stunde hatte Dannen geübt, geübt, geübt, hatte Gerrat das Trainingsschwert in die Hand gezwungen, um einen Gegner zu haben und nicht nur auf Strohpuppen eindreschen zu müssen - Dannen kämpfte, um die Familienehre wiederherzustellen, um von seinem Vater anerkannt zu werden, und später auch, um Gewicht zu verlieren. Dannen war gut. Verdammt gut. Im ganzen Leben hatte er diese Kunst noch nie wirklich brauchen können - außer jetzt. Und ausgerechnet jetzt, wo es darauf angekommen wäre, wollte er verlieren… Dannen haßte sich jetzt schon. Wenigstens das war eine gute Voraussetzung für das, was noch kommen würde.

Dannen atmete durch. Sie hatten keinen Schiedsrichter, brauchten auch keinen als den Elomaran Vigilander persönlich, denn der Kampf würde so laufen, daß das Ergebnis eindeutig war, ein Sieger auf der einen Seite, ein Verlierer auf der anderen. Aber das bedeutete, sie hatten auch niemanden, der 'Los!' rief. Es gab keinen, dem sie so weit trauen konnten - alle Anwesenden für den einen oder den anderen, ein verfrühter Start, der Varyn auf dem falschen Fuß erwischte, konnte Dannen alles zunichtemachen. Darum zögerte er. Ohne die Zuschauer wäre das alles kein Problem gewesen, man blickte sich an, nickte, und dann ging es los. Doch so hing zu viel davon ab… Dannen öffnete die Augen. Er war nervöser, als er das zugeben wollte.
»Bereit?« fragte Varyn auf der anderen Seite des Hofes.
»Bereit«, sagte Dannen. Und dann ging es los, mit langsamen, festen Schritten traten sie aufeinander zu, maßen mit den Augen den Gegner, holten dabei aus zum ersten Schlag, warteten auf einen Fehler, eine falsche Bewegung, und dann, als hätte eine Stimme, die nur sie beide hören konnten, 'Los!' gerufen, begannen sie zu kämpfen.
Varyn mußte, seit er von Mendrion seine allererste Lektion bekam, Unterricht im Schwertkampf bekommen haben. Alles andere wäre von den Seiten der Männer, die ihn begleiteten, grober Unfug gewesen, sie konnten den Burschen nicht auf der einen Seite zu ihrer aller Anführer ernennen und auf der anderen zulassen, daß er mit dem Schwert dastand wie ein talentierter Idiot. Rul war kein schlechter Kämpfer - er war ein schlechter Mensch, aber das war eine andere Sache - und spätestens Mendrion selbst wußte, wie es um Varyns Kampfkünste bestellt war, und hätte eingreifen müssen, um Varyn zu unterrichten. Aber was immer sie ihm gesagt haben mochten, in dem Moment, wo es losging, schien der Junge alles über den Haufen zu werfen und nur noch das zu machen, was er gerade wollte. So stand er da, das Schwert mit beiden Händen weit ausgeholt, kraftvoll, aber eine Spur zu langsam.
Dannen kämpfte mit einer Hand. So hatte er es gelernt, und für jemanden, der in der Schlacht vom Pferderücken aus kämpfen wollte, ging das gar nicht anders, eine Hand brauchte er, um das Pferd zu führen - wenn er nicht auf dem Pferd saß, nahm er einen Schild, aber Varyn hatte keinen haben wollen, sicher eine kluge Entscheidung, wenn er noch nie einen in den Fingern gehabt hatte, und so verzichtete auch Dannen. Der freie Arm war eine lausige Deckung, aber er konnte damit immer noch die Ballance halten, und ein einfacher Holzschild hätte auch nicht lang gehalten, wenn Varyn da beidhändig das Schwert gegenbrettern sollte. Einen gebrochenen Arm mußte Dannen riskieren. Gebrochene Rippen sowieso. Die Lederrüstung hielt nicht unendlich viel aus, aber dafür konnte man sich darin bewegen, und zumindest Dannen wußte, wie das ging. Rüstungen mußten für Varyn neu sein. Noch ein Punkt für Dannen. Er hoffte, daß nicht zu viele davon zusammenkommen sollten.
Dannen schlug schnell zu und setzte auf Beinarbeit. Er wußte, wie das ging - wieder etwas, das er Varyn voraushatte - und vor allem sah das eindrucksvoll aus. Schnelle Füße, die den Staub auf dem Burghof hätten aufwirbeln lassen, hätte das Wetter ihnen keinen Strich durch die Rechnung gemacht, im Sommer kämpfte es sich deutlich besser. Bei diesen tiefhängenden schwarzen Wolken konnte es ebenso gut gleich anfangen zu schneien, und dann machte es endgültig keinen Spaß mehr, nichts sah lächerlicher aus als ein Kämpfer, der ausrutschte und sich auf den Arsch legte. Dannen hoffte, daß der Kampf ein Ende hatte, bevor es soweit kam.
Aber er gab seinem Publikum, was es sehen wollte. Schwert traf auf Schwert mit metallischem Klirren - Varyn konnte es nicht wissen, er mußte denken, das gehörte sich so, aber hätte Dannen siegen wollen, hätte er niemals nach dem Schwert geschlagen. Deckung war die Schwachstelle des Jungen, er war so stark, wie er behauptet hatte, aber hätte Dannen ihn wirklich besiegen wollen…
Dannen täuschte eine Drehung nach rechts an, wirbelte in Wirklichkeit links herum und erwischte Varyn von hinten, nicht so, daß er ihn richtig traf, aber die Zuschauer machten einmal »Oh!«, und vielleicht, für einen Augenblick, bewunderten sie Dannen doch ein wenig. Sie sollten geboten bekommen, wofür sie gekommen waren.
In Wirklichkeit ging es Dannen aber vor allem darum, sich nicht richtig treffen zu lassen. Das war immer noch Varyn mit dem anderen Schwert in der Hand, der ahnte noch nicht, daß Dannen ihn so oder so gewinnen ließ, und das hieß - er konnte, wenn Dannen nicht gut aufpaßte, ihn wirklich verletzen. Zum Beispiel jetzt, wo er das Schwert mit beiden Händen so hoch über Kopf ausholte, als wolle er Dannen damit von oben auf den Schädel schlagen. Auf sowas war Dannen vorbereitet. Er nahm sein Schwert quer und blockte Varyns Angriff schnell und sicher, auch wenn es bedeutete, die Distanz aufzugeben und dicht an Varyn heranzugehen - die Distanz konnte er schnell wiederherstellen, aber eine Schädeldecke nicht so schnell.
Einen Moment lang standen sich die beiden dicht an dicht gegenüber, daß Dannen Varyns Atmen hören konnte - und der Junge hatte noch viel davon. Auch wenn er den halben Tag geritten war und sich nicht mehr auf den Kampf hatte vorbereiten können als Dannen, würde es lang brauchen, um ihn aus der Puste zu bringen. Gleich würde er einen Schritt zurück machen müssen, so wie Dannen ihm das Schwert nach hinten schob - aber statt dessen beugte Varyn den Kopf vor und flüsterte: »Ich habe Euch durchschaut.«
»Was?« entfuhr es Dannen, aber da standen sie schon wieder in Position, und es brauchte drei weitere Schlagwechsel, bis Varyn wieder nah genug an ihm heran war, um zu zischen: »Ihr wollt mich verarschen, ich laß mich aber nicht verarschen.« Aber er schien nicht vorzuhaben, Dannen auffliegen zu lassen - sonst hätte er das nicht so perfekt auf seine Bewegungen abgestimmt, daß das Publikum nichts von den leisen Wörtern mitbekam, sondern nur zwei Männer sah, die sich einen technisch eher ungewöhnlichen Schwertkampf lieferten.
»Ich will, daß Ihr Euch Mühe gebt«, sagte Varyn, als sein Mund zum dritten Mal nah an Dannens Ohr vorbeikam. »Ich will, daß ihr um den Sieg kämpft.«
»Sonst?« fragte Dannen.
Ein sehr kurzes Lächeln blitzte auf, nur für ihn, für alle anderen war es unsichtbar. »Sonst töte ich Euch«, sagte Varyn. Und dann ging er zum Angriff über.

Erst dachte Dannen noch, daß Varyn nur drohte. Vielleicht wollte er Dannen anfeuern, den Kampf interessanter gestalten, spannender - es war schlimm genug, daß er Dannen durchschaut hatte, Dannen wußte nicht, an was, er wußte, daß er gut gekämpft hatte und so, als ob es echt war, aber das Erste, was man im Umgang mit Varyn lernen mußte, war, ihn nicht zu unterschätzen. Und das mußte Dannen gleich noch einmal, denn Varyn drohte nicht. Er wollte ihn wirklich umbringen. Jetzt begann Dannen zu kämpfen - um sein Leben.
Er hätte nicht erwartet, daß Varyn sich dermaßen schnell bewegen konnte. Seine Technik war nicht vorhanden, seine Haltung lächerlich, seine Deckung löchriger als ein Sieb. Aber er war verdammt schnell, und gerade weil er keine Technik hatte, konnte Dannen seine Schläge nicht vorhersehen. Er konnte reagieren, sie abwehren, die meisten davon gerade so eben - es war, als kämpfe man gegen diese verfluchten Kopfschmerzen nach einer durchsoffenen Nacht: Man wußte, daß sie da waren, aber nicht, wo sie als nächstes zuschlugen, sie waren von einem schmerzhaften Lichtblitz begleitet, und kaum hatte man einen überstanden, kam der Nächste an genau der Stelle, von der man dachte, sie wäre von dem ganzen Übel verschont geblieben.
Das hatte nichts mehr zu tun mit der großen Schau, die Dannen seinen Zuschauern bieten wollte, der Kampf zweier begabter junger Männer, von denen am Ende einer ein bißchen begabter war als der andere, Dannen, der dramatisch auf ein Knie ging, Schwerthand ans Herz, ‘Ich hasse es, das zugeben zu müssen, aber du hast mich besiegt… Ich gebe mich geschlagen, du warst einfach besser als ich…’ Applaus von allen Seiten, Jubel, Johlen, Dannens Familie tat so, als würde sie ihm Trost zusprechen, immerhin hatte er einen großen Kampfgeist an den Tag gelegt, während sie ihn in Wirklichkeit dafür haßten dafür, daß er gerade das Erbe seiner Väter verspielt hatte, doch damit konnte er leben -
Nichts davon. Dannen hätte zwei Schwerter gebraucht, eines in jeder Hand, um sich diesen Varyn vom Leib zu halten. Seine Schläge kamen so hart und stark, daß Dannen sie kaum blocken konnte - er konnte sein Schwert gegen Varyns schlagen, es machte einfach keinen Unterschied, außer daß es Dannen halb den Arm aus der Schulter riß. Dannen mußte das nicht! Er konnte auch sein Schwert wegschmeißen und direkt aufgeben, Varyn würde nicht einen unbewaffneten Mann schlagen, und wenn doch, konnte Dannen immer noch die Beine in die Hand nehmen und wegrennen - ja, dann hielt ihn jeder für einen Feigling, aber he, er war am Leben.
Doch so ging das nicht. Dannen hatte noch nie so einen Kampf gehabt - tatsächlich hatte er noch nie einen Kampf gehabt, bei dem es um irgendetwas ging, dies war das erste Mal in seinem Leben, daß er die Chance hatte, um irgendetwas zu kämpfen. Nein, auch das nicht - aber es war das erste Mal, daß er die Herausforderung annahm. Er hatte nicht um Hana gekämpft, weder, als sie noch zu haben war, noch nachdem er sie hatte, er war immer davongelaufen, immer davon ausgegangen, daß er sowieso verloren hatte, und daß er in der Lage war, halbwegs elegant und kraftvoll mit einem Schwert herumzufuchteln, war kein Ausgleich dafür, daß Dannen niemals kämpfte. Jetzt kämpfte er, um alles.
Es ging nicht um sein Überleben. Es ging nicht um die Frage, wer König wurde. Es ging nur darum, zu gewinnen, ein einziges Mal im Leben.
Dannen begriff das alles, ohne zu denken. Sein ganzes Hirn war damit beschäftigt, den Körper zu kontrollieren. Das war keine Frage mehr von Beinarbeit oder Drehungen oder Technik oder irgendetwas, das einen Namen hatte oder das einem der Vater beibringen konnte. Die Zuschauer waren vergessen wie alles andere, Dannen kämpfte nur noch, wie er noch nie gekämpft hatte. Wieder kam die Klinge von oben auf ihn herunter, wieder riß Dannen den Arm hoch, um sie zu blocken - und Varyn nahm den Schwung seiner Bewegung, zog das Schwert nach hinten weg und nach unten durch und traf Dannens Arm mit aller Gewalt mit dem Knauf.
Dannen brüllte vor Schmerz auf und ließ sein Schwert fallen. Er versuchte noch, es mit der anderen Hand zu fassen zu bekommen, doch er griff daneben, und es landete klirrend auf dem Boden. Aber das Schwert war egal - Dannen wußte, daß sein Knochen gebrochen war, noch bevor er sah, wie krumm ihm der Arm herunterhing. Dann biß er die Zähne zusammen, nicht weil das den Schmerz unterdrückte, aber um nicht noch einmal zu schreien. Etwas stimmte nicht, aber Dannen brauchte einen Moment, um zu begreifen, was es war. Varyn hatte sein Schwert sinken gelassen. Er schlug nicht weiter zu.
Und dann merkte Dannen, warum das so war. Er kniete am Boden. Nicht dramatisch mit der Hand über dem Herzen, aber wie ein Mann, der wußte, daß er verloren hatte. Sie wußten es beide. Sie wußten es alle, jeder Einzelne, der dort saß, konnte es sehen. Er hatte verloren. Nur warum fühlte sich Dannen dann plötzlich so gut, trotz Schmerzes im Arm, der ihm fast den Atem nahm?
Vielleicht, weil er es versucht hatte, ein einziges Mal im Leben. Etwas Kaltes berührte sein Gesicht. Es hatte zu schneien begonnen.

Später folgte der Applaus für den Sieger. Später folgte die Demütigung. Die Zuschauer konnten einen falschen Kampf nicht von einem echten unterscheiden, sie taten das, was Dannen von ihnen erwartet hatte vom ersten Moment an, und er haßte sie dafür. Alle.
Hana, von der man ihm hinterher sagte, sie hätte geschrien, als Varyn Dannens Arm traf - wenigstens fiel sie nicht noch mal in Ohnmacht, endlich fing sie an, sich zu verhalten, wie es sich für eine brave Ehefrau gehörte, und Dannen wollte sie nicht sehen, noch weniger mit ihr sprechen, sollte sie in ihrem Zimmer verschwinden, bis das Kind auf der Welt war, sie hatte sich schon genug Mühe gegeben an diesem Tag, Dannen zu demütigen im Namen der Ehre und Vernunft, den Triumph mußte er ihr nicht noch einmal geben. Mendrion, der wieder versuchte, ihm gut zuzureden; Rul, der ihn nur verhöhnen wollte; Jaro, dem kein vorwurfsvolles Wort über die Lippen kam und der sicher insgeheim schon ein tödliches Gift zusammenbraute, sie konnten ihm alle gestohlen bleiben. Es gab einen einzigen Menschen, mit dem Dannen jetzt reden wollte. Und der ließ auf sich warten. Wollte vielleicht seinen Sieg feiern…
Dannen zischte durch zusammengebissene Zähne. Das war nicht sein erster gebrochener Arm, aber das andere Mal lag so lange zurück, daß er vergessen hatte, wie scheußlich die Schmerzen waren und wie hartnäckig - damals war er als kleiner Junge vom Pferd gefallen und hatte sich unglücklich mit dem Arm abgefangen, vielleicht hatte es einen anderen Knochen erwischt als Varyn jetzt. Vielleicht durfte es auch damals nicht so weh tun, weil es Dannens eigene Schuld war; jetzt hatte ihn ein anderer verletzt, und das mit purer Absicht - und doch war es immer noch Dannens Schuld. Er verfluchte sich. Den Schlag hätte er kommen sehen müssen.
Zumindest hatte er jetzt eine Gelegenheit, unter vier Augen mit Varyn zu sprechen, lieber wäre ihm aber doch, das hätte er schon vorher gekonnt. Nicht, weil er dann keinen gebrochenen Arm hätte, aber weil er sich dann jetzt so hemmungslos betrinken könnte, bis er den Arm nicht mehr fühlte. Nun mußte das warten, bis er mit den Jungen geredet hatte. Aber die Schmerzen ließen Dannen zumindest schnell zur Sache kommen, statt um den heißen Brei herum zu reden.
»Du hast mir den Arm gebrochen, verdammte Axt!«
»Und ich hätte Euch noch ganz andere Dinge gebrochen«, erwiderte Varyn ruhig. Das Schlimme war, daß Dannen ihm glaubte. Wo war der Kerl dermaßen kalt geworden - schon im Krieg, oder lag das an der ungewohnten Macht? Dannen hätte schwören können, daß Varyn längst nicht so skrupellos war, als sie sich kennenlernten. Sie hätten ihn damals nicht einkerkern dürfen, das war es! »Glaubt Ihr, ich lasse mich einfach so verarschen?«
Dannen schüttelte den Kopf. »Das war nicht gegen dich gerichtet -«
»Sondern gegen Euer Volk, glaubt Ihr, das soll ich besser finden?« Es klang fast, als wäre Varyn zornig auf Dannen - warum, reichte es ihm nicht, daß er gesiegt hatte?
Dannen versuchte zu lachen, aber sein Arm lachte in die falsche Richtung. »Was sollte ich machen, ich kann dir mein Land nicht kampflos geben, ich würde sonst alles verraten, wofür meine Familie tausend Jahre lang gekämpft hat.«
»Und tut Ihr das so nicht?« Varyn schüttelte den Kopf, daß kleine Schweißperlen von seiner Stirn und seinem Kinn in alle Richtungen flogen. Immerhin hatte der Kampf ihn angestrengt. War das Dannens Verdienst? »Ihr hättet echte Größe zeigen können statt dieses erbärmlichen Schauspiels!«
Und Dannen ließ ihn mit sich schimpfen wie ein kleiner Junge, wo ihn nicht der Kampf erledigt hatte, taten das nun die Schmerzen. Richtig schlimm war es ja erst, seit sie ihm den Arm gerichtet und geschient hatten; daß der Knocheneinrichter zugleich als Henker arbeitete, wenn es nötig war, merkte man schon irgendwie. Dannen hätte sich nicht gewundert, wenn der Arm jetzt erst recht schief zusammenwachsen würde, er brauchte ihn noch, mit Links fehlte ihm einfach das Geschick zum Kämpfen. »Woran hast du das überhaupt gemerkt?« An Dannens Kampfkunst konnte es nicht gelegen haben, dafür war er zu gut und hatte sich zu große Mühe gegeben -
»Eure Augen«, sagte Varyn.
»Was war mit meinen Augen?«
»Sie haben die Farbe nicht geändert«, antwortete der Junge. »Wenn Ihr etwas wirklich wollt, wenn Ihr an eine Sache glaubt -«
»Ich weiß, ich weiß«, fiel ihm Dannen ins Wort. Das hatte seine ganze Familie, bis auf seine Mutter, natürlich. Augen, die von braun nach grün wechselten, zuverlässiger und unberechenbarer als eine Schwertklinge, deren Zauber man mit Ruß beschwören konnte. »Aber woher weißt du das?« So oft hatte Varyn ihn nicht getroffen, wenn Dannen in dieser Stimmung war, eigentlich sogar noch nie. Als er auf der Mauer stand, war er vielleicht zornig und hatte sich zum Narren gemacht, aber nicht einmal das war ihm wirklich wichtig genug. Woher also…?
»An dem Tag, als wir uns kennengelernt haben«, sagte Varyn leise. »Erinnert Ihr Euch, Ihr wolltet mich zurückhalten, als ich versucht habe, den Berg zu töten?« Erstaunlich genug, daß er sich selbst daran erinnerte, wenn jemals einer von Sinnen war, dann Varyn in dem Moment!
»Und da haben meine Augen…«
Varyn nickte.
Dannen wußte immer noch nicht, was er denken sollte, am wenigsten von sich selbst. Aber vielleicht, wenn er sich nicht entscheiden konnte, was er wollte, sollte er öfter einmal in den Spiegel schauen.
»Also gut«, sagte er. »Sprechen wir von etwas anderem. Ich lasse dich hier rein, von mir aus auch einziehen. Deine Männer schickst du nach Hause, der Krieg ist vorbei, ich will sie hier nicht mehr sehen. Und die Burg, die gehört mir. Meine Familie, meine Mutter, meine Frau, die wirst du nicht behelligen. Sie werden weiterhin hier wohnen und das Sagen haben wie vorher. Du kannst König werden, von mir aus. Aber wir sind immer noch von Vigilanders Blut. Finde dich damit ab.«
»Keine Einwände«, erwiderte Varyn. »Ich hätte Euch das Gleiche vorgeschlagen, aber Ihr mußtet ja lieber kämpfen, statt mich ausreden zu lassen. Was will ich mit so einer riesigen Burg? Ich habe keine Familie mehr, um sie auszufüllen.«
»Du hast Gaven«, antwortete Dannen. »Und mehr Brüder habe ich auch nicht mehr.«
»Ihr habt -«, begann Varyn, fing einen Blick von Dannen ein und schwieg. Vielleicht waren Dannens Augen gerade grün geworden? »Wir sind uns also einig?«
Dannen reichte ihm die Hand drauf, aber nur die linke. Wenn das für Varyn dann kein gültiger Händel war, selbst schuld. Niemand hatte ihn gezwungen, Dannens Arm zu brechen. Aber für einen Moment war es Dannen ganz leicht ums Herz. Wenn er sein Königreich beim Würfel verspielt hätte, hätte es ihm nicht bessergehen können. So fühlte sich eine Niederlage ein, die eigentlich ein Sieg war.
Zumindest für den Moment.

Halb wie ein Spion fühlte Dannen sich, und halb wie ein Verräter, als er an die Zimmertür des Jungen klopfte. War es nicht erstaunlich, wie schnell jeder von den Eindringlingen seinen Platz in der Burg gefunden hatte, als habe sie nur darauf gewartet? Viel zu viele Räume für die Familie eines Mannes, der seine eigene Frau aus dem Haus getrieben hatte, und da konnte der König noch so sehr versuchen, die Lücke mit Bastarden zu füllen - es blieb einfach eine viel zu große Burg. Sie nannten das dann Gästezimmer, für Kriegsräte und Jagdgesellschaften, und den Leuten unten aus der Stadt konnte man erklären, daß sie im Belagerungsfall alle in der Burg in Sicherheit gebracht werden konnten, obwohl es so viele Räume dann doch nicht waren - natürlich, die einfachen Leute konnte man auch zu zehnt auf ein Zimmer quetschen, aber in ein Bett paßten sie nicht, und so war doch offenbar vorgesehen, daß bei der Belagerung der eine oder andere zu Tode kommen sollte.
Die leeren Räume waren noch kälter und zugiger als die bewohnten, jetzt erst recht, aber egal was auch passiert sein mochte, es war immer noch Dannens Burg. Selbst Varyn gab das zu, und er gab sich damit zufrieden, in einem Gästequartier untergebracht zu werden - zumindest vorübergehend, denn mit der Krönung würde sich das sicher ändern, und dann wurden auch die Karten neu gemischt, was die Hausherrschaft anging. Aber Gaven, auf der anderen Seite, konnte froh sein mit dem, was er hatte, und das Zimmer, das man ihm zugeteilt hatte, war allemal besser als die Kerkerzelle, auch wenn er dort unten Zugang zu einem Ofen hatte und hier den halben Winter im Zimmer. Dannen wartete nicht auf ein Herein. Wenn der Bursche keinen Besuch wollte, sollte er gefälligst den Riegel vorschieben.
Womit immer Gaven gerechnet haben mochte, Dannen war das offenbar nicht, so groß waren die Augen des Jungen, als Dannen plötzlich im Zimmer stand. Gaven wich einen Schritt zurück, suchte entweder nach einer Waffe oder einem Versteck - was erwartete er? Daß sich Dannen an ihm für den verlorenen Kampf rächen würde? Ging es noch? Wie tief sollte Dannen denn noch fallen, sich an einem wehrlosen Kind auslassen? Er hob beschwichtigend die Hände.
»Gaven, keine Bange, ich tu dir nichts. Ich habe dir nie was getan und hab es auch nicht vor.«
»Aber, Varyn…« murmelte Gaven, und Dannen, der noch nie Furcht in den Augen den Jungen gesehen hatte, kam sich wie ein feister Feind vor.
»Varyn ist nicht hier«, sagte Dannen und zog die Tür hinter sich zu. »Ich komme allein, und ich will nur reden.«
»Mit mir?« Was war nur in der Zwischenzeit aus dem Jungen geworden? Dannen hatte ihn anders in Erinnerung, stolzer und selbstbewußter. Es war wohl ein Unterschied, ob er Varyns einzige Stütze war oder nur noch einer von hundert Gefolgsleuten. Und genau darauf gedachte Dannen nun zu bauen.
»Natürlich mit dir«, sagte er. »Was ist los, bist du nicht mehr daran gewöhnt, daß dich irgendwer wahrnimmt, jetzt wo Varyn so ein strahlender Held geworden ist?« Er registrierte ein schmerzliches Zusammenzucken - richtig geraten, wunden Punkt erfolgreich getroffen. Dannen setzte ein Grinsen auf. »Glaub mir, ich kenne mich mit sowas aus. Bin fast mein ganzes Leben lang nur 'Bruder Von' gewesen.« Wollte er das wirklich? Sich mit einem dreizehn, vierzehn Jahre alten Kind verbünden? Hatte er sonst keine Freunde mehr übrig? Dannen schüttelte den Kopf. Es ging doch nur darum, aus Gaven Informationen herauszukitzeln über den neuen Varyn, an die er sonst nicht ohne weiteres rankommen würde. »Hast du Lust, ein Bier mit mir zu trinken?«
Gaven fletschte die Zähne. »Wenn Ihr mich abfüllen wollt, um mich auszuquetschen oder Varyn eine reinzuwürgen…«
»Was dann?« Dannen wußte, daß Varyn immer mit Adleraugen darüber gewacht hatte, daß Gaven keinen Alkohol bekam - völlig übertriebene Fürsorge, der Bursche war längst alt genug für ein Bier, aber so war das nun mal mit Brüdern, die nicht merken wollte, Gaven zuckte die Schultern. »Geht Euch nichts an. Auf sowas falle ich nicht rein.«
Dannen seufzte. »Hör mal, ich will ein paar Bier trinken, und allein macht es keinen Spaß. Ich such jemanden zum Reden, von meinen sogenannten Freunden ist nicht viel übrig geblieben, und ich dachte, ein bißchen Abwechslung kannst du auch vertragen.«
Ein Grinsen war die Antwort, kein vergnügtes. »Wir haben keine große Wahl mehr, nicht?« Gaven klebte an Varyn wie eine Klette, schon weil er sonst nichts mehr hatte, wo er hinkonnte. Es hätte ihm vermutlich besser getan, wenn ein paar Reiter ihn zurück in sein Bergdorf eskortierten, wo er Onkeln und Tanten haben mußte, aber das würde Varyn niemals tun, es hätte ja so ausgesehen, als ließe er sich selbst krönen und dann seinen Bruder am Rand der Welt in karger Armut aussetzen. Und wenn Gaven jetzt auf die Dauer in der Burg wohnen würde, sollte er zumindest lernen, sich dort auch zurechtzufinden. Und der Weg in den Schankkeller gehörte dabei sicher zu den wichtigeren.
»Gemütlich haben wir es hier unten, findest du nicht?« sagte Dannen, froh, daß ihnen niemand über den Weg gelaufen war - mit einem halbwüchsigen Bengel trinken zu gehen, war jetzt nichts, worauf Dannen stolz sein mußte.
Gaven nickte und kletterte auf eine der Bänke, lehnte sich zurück und schaute zu der niedrigen Decke hinauf, als wolle er das Tonnengewölbe mit dem Blick eines Bergmanns auf seine Stabilität testen. »Und das Beste ist, Varyn wird uns hier unten niemals finden, bei dem Geruch hier schafft er es nicht mal die Treppen runter.« Es war kein schlechter Geruch, auch wenn man merkte, daß hier schon der eine oder andere Krug Bier oder Wein seinen Weg auf den Fußboden und in die Ritzen der Tischplatte gefunden hatte statt in einen durstigen Mund. Man mußte halt selbst zapfen - so sehr einem Königshof auch ein eigener Kellermeister zu Gesicht stand, war doch jeder, der bezahlt werden wollte, einer zuviel, und wo die Dienerschaft sein mußte, weil die Gäste sie sehen konnten und das auch erwarteten, war so ein unsichtbarer Kerl wie der Kellerer nicht ersetzt worden, seit sich der letzte zu Tode getrunken hatte.
Dannen stellte dem Jungen einen Krug hin und nahm sich selbst einen. »Wir haben hier unten eine Regel«, sagte er. »Die Treppe wird jeder nur einmal hochgetragen. Beim nächsten Mal ist er selbst schuld, wenn er es nicht mehr alleine schafft.«
»Das heißt, heute tragt Ihr mich?« fragte Gaven, deutlich vergnügter, und versenkte sein Gesicht im Schaum.
»Wenn es sein muß…« Schwer war der Bengel nicht, und alles, was nötig war, um Vertrauen aufzubauen und an seine Informationen zu kommen, sollte Dannen Recht sein. »Aber kotz mir wenigstens nicht alles voll.«
»War nur ein Witz«, erwiderte Gaven. »Von einem Bier werd ich schon nicht besoffen.«
»Wenn du es wirklich bei einem belassen willst…« Erstmal verzichtete Dannen auf große Reden. Die ersten ein, zwei Bier konnte man auch so trinken und die Grundlage schaffen für das, was noch kommen sollte, aber dabei mußte er aufpassen, wie viel der Junge vertrug - wenn der am Ende nur noch lallen konnte, hatte Dannen vielleicht einen Freund fürs Leben gewonnen, aber sonst nicht viel. Schweigend leerte er seinen Krug, dann füllte er wie selbstverständlich beide nach, bevor er selbst anfing zu erzählen. Das Vertrauen mußte er sich erst einmal verdienen, und Gaven sollte ruhig denken, daß er wirklich nur da saß, weil Mendrion sich nicht allein betrinken mochte und einen Zuhörer brauchte.
»Es ist verdammt hart für dich im Moment, hab ich recht?« fragte er. »Die Leute tun so, als wärst du Luft, bestenfalls, alles redet nur von dem Wunderknaben und der Krönung, und keiner fragt dich, ob du nicht vielleicht auch mal etwas anderes sein möchtest als nur ein Beiwerk… Bei mir war das zumindest so. Nie ich selbst, immer nur Gerrats kleiner Bruder - ich hatte ihn gern, so ist das nicht, wir waren immerhin Brüder und so, aber so oft hätte ich ihn gegen die Wand klatschen mögen…« Das ging zu weit. Das ging Gaven nichts an. Aber vielleicht reichte das schon, daß er den Köder schluckte.
Gaven zog die Nase hoch, während er sich mit dem Handrücken Schaum vom Gesicht wischte. Wirklich, dem mußte man die Grundzüge des Biertrinkens noch beibringen, er schien sich zwar das eine oder andere von den Großen abgeschaut zu haben, aber er wußte das noch nicht richtig einzusetzen. Jede Wette, daß er jetzt Bier in der Nase hatte! »Ach, bei mir war das auch immer so«, sagte er, nachdem er aufgehört hatte zu schnaufen. »Immer der Bastard hier, der Bastard da - nur wie wir zu zweit unterwegs waren, da war das war besser - hat nicht lang gehalten.«
Dannen lachte und zapfte nach. »Auf das ewige Schicksal der kleinen Brüder!« Varyn hatte ihm Mendrion abgeworben, und Dannen war immer noch ein Erbe Vigilanders: Es gab verschiedene Arten sich zu rächen, und das war seine. Varyn würde schon noch sehen, was er davon hatte. Gaven ins Dannens Hand war allemal ein Trumpf im Ärmel.
»Er braucht mich einfach nicht mehr!« Fing das Bier an zu wirken? Wurde er Junge schon weinerlich? Dannen mußte an Leotas Versuche denken, in Elad Courblaka alles über Varyn zusammenzutragen, was die störrischen Dorflinge ihr erzählen wollten, und wie effektiv es gewesen war, einmal nur seinen Bruder Edrik tüchtig abzufüllen - aber all das war kein Vergleich zu dem Hort des Wissens, den Dannen hier im wahrsten Sinn des Wortes angezapft hatte. »Früher war ich immer… war ich immer derjenige, der ihn zurückgeholt hat - der ihm Bescheid gesagt hat, daß die Nacht vorbei ist. Aber jetzt - jetzt läuft er nicht mal mehr weg. Als ob ihm die Nacht egal ist.« Gaven schüttelte den Kopf, und als Dannen vorsichtig nachfragen wollte, was der Junge damit meinte, war der wieder ganz vergnügt und bei einem anderen Thema. »Das hier ist erstaunlich!« sagte er. »Ich hab sonst nie mehr als zwei Bier trinken können, ohne daß mir schlecht geworden ist, und das hier ist schon mein drittes!«
Dannen lachte ihn aus, aber nur ein bißchen. »Bei euch im Dorf die Bierkrüge sind viel größer als die hier, das kannst du nicht vergleichen.« Sie waren ungefähr gleich groß, wie alle Bierkrüge, aber der Junge sollte nicht aus reiner Vorsicht und Angst vor Bauchschmerzen mit dem Trinken aufhören, bevor Dannen ihn da hatte wo er wollte. Daß er jetzt mehr vertrug als früher war kein Wunder, er war älter und auch ein Stück gewachsen - das würde jetzt nicht mehr lang dauern, und Gaven war nicht mehr ein häßlicher kleiner Bursche, sondern ein häßlicher großer. Wenn Dannen ihn jetzt auch noch mit den passenden Frauen bekanntmachte, war Gaven für Varyn verloren, soviel stand fest. Aber noch nicht in dieser Nacht.
»Was soll daran schlimm sein, daß er dich nicht braucht?« fragte Dannen. »Du bist doch nicht nur für Varyn da! Willst du nicht dein eigenes Leben haben?« Was tat er da? Wollte er nicht Gaven ausquetschen? Statt dessen gab er ihm Lebenshilfe! Und was war mit Dannens eigenem Leben, wer half ihm damit? Jeden Tag konnte das Kind kommen, und dann saß er endgültig in der Scheiße, auch wenn er sich nicht genau vorstellen konnte, was genau dann schlimmer sein sollte als vorher - das Problem war ja nicht das Kind, das Problem war Hana.
»Ich will aber meinen Bruder wiederhaben«, schniefte Gaven, als ob ihm das eigene Leben egal wäre - aber wahrscheinlich war er einfach nur ein Realist; ein eigenes Leben hätte er auch nicht gehabt, wenn er in seinem Bergwerk geblieben wäre, auch ohne das Unglück.
Was immer Dannen auch geplant hatte für diesen Abend, es nahm einen ganz anderen Weg als beabsichtigt, einen, in dem Dannen da saß und einem Jungen zuhörte, der sonst niemanden mehr zum Zuhören hatte. Natürlich, es kam dabei auch einiges über Varyn zur Sprache, aber das war nicht so das Wichtige - vielleicht lag es am Bier, es machte Dannen mild und zu freundlich, aber auch das konnte nicht die ganze Wahrheit sein. Die Wahrheit war, daß er diesen Jungen irgendwie mochte, weil ihm all die Heuchelei, all das Verlogene, das Dannens Leben ausmachte, ihm fehlte. Wenn man schon Brüder haben mußte, dann so einen.
Als der Abend sich seinem Ende zuneigte, oder die Nacht dem Morgen, war es zumindest noch nicht so, daß Dannen Gaven tragen mußte. Aber ein tüchtiges Stück Unterstützung brauchte er schon, und als Dannen den Jungen in seinem Zimmer abgeliefert hatte, mußte er zugeben, daß er selbst auch nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war. Es machte ihm nichts aus, war ja nicht das erste Mal, und da er allein schlief, würde ihm auch niemand Vorhaltungen machen.
Wichtiger war die Frage, ob Gaven in der Nacht die Schüssel, die Dannen ihm aus eigener Erfahrung hingestellt hatte, rechtzeitig finden würde, und ob es ihm gelang, das Ganze vor Varyn geheim zu halten, nicht nur jetzt, sondern auch die nächsten Male. Dannen wollte nicht, daß Gaven Ärger bekam, und noch weniger wollte er selbst Ärger mit Varyn, ausgerechnet jetzt, so kurz vor der Krönung, wo Varyn ihn noch für einen Verbündeten hielt. Und bis Dannen selbst wußte, ob er das war oder nicht, wollte er sich zumindest alle Möglichkeiten offen halten.

Aber alles ging gut - traurigerweise, mußte man wohl sagen, denn das hieß, daß Gaven auch am folgenden Tag nicht viel von seinem Bruder sah, zumindest nicht soviel, als daß der gemerkt hätte, wie verkatert der Junge war. Dannen sollte es Recht sein. Er hatte noch genug eigene Dinge, um die er sich kümmern mußte, es war zwar Varyns Krönung, aber Dannen hatte die Arbeit damit. Trotzdem, wenn Varyn ihm vertraute, war das eine Menge wert. Das Nächste, was noch fehlte, war eine Gelegenheit, mit dem künftigen König persönlich zu reden. Und die kam schneller als Dannen gedacht hatte, und ohne daß er selbst versuchen mußte, das irgendwie unauffällig einzufädeln - statt dessen war es Varyn, der zu ihm kam. Nicht ganz wünschenswert - Dannen hätte gerne vorher Zeit gehabt zum Planen. Er wollte selbst die Kontrolle haben über das, was geschah. Und die hatte er sich schon zu oft aus der Hand nehmen lassen. Trotzdem, es klopfte an der Tür, und draußen stand ausgerechnet Varyn.
»Dannen…« Seine Stimme klang seltsam vorsichtig, wenn man bedachte, welche Macht der Junge inzwischen hatte, nicht nur über Dannen. »Kann ich Euch einen Moment sprechen?«
»Also gut«, sagte Dannen. Tief durchatmen. Er hatte zu oft seine Kontrolle verloren, es konnte doch so schwer nicht sein, drei Worte mit einem halbwüchsigen Burschen zu wechseln! »Um was geht es?«
Varyn verrenkte sich. Er schlang die Arme um den Körper, daß sie zu lang aussahen und seltsam verdreht, wie es einer machen würde, der nicht ganz richtig im Kopf ist. Dabei machte er den Mund auf und wieder zu, zeigte Dannen stummes Wiederkäuen statt markiger Worte, schüttelte sich und bot den Inbegriff beklommenen Unwohlseins dar.
»Was nun?« Dannens Geduld reichte nicht weit, wenn es um Varyn geht. »Willst du jetzt reden, oder willst du jetzt reden?«
Varyn atmete tief durch. »Es ist Folgendes«, sagte er. »Ich möchte gerne wissen, was genau bei der Krönung passiert.«
»Und das fragst du mich?« entfuhr es Dannen - er mußte fast lachen dabei, so absonderlich war dieser Moment. »Seh ich aus wie einer, der schon mal gekrönt worden wär?«
Varyn machte eine zu hastige abwehrende Geste. »Nein, aber ich dachte, Ihr wüßte, wie das war mit Eurem Vater…«
Dannen hatte keine Lust mehr, das Lachen zu unterdrücken. Varyn hätte sich wirklich besser informieren sollen über das Land, das er da eingenommen hatte - und wenn er schon nicht wußte, wann Dannen geboren war, dann doch zumindest, wenn dessen Vater seinen Thron bestiegen hatte. Und das war so lange her, selbst wenn Dannen damals schon auf der Welt gewesen wäre, könnte er sich nicht mehr dran erinnern. Aber Varyn sah dermaßen kläglich aus, daß Dannen nicht anders konnte, als ihm noch ein paar reinzuwürgen. »Wir haben Schriftrollen, da steht alles drin, was du wissen mußt«, sagte er. »Fang besser schon mal an, die Eide, die du zu leisten hast, auswendig zu lernen, du willst doch nicht rumstottern und einen Narren aus dir machen!« Oh, das fühlte sich gut an! Und dann zu sehen, wie der Junge mit jedem Wort kleiner und kleiner wurde…
»Die kann ich nicht lesen«, flüsterte Varyn.
»Ist das mein Problem? Du hättest Zeit genug gehabt, lesen und schreiben zu lernen, also beschwer dich jetzt nicht bei mir. Deine Schriftzeichen sind kein Ersatz für etwas, das auch andere Menschen verstehen können.« Daß ausgerechnet Dannen mal so ein glühender Verfechter des geschriebenen Wortes werden sollte! Immerhin, es gelang ihm, dabei ernst zu bleiben.
Varyn nickte nur kleinlaut. Vielleicht war dies der Moment, in dem ihm aufging, wie viel Arbeit da noch auf ihn zukam - in jedem Fall aber war es der Moment, in dem Dannen begriff, wie viel Arbeit ihm jetzt erspart bleiben sollte. Er fing an zu lächeln. Irgendwas Gutes mußte an allem dran sein. »Ich bin ein schneller Lerner«, sagte der Junge und blickte zu Boden. »Aber so schnell schaffe ich das auch nicht mehr.«
Dannen fing an zu grinsen und zwang sich, das auch beizubehalten. »Du brauchst eine Frau«, sagte er. Weitergrinsen. Auch wenn es weh tat. »Dieser ganze Schreibkram, das ist Weiberarbeit.« Konnte Hana überhaupt schreiben? Dannen hatte keine Ahnung. Sicher nicht, als er sie kennenlernte, wer hätte es ihr beibringen sollen in ihres schäbigen Waldhütte, aber danach? Wer wußte, was Gerrat ihr beigebracht hatte ihn der kurzen Zeit, die ihnen als Verlobte geblieben war? Er mußte sie ja schon irgendwie vorbereiten auf ihre Aufgaben als Königin, aber ausgerechnet mit dem Schreiben anzufangen, das hätte Gerrat nicht ähnlich gesehen. Es war egal. Fragen konnte Dannen Hana jedenfalls nicht - 'Sag mal, kannst du überhaupt schreiben?' Es hätte bedeutet, überhaupt wieder miteinander zu reden.
Varyn senkte den Blick. »Auch das schaffe ich in der kurzen Zeit nicht mehr.« Wurde er rot dabei? Es war schwer zu sagen. Schon möglich, daß Varyn dabei eine bestimmte Frau im Kopf hatte - schaden konnte es nicht, auch wenn das bedeutete, daß noch eine Frau ins Haus kam. Vielleicht sah sie ja auch ganz nett aus und war an ein bißchen Abwechslung interessiert… Natürlich war es an der Zeit, daß dieser Junge zum Mann wurde. Aber wichtiger war es Dannen, daß er selbst ein Mann sein durfte, und das nicht nur, indem er seine Frau schlug. Schlagartig wurde Dannen wieder ernst.
»Und was erwartest du jetzt von mir?« fragte er schroff.
»Daß Ihr mir helft«, sagte Varyn. Das sagte er wirklich? War er so dumm, oder war er in seinem Herzen doch ein so reiner Engel, daß er tatsächlich glaubte, ausgerechnet von dem Mann Beistand zu bekommen, dem er gerade den Thron gestohlen hatte? Dannen konnte alles tun, ihm einen falschen Text beibringen, mit dem er sich bei der Krönung lächerlich machte, daß man ihn in Schande aus der Burg jagte - aber hier stand der Junge vor ihm, als meine er es ernst, blickte ihn treuherzig an…
»Warum sollte ich das tun?« fragte Dannen.
»Weil Ihr anständig seid.« Kein Zweifel, der Junge meinte es ernst. Und in dem Augenblick war er sicher der Einzige, der bereit war, das von Dannen zu sagen. Nicht mal seine eigene Mutter würde ihn so nennen, und es war ohnehin nicht das, wofür Vigilanders Kinder berühmt waren oder berühmt sein wollten. Wie Varyn auf die Idee kam, wußte Dannen nicht, aber er konnte nichts darauf erwidern, also nickte er nur. Nicht, weil er wirklich so ein anständiger Kerl war, sondern weil er einfach keine bessere Idee hatte.
Auf die Schnelle fiel ihm nichts ein, wie er Varyn jetzt hätte fertigmachen können - so etwas mußte von langer Hand geplant werden und dann am Besten noch mit jemandem durchgesprochen, zum Beispiel Jaro, der daran sicher wieder die Hälfte auszusetzen hatte und Dannen den Kopf zurechtrücken würde. Aber wenn er jetzt spontan etwas Halbgares vom Zaun brach, ruinierte er sich eine große Chance, Varyn wirklich langfristig zu schädigen. Wenn er das überhaupt wollte. Dannen konnte sich immer noch nicht entscheiden, auf welcher Seite er am Ende stehen wollte, aber noch war ja ein bißchen Zeit.
»Also gut«, sagte Dannen. »Wenn du mir wirklich so weit vertraust…« Das Schicksal wollte, daß Dannen ein Schurke wurde, aber Varyn wollte das nicht. Es gab im Moment nicht soviel an dem Jungen, was Dannen gefiel, aber das gehörte dazu. »Ich werd mal sehen, was ich für dich tun kann.«
Tatsächlich stellte Varyn sich das wohl einfacher vor, als es tatsächlich war. Dannen konnte nicht einfach ein Buch aus der Tasche zaubern, in dem alles stand, was ein König von Doubladir für seine Krönung wissen mußte - in Koristan hatten sie vielleicht so etwas, und vielleicht sogar für Doubladir, wer wußte schon, was die alles aufgeschrieben hatten, und Dannen tat gut daran, keinem Koristoi über den Weg zu trauen - und die zugegeben nicht besonders große Bibliothek seines Vaters brachte nichts Passendes zum Vorschein.
Nur eine Hand zum Wühlen zu haben, machte das noch etwas umständlicher, vielleicht war es aber der Vorgeschmack, was für ein Schicksal auf Dannen zukommen sollte: Wenn der Arm hinterher wirklich nicht mehr zum Kämpfen zu gebrauchen war und Dannen als ein verstaubter Schreiber endete… Er hätte ausspucken mögen, doch er beherrschte sich.
Schließlich wurde er doch noch fündig: In einem alten Faß, in dem der König Schriftrollen aufbewahrte, die man irgendwann noch mal brauchen konnte, war ein unansehnliches und abgewetztes Pergament mit genauen Angaben für die Krönung.
Dannen erkannte die Handschrift seines Vaters, und zwar die für Texte, die niemand außer ihm würde lesen müssen, hastig und ohne große Mühe hingeschmiert, Hauptsache, er selbst konnte es lesen. Vermutlich hatte der alte Mann damit selbst für seinen großen Tag gelernt, und warum er das Ganze aufbewahrt hatte, wußte Dannen nicht - eine zweite Krönung brauchte man nicht, solange man am Leben war, und danach hatten andere den Ärger am Hals, aber vielleicht hatte der König tatsächlich einmal an das Wohl seiner Söhne gedacht - es würde Dannen zwar wundern, aber dann versuchte er sich seinen Vater als jungen Mann vorzustellen, der vielleicht auch einmal angetreten war, um alles anders und besser zu machen. Einen kurzen Moment fühlte er Trauer, aber sie ging schnell vorbei. Dannen hatte keine Zeit für Trauer und auch keinen Kopf dafür. Er schnaubte.
»Jetzt muß ich dir auch noch alles vorlesen, was?« fragte er den treuherzig nickenden Varyn. »Du weißt aber wohl, daß ich hier viel mehr tue, als du eigentlich von mir erwarten kannst - ich erwarte, daß du dich dafür auf die Dauer erkenntlich zeigen wirst.«
»Natürlich«, sagte Varyn, und wieder klang er so, als meine er es. »Ich habe nie gesagt, daß ich Doubladir einfach so allein regieren will, bei allen Engeln! Das kann ich nicht ohne Euch, darum ist es mir ja so wichtig, Euch auf meiner Seite zu haben und nicht zum Feind.«
»Damit ich die Drecksarbeit mache?« schnaubte Dannen. Er fühlte sich zunehmend verscheißert, oder zumindest ausgenutzt - er hätte früher auf die Idee kommen können, daß der Richter nicht so dreist sein würde, Varyn ins kalte Wasser zu schmeißen, sondern ihn sicher am Tag der Krönung oder besser davor zur Seite nehmen und mit ihm alles durchsprechen würde, was er wissen und sagen mußte. Und das war kein besonderer Dienst für Varyn, sondern sicher das normale Procedere - irgendwo mußte sich ja auch Dannens Vater diese Notizen gemacht haben, und es war schwer vorstellbar, daß ihm sein eigener Vater das alles diktiert hatte: Man legte sich in Doubladir nicht zum Sterben ins Bett, wie man es vielleicht anderswo tat, rief den Erben zu sich und erklärte ihm alles, was der wissen mußte, sondern starb mit dem Schwert in der Hand und einem letzten Gruß an Vigilander auf den Lippen, und selbst wenn der Sohn schon das eine oder andere übers Regieren gelernt hatten während seiner Zeit als Erbe - die, so hatte Dannen es nach Gerrats Tod gelernt, verdammt kurz sein konnte - wurde sicher nicht die Krönung durchgespielt. Nicht, wenn man die auch vom Richter lernen konnte und es viel wichtigere Dinge zu klären gab, wie Kriegskunst. Kriegsführung. Kriegsinszenierung. Und vielleicht noch Besteuerung.
Mehr noch: Das sollte auch Varyn wissen. Der Junge war zu schlau, um sich auch nur dumm zu stellen. Also, er bezweckte irgendwas, aber Dannen wußte nicht was. Um ihn moralisch zu binden, gab es sicher bessere Dinge, als ihn stundenlang die Papiere seines Vaters durchwühlen zu lassen und dann auch noch ein unleserliches Geschreibsel vorlesen. Trotzdem, Dannen stellte keine Frage und las, und Varyn wiederholte alles nickend und sah dabei so aus, als ob er es sich auch wirklich schon und zumindest für die nächsten Tage gemerkt hätte. Unmöglich, daß Dannen das so schnell auswendig gelernt hätte, und der Zustand des Pergaments sprach dafür, daß auch der alte König den Wisch immer wieder hervorgeholt hatte, um jederzeit, auch beim Essen, weiter seine Texte für den großen Tag zu lernen. Wenigstens hieß das, Dannen hatte es bald hinter sich. Wenn er Varyn das jetzt doppelt und dreifach einpauken mußte… Aber nein, der Junge nickte immerzu brav und ließ Dannen zum nächsten Punkt kommen.
»Dann reichen sie dir den Kelch«, sagte Dannen, mit dem Finger unter dem Buchstaben und froh, wenn er alles richtig entziffern konnte und Varyn nicht schon deswegen etwas völlig Falsches sagte, weil er es nicht besser lesen konnte. »Du nimmst ihn mit der rechten Hand, führst ihn an dein Herz - du weißt, wo dein Herz sitzt, ja? Dann hältst du ihn mit beiden Händen, streckst ihn einmal nach vorne, daß ihn alle sehen können, und dann… was ist los?«
Eigentlich achtete Dannen nicht so sehr auf Varyn, zu sehr mußte er sich darauf konzentrieren, den Zeichen richtig zu entziffern, aber das war dann doch zu auffällig, selbst aus den Augenwinkeln: Varyn zusammen, sein Gesicht entglitt ihm für einen Moment, und selbst als er es wieder gefangen hatte, war er weiß wie Kreide.
»Dieser Kelch«, sagte er leise und vorsichtig, als fürchte er sich vor falschen Wörtern, »ist der unbedingt nötig?«
Dannen lachte; eine Gelegenheit, Varyn ein bißchen zu verhöhnen, mußte man ihm schon gönnen. »Auf was willst du noch verzichten, auf die Krone? Und sollen wir auch noch den Thron rausschleppen?«
Varyn schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe schon, ich meine - muß der unbedingt sein? Ich kann doch auch so alle Eide sprechen, und da wird niemand groß drauf achten, ob ich jetzt einen Kelch halte oder nicht…«
»Es geht dir doch gar nicht um den Kelch«, unterbrach ihn Dannen. Unnötig lang leiden lassen mußte er den Jungen nun auch wieder nicht, das ging ja auch alles von seiner Zeit ab. »Du willst wissen, was drin ist, das ist es doch.«
Ohne ihn anzusehen, nickte Varyn.
Dannen blies sich eine lästige Haarsträhne aus dem Auge. Bis er seinen Arm wieder benutzen konnte, war das wohl noch eine Weile hin, und es war erstaunlich, für was man alles die rechte Hand brauchte, ohne es wirklich zu merken. »Es ist nur Wein«, sagte er. »Ein Kelch voll Wein, das wirst du doch wohl noch schaffen.« Sollte er jetzt darauf hinweisen, daß es während der folgenden Feierlichkeiten sicher nicht bei einem Kelch bleiben würde?
»Ich kann nicht«, sagte Varyn. »Ich habe das geschworen, hoch und heilig, hier.« Er fing an, unter seiner Tunika herumzunesteln und zog dann ein aufgerolltes Stück Pergament hervor, das Dannen ihn mit abwehrender Geste wieder wegstecken ließ. Er kannte die Geschichte mit dem Eid, er wußte das eine oder andere über Varyns Problem mit dem Alkohol, da mußte ihm Varyn das nicht auch noch schriftlich geben.
»Zu wem hast du geschworen?« fragte er nur.
»Elysander.«
»Dann zählt das hier nicht.« Dannen sah zu, wie der Junge unter seinem Blick immer weiter zu schrumpfen schien. »Du kannst nicht erwarten, König von Doubladir zu werden, wenn du schon zu fimschig bist, um einen Schluck Wein zu trinken. Du nimmst den Kelch, zeigst ihn den Leuten, und dann trinkst du ihn in einem Zug leer, alles andere ist peinlich. Du willst, daß man dich hier ernst nimmt? Du willst, daß die Leute dir folgen, in den nächsten Krieg oder gegen den Abgrund oder sonst wohin, dann zeig ihnen, daß du ein Mann bist.«
Varyn knirschte mit den Zähnen. Dannen wußte nicht, ob ihm das überhaupt bewußt war, aber es klang ziemlich unangenehm. »Das ist es doch«, würgte er hervor. »Die sollen mir folgen, die sollen mich ernst nehmen können - wenn ich ein Säufer bin, schaffe ich noch nicht mal mich selbst, geschweige denn den Abgrund.«
Dannen klopfte ihm auf die Schulter. »In Doubladir nehmen es dir weniger Leute übel, wenn du ein Säufer bist, als wenn sie dich für einen Weichling halten.«
»Aber ich nehme es mir übel!« Wenigstens mußte Dannen jetzt nicht mehr herumrätseln, warum Varyn zu ihm gekommen war, statt auf ein Gespräch mit dem Richter zu warten. Der Junge wußte zu viel über Doubladir oder konnte sich den besten Teil denken nach allem, was er über das Königshaus wußte, und hatte sich das wichtigste zusammengereimt. »Ich habe mich lang genug gehaßt, ich kann nicht stark sein für das, was ich machen muß, wenn ich -«
»Varyn«, sagte Dannen laut und ruhig, bis er irgendwie zu ihm durchdrang. »Varyn. Varyn. Wie lang hast du jetzt nichts getrunken?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte der Varyn. »Monate. Ich habe die Tage gezählt, vierundneunzig, und dann - dann sind die Dinge passiert - ich weiß es nicht mehr.«
Dannen nickte. Das war eine anständige Zeit. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er selbst es so lange ohne Alkohol aushalten sollte, und dabei war er kein Säufer. »Dann brauchst du den Eid nicht mehr«, sagte er. »Wenn du das durchgehalten hast, dann schaffst du den Rest auch. Kommt auf einen Becher Wein nicht an, wenn du danach weiter an dich hältst. Von einem Becher wird keiner betrunken.«
»Ihr versteht das nicht!« fauchte Varyn, aber Dannen verstand sehr wohl. »Ich denke daran, beinahe jeden Tag. Mehrmals am Tag. Manchmal ertrage ich das nur gerade so eben, und ich halte mich an dem verdammten Eid fest, weil ich sonst nichts habe. Wenn ich den Eid breche, tut sich der Abgrund auf. Nicht so, daß es irgendjemand sehen würde, aber in mir, begreift Ihr das nicht? Ich darf den Wein nicht trinken, auf keinen Fall!« Jetzt endlich blickte er auf, und die Verzweiflung in seinem Blick war echt - nicht dumpf und leer wie die Trauer an dem Tag, wo sie sich das erste Mal trafen, sondern voller Furcht, die tiefer ging als das Herz eines Mannes. Varyn mußte Dannen sehr weit vertrauen, um ihn so direkt in seinen Abgrund blicken zu lassen - oder sehr, sehr dumm sein. Dieses Wissen in den falschen Händen konnte Varyn ganz und gar ruinieren. Und Dannen war nicht sicher, ob nicht schon seine Hände die falschen waren.
»Das solltest du deine Feinde nicht wissen lassen«, sagte er leise. Es gab irgendwie nicht viel, was er Sinnvolles antworten konnte.
»Mein Feind weiß das schon«, erwiderte Varyn. »Und der bin ich selbst.«
Einen Moment lang schwiegen beide. Dannen bewegte die Zunge im Mund hin und her - er war plötzlich durstig, aber das konnte oder sollte er jetzt nicht so direkt sagen, wenn er nicht alles noch schlimmer machen wollte. »Ich verstehe«, sagte er. Was er nicht verstehen konnte, war, wie dieser Junge schon in seinen jungen Jahren ein solches Problem mit dem Alkohol haben konnte, Dannen kannte den einen oder anderen Säufer, aber die tranken seit Jahren quasi ohne Unterlaß - wann hatte Varyn angefangen, als kleines Kind? Er schüttelte den Kopf. Vermutlich war das wieder so eine Varynsache, der machte nichts Halbes und steigerte sich in alles rein, jetzt ja schon wieder - es mochte also durchaus stimmen. Diese Angst war nicht eingebildet.
»Ich kann Euch vertrauen«, sagte Varyn. »Also, werdet Ihr mir helfen?«
»Ich wüßte nicht, wie«, antwortete Dannen.
Varyn kaute auf seiner Unterlippe herum, ehe er antwortete, und Dannen rechnete schon fast damit, daß gleich Blut fließen würde. »Ich muß den Kelch nehmen«, sagte er dann langsam, »und ihn hochhalten und alles - aber außer mir sieht keiner, was drin ist, oder?«
Wieder blies Dannen die lästige Strähne weg. Locken, egal wie lang, waren eine Plage. »Bis auf die Kleinigkeit des Richters, ja.«
»Aber macht es dem Richter etwas aus, wenn ich in meinem Kelch keinen Wein habe?«
Dannen wollte nicht sofort antworten. Erst ging er noch einmal die Notizen seines Vaters durch. »Hier steht zumindest nichts von Wein«, sagte er dann. Er kannte den Richter ja nicht so gut, aber nach dem, wie er den Mann auf seiner Hochzeit erlebt hatte, konnte das dem Mann sogar ganz recht sein. Dannen war noch nie in Landalon gewesen und würde sich auch jetzt hüten, sich mit einer Reise als Bittsteller lächerlich zu machen, niemand, der bei Verstand war, würde zum Alondras sein - aber in jedem Fall war dieses Ländchen nicht für seinen Wein bekannt. Der Richter hatte jedenfalls nichts getrunken. »Wenn dir das die Sache ernst wäre…«, sagte er.
»Es ist mir ernst.«
»So ernst, daß du damit leben kannst, daß es hinterher heißt, deine Krönung ist ungültig und du bist kein rechtmäßiger König, wenn das herauskommen sollte?«
Wieder nickte Varyn. »Es kommt auf die Eide an«, sagte er. »Die werde ich sprechen, Wort für Wort. Das Blut habe ich, Vigilanders Blut. Es kann nicht auf den Wein ankommen. Und ich bin bereit, es mit jedem aufzunehmen, der etwas anderes sagt.«
»Also gut.« Dannen streckte Varyn die Hand hin. Ein Pakt erforderte einen Handschlag, mindestens. »Dann sind wir uns einig.«
»Ihr werdet dafür sorgen, daß in meinem Kelch kein Wein ist?«
»Kein Tropfen«, erwiderte Dannen. Er wußte, daß er sich auf dünnes Eis begab; im Zweifelsfall lag das überhaupt nicht in seiner Hand. Besser hätte er gesagt ‘Ich werde tun, was ich kann’ - statt dessen sagte er: »Versprochen.«
Es war schlimm genug, daß Varyn ihm das glaubte.