Dreizehntes Kapitel

Es war die Nacht vor der Krönung, die letzte Nacht, in der er noch weglaufen konnte, und Varyn konnte sich nicht rühren. Die Nacht hindurch wachen zu müssen machte ihm nichts aus - umgekehrt, hätte man ihn gezwungen zu schlafen, wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Auch die versperrte Tür störte ihn nicht, als er hörte, wie sie von außen mit einem massiven Balken verschlossen wurde, mußte er sogar lächeln: Als ob es die Tür war, die ihn an der Flucht hindern sollte, und nicht seine eigenen Worte, die Versprechungen, die er sich selbst gemacht hatte und den drei Schwestern. Aber die eisernen Ketten wurden mehr und mehr zu einem echten Problem.
Doubladir war ein seltsames Land. Wer hingerichtet wurde, enthauptet als ein Verräter, der durfte die letzte Nacht in etwas schlafen, das fast schon ein Bett zu nennen war, und bekam eine anständige letzte Mahlzeit. Aber derjenige, der zum König gekrönt werden sollte, den legte man ihn Eisen, die Hände hinter dem Rücken versperrt, die Füße so eng, als wären sie aneinandergeschmiedet, ein Reif um die Brust, daß er kaum atmen konnte; und man zwang ihn zu stehen, die ganze Nacht hindurch. Varyn hatte noch nie eine Hinrichtung gesehen, und das war auch seine erste Krönung, aber hätte man ihn gefragt, wo er lieber sein wollte…
Es war die Nacht vor der Krönung, und Varyn war allein mit dem Schwert. Es lag auf dem steinernen Tisch, nur einen Schritt entfernt und doch unerreichbar, denn Varyn hätte versuchen können, es zu erreichen, hüpfend, in der Hoffnung, dabei bloß nicht umzukippen, aber wie sollte er es dann nehmen? Mit den Zähnen, vielleicht? Nein, er mußte stehen, auf der Stelle, reglos, tapfer, ohne eine Miene zu verziehen und vor allem ohne in Ohnmacht zu fallen, was vielleicht das Schwerste daran war. In dieser Nacht kam Vigilander, um über ihn zu richten - zumindest gab man ihm die Gelegenheit.
Er konnte sich seinen Erben von allen Seiten ansehen und hart mit ihm ins Gericht gehen. Daß man Varyn nicht geknebelt hatte, war kein Zufall, er sollte alle Fragen des Engels beantworten können, und vor allem sollte er wohl die Zeit, in der Vigilander gerade nicht persönlich vor ihm stand, nutzen, um zu beten. Und das konnte Varyn nicht. Er wußte nicht, wie das ging. Zu einem Engel schwören war eine Sache. Wenn die Tante einen Tischsegen sprach, wenn der Hauptmann vor der Schlacht den Namen Vigilanders brüllte, das war immer mehr an die Menschen gerichtet als an die Engel. Varyn konnte Selbstgespräche führen, er war sogar ziemlich gut darin. Aber mit einem Engel reden, der überhaupt nicht da war - solange er seinen Verstand noch nicht ganz verloren hatte, kam das Varyn nicht in den Sinn. Und er hatte sich auch nicht getraut, Dannen oder sonst jemanden deswegen zu fragen. Nicht wissen, wie man ein Schwert richtig benutzte, das war eine Sache, das konnte man von einem einfachen Bergmann auch nicht verlangen. Aber nicht beten zu können…
Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er wollte die Arme hochnehmen können, sich vorüberbeugen, in die Knie gehen - nichts davon durfte er. Ein König mußte stehen bis zuletzt, auch wenn jeder Mann gefallen war: Solange noch Leben in ihm war, mußte er stehen und weiterkämpfen. Oder waren die Ketten nur das Zeichen dafür, daß er nicht wegrennen konnte, nicht in der Schlacht, aber vor seinem Schicksal? Varyn zwinkerte, sein Kopf fühlte sich an, als wäre kein Tropfen Blut mehr darin, und vor seinen Augen begannen Sterne zu tanzen. Er biß sich in die Lippe, kaute darauf herum, als ob das den Kreislauf wieder in Gang bringen konnte, und wartete auf das Ende der Nacht.
Der Saal war zu groß für ihn. Hier sollte er gekrönt werden, hier sollte er regieren, über die Geschicke des Landes bestimmen, Kriege ausrufen und, wenn es sein mußte, den Frieden. Aber nicht allein. Er konnte nicht allein die Welt vor dem Abgrund retten und erst recht nicht allein verhindern, daß Doubladir vor die Hunde ging. Nur er und das Schwert, das reichte nicht aus. Vielleicht war das ganze Spektakel dafür da, ihm das klarwerden zu lassen. Niemand wußte es. Der neue König verbrachte die Nacht allein, und über das, was vielleicht geschehen mochte, außer daß er herumstand und darauf wartete, daß ihm endgültig die Sinne schwanden, durfte er hinterher kein Wort verlieren. Noch nicht einmal gegenüber seinem eigenen Erben - aber Varyn konnte sich noch nicht einmal vorstellen, daß er so etwas, oder so jemanden, einmal haben sollte.
Dannens Kind. Varyn hatte vor, es offiziell zu seinem Erben zu ernennen, wenn es einmal auf der Welt war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er selbst einen guten Vater abgeben würde. Himmel, noch nicht einmal einen schlechten! Varyn vom Blut aller Engel - so etwas durfte es nicht geben, nicht noch einmal. Das Unglück, das damit einherging, wollte Varyn keinem zweiten Menschen aufbürden, noch nicht einmal, oder erst recht nicht, seinem eigenen Kind. Das Schicksal sagte, daß Varyn geboren war, um es mit dem Abgrund aufzunehmen - ein Kind bekommen, hieß sich einzugestehen, daß er diese Schlacht niemals gewinnen konnte, und sie an die nächste Generation weitergab. Varyn hatte vor zu siegen. Auch wenn das bedeutete, überhaupt erst einmal mit dem Kampf anzufangen, statt abzuwarten, daß die Nilomaran selbst den ersten Schritt machten…
In Varyns Ohren rauschte es. Jetzt hätte die Engel gut brauchen können in dieser Nacht, nicht, damit er ihnen Rede und Antwort stehen konnte, sondern sie ihm. Damit sie ihm sagten, wie sie sich das überhaupt gedacht hatten, was sie von ihm erwarten, was er tun sollte. Und wenn schon nicht die Engel selbst, dann zumindest der Dämmervogel und seine Schwestern. Aber von denen war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Die Prophezeiung war ausgesprochen, und als ob es damit gut war, als ob alles gesagt war, das gesagt werden mußte, ließen sie sich nicht mehr blicken. Die Katze war aus dem Sack - als ob Varyn die Drei nicht jetzt erst recht gebraucht hätte!
Vor Schwindel konnte Varyn sich kaum noch auf den Beinen halten. Wenn er sich wenigstens hätte setzen können! Oder ein paar Schritte tun - aber er stand da wie seine eigene Statue, reglos und starr. Er konnte versuchen, ein wenig mit den Fingern zu wackeln, aber die Handschellen waren über eine Kette mit denen um seine Füße verbunden, und jede falsche Bewegung drohte ihn gänzlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wann kam endlich der Morgen? Wann kamen die Männer, um ihn zu erlösen? Varyn hätte nicht gedacht, daß er sich auf seine Krönung freuen sollte, aber wenn sie dieser Qual ein Ende setzte, dann nur her damit!
Die Sterne vor seinen Augen verwendelten sich in ein Netz aus schwarzen Flecken und silbernen Linien, das sich über die ganze Welt legte. Die einsame Kerze, die neben dem Tisch mit dem Schwert brannte, das einzige Licht, das Varyn durch diese Nacht begleiten sollte, verschwand - nicht, als ob sie jemand ausgeblasen hätte, sondern als ob er plötzlich blind geworden wäre. Dann war alles dunkel um ihn. Und Varyn sah einen Engel.
Es konnten ebenso gut seine Augen sein, die ihm einen Streich spielten, ein letztes Aufblitzen, bevor er ihn die Sinne verließen, aber er wußte, es war ein Engel. Eigentlich sah es nur aus wie ein heller Fleck in der Schwärze, ein weißes Funkeln - Varyn hatte die Elomaran in seinen Träumen getroffen, leibhaftig, Männer mit Flügeln, von denen er jede Feder klar erkennen konnte, aber nichts davon war so wirklich wie dieser Moment. Er spürte eine Anwesenheit, doch er wußte nicht von wem, es gab zu viele Engel, und zu viele, die ihm in dieser Nacht erscheinen konnten.
»Wer bist du?« fragte Varyn. War das Vigilander? Kam er, um ihn zu prüfen und, wenn Varyn unter seinen Augen nicht bestehen sollte, das Schwert zu ergreifen und ihm den Kopf von den Schultern zu schlagen? Blinzeln half nicht, und zwinkern auch nicht.
Dann bekam er eine Antwort. Sie durchdrang ihn von den schmerzenden Zehen bis in die tauben Haarwurzeln, so wie es nur die Stimme eines Engels konnte, ein Dröhnen, das den ganzen Körper erschütterte - aber er verstand sie nicht. Kein Wort. Ein Engel stand vor ihm, und Varyn konnte seine Sprache nicht sprechen.
Das letzte, was Varyn noch wußte, war, wie er zu weinen anfing.

Bis sie am anderen Morgen kamen und ihn losbanden, wurde Varyn noch mehrmals heimgesucht, aber er konnte nicht mehr unterscheiden, ob er wach war oder schlief oder schon tot. Sein Körper war jenseits des Punktes, wo er ihn noch spüren konnte, und er fühlte sich wie ein Geist, der ihm Raum schwebte, völlig losgelöst von allem, und doch waren die Bilder, die er sah, so beschaffen, daß er sich wünschte, lieber von seinem Verstand losgelöst zu sein.
Er sah seine Familie, alle, die nicht mehr lebten. Sie standen vor ihm, Onkel und Tante, Edrik, Harkon und Alsa, so wie sie immer ausgesehen hatten, in ihren einfachen grauen und blauen Kleidern, und es war schlimm genug, da ihm diese Einfachheit jetzt auffiel - hatte er sich schon so weit von ihnen entfernt, hatte er sich so daran gewöhnt, ein König zu sein? Sie sagten nichts, blickten ihn nur an, aber ihre Augen waren so tot, daß sie nicht sprechen mußten, um ihm Vorwürfe zu machen. Hinter ihnen war ein weißes Leuchten; vielleicht sollte ihn das trösten, vielleicht sagte es ihm, daß sie im Himmel waren und nicht im Abgrund, aber wo sollten sie auch sonst sein? Es gab keine besseren Leute als sie, keine reineren Herzen, wären alle Menschen so wie sie, hätte der Abgrund keine Schergen…
Und dann sah Varyn die Schatten. Sie waren am Boden, wo Schatten hingehörten, und er hätte sie nicht weiter beachtet, doch plötzlich begriff er, daß es nicht fünf Schatten waren, sondern nur drei. Nicht weil Harkon und Alsa zu klein gewesen wären, als daß ihre Schatten die der Großen erreicht hätten - es waren drei Schatten, und nur drei, und es waren die von drei Frauen mit aufgetürmtem Haar.
Sie verschwanden in dem Moment, da er sie erkannte. Dafür sah er Noran - ob sie direkt danach kam oder erst Stunden später, konnte er nicht sagen, es war egal - er sah Noran, nicht wie sie auf dem weißen Bett lag, sondern als ob ob sie noch lebte, richtig lebte. Sie stand vor ihm, hob ihre Arme und sagte »Ich will leben.«
»Ich will auch, daß du lebst«, wollte Varyn sagen, sagte es auch, aber sie hörte ihn nicht.
»Bitte, ich will leben«, sagte sie, seine große Schwester, die niemals Bitte sagte, weil sie wußte, es brachte nichts zu bitten, weil sie es ohnehin niemals bekommen würde. Es traf ihn direkt ins Herz, als ob es seine Schuld war, als ob es nur in seiner Hand lag, und als ihre Form zu verschwimmen begann und sich auflöste in Nebel und schwarzen Schatten, die von hinten nach ihr griffen und sie mit sich rissen.
»Wann laßt ihr sie frei?« fragte Varyn ins Nichts hinein, und ob er mit den Schwestern sprach oder mit den Nilomaran machte keinen Unterschied mehr. »Ich tue doch alles, was ihr von mir verlangt, wann gebt ihr sie frei? Wenn ich König bin? Oder muß ich erst die Welt retten?« Er bekam keine Antwort, von keiner Seite. Noch nicht einmal von sich selbst.
Dann wartete er. Es konnte nicht mehr schlimmer werden, und doch war die Nacht noch nicht vorüber. Aber die nächste Gestalt, die vor ihm erschien, war niemand aus seinem Leben, niemand, der ihm etwas bedeutete, und er brauchte einen Moment, um sie überhaupt zu erkennen. Es war eine Frau, auf eine herbe Weise schön, mit langem Haar, das ihr offen über die Schultern fiel, und erst als sein Blick dem Haar folgte und nach unten wanderte, sah er, daß sie nackt war. Vielleicht brauchte er deswegen einen Moment, um sie als Dannens Frau zu erkennen; vielleicht war es aber auch, daß ihr Gesicht anders war, ihr Lächeln freundlich und ihre hellen Augen frei. War das nur, weil Dannens Frau hochschwanger war und die Frau vor ihm nicht, oder weil es nur ein Traum war und die Frauen in den Träumen immer schöner als in der Wirklichkeit?
Aber sie kam auf ihn zu, näher als jedes der Traumbilder dieser Nacht ihn gekommen war, daß er ihre Schritte hören konnte und ihr Haar riechen - im Arm hielt sie etwas, das Varyn als erstes für ihr Kind hielt, aber als sie vor ihm stand und es ihm hinstreckte, war es ein Ei. Ein großes Ei, größer als jeder Vogel legen würde, braun wie ein Hühnerei und von dunklen Linien durchzogen wie Marmor, groß genug, daß ein Mensch daraus schlüpfen konnte. Sie nickte ihn an, lächelnd, sie wollte, daß er es nahm, doch er konnte nicht, er hatte keinen Körper, und wo er einen hatte, war der immer noch gefesselt.
Aber das Bild der Frau verschwand davon nicht, sie stand da und streckte ihm das Ei hin, sagte nichts, doch ihr Blick wurde immer verzweifelter, und dann gab es ein leises Knacken und Krachen, Risse durchzogen die Eierschale, und was darin war, wollte hinaus, wollte ausbrechen um jeden Preis, und als die Risse breiter wurden, drang ein Leuchten heraus, so weiß und strahlend, daß es alles um es herum blendete… Und dann verschwand die ganze Welt in Licht. Es war besser, als wenn das Leben in Dunkelheit endete. Aber es endete.

Wenn man nicht gerade einen Mord begehen wollte, war es sehr schwer zu planen oder vorherzusagen wann ein neuer König gekrönt wurde. Aber zu keiner Zeit des Jahres war die Nacht so lang wie jetzt, als Varyn König von Doubladir werden sollte. Es war alles sehr prophetisch, mit dem Winter fing ein neues Jahr an, aber an all das dachte Varyn nicht - er wollte nur, daß die Dämmerung hereinbrach, damit er endlich erlöst wurde. Doch als es passierte, war er kaum noch bei Bewußtsein, um es auch zu würdigen. Aber er stand noch auf seinen Füßen.
Er zitterte hilflos, als die Gehilfen des Richters ihm die Fesseln abnahmen, und in dem Moment, als er frei war, brachen die Beine unter ihm weg und er stürzte zu Boden. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, aber trotzdem, Varyn wäre gern stehengeblieben und hätte gezeigt, daß er es konnte. Zu spät. Er zwinkerte. Die Männer hoben ihn hoch und setzten ihn auf einen Stuhl, von dem Varyn erst viel später begriff, daß es der Thron war. Langsam begriff er, warum der neue König fast die ganze Zeremonie über sitzen mußte. Nach den Torturen der Nacht war er außerstande zu stehen, zu knien, oder sonst etwas zu machen, bei dem der Körper auch nur einen Muskel benutzen mußte. Wußten die anderen Leute, was er durchgemacht hatte? Oder würden sie nur einen übernächtigten jungen Kerl sehen, der auf dem Thron hing wie ein nasser Sack?
Wenigstens konnte er versuchen, Haltung anzunehmen - es blieb bei dem Versuch. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte, am allermeisten aber die Füße, die so schwer und angeschwollen waren von seinem Gewicht, das sie die ganze Nacht über immer tiefer in den steinernen Boden hatte rammen wollen. Varyn wollte sich bei den Männern bedanken, aber er brachte nicht einmal mehr das hervor. Nur noch ein schmerzerfülltes Wimmern. Er biß sich auf die Zunge.
»Schon gut«, sagte einer der Männer leise. »Ihr wart sehr tapfer. Es braucht einen starken Willen, so eine Nacht zu überstehen.«
»Und… wenn nicht?« brachte Varyn hervor.
»Es ist Vigilanders Herausforderung an Euch«, antwortete der Mann. »Hättet Ihr sie nicht bestanden, wüßtet Ihr selbst, wo Ihr jetzt wäret.«
Tot. Er wäre tot. Varyn wußte es. War das schon einmal vorgekommen, daß der Richter und seine Männer im Morgengrauen die Türen aufsperrten und ihr neuer König tot auf dem Boden lag? Er durfte sich nicht zu viel auf sich einbilden. Seine Vorgänger auf diesem Thron waren allesamt Engelsgeborene, sie alle hatten Vigilanders Blut, sie alle mußten das gekonnt haben. Varyn war nur einer von vielen. Vielleicht ging es darum, daß er das begriff.
»Ihr habt jetzt noch ein wenig Zeit, um Euch zu erholen«, sagte der Mann. »Bleibt ruhig sitzen, wir werden uns um Euch kümmern.« Varyn nickte nur matt. Er konnte nicht ahnen, daß sie ihm als nächstes die Füße waschen würden.
Mit zusammengebissenen Lippen ließ Varyn alles mit sich geschehen, auch wenn er sich in Grund und Boden schämte dabei. Es tat gut, entsetzlich gut, seine Füße in heißem Wasser zu baden; nach der langen Nacht mit ihren Strapazen brauchte er genau das. Aber von fremden Männern gewaschen zu werden, als wäre er ein hilfloses kleines Kind - das war vielleicht noch schlimmer als alles, was er in der Nacht hatte über sich ergehen lassen. Würde das in Zukunft immer auf ihn zukommen, Diener, die ihn badeten, ankleideten, fütterten… Er schüttelte sich, froh, daß es hier nur um die Füße ging. Er war in seinem Herzen immer noch ein Bergmann, und das wollte er auch bleiben dürfen.
Was er nicht vermißte, war etwas zu essen. Es war gut, daß der König vor seiner Krönung fasten mußte, Varyn hätte so oder so nichts hinunterbekommen. So saß er nur da mit halbgeschlossenen Augen und versuchte zu verarbeiten, was er in der Nacht gesehen hatte - der Dämmervogel war ihm nicht erschienen, so sehr er sie sich auch herbeiwünschte, um ihm beizustehen oder vielleicht im letzten Moment den Irrtum aufzuklären, daß er doch der falsche war, um auf diesem Stuhl zu sitzen, aber dafür war soviel anderes geschehen… Varyn erinnerte sich an den Engel, und schon bei dem Gedanken stiegen ihm wieder die Tränen in die Augen - nicht, weil das weiße Licht ihn so geblendet hatte, sondern weil der Engel ihm vielleicht den wichtigsten Rat überhaupt mit auf den Weg gegeben hatte und Varyn ihn nicht verstanden - und dann, plötzlich, waren Worte in seinem Kopf. Es geht nicht um Rache.
Er wußte nicht, wo sie plötzlich herkamen, dachte, einer der Richtershelfer hätte etwas gemurmelt, aber das war es nicht, die Männer waren still. Es geht nicht um Rache - war es das, was der Engel gesagt hatte? Was meinte er damit? War es Vigilander selbst? Varyn ließ sich die Worte durch den Kopf rollen wie Murmeln. Sie waren wichtig. Vielleicht bedeuteten sie, daß Varyn gelernt hatte, die Sprache der Engel zu verstehen, so wie er gelernt hatte, ihre Schrift zu lesen, ohne daß es ihn jemand gelehrt hätte - aber selbst wenn, war es immer noch ihr Inhalt, der wichtig war. Nicht um Rache… Dann begriff Varyn.
»Weil sie immer zu spät kommt«, sagte er und merkte erst dann, daß er laut gesprochen hatte, als die beiden Männer zu ihm hinüberblickten. Sie fragten nicht nach. Es brauchte sie nicht zu wundern, daß jemand, der die Nacht hindurch reglos auf seinen Füßen gestanden hatte, auch noch danach an Wahnvorstellungen litt. Diese Pause, die man ihm gönnte, war sicher nicht nur, daß sich die Füße erholen konnten. Varyn nickte und behielt die Gedanken, die ihm danach kamen, für sich. Es ging nicht um Rache. Es ging darum, zu verhindern, daß eine Rache nötig wurde. Es war ein Unterschied, ob man die Welt rettete oder die Welt rächte - im ersten Fall war sie noch am Leben. Im Zweiten…
Varyn überkam eine Gänsehaut. Die letzten Tage über hatte er sich zwar auf seine Krönung vorbereitet wie ein anständiger Erbe Vigilanders, aber an die Aufgabe, die danach kam, lieber nicht mehr groß gedacht - er wußte, daß er noch nicht so weit war. Wenn der Abgrund ihn mochte, würde er ihm die Zeit lassen, die er brauchte. Der Abgrund war schon so oft Varyns Freund, es war seltsam, plötzlich auf gegnerischen Seiten zu stehen -
Er schlief nicht, aber er war auch nicht wach, irgendwo hinter seiner Stirn brannte ein Fieber, das ihm keine Ruhe ließ, so müde er auch sein mochte, aber er nahm nicht mehr wahr, wie die Zeit um ihn verging. Eben noch war er allein mit zwei Gehilfen des Richters, im nächsten Augenblick war der ganze Saal voller Leute, und sie alle waren gekommen, um zu sehen, wie aus einem Bergmann ein König wurde.

»Wir haben uns hier versammelt -«
Varyn zwinkerte. War es schon zu weit? Es war viel zu hell, um etwas zu erkennen - der Thronsaal, so kalt und düster er sonst auch sein mochte, war voller Lichter. Er hatte nicht gesehen, wie jemand sie alle angezündet hatte, aber dann begriff er, daß es die Leute waren - jeder von ihnen hielt eine brennende Kerze in der Hand.
Stimmen lagen in der Luft, ein Tuscheln und Murmeln, daß auf jedes Gesicht drei Münder kommen mußten. Varyn wollte sie nicht beachten, nur auf den Richter hören, doch er konnte nicht anders: Als wäre sein Gehirn ein Sieb, versuchte er Wörter und Sätze herauszuhorchen, die Stimmen Freunden und Feinden zuzuordnen - es war ein großer Tumult in seinem Kopf, größer als im Thronsaal selbst, alles schien durcheinanderzureden in einer Lautstärke, die einem Orkan Ehre machen wollte. Am liebsten hätte Varyn sich die Ohren zugehalten, daß alles still sein sollte - es mußte die Aufregung sein und die schlaflose Nacht, die ihn hellhörig und reizbar machte.
Tief durchatmen. Das Licht stach ihm in die Augen, aber das war gut. Der Kerzenschein versteckte die Gesichter, machte aus der Menge ein Meer von Schatten, aber es war gut, wenn Varyn nicht wußte, wer sie alle waren - sonst fing er im falschen Moment an zu grübeln, versuchte zu in ihnen zu lesen, wer auf seiner Seite stand und wer gegen ihn war. So konnten sie ihn sehen, aber er sie nicht; sie waren zu viele, als daß er sie alle kennen konnte oder wollte.
Varyn wußte, wen er an diesem Tag in seiner Nähe wünschte, und vor seinem inneren Auge konnte er ihre vertrauten Gesichter auf die verschwommenen Körper setzen, all die guten Menschen, die jetzt tot waren, heute sollten sie bei ihm sein. Er dachte an seine Familie, er dachte an Männer, die er im Krieg hatte sterben sehen - es ging nicht um Rache, er wollte ein König der Lebenden sein, aber an diesem Tag wollte er niemanden vergessen. Und doch, es gab ein Gesicht, das wollte er sehen können, in der vordersten Reihe. Er sah es nicht.
»Wir haben uns hier versammelt -«
»Halt!« sagte Varyn.
Das gehörte nicht zum Ritual, das Varyn so aufmerksam auswendig gelernt hatte. Der Richter, in so feierliche Roben gekleidet, daß Varyn unwillkürlich an sich selbst hinunterschielen mußte, um zu sehen, was er selbst an diesem Tag trug, und feststellte, daß man ihm irgendwann innerhalb des letzten Tages eine Art Rüstung angelegt haben mußte, stockte mitten im Satz.
»Wo ist mein Bruder?« fragte Varyn. Er konnte die Gesichter in der vorderen Reihe erkennen. Da saß Dannen mit seiner Frau, Leota und Jaro, eine Frau, die wohl ihre Mutter sein mußte, und sogar Rul war da, er sah bittere, eingefrorene Mienen und keinen darunter, der aussah, als ob er sich um des hohen Tages freute - aber Varyns Familie, der eine Mensch, aus dem sie noch bestand, war nicht da.
Hinten im Saal gab es einen kleinen Tumult, dann tauchte ein etwas zerzauster Gaven vor Varyn auf. »Sie wollten mich nicht reinlassen!« rief er aufgebracht, und es schien ihm egal zu sein, daß dort zweihundert Leute oder mehr versammelt saßen. Genau dafür liebte Varyn ihn, und das war es auch, was Gaven zum kostbarsten aller Menschen um ihn herum machte. »Ich wollte zu dir, heute früh, aber ich durfte nicht, und dann haben sie mich festgehalten - ich bin doch immer noch dein Bruder!«
»Ich will, daß du hier nach vorne kommst!« sagte Varyn. »Und ihr, laßt ihn gefälligst in Ruhe! Er gehört zu mir!«
»Und wo soll ich jetzt hin?« fragte Gaven. Die erste Reihe machte keine Anstalten, ihm Platz zu machen, und das war es auch nicht, wo Varyn Gaven haben wollte. Die Familie des alten Königs waren immer noch Fremde. Es war gut, daß er sich mit ihnen hatte verbünden können, und sie waren wichtig - weniger für ihn persönlich als mehr für seine Aufgaben. Aber Gaven war Gaven.
»Hier zu mir«, sagte Varyn, und ihm war alles egal, worüber er mit Dannen noch geredet hatte, alle Bräuche und Rituale. Er wollte nicht untergehen in der Rolle eines Königs. Nicht, wenn es bedeutete, die Menschen zu verlieren, die ihm wirklich etwas bedeuteten. Eine neue Zeit brach an. Zumindest ein bißchen. »Bring dir einen Stuhl mit.«
»Das geht nicht!« sagte der Richter, und sein Blick und Tonfall wiesen darauf hin, daß Varyn mitnichten schon König war und nicht derjenige, der in diesem Saal das Sagen hatte. »Die vordere Reihe gebührt der königlichen Familie, und alles, was dann kommt, nur den Engeln.«
»Aber er ist mein Bruder! Und die anderen da sind nicht einmal mit mir verwandt!« Der Richter war sicher die falscheste Person, mit der man sich am Tag seiner Krönung anlegen sollte, aber das gleiche galt auch für den Richter und Varyn.
»Seid Ihr kein Erbe Vigilanders? Und sind sie nicht von Vigilanders Blut?«
»Er kann sich hier zu mir setzen!« sagte Dannen laut, vielleicht, um dem Ganzen ein Ende zu setzen, bevor es wirklich unschön wurde, und Gaven schien das zu genügen - Varyn nickte nur. Er wollte es nicht an seinem ersten Tag mit allen verscherzen, aber er fühlte sich zerschlagen und übernächtigt, sein Kopf dröhnte noch dazu, er fror trotz der Wärme, welche die Kerzen abgaben - je schneller er das jetzt hinter sich brachte, desto besser.
Ausgerechnet Dannen, dem er den Thron quasi unter dem Hintern weggezogen hatte, schien von allen an entspanntesten zu wirken, aber es war Varyn nicht entgangen, daß der Fürst sich von seiner Familie schlimmste Beschimpfungen hatte anhören müssen, weil er den Zweikampf verloren hatte und damit das Land - so saß die Familie da wie ein Haufen Feinde, die man zwang, Freunde zu spielen, jeder mußte jeden hassen, und Varyn, der mit diesem ganzen Rudel unter einem Dach leben mußte, ahnte, daß mit der Krönung mitnichten Frieden einkehren würde - der eigentliche Ärger stand ihm noch bevor. Wenigstens hatte er jetzt Gavens Gesicht, an dem er sich festhalten konnte, aber selbst Gaven sah nicht aus, als ob er glücklich war über Varyns Krönung.
Es dauerte noch einen Moment, bis es im Saal wieder ruhiger wurde, und Varyn verfluchte sich schon für den Aufstand, den er um Gavens Willen veranstaltet hatte. Er wollte doch nicht alle auf den Jungen aufmerksam machen! Der Abgrund mußte nicht wissen, daß Varyn noch einen Bruder hatte, es reichte schon, daß er Varyns die ganze restliche Familie weggenommen hatte. Gaven schwebte schon in zu großer Gefahr, warum dann noch so auf seiner Anwesenheit herumreiten? Die Antwort war einfach: Weil er alles andere nicht verdient hatte. Es ging nicht nur darum, daß Gaven lebte. Sondern auch darum, daß ihm Gerechtigkeit widerfuhr.
Varyn mußte lächeln. Wo es um die Gerechtigkeit ging, konnte der Richter sich ihm schlecht widersetzen. Oder wußte er nicht, daß Varyn auch ein Erbe von Tolimander war? Es half nicht viel. Außer dem Namen wußte Varyn nichts von diesem Engel. Und er war hier, um König von Doubladir zu werden.
»Wir haben uns hier versammelt«, sagte der Richter, zum wievielten Mal, wußte Varyn nicht, aber er sprach etwas schneller, als er einmal über die kritische Stelle hinweg war: Noch mal unterbrochen werden wollte er sicher nicht. »Um in Vigilanders Namen diesem Land seinen König zurückzugeben. Doubladir mag geschwächt scheinen durch den Tod seines geliebten Königs, doch beugen wird es sich niemals, und so wahr Vigilanders unbezwingbarer Adler das Wappen des Landes ziert, so wahr hat Vigilander uns den Erben seiner Kraft, seines Blutes und seiner Wahl übersandt.« Der Richter atmete durch, froh, zum Ende gekommen zu sein. »Schwört Ihr, Varyn, das Land Doubladir mit Eurem Blut zu verteidigen, seine Feinde zu zerschmettern und jeden, der es wagt, sich gegen es zu erheben, Vigilanders Heiliger Rache zu unterwerfen?«
»Das schwöre ich, bei meinem Leben«, antwortete Varyn. Wirklich, sein letzter Eid war da deutlich schwerer.
»Schwört Ihr, dem Himmel zu dienen und Euch dem Abgrund entgegenzustemmen mit allem, was Ihr habt, und allem, was die Engel Euch mitgegeben haben, um die Herrschaft der Elomaran über die Welt zu erhalten und zu verhindern, daß ihre Feinde, Feinde allen Lebens und aller Menschen, Macht über das, was des Himmels ist, erlangen?«
»Das schwöre ich, bei meinem Leben.« Vigilanders Erben mußte einen eisernen Willen haben und einen stahlharten Körper, der bereit war, allem zu trotzen, vor dem ein normaler Mann in die Knie ging. Aber große Geistesleistungen schien niemand von ihnen zu verlangen. Dannen hatte Varyn schon darüber aufgeklärt, daß die eigentliche Krönungszeremonie nicht allzu lang ausfallen würde, weil das Pack danach zum Essen strebte, und das die eigentlichen Feierlichkeiten an der Banketttafel ausgetragen wurden. Varyn mußte zugeben, daß ihm davor grauste. Über Monate hinweg keinen Tropfen Alkohol anzurühren war eine größere Willensleistung, als eine Nacht im Stehen zu verbringen, und davon schmerzten Varyns Beine noch immer - wie würde es dann erst sein, einem ganzen Festmahl voller feierwütiger Männer nüchtern zu entkommen?
»Schwört Ihr, Eure Kinder und Kindeskinder die Heilige Rache zu lehren, auf daß Vigilander auch in tausend Jahren noch seine schützenden Schwingen über unser Land ausbreiten möge und alles Unheil von Doubladir fernhalten?«
»Das schwöre ich, bei meinem Leben«, sagte Varyn. Solange er nicht schwören mußte, selbst auch nur ein Kind zu zeugen, konnte ihm das Recht sein. Ungeborene Kinder konnte man so ziemlich alles lehren. Außer Leben, vielleicht.
»So seid Ihr nun bereit, Euch dem letzten und entscheidenden Urteil Eures Engels zu unterwerfen, dem Urteil des Schwertes?«
Varyn schluckte und fragte sich dann, was er fürchtete. Das Schwert und er waren doch inzwischen wie alte Freunde, es hatte sich seit dem Tod des alten Königs widerstandslos von ihm führen lassen, warum sollte es sich dann ausgerechnet jetzt als Feind und Spielverderber herausstellen?
»Ich bin bereit«, sagte Varyn laut. »Ich lege mein Herz, meine Seele und mein Leben in Vigilanders Hände und vertraue darauf, daß er mich als seinen rechtmäßigen Erben erkennt.« Er hatte keine Angst - vielmehr war er neugierig, was passieren würde. Nicht mit dem Schwert, sondern mit den Menschen, die den Saal füllten. Wie viele von denen in Wirklichkeit auf den großen Knall warteten, den Moment, in dem Varyn von Vigilander persönlich als Betrüger entlarvt wurde, wußte er nicht, aber es waren bestimmt viele. Eine Krönung war sicher interessant, aber Blutvergießen und ein Engelsurteil um so mehr.
Wie Dannen es ihm beigebracht hatte, hob er beide Hände und hoffte, daß jeder ihn gut sehen konnte. Links und rechts des Throns, auf dem er saß, standen die Gehilfen des Richters mit Fackeln in der Hand, so reglos, wie Varyn die Nacht verbracht hatte, und schon um ihretwillen hoffte Varyn, daß die Krönung nicht noch stundenlang dauern würde. Er wußte, wie anstrengend es war zu stehen, und hier, vor all den Zuschauern, konnten die Männer noch nicht einmal das Gesicht verziehen oder die Arme sinken lassen. Aber niemand achtete auf sie. Die Augen waren auf den Richter gerichtet, der eine Schale in der einen Hand hielt und ein Messer in der anderen, und auf Varyns bloße Unterarme, aus denen gleich das Blut fließen sollte.
Es tat nicht weh, als der Richter die Schnitte setzte. Die Klinge war so scharf, daß Varyns eigenes Messer dagegen grob und schartig erschien, etwas, womit man vielleicht eine Scheibe Wurst abschneiden konnte, aber nicht viel mehr. Diese Klinge hier war Hunderte von Jahren alt und wurde nur dann benutzt, wenn ein König zu krönen war, aber sie war scharf wie am ersten Tag. Der Richter wußte genau, was er tat. Er konnte unmöglich schon den alten König gekrönt haben, dafür war er zu jung, aber vielleicht hatte er geübt. Varyn konnte die Unterarme der Gehilfen nicht erkennen, aber es würde ihn nicht wundern, wenn sie bandagiert waren. Statt dessen sah er sein eigenes Blut in die Schale rinnen. Und das war ein Anblick, der sich seltsam gut anfühlte.
Varyns Blut war warm als Zeichen, daß er lebte - er fühlte, wie es über seine Haut rann, bevor der Richter es mit der Schale auffing, Tropfen um Tropfen. Es war nicht viel Blut, nichts, woran er verbluten würde, aber wie es herausquoll in dem Takt, in dem sein Herz schlug, gefiel Varyn. So kalt ihm auch war, sein eigenes Blut wärmte ihn ein wenig. Und es war rot, so wie das Blut jedes Menschen. Alle sprachen von Varyns Engelsblut - ob es nun Vigilanders war, auf das es wie hier ankam, oder das all der anderen - aber das Blut, das Varyn aus seinen Adern fließen sah, das Blut, das in seinen Ohren rauschte und hinter seinen Augen pulsierte, war nicht anders als das eines gewöhnlichen Menschen.
Varyn hatte viel Blut fließen sehen im Krieg, Menschen sterben oder verwundet zusammenbrechen, und in diesem Moment hätte jeder von ihnen er sein können. Engelsblut war egal. Was Varyn haben wollte, war Menschenblut, um zu wissen, daß er immer noch menschlich war. Wie viel Mensch blieb übrig bei einem, der das Blut so vieler Engel teilte? Genug, daß es noch rot war. Die Engel selbst konnten nicht bluten. Sie waren unsterblich, aber ebenso waren sie unlebendig. Varyn sah sein Blut fließen, und es war rot.
Dann drehte sich der Richter zu den Zuschauern, hielt die Schale mit beiden Händen hoch und zeigte sie nach allen Seiten. »Seht hier das Blut«, sagte er.
Varyn sah es nicht, er sah nur sein Eigenes, das weiterhin aus den Schnitten quoll und sich hoch und rund wie ein Gewölbe über seiner Haut staute. Er wußte nicht, was jetzt damit werden sollte. Normalerweise, wenn er sich geschnitten hatte, nahm er den Finger in den Mund, bis das Blut nicht mehr floß und nur der süße Geschmack roten Lebens auf der Zunge zurückblieb, aber hier konnte er das schlecht tun. Es war nicht besorgniserregend, aber der Anblick war zu faszinierend, wie sich die Oberfläche des Blutes an der Luft veränderte - als ein weiterer Diener kam und die Wunde mit einem Stück Stoff verband, während die Menschen nur auf den Richter schauten und ihn nicht weiter beachteten, war Varyn fast enttäuscht.
»Seht das Blut«, rief der Richter. »Ist es das Blut eines Engels? Ist es das Blut Vigilanders? Nur das heilige Schwert kennt die Antwort.«
Aber was immer das Schwert auch wissen mochte, es sagte nichts. Dort lag es unschuldig auf einem Ständer, mitten vor dem Thron, wo es schon die ganze Nacht über gewartet hatte, und sah aus wie jedes andere Schwert. Wenigstens wußten sie so alle, daß es da war - Varyn hatte gehört, was in Koristan passiert sein sollte, daß die Krone ausgerechnet bei der Krönung verschwunden war. Hier war alles da, wo es sein sollte, die Krone in den Händen eines Dieners, der hinten in den Schatten stand, bis er gebraucht wurde, aber auf die Krone kam es nicht weiter an - sie war ein schlichter Reif, man brauchte sie, weil eine Krönung ohne Krone schlecht möglich war, aber wichtig war nur das Schwert.
Der Richter ging zu dem Ständer hin, zeigte die Schale ein letztes Mal vor und goß dann, Tropfen für Tropfen, Varyns Blut auf die Klinge. Der ganze Saal hielt den Atem an. »Vigilander, Wächter des Himmels, Herr über Doubladir und alle seine Menschen, sende uns dein Zeichen«, rief er Richter in einem Singsang, der zu seiner sonst allzu nüchternen und ruhigen Stimme nicht passen mochte. Varyn fragte sich, ob der Mann überhaupt selbst zu Vigilander betete oder ob er das jetzt nur tat, weil es in Doubladir von ihm erwartet wurde. Man konnte schlecht Tolimander fragen, wer Vigilanders Nachfahre werden sollte, oder? »Erkennst du diesen Mann, der vor uns steht als dein Erbe, als rechtmäßigen Herren deines Schwertes an?«
Eigentlich machte die ganze Prüfung keinen Sinn mehr. Das Schwert hatte schon deutlich genug gezeigt, daß es zu Varyn gehörte, als es auf dem Schlachtfeld in seine Hand gefallen war, aber Ritual war Ritual… Und dann wurde es Varyn plötzlich schlecht. Ein Schwert, das aussah wie jedes andere - wer sagte ihm denn, ob dies das richtige war? Ja, er würde es wissen, wenn er es in der Hand hielt, sie erkannten einander, Varyn und das Schwert, aber so, auf dem Ständer, konnte es jedes sein. Wenn in Koristan eine Krone verschwinden konnte, dann mußte es auch in Doubladir möglich sein, das heilige Schwert durch ein Unheiliges auszutauschen… Varyn wußte nicht, wem er das zutrauen konnte, aber hatte sich Dannen wirklich so schnell und so einfach geschlagen gegeben, wie er vorgab? Oder war er nur zum Schein darauf eingegangen, weil er wußte, daß er weiterhin der nächste Erbe war, sollte bei Varyns Krönung etwas schieflaufen? Was für ein Zeichen erwartete der Richter?
»Vigilander, zeige uns deinen Willen!« rief er. Und Varyn konnte nichts tun als zusehen.

Erst schien es so, als ob gar nichts passierte, und Varyn wußte nicht, ob das jetzt gut war oder schlecht. Dannen hatte ihm nur gesagt, daß es diese Prüfung gab, und wie es weitergehen sollte, wenn er sie bestand, aber ob der Engel nun sein Mißfallen zeigen und sonst schweigen würde oder ob er etwas tun mußte, damit Varyn gekrönt wurde, wußte er nicht. Und auch wenn er den Richter nur von hinten sehen konnte und nicht sein Gesicht, nur seine Körperhaltung interpretieren konnte, kam es Varyn so vor, als ob der Richter selbst die Antwort nicht kannte.
Varyn stellte sich vor, wie der Richter in einem verstaubten Buch geblättert hatte, um selbst alles Wichtige für die Krönung zu lernen - was tat der Mann denn sonst, urteilte er über alle Verbrechen, die in diesem Land geschahen oder nur in Car Diuree, stiftete er die Ehen, oder hatte er überhaupt nichts zu tun, weil er der oberste Richter war und so wichtig, daß er alles, was nicht mit dem Königshaus zu tun hatte, seine Gehilfen tun ließ? Das konnte er hinterher immer noch herausfinden. Erst einmal mußten sie abwarten, bis der Richter erklärte, daß kein Zeichen auch ein Zeichen war und sie folglich mit dem Krönen fortfahren konnten - als etwas Seltsames passierte. Es klickte.
Es war nur ein leises Klicken, als wenn ein Schlüssel im Schloß gedreht wurde, aber es fiel Varyn auf, weil es zu nichts paßte, was gerade geschah. Von der Tür konnte es nicht kommen, denn die Flügel standen weit offen, als wolle man die ganze Welt zu Varyns Krönung einladen, und selbst wenn sich daran gerade jemand zu schaffen machte, war es doch zu weit weg - das, was Varyn hörte, mußte ganz in seiner Nähe sein, und da war nichts, was klicken konnte. Er blickte sich nach links und rechts um, aber da standen die Fackelträger, wie sie die ganze Zeit über standen; die Fackeln knackten leicht, wenn er sich genau darauf konzentrierte, aber das war das falsche Geräusch.
Es konnte Einbildung sein, ein Klicken, das nur in Varyns Kopf existierte, würde zu dem ganzen Rest passen, niemand sonst verhielt sich, als ob er etwas gehörte hatte. Trotzdem, es fühlte sich anders an als alle Einbildung, irgendwie wichtig und vor allem wie etwas, das Varyn genau so schon einmal gehört hatte. Aber er kam nicht mehr dazu, lange darüber nachzudenken, denn das Zeichen, nach dem der Richter gerufen hatte, trat ein.
Die ersten Tropfen von Varyns Blut waren auf der Schwertklinge gelandet, ohne daß etwas damit passierte, aber dann begann sich ein kleines Rauchfähnchen zu bilden, dort wo das Blut auf den Stahl traf. Varyn wäre gern aufgestanden, um besser sehen zu können, aber es war besser, wenn er sitzenblieb, er mußte so tun, als ob er mit genau dieser Reaktion gerechnet hätte und es nicht anders sein durfte, damit der Richter das auch glaubte.
Varyn sah, wie der Rauch sich in der Lust kräuselte, und wie der Richter einen halben Schritt zurück machte - ob er damit gerechnet hatte? Varyn biß die Lippen zusammen, er hatte es nicht in der Hand, was jetzt passierte, und irgendwie war der Rauch nichts gutes. Wenn das Schwert zu glühen begann, oder zu leuchten, oder zu summen, dann war das in jedem Fall ein Zeichen, daß es Varyn akzeptierte. Aber Rauchen? Das sah aus, als ob das Schwert sich ärgerte… Trotzdem, es mußte geschehen, egal was dabei herauskommen sollte. Der Richter ließ, vielleicht etwas überhastet, den Rest des Blutes auf das Schwert fließen, und aus dem leichten Rauch wurde schwerer Qualm, dunkelgrau und mächtig stieg er über der Klinge auf, daß man ihn auch in der hintersten Reihe sehen konnte.
Aber es war kein Rauch wie von einem Feuer. Er war nicht zu riechen, nicht zu hören, und statt wie normaler Rauch hingeweht zu werden zur offenen Tür, stieg dieser nur in die Höhe und ballte sich dort zusammen zu einer dichten Wolke. Die plötzliche Stille, die sich im ganzen Saal ausbreitete, das waren hundert Menschen, die gleichzeitig die Luft anhielten, die einfroren in dem, was auch immer sie gerade taten, und erschrocken oder aufgeregt abwarteten, was nun kommen würde. Wenn sie jetzt Angst bekamen, konnten sie immer noch davonrennen, aber Varyn mußte bleiben, wo er war, durfte keine Angst zeigen, noch nicht einmal vor sich selbst -
Mit einem lauten Knall fielen die Türflügel zu, beide gleichzeitig. Es wurde kalt im Thronsaal, und das Licht wurde fahl, und die schwarzgraue Wolke begann sich zu verändern. Erst sah es aus, als nehme sie die Gestalt eines Mannes an, so hoch wie drei, aber dann entfaltete die Gestalt ein paar mächtige Schwingen, und Varyn sah, daß es ein Engel war. Er zwinkerte, einen Moment unsicher, ob er der Einzige war, der das sehen konnte - der dichte Rauch verdeckte ihm die Sicht auf die Menschen, er konnte ihre Reaktionen nicht erkennen, doch dann sah er, wie der Richter rückwärts stolperte, wie die beiden Fackelträger zitterten, und er wußte, vielleicht zum ersten Mal, daß er nicht allein war mit dem, was er sah. Ein Engel hatte Vigilanders Thronsaal betreten, ein Engel, der bis unter die Decke reichte, dessen Schwingen die Wände zu den Seiten berührten, und der in seiner Hand ein Schwert aus Rauch hielt, das allein schon länger war als ein ausgewachsener Mann.
Immer noch war es so still, daß man eine Maus hätte atmen hören können. Der Engel trat auf Varyn zu, das Schwert erhoben, als wolle er ihm damit den Kopf abschlagen, doch statt dessen berührte er nur mit der Schwertspitze Varyns Schultern, erst die linke, dann die rechte, eine Berührung, die Varyn sehen konnte, aber nicht fühlen. Er bewegte sich nicht, wollte keine falsche Bewegung machen, die den Engel wirklich werden ließ und mit ihm die drohende Klinge. Dort, wo das Gesicht hätte sein sollen, war bei dem Engel nur grauer Rauch, seine Form war ein grobes Schemen, voller Bewegung und Wirbel, ganz wie echter Rauch gewesen wäre, aber was er tat, war trotzdem klar zu erkennen: Er berührte Varyns Schultern mit dem Schwert, und dann ging er vor ihm auf die Knie. Ein Engel, oder etwas, das wie ein Engel aussah, kniete vor Varyn - deutlicher konnte das Zeichen, um das der Richter gebetet hatte, nicht mehr ausfallen.
Und doch fühlte es sich für Varyn falsch an. Er konnte es an nichts festmachen; ihm waren zwar schon mehr Engel erschienen, als das einem einzelnen Menschen im Leben passieren sollte, aber dieses Mal war anders: Er fühlte nichts. Nicht an seinem Körper, was man noch damit erklären konnte, daß der Engel nur aus Rauch war und nicht körperlich anwesend, aber Varyn fühlte auch nichts in seinem Herzen. Ein Engel, das war eine Gegenwart, die man spüren konnte, die durch Mark und Bein ging und Herz und Atem lähmte - aber alles, was Varyn hier reglos verharren ließ, waren Aufregung und Ungewißheit. Jedes Trugbild, das Varyn heimgesucht hatte, war wirklicher als dieser Engel, als wäre das nur ein Schauspiel, um die Ungläubigen im Publikum zu überzeugen.
Am liebsten wäre Varyn aufgesprungen, hätte gerufen ‘Das ist eine Lüge, er ist überhaupt nicht echt!’, aber damit hätte er alles zunichtegemacht - besser, die Leute glaubten an einen Engel, der nicht da war, als daß sie alle von einem wirklichen Abgrund verschlungen worden wären. So schwieg er, reihte sein Schweigen ein in die Reihen der Zuschauer, die atemlos das bestaunten, was sie für eine echte Erscheinung Vigilanders hielten, bis das Rauchbild sich auflöste und verflog wie ein Nebel, den der Wind auseinander blies. Dann brach ein Jubel aus, die Menschen sprangen auf, wollten nach vorne stürmen und mußten von den Soldaten, die für Ruhe im Saal sorgen sollten, zurückgehalten werden. Nur Varyn war nicht nach Jubeln zumute; er fühlte sich, als ob alles, an was er glaubte, was er zu glauben gezwungen wurde, erpreßt von Himmel und Abgrund gleichzeitig, von einer Lüge verdrängt wurde. Die Engel, die er im Traum gesehen hatte, waren wirklich. Der Dämmervogel, wie er den Leuten in Lomar erschien, war wirklich. Aber alles, woran sich die Doubladai nun erinnern würden, war ein graues Trugbild, und Varyn hatte keine Gelegenheit, das wiedergutzumachen.

Es dauerte einen Moment, bis wieder Ruhe im Saal einkehrte, und der Erste, der die Sprache wiederfand, war der Richter. Vielleicht glaubte er ebenso wenig wie Varyn an das, was er gesehen hatte, vielleicht war er Kraft seines Amtes an Wunder und dergleichen gewohnt, jedenfalls zitterte seine Stimme kein bißchen, als er laut und klar sagte: »Wir haben Vigilander um sein Zeichen gebeten, und sein Zeichen hat er uns geschickt. Er, der hier vor uns steht, sei nun erkannt als wahrer Erbe des Engels und rechtmäßiger König von Doubladir…«
Und in diesem Moment kam Varyn ein Verdacht. Ein ziemlich fieser Verdacht und keiner, den er einfach so beweisen konnte, zum Glück - aber was war, wenn der Richter selbst hinter diesem Schauspiel steckte? Varyn kannte den Richter kaum, hatte ihn nur ein paarmal getroffen, aber das Gefühl, das er dabei nicht loswurde, war, daß der Richter über alles froh war, daß nicht Dannen oder irgendein anderer aus seiner Familie König werden sollte - es war nicht so, daß er ein glühender Anhänger Varyns war, da spielte er neutral, aber ganz sicher war er kein Freund vom alten König und seiner Sippe, bis zu einem Grad, daß Varyn es spüren konnte. Wenn der Richter nun mit einem Trick, Schattenspiel, Illusion, was auch immer, den Zuschauern einen Engel vorspielte, um auch den letzten Zweifler ruhigzustellen?
Wie er das gemacht haben sollte, wußte Varyn nicht, er kannte selbst keine solchen Zaubereien, aber es reichte schon, daß er es dem Mann zutrauen konnte. Es paßte zu dem Klicken, das niemand außer ihm gehört haben wollte. Und es waren genug Gehilfen des Richters da, daß einer von ihnen unbemerkt etwas anstellen konnte - sie standen dort hinten, hielten die Gegenstände, die für die Krönung benötigt wurden, bereit, sie im entscheidenden Moment nach vorne zu tragen, aber was taten sie in der Zwischenzeit? Varyn hatte keine Beweise, und so hörte er sich nur alles an und sagte, was von ihm verlangt wurde, damit das Ganze schnell ein Ende hatte.
»So empfangt nun aus meiner Hand den Kelch des alten und neuen Blutes, Zeichen des wahren Lebens, das von Vigilander weitergereicht wird an seine Erben, Fleisch seines Fleisches, und so wie es durch Eure Adern fließt, soll sein Geist fließen durch das ganze Volk und einen jeden unter uns mit seinem Herz und Geist erfüllen.«
Da war er, der Moment, den Varyn so sehr gefürchtet hatte. Vergessen waren alle Gedanken um den Engel aus Rauch, um Schummel und Schwindel und die Frage, wer dahintersteckte. Aus dem Hintergrund traten zwei von den Richterdienern und trugen zwischen sich ein Tablett, auf dem ein mächtiger Kelch stand. Sicher war der nicht so schwer, daß es wirklich zwei Männer brauchte, um ihn zu tragen, aber so wurde sichergestellt, daß die Augen der Zuschauer auch wirklich auf dem Kelch lagen. Man konnte fast meinen, dieser Kelch wäre wichtiger als Schwert, Kronen und Thron, wie er dort stand auf dem mit weißen Tuch verhangenen Tablett, so groß, daß man beide Hände brauchte, um daraus trinken zu können.
Als Dannen Varyn von dem Kelch erzählte, da hatte Varyn etwas vor Augen in der Art, woraus die Adligen zu den Mahlzeiten tranken, aber das hier mußte so groß sein wie fünf von der Sorte, verziertes Silber, in das der Wappenvogel Doubladirs eingraviert war, der Adler mit den gekreuzten Schwertern. Einen Moment lang lenkte sich Varyn mit dem Gedanken ab, ob man nun für ihn das Wappen ändern mußte, daß der Adler statt dessen Hammer und Eisen in seinen Krallen halten sollte, aber schon war er wieder bei dem Kelch, dessen Inhalt noch verborgen war unter einem silbernen Deckel, sicher um zu verhindern, daß sich auch nur ein Tropfen des kostbaren Alkohols verflüchtigen sollte…
Varyn wurde es heiß und kalt. Er hatte nicht mehr mit Dannen reden können, wußte nicht, ob der sein Versprechen wahr gemacht hatte, hatte wahr machen können, wenn er das überhaupt jemals vorhatte. Er wußte nicht, wer den Kelch gefüllt hatte, wann das geschah, ob er danach bewacht war oder nicht - konnte der Inhalt ausgetauscht worden sein oder war das doch ein Weinkelch von der Sorte, die einem nüchternen Mann das Bewußtsein rauben konnte?
Unwillkürlich biß Varyn die Lippen zusammen, als der Richter den Deckel vom Kelch nahm, den Kelch hochhob und ihn dann den Zuschauern zeigte wie eine stolze Trophäe, bevor er ihn an Varyn weiterreichte. Er versuchte, Dannen Gesicht hinter dem Kerzenschein zu erkennen und darin die Antwort auf seine Sorgen zu finden. War das Schuldbewußtsein? Zufriedenheit? Angst? Varyn konnte es nicht sagen. So gut er sonst darin war, die Gesichter von Menschen zu lesen und ihre Absichten zu erraten, Dannens Gesicht war eine starre Maske, versteckt hinter seinem Bart und düsteren Augenbrauen, und noch nicht einmal seine Augenfarbe konnte Varyn klar sehen. Dannen war in einer Zwickmühle, er durfte vor seiner Familie nicht auf Varyns Seite stehen und vor Varyn nicht auf der seiner Familie, und er hüllte sich in eine stählerne Maske, die wohl jahrelanger Übung entsprungen war. Wenn Varyn bei Hofe bestehen wollte, brauchte er auch so ein Gesicht, aber er wußte, er verriet sich allzu leicht durch seine Augen und ebenso oft durch die Ringe darunter. Wenn nur Wasser in dem Kelch war!
Varyn nahm den Kelch mit ausgestreckten Armen an, als wolle er ihn so weit wie möglich von sich fernhalten, und atmete unauffällig durch den Mund. »Ich empfange den Kelch des alten und neuen Blutes«, würgte er hervor; er fühlte sich, als ob ihm etwas die Luft abschnürte. Auf den ersten Blick sah die Flüssigkeit im Kelch nicht wie Wein aus, sie schien hell zu sein und durchsichtig, es mußte Wasser sein, aber wehe, wenn der Richter etwas davon merkte! Varyn betete zu allen Engeln und besonders zu Elysander, der seinen Eid hütete, daß der Richter nicht genau hinsah; er neigte den Kelch zu sich hin und versuchte, seine Oberfläche im Schatten zu halten - wenn der Richter bereit war, ein Schattenspiel zu veranstalten und einen Engel auftreten zu lassen, der nicht da war, dann würde er auch nicht verhindern, daß Varyn anstatt Wein Wasser zu trinken bekam. Aber wenn der Richter eben nicht dahintersteckte… Varyn versuchte, den Kelch so zu halten, daß jeder glaubte, alles sehen zu können und doch nichts wirklich sah, ohne daß der Inhalt überlief. Der Kelch war verdammt schwer! »Ich nehme Vigilanders Blut in mir auf, ich trinke seinen Atem, um mit seiner Zunge zu sprechen -«
Da traf ihn der Geruch wie ein Meißel, er fühlte ein Stechen in seiner Nase, ein Ziehen auf seiner Zunge, aber am schlimmsten war diese unbändige Freude in seinem Herzen. Dannen hatte Wort gehalten. Es war kein Wein in dem Kelch. Aber es war auch kein Wasser. Der Kelch war bis unter den Rand gefüllt mit Schnaps.
Varyns Hände fingen an zu zittern und krampften sich um das kalte Silber, um den Kelch nicht fallenzulassen, obwohl das in dem Moment wohl seine einzige Rettung hätte sein können. Er starrte Dannen an, entsetzt, entgeistert, er wollte zornig aussehen, aber sein Herz hämmerte nur vor einer Aufregung, die freudig war. Dannen erwiderte den Blick, nickte kaum merklich, Varyn bildete sich ein, daß ein leichtes Lächeln die bärtigen Mundwinkel verzog, doch das mochte Einbildung sein - aber in jedem Fall wich Dannen dem Blick nicht aus, und da war kein Hauch von Schuld in seinem Gesicht. Fand er das lustig? Dachte er vielleicht, Varyn hätte einen Witz gemacht, als er ihn bat, ihm den Wein zu ersparen? Hielt er Varyn für einen Feigling, einen Drückeberger, oder schlimmer, wußte er vielleicht ganz genau, was er da getan hatte?
Varyn biß die Zähne und kniff die Lippen zusammen, das Zittern lief ihm von der Stirn über den Nacken und von dort den ganzen Körper hinunter, er brach die auswendig gelernten Worte mitten im Satz ab, suchte in seinem Kopf nach einem Fluchtweg, einem Ausweg, den es nicht gab, wenn er den Kelch nun fallenließ und einen neuen bekam, in dem dann nur Wein war… Nur Wein, was hieß das schon, Wein war fast genauso schlimm und konnte ihn genauso zugrunde richten… Aber eben nur fast…
»Habt Ihr Euren Text vergessen?« zischte der Richter ihn an, und Varyn versuchte, aus dem Zittern ein Kopfschütteln zu machen. »Der Text ist egal, Ihr habt den Kelch, trinkt, und keiner wird mehr nach dem Text fragen.«
'Ich kann nicht!' wollte Varyn schreien, aber er konnte das ebenso wenig wie den Kelch loslassen. Das Schlimme war nicht, daß ihm jemand, Dannen, der Richter, sonst wer, den Schnaps untergejubelt hatte. Das Problem war, wie sehr sich jede Faser in Varyns Körper darauf freute, ihn zu trinken. Und wenn sich dann der Abgrund auftat und ihn verschlang, so wie der Eid es verlangte, wenn Varyn mit Leib und Seele in den Nilomar fuhr, wenn diese Krönung ein noch jäheres Ende nahm als die in Koristan, die mit einem König in Verbannung geendet hatte - Varyn fühlte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief, unter seiner Zunge war ein Stechen, in seiner Brust ein Ziehen - hatte er eine Wahl? Konnte er weglaufen, auf daß doch Dannen gekrönt wurde, auf daß sonst wer den Abgrund bekämpfte, auf daß sich der Dämmervogel und die Schwestern einen anderen Dummen suchten mußten? Es half nichts. Das, wovor Varyn davonlaufen wollte, saß hinter seiner Brust, er hatte den Abgrund in sich und die Abgründigen, und das würde er mitnehmen, wohin auch immer er rannte.
Er hatte monatelang keinen Tropfen Alkohol angerührt und gedacht, dieses finstere Loch damit kleinzukriegen, aber hier war es, genauso stark wie am ersten Tag, der Wille war da, der Wunsch, das Verlangen, und es würde in einem Jahr noch da sein und in zehn, egal wie lang Varyn lebte, das war ein Stück von ihm und würde es bleiben. Alles was er jetzt tun konnte, war, es auszutricksen. Er fühlte, wie seine Hände den Kelch an seinen Mund hoben, er fühlte, wie die Flüssigkeit seine Lippen benetzte, umschmeichelte, es war ein Kuß von einer lange fernen Geliebten, seine Nasenlöcher weiteten sich, sein Herz ging schneller, dann war der erste Schluck in seinem Mund, dieses vertraute Brennen, das ihm so lange gefehlt hatte, geliebt und gehaßt und begehrt und von nichts in der Welt zu ersetzen -
Varyn schloß die Augen, als er trank, und gab seinen Körper unter die Kontrolle seines Verstandes. Er hatte diese Gabe. Er wäre ein Dummkopf, sie nicht zu nutzen. Wenn er wollte, daß der Alkohol keine Wirkung auf ihn hatte… In Varyns Inneren lieferten sich sein Willen und sein Verlangen einen Kampf, den kein Mensch sehen konnte. Der Teil von ihm, der den Rausch suchte, der in das Land zwischen den Welten wollte, süße Bewußtlosigkeit, süßerer Tod, ein Ende aller Schmerzen, kämpfte gegen Varyns Vernunft, Pflichtbewußtsein, Verstand. Wo war sein Lebenswillen? Warum kämpfte der nicht mit? Varyn fühlte, wie das flüssige Feuer seine Kehle hinunterrann, seinen Magen ausfüllte und von dort weiterbrannte, um in jeder Ader durch seinen Körper getragen zu werden, in Hände und Füße, in die Haarspitzen, ins Herz, ins Hirn, vor allem ins Hirn - wenn er sterben wollte, jetzt war der richtige Moment dafür.
Es war lange her, daß Varyn sich diese Frage hatte stellen müssen. Er hatte sich aufgegeben, so oft schon, zuletzt an dem Tag, als seine Familie starb, und daß er sich dann doch entschlossen hatte weiterzumachen war immer für andere - für Gaven, für Noran, für den Dämmervogel, für den Himmel. Aber in diesem Moment verlangte sein zweites Ich eine ganz andere Antwort von ihm: Was wollte Varyn für sich selbst? Leben für sich selbst, kämpfen für sich selbst? Wenn er nicht einmal stark genug gewesen war, diesen Kelch zu nehmen und von sich wegzuschleudern bis an den Kopf desjenigen, der ihn gefüllt hatte, wenn er nicht einmal den Kampf gegen sich selbst gewinnen konnte, wie sollte er es dann mit dem Abgrund aufnehmen?
Aber während die letzten Tropfen des viel zu starken Gebräus seine Kehle hinunter rannen, stieg irgendwo aus der Tiefe eine Antwort auf, daß er nicht wußte, ob sie aus seinem Abgrund kam oder aus seinem Himmel: Leben. Varyn wollte leben. Für die Welt, für seine Freunde, und für sich selbst - das eine ging nicht ohne das andere. Jedes Ja, das Varyn in seinem Leben gesprochen hatte und dachte, es wäre für jemand anderen, war in Wirklichkeit für ihn selbst, immer schon. Leben, so lang und so gut es ging. Mit allem, was dazugehörte, und wenn es Träume waren und Wahnsinn und Begierden, die er nicht steuern konnte, all das war Leben, sein Leben. Egal wie viele Engel ihren Teil dazu beigetragen hatten, in seinem Inneren war Varyn nur Varyn. Und dieser Varyn war jetzt stark genug zu entscheiden, daß dieser Alkohol keinen Einfluß auf ihn haben sollte.
Zumindest nicht, bis diese Krönung und alles, was mit ihr zusammenhing, vorüber war. Wenn er es schaffte, so lang wachzubleiben, bis sein Körper sich wieder gereinigt hatte, bis der Alkohol ihm nichts mehr anhaben konnte - und selbst wenn nicht, er würde es überleben. Es war nur Schnaps, nichts, was einen ausgewachsenen Mann umbringen würde. Kein Grund, sich so anzustellen. Andere tranken auch und lebten ganz gut damit. Er mußte nur aufhören, sich bei jeder Gelegenheit selbst zu hassen, der Alkohol war keine Entschuldigung, sich nicht zu mögen, und ohne Alkohol mochte er sich schließlich auch nicht mehr…
Als Varyn den Kelch sinken ließ, leer, die letzten Tropfen klebten noch an seinen Lippen wie eine scheidende Geliebte, die nicht loslassen wollte, begriff er, daß er einen Kampf gewonnen hatte und gleichzeitig einen verloren. Er hatte seinen Eid gebrochen, und daß der Abgrund ihn eben nicht verschlang, mochte daran liegen, daß Elysander andere Dinge mit ihm vorhatte, aber auch, daß Elysander überhaupt nicht die Macht hatte, dem Abgrund zu befehligen. Der Eid war gebrochen und Varyn konnte nicht mehr zu ihm zurückkehren, aber er konnte immer noch versuchen, das Beste draus zu machen. Die Zeit würde es zeigen. Die Hauptsache war, Varyn war jetzt nüchtern und konnte das nicht nur fühlen, sondern auch die Welt sehen lassen: Schaut her, der Alkohol kann ihm nichts anhaben!
Varyn öffnete die Augen und ließ sie über die Gesichter im Publikum wandern, die er erkennen konnte, scharf, wachsam - er sah keine Schadenfreude bei Dannen, überhaupt nichts, das darauf schließen ließ, daß der wußte, was in Varyns Kelch war. Besorgnis bei Gaven, aber der konnte auch nicht wissen, daß Varyn Wasser statt Wein erwartet hatte. Am Gesicht von Dannens Frau blieb er einen Moment zu lang hängen und sah dann schnell weiter, er begriff nicht, warum sie ihm nackt erschienen war und was das zu bedeuten hatte, sie war Dannens Frau und er würde sich sicher nicht daran vergreifen wollen, aber trotzdem - sie war wunderschön, nicht nur in seinem Traum, sondern auch, wie sie da saß, wie sie zu lächeln begann, nur ein kleines bißchen, als sein Blick den ihren kreuzte… Schnell sah Varyn Leota an, auch eine Frau, auch nicht häßlich, aber wenigstens hatte er bei der keine Vorstellung davon, wie sie nackt aussah. Und neben ihr Jaro, der jüngste Bruder, nur ein paar Jahre älter, als Edrik jetzt gewesen wäre, und Jaro… Jaro grinste… Wenn dies alles vorüber war, würde sich Varyn bei Dannen entschuldigen. Nicht nur wegen seiner Frau - sondern auch, weil er ihn falsch verdächtigt hatte. Und Jaro - dem würde das Lachen schon noch vergehen.

Langsam beruhigte sich Varyns Herzschlag wieder. Durchatmen. Varyns Zunge fühlte sich etwas taub an, und ehe der den Mund öffnete und am Ende nur ein hilfloses Lallen herauskam, horchte er vorsichtig in sich hinein - er wäre nicht der erste Kerl, der sich selbst für nüchtern hielt und dann über die eigenen Füße stürzte, aber diesmal schien er recht zu haben. Sein Kopf war klar, die Welt hielt still, alles war in Ordnung. Eines Tages würde Varyn herausfinden, welcher Engel hinter dieser Gabe steckte, und sich bei ihm bedanken. Es konnte der Engel der Weisheit sein - wenn Varyn erst einmal selbst anfing zu glauben, daß er von allen Engeln auf einmal abstammte, wußte er es hoffentlich besser, aber für den Moment sollte es reichen, ein Erbe Vigilanders zu sein.
Varyn reichte dem Richter den Kelch zurück, und die beiden Diener trugen das Tablett davon. Jetzt fehlte nicht mehr viel, die abschließenden Worte, dann die Krone, dann erwartete man noch eine Ansprache von ihm als König, aber all das machte Varyn keine Angst mehr. Den harten Teil hatte er hinter sich, im Vergleich dazu war ein bißchen König spielen ein Klacks. Wenn er wollte, konnte er danach mit den anderen feiern, es war ein gutes Gefühl, plötzlich nicht mehr vor jedem Bier Angst haben zu müssen, dieser verdammte Eid, den er da unbedingt hatte ablegen müssen, hatte ihm das Leben am Ende doch deutlich mehr erschwert als erleichtert, er war froh, das hinter sich zu haben.
»Das Schwert hat Euch erkannt«, sagte der Richter, »der Elomaran Vigilander hat sein Blut mit Euch geteilt, und nun ist es an der Zeit, Euren alten Namen und Euer altes Leben hinter Euch zu lassen, Ihr sollt fortan bekannt sein als Vigilander -«
»Nein«, sagte Varyn laut. Ihn stach nicht der Hafer, es lag auch nicht am Alkohol, er hatte sich das gut überlegt. »Mein Name ist Varyn.« Es mochte Brauch sein in Doubladir, daß die Könige ihren alten Namen ablegten und den Namen des Engels an, aber nicht nur fand Varyn das vermessen, die Namen der Engel sollten auch nur für die Engel da sein, er mußte dem Rechenschaft tragen, daß er eben nicht nur Vigilanders Blut hatte. Und er wollte nicht am Ende einen ganzen Rattenschwanz an Namen tragen, einen für jeden Engel. »Nur Varyn, und dabei bleibt es auch.«
Der Richter hielt inne; sein Diener, der einen Schritt hinter ihm stand und die Krone schon bereithielt, stutzte ebenfalls und sah aus, als wäre er bereit, die auch gleich wieder wegzutragen, wenn Varyn sich der Tradition widersetzte, aber auch darüber war Varyn bereit, sich hinwegzusetzen. »Ihr wißt aber, daß es in diesem Lande Brauch ist -«
»Brauch war«, korrigierte ihn Varyn. »Heute bricht ein neues Zeitalter an, eine neue Generation wächst heran, und ich werde meinen Namen behalten. Es ändert nichts an meinem Blut und daran, daß Vigilander mich als Erben anerkannt hat, wollt Ihr Euch dem Willen eines Engels widersetzen, nur weil ich den einen Namen behalte, der mein ist?«
»Aber -«, sagte der Richter und kam nicht weit, weil jetzt nicht nur Gemurmel im Publikum aufkam, sondern ein lauter Zwischenruf.
»Varyniel!« rief Dannen. »Sein Name ist Varyniel!« Er sprang auf, vielleicht um sich mehr Gehör zu verschaffen. »Varyn, das ist nur ein halber Name«, seine Familie fing an, auf ihn einzureden, aber das schien Dannen nicht zu stören, er klang immer vergnügter dabei, »Varyniel, den Namen hat er von den Elomaran selbst bekommen, es bedeutet 'Ich bin der Oberste' -«
Aber weiter kam er nicht, und auch Varyn kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. Dieser Name, mit dem der Dämmervogel angekommen war an dem Tag, als sie sich kennenlernten, dieser Name, den Varyn nie für den seinen gehalten hatte, so wie Dannen ihn jetzt aussprach, hatte er eine Bedeutung, und so gehörte er auch zu Varyn - aber es blieb bei dem Gedanken. Varyn konnte nichts mehr sagen, als Dannens Frau einen Laut ausstieß, ein schmerzerfülltes Klagen, das durch den ganzen Saal drang und bis hinter die hinterste Säule jedem Menschen für einen Moment das Herz anhielt. Sie griff sich an ihren Leib, krümmte sich zusammen und wäre von ihrem Sitz gerutscht, hätten Dannen und sein Bruder sie nicht aufgefangen, und wieder gab sie dieses klagende Stöhnen von sich.
»Bringt sie raus!« rief die Frau, die Varyn für Dannens Mutter hielt. »Schnell, worauf wartet ihr noch, soll sie ihr Kind vielleicht hier auf dem kalten Boden bekommen?«
Und dann war endgültig ein Tumult ausgebrochen, in dem jeder durcheinanderlief und durcheinanderrief, und ein sichtlich verwirrter Diener drückte Varyn schnell die Krone auf den Kopf, bevor irgendjemand es sich doch noch anders überlegen konnte. So wurde er gekrönt, Varyniel vom Blute aller Engel, und niemand sah hin. Das war vielleicht das Beste des ganzen Tages.
»Die neue Generation wächst heran, in der Tat«, hörte er noch den Richter murmeln. Dann begriff er, daß es überstanden war, daß er gehen konnte, wohin er wollte, und mit der Krone in der einen Hand und dem Schwert in der anderen saß Varyn auf seinem Thron, legte den Kopf in den Nacken und fing an zu lachen wie in seinem ganzen Leben noch nicht. Sollte die Welt von ihm denken, was sie wollte. Sollte sie ihn für wahnsinnig halten oder betrunken oder was auch immer. Dieser Tag gehörte Varyn und sonst keinem auf der Welt, und er würde ihn auch mit niemandem mehr teilen.
Aber der neue Tag, der gerade anbrechen wollte, auch wenn die Mittagsstunde gerade erst vorüber war, gehörte einem neuen, funkelnagelneuen, neugeborenen Leben.

Fortsetzung folgt