Es war die Nacht vor der
Krönung, die letzte Nacht, in der er noch weglaufen konnte,
und Varyn konnte sich nicht rühren. Die Nacht hindurch wachen
zu müssen machte ihm nichts aus - umgekehrt, hätte man
ihn gezwungen zu schlafen, wäre das ein Ding der
Unmöglichkeit gewesen. Auch die versperrte Tür
störte ihn nicht, als er hörte, wie sie von außen
mit einem massiven Balken verschlossen wurde, mußte er sogar
lächeln: Als ob es die Tür war, die ihn an der Flucht
hindern sollte, und nicht seine eigenen Worte, die Versprechungen,
die er sich selbst gemacht hatte und den drei Schwestern. Aber die
eisernen Ketten wurden mehr und mehr zu einem echten Problem.
Doubladir war ein seltsames Land. Wer hingerichtet wurde,
enthauptet als ein Verräter, der durfte die letzte Nacht in
etwas schlafen, das fast schon ein Bett zu nennen war, und bekam
eine anständige letzte Mahlzeit. Aber derjenige, der zum
König gekrönt werden sollte, den legte man ihn Eisen, die
Hände hinter dem Rücken versperrt, die Füße so
eng, als wären sie aneinandergeschmiedet, ein Reif um die
Brust, daß er kaum atmen konnte; und man zwang ihn zu stehen,
die ganze Nacht hindurch. Varyn hatte noch nie eine Hinrichtung
gesehen, und das war auch seine erste Krönung, aber hätte
man ihn gefragt, wo er lieber sein wollte…
Es war die Nacht vor der Krönung, und Varyn war allein mit
dem Schwert. Es lag auf dem steinernen Tisch, nur einen Schritt
entfernt und doch unerreichbar, denn Varyn hätte versuchen
können, es zu erreichen, hüpfend, in der Hoffnung, dabei
bloß nicht umzukippen, aber wie sollte er es dann nehmen? Mit
den Zähnen, vielleicht? Nein, er mußte stehen, auf der
Stelle, reglos, tapfer, ohne eine Miene zu verziehen und vor allem
ohne in Ohnmacht zu fallen, was vielleicht das Schwerste daran war.
In dieser Nacht kam Vigilander, um über ihn zu richten -
zumindest gab man ihm die Gelegenheit.
Er konnte sich seinen Erben von allen Seiten ansehen und hart mit
ihm ins Gericht gehen. Daß man Varyn nicht geknebelt hatte,
war kein Zufall, er sollte alle Fragen des Engels beantworten
können, und vor allem sollte er wohl die Zeit, in der
Vigilander gerade nicht persönlich vor ihm stand, nutzen, um
zu beten. Und das konnte Varyn nicht. Er wußte nicht, wie das
ging. Zu einem Engel schwören war eine Sache. Wenn die Tante
einen Tischsegen sprach, wenn der Hauptmann vor der Schlacht den
Namen Vigilanders brüllte, das war immer mehr an die Menschen
gerichtet als an die Engel. Varyn konnte Selbstgespräche
führen, er war sogar ziemlich gut darin. Aber mit einem Engel
reden, der überhaupt nicht da war - solange er seinen Verstand
noch nicht ganz verloren hatte, kam das Varyn nicht in den Sinn.
Und er hatte sich auch nicht getraut, Dannen oder sonst jemanden
deswegen zu fragen. Nicht wissen, wie man ein Schwert richtig
benutzte, das war eine Sache, das konnte man von einem einfachen
Bergmann auch nicht verlangen. Aber nicht beten zu
können…
Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er wollte die Arme hochnehmen
können, sich vorüberbeugen, in die Knie gehen - nichts
davon durfte er. Ein König mußte stehen bis zuletzt,
auch wenn jeder Mann gefallen war: Solange noch Leben in ihm war,
mußte er stehen und weiterkämpfen. Oder waren die Ketten
nur das Zeichen dafür, daß er nicht wegrennen konnte,
nicht in der Schlacht, aber vor seinem Schicksal? Varyn zwinkerte,
sein Kopf fühlte sich an, als wäre kein Tropfen Blut mehr
darin, und vor seinen Augen begannen Sterne zu tanzen. Er biß
sich in die Lippe, kaute darauf herum, als ob das den Kreislauf
wieder in Gang bringen konnte, und wartete auf das Ende der
Nacht.
Der Saal war zu groß für ihn. Hier sollte er
gekrönt werden, hier sollte er regieren, über die
Geschicke des Landes bestimmen, Kriege ausrufen und, wenn es sein
mußte, den Frieden. Aber nicht allein. Er konnte nicht allein
die Welt vor dem Abgrund retten und erst recht nicht allein
verhindern, daß Doubladir vor die Hunde ging. Nur er und das
Schwert, das reichte nicht aus. Vielleicht war das ganze Spektakel
dafür da, ihm das klarwerden zu lassen. Niemand wußte
es. Der neue König verbrachte die Nacht allein, und über
das, was vielleicht geschehen mochte, außer daß er
herumstand und darauf wartete, daß ihm endgültig die
Sinne schwanden, durfte er hinterher kein Wort verlieren. Noch
nicht einmal gegenüber seinem eigenen Erben - aber Varyn
konnte sich noch nicht einmal vorstellen, daß er so etwas,
oder so jemanden, einmal haben sollte.
Dannens Kind. Varyn hatte vor, es offiziell zu seinem Erben zu
ernennen, wenn es einmal auf der Welt war. Er konnte sich nicht
vorstellen, daß er selbst einen guten Vater abgeben
würde. Himmel, noch nicht einmal einen schlechten! Varyn vom
Blut aller Engel - so etwas durfte es nicht geben, nicht noch
einmal. Das Unglück, das damit einherging, wollte Varyn keinem
zweiten Menschen aufbürden, noch nicht einmal, oder erst recht
nicht, seinem eigenen Kind. Das Schicksal sagte, daß Varyn
geboren war, um es mit dem Abgrund aufzunehmen - ein Kind bekommen,
hieß sich einzugestehen, daß er diese Schlacht niemals
gewinnen konnte, und sie an die nächste Generation weitergab.
Varyn hatte vor zu siegen. Auch wenn das bedeutete, überhaupt
erst einmal mit dem Kampf anzufangen, statt abzuwarten, daß
die Nilomaran selbst den ersten Schritt machten…
In Varyns Ohren rauschte es. Jetzt hätte die Engel gut
brauchen können in dieser Nacht, nicht, damit er ihnen Rede
und Antwort stehen konnte, sondern sie ihm. Damit sie ihm sagten,
wie sie sich das überhaupt gedacht hatten, was sie von ihm
erwarten, was er tun sollte. Und wenn schon nicht die Engel selbst,
dann zumindest der Dämmervogel und seine Schwestern. Aber von
denen war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Die Prophezeiung
war ausgesprochen, und als ob es damit gut war, als ob alles gesagt
war, das gesagt werden mußte, ließen sie sich nicht
mehr blicken. Die Katze war aus dem Sack - als ob Varyn die Drei
nicht jetzt erst recht gebraucht hätte!
Vor Schwindel konnte Varyn sich kaum noch auf den Beinen halten.
Wenn er sich wenigstens hätte setzen können! Oder ein
paar Schritte tun - aber er stand da wie seine eigene Statue,
reglos und starr. Er konnte versuchen, ein wenig mit den Fingern zu
wackeln, aber die Handschellen waren über eine Kette mit denen
um seine Füße verbunden, und jede falsche Bewegung
drohte ihn gänzlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wann kam
endlich der Morgen? Wann kamen die Männer, um ihn zu
erlösen? Varyn hätte nicht gedacht, daß er sich auf
seine Krönung freuen sollte, aber wenn sie dieser Qual ein
Ende setzte, dann nur her damit!
Die Sterne vor seinen Augen verwendelten sich in ein Netz aus
schwarzen Flecken und silbernen Linien, das sich über die
ganze Welt legte. Die einsame Kerze, die neben dem Tisch mit dem
Schwert brannte, das einzige Licht, das Varyn durch diese Nacht
begleiten sollte, verschwand - nicht, als ob sie jemand ausgeblasen
hätte, sondern als ob er plötzlich blind geworden
wäre. Dann war alles dunkel um ihn. Und Varyn sah einen
Engel.
Es konnten ebenso gut seine Augen sein, die ihm einen Streich
spielten, ein letztes Aufblitzen, bevor er ihn die Sinne
verließen, aber er wußte, es war ein Engel. Eigentlich
sah es nur aus wie ein heller Fleck in der Schwärze, ein
weißes Funkeln - Varyn hatte die Elomaran in seinen
Träumen getroffen, leibhaftig, Männer mit Flügeln,
von denen er jede Feder klar erkennen konnte, aber nichts davon war
so wirklich wie dieser Moment. Er spürte eine Anwesenheit,
doch er wußte nicht von wem, es gab zu viele Engel, und zu
viele, die ihm in dieser Nacht erscheinen konnten.
»Wer bist du?« fragte Varyn. War das Vigilander? Kam
er, um ihn zu prüfen und, wenn Varyn unter seinen Augen nicht
bestehen sollte, das Schwert zu ergreifen und ihm den Kopf von den
Schultern zu schlagen? Blinzeln half nicht, und zwinkern auch
nicht.
Dann bekam er eine Antwort. Sie durchdrang ihn von den
schmerzenden Zehen bis in die tauben Haarwurzeln, so wie es nur die
Stimme eines Engels konnte, ein Dröhnen, das den ganzen
Körper erschütterte - aber er verstand sie nicht. Kein
Wort. Ein Engel stand vor ihm, und Varyn konnte seine Sprache nicht
sprechen.
Das letzte, was Varyn noch wußte, war, wie er zu weinen
anfing.
Bis sie am anderen Morgen kamen
und ihn losbanden, wurde Varyn noch mehrmals heimgesucht, aber er
konnte nicht mehr unterscheiden, ob er wach war oder schlief oder
schon tot. Sein Körper war jenseits des Punktes, wo er ihn
noch spüren konnte, und er fühlte sich wie ein Geist, der
ihm Raum schwebte, völlig losgelöst von allem, und doch
waren die Bilder, die er sah, so beschaffen, daß er sich
wünschte, lieber von seinem Verstand losgelöst zu
sein.
Er sah seine Familie, alle, die nicht mehr lebten. Sie standen vor
ihm, Onkel und Tante, Edrik, Harkon und Alsa, so wie sie immer
ausgesehen hatten, in ihren einfachen grauen und blauen Kleidern,
und es war schlimm genug, da ihm diese Einfachheit jetzt auffiel -
hatte er sich schon so weit von ihnen entfernt, hatte er sich so
daran gewöhnt, ein König zu sein? Sie sagten nichts,
blickten ihn nur an, aber ihre Augen waren so tot, daß sie
nicht sprechen mußten, um ihm Vorwürfe zu machen. Hinter
ihnen war ein weißes Leuchten; vielleicht sollte ihn das
trösten, vielleicht sagte es ihm, daß sie im Himmel
waren und nicht im Abgrund, aber wo sollten sie auch sonst sein? Es
gab keine besseren Leute als sie, keine reineren Herzen, wären
alle Menschen so wie sie, hätte der Abgrund keine
Schergen…
Und dann sah Varyn die Schatten. Sie waren am Boden, wo Schatten
hingehörten, und er hätte sie nicht weiter beachtet, doch
plötzlich begriff er, daß es nicht fünf Schatten
waren, sondern nur drei. Nicht weil Harkon und Alsa zu klein
gewesen wären, als daß ihre Schatten die der
Großen erreicht hätten - es waren drei Schatten, und nur
drei, und es waren die von drei Frauen mit aufgetürmtem
Haar.
Sie verschwanden in dem Moment, da er sie erkannte. Dafür sah
er Noran - ob sie direkt danach kam oder erst Stunden später,
konnte er nicht sagen, es war egal - er sah Noran, nicht wie sie
auf dem weißen Bett lag, sondern als ob ob sie noch lebte,
richtig lebte. Sie stand vor ihm, hob ihre Arme und sagte
»Ich will leben.«
»Ich will auch, daß du lebst«, wollte Varyn
sagen, sagte es auch, aber sie hörte ihn nicht.
»Bitte, ich will leben«, sagte sie, seine große
Schwester, die niemals Bitte sagte, weil sie wußte, es
brachte nichts zu bitten, weil sie es ohnehin niemals bekommen
würde. Es traf ihn direkt ins Herz, als ob es seine Schuld
war, als ob es nur in seiner Hand lag, und als ihre Form zu
verschwimmen begann und sich auflöste in Nebel und schwarzen
Schatten, die von hinten nach ihr griffen und sie mit sich
rissen.
»Wann laßt ihr sie frei?« fragte Varyn ins
Nichts hinein, und ob er mit den Schwestern sprach oder mit den
Nilomaran machte keinen Unterschied mehr. »Ich tue doch
alles, was ihr von mir verlangt, wann gebt ihr sie frei? Wenn ich
König bin? Oder muß ich erst die Welt retten?« Er
bekam keine Antwort, von keiner Seite. Noch nicht einmal von sich
selbst.
Dann wartete er. Es konnte nicht mehr schlimmer werden, und doch
war die Nacht noch nicht vorüber. Aber die nächste
Gestalt, die vor ihm erschien, war niemand aus seinem Leben,
niemand, der ihm etwas bedeutete, und er brauchte einen Moment, um
sie überhaupt zu erkennen. Es war eine Frau, auf eine herbe
Weise schön, mit langem Haar, das ihr offen über die
Schultern fiel, und erst als sein Blick dem Haar folgte und nach
unten wanderte, sah er, daß sie nackt war. Vielleicht
brauchte er deswegen einen Moment, um sie als Dannens Frau zu
erkennen; vielleicht war es aber auch, daß ihr Gesicht anders
war, ihr Lächeln freundlich und ihre hellen Augen frei. War
das nur, weil Dannens Frau hochschwanger war und die Frau vor ihm
nicht, oder weil es nur ein Traum war und die Frauen in den
Träumen immer schöner als in der Wirklichkeit?
Aber sie kam auf ihn zu, näher als jedes der Traumbilder
dieser Nacht ihn gekommen war, daß er ihre Schritte
hören konnte und ihr Haar riechen - im Arm hielt sie etwas,
das Varyn als erstes für ihr Kind hielt, aber als sie vor ihm
stand und es ihm hinstreckte, war es ein Ei. Ein großes Ei,
größer als jeder Vogel legen würde, braun wie ein
Hühnerei und von dunklen Linien durchzogen wie Marmor,
groß genug, daß ein Mensch daraus schlüpfen
konnte. Sie nickte ihn an, lächelnd, sie wollte, daß er
es nahm, doch er konnte nicht, er hatte keinen Körper, und wo
er einen hatte, war der immer noch gefesselt.
Aber das Bild der Frau verschwand davon nicht, sie stand da und
streckte ihm das Ei hin, sagte nichts, doch ihr Blick wurde immer
verzweifelter, und dann gab es ein leises Knacken und Krachen,
Risse durchzogen die Eierschale, und was darin war, wollte hinaus,
wollte ausbrechen um jeden Preis, und als die Risse breiter wurden,
drang ein Leuchten heraus, so weiß und strahlend, daß
es alles um es herum blendete… Und dann verschwand die ganze
Welt in Licht. Es war besser, als wenn das Leben in Dunkelheit
endete. Aber es endete.
Wenn man nicht gerade einen
Mord begehen wollte, war es sehr schwer zu planen oder
vorherzusagen wann ein neuer König gekrönt wurde. Aber zu
keiner Zeit des Jahres war die Nacht so lang wie jetzt, als Varyn
König von Doubladir werden sollte. Es war alles sehr
prophetisch, mit dem Winter fing ein neues Jahr an, aber an all das
dachte Varyn nicht - er wollte nur, daß die Dämmerung
hereinbrach, damit er endlich erlöst wurde. Doch als es
passierte, war er kaum noch bei Bewußtsein, um es auch zu
würdigen. Aber er stand noch auf seinen Füßen.
Er zitterte hilflos, als die Gehilfen des Richters ihm die Fesseln
abnahmen, und in dem Moment, als er frei war, brachen die Beine
unter ihm weg und er stürzte zu Boden. Jetzt kam es nicht mehr
darauf an, aber trotzdem, Varyn wäre gern stehengeblieben und
hätte gezeigt, daß er es konnte. Zu spät. Er
zwinkerte. Die Männer hoben ihn hoch und setzten ihn auf einen
Stuhl, von dem Varyn erst viel später begriff, daß es
der Thron war. Langsam begriff er, warum der neue König fast
die ganze Zeremonie über sitzen mußte. Nach den Torturen
der Nacht war er außerstande zu stehen, zu knien, oder sonst
etwas zu machen, bei dem der Körper auch nur einen Muskel
benutzen mußte. Wußten die anderen Leute, was er
durchgemacht hatte? Oder würden sie nur einen
übernächtigten jungen Kerl sehen, der auf dem Thron hing
wie ein nasser Sack?
Wenigstens konnte er versuchen, Haltung anzunehmen - es blieb bei
dem Versuch. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte, am
allermeisten aber die Füße, die so schwer und
angeschwollen waren von seinem Gewicht, das sie die ganze Nacht
über immer tiefer in den steinernen Boden hatte rammen wollen.
Varyn wollte sich bei den Männern bedanken, aber er brachte
nicht einmal mehr das hervor. Nur noch ein schmerzerfülltes
Wimmern. Er biß sich auf die Zunge.
»Schon gut«, sagte einer der Männer leise.
»Ihr wart sehr tapfer. Es braucht einen starken Willen, so
eine Nacht zu überstehen.«
»Und… wenn nicht?« brachte Varyn hervor.
»Es ist Vigilanders Herausforderung an Euch«,
antwortete der Mann. »Hättet Ihr sie nicht bestanden,
wüßtet Ihr selbst, wo Ihr jetzt wäret.«
Tot. Er wäre tot. Varyn wußte es. War das schon einmal
vorgekommen, daß der Richter und seine Männer im
Morgengrauen die Türen aufsperrten und ihr neuer König
tot auf dem Boden lag? Er durfte sich nicht zu viel auf sich
einbilden. Seine Vorgänger auf diesem Thron waren allesamt
Engelsgeborene, sie alle hatten Vigilanders Blut, sie alle
mußten das gekonnt haben. Varyn war nur einer von vielen.
Vielleicht ging es darum, daß er das begriff.
»Ihr habt jetzt noch ein wenig Zeit, um Euch zu
erholen«, sagte der Mann. »Bleibt ruhig sitzen, wir
werden uns um Euch kümmern.« Varyn nickte nur matt. Er
konnte nicht ahnen, daß sie ihm als nächstes die
Füße waschen würden.
Mit zusammengebissenen Lippen ließ Varyn alles mit sich
geschehen, auch wenn er sich in Grund und Boden schämte dabei.
Es tat gut, entsetzlich gut, seine Füße in heißem
Wasser zu baden; nach der langen Nacht mit ihren Strapazen brauchte
er genau das. Aber von fremden Männern gewaschen zu werden,
als wäre er ein hilfloses kleines Kind - das war vielleicht
noch schlimmer als alles, was er in der Nacht hatte über sich
ergehen lassen. Würde das in Zukunft immer auf ihn zukommen,
Diener, die ihn badeten, ankleideten, fütterten… Er
schüttelte sich, froh, daß es hier nur um die
Füße ging. Er war in seinem Herzen immer noch ein
Bergmann, und das wollte er auch bleiben dürfen.
Was er nicht vermißte, war etwas zu essen. Es war gut,
daß der König vor seiner Krönung fasten
mußte, Varyn hätte so oder so nichts hinunterbekommen.
So saß er nur da mit halbgeschlossenen Augen und versuchte zu
verarbeiten, was er in der Nacht gesehen hatte - der
Dämmervogel war ihm nicht erschienen, so sehr er sie sich auch
herbeiwünschte, um ihm beizustehen oder vielleicht im letzten
Moment den Irrtum aufzuklären, daß er doch der falsche
war, um auf diesem Stuhl zu sitzen, aber dafür war soviel
anderes geschehen… Varyn erinnerte sich an den Engel, und
schon bei dem Gedanken stiegen ihm wieder die Tränen in die
Augen - nicht, weil das weiße Licht ihn so geblendet hatte,
sondern weil der Engel ihm vielleicht den wichtigsten Rat
überhaupt mit auf den Weg gegeben hatte und Varyn ihn nicht
verstanden - und dann, plötzlich, waren Worte in seinem Kopf.
Es geht nicht um Rache.
Er wußte nicht, wo sie plötzlich herkamen, dachte,
einer der Richtershelfer hätte etwas gemurmelt, aber das war
es nicht, die Männer waren still. Es geht nicht um Rache - war
es das, was der Engel gesagt hatte? Was meinte er damit? War es
Vigilander selbst? Varyn ließ sich die Worte durch den Kopf
rollen wie Murmeln. Sie waren wichtig. Vielleicht bedeuteten sie,
daß Varyn gelernt hatte, die Sprache der Engel zu verstehen,
so wie er gelernt hatte, ihre Schrift zu lesen, ohne daß es
ihn jemand gelehrt hätte - aber selbst wenn, war es immer noch
ihr Inhalt, der wichtig war. Nicht um Rache… Dann begriff
Varyn.
»Weil sie immer zu spät kommt«, sagte er und
merkte erst dann, daß er laut gesprochen hatte, als die
beiden Männer zu ihm hinüberblickten. Sie fragten nicht
nach. Es brauchte sie nicht zu wundern, daß jemand, der die
Nacht hindurch reglos auf seinen Füßen gestanden hatte,
auch noch danach an Wahnvorstellungen litt. Diese Pause, die man
ihm gönnte, war sicher nicht nur, daß sich die
Füße erholen konnten. Varyn nickte und behielt die
Gedanken, die ihm danach kamen, für sich. Es ging nicht um
Rache. Es ging darum, zu verhindern, daß eine Rache
nötig wurde. Es war ein Unterschied, ob man die Welt rettete
oder die Welt rächte - im ersten Fall war sie noch am Leben.
Im Zweiten…
Varyn überkam eine Gänsehaut. Die letzten Tage über
hatte er sich zwar auf seine Krönung vorbereitet wie ein
anständiger Erbe Vigilanders, aber an die Aufgabe, die danach
kam, lieber nicht mehr groß gedacht - er wußte,
daß er noch nicht so weit war. Wenn der Abgrund ihn mochte,
würde er ihm die Zeit lassen, die er brauchte. Der Abgrund war
schon so oft Varyns Freund, es war seltsam, plötzlich auf
gegnerischen Seiten zu stehen -
Er schlief nicht, aber er war auch nicht wach, irgendwo hinter
seiner Stirn brannte ein Fieber, das ihm keine Ruhe ließ, so
müde er auch sein mochte, aber er nahm nicht mehr wahr, wie
die Zeit um ihn verging. Eben noch war er allein mit zwei Gehilfen
des Richters, im nächsten Augenblick war der ganze Saal voller
Leute, und sie alle waren gekommen, um zu sehen, wie aus einem
Bergmann ein König wurde.
»Wir haben uns hier
versammelt -«
Varyn zwinkerte. War es schon zu weit? Es war viel zu hell, um
etwas zu erkennen - der Thronsaal, so kalt und düster er sonst
auch sein mochte, war voller Lichter. Er hatte nicht gesehen, wie
jemand sie alle angezündet hatte, aber dann begriff er,
daß es die Leute waren - jeder von ihnen hielt eine brennende
Kerze in der Hand.
Stimmen lagen in der Luft, ein Tuscheln und Murmeln, daß auf
jedes Gesicht drei Münder kommen mußten. Varyn wollte
sie nicht beachten, nur auf den Richter hören, doch er konnte
nicht anders: Als wäre sein Gehirn ein Sieb, versuchte er
Wörter und Sätze herauszuhorchen, die Stimmen Freunden
und Feinden zuzuordnen - es war ein großer Tumult in seinem
Kopf, größer als im Thronsaal selbst, alles schien
durcheinanderzureden in einer Lautstärke, die einem Orkan Ehre
machen wollte. Am liebsten hätte Varyn sich die Ohren
zugehalten, daß alles still sein sollte - es mußte die
Aufregung sein und die schlaflose Nacht, die ihn hellhörig und
reizbar machte.
Tief durchatmen. Das Licht stach ihm in die Augen, aber das war
gut. Der Kerzenschein versteckte die Gesichter, machte aus der
Menge ein Meer von Schatten, aber es war gut, wenn Varyn nicht
wußte, wer sie alle waren - sonst fing er im falschen Moment
an zu grübeln, versuchte zu in ihnen zu lesen, wer auf seiner
Seite stand und wer gegen ihn war. So konnten sie ihn sehen, aber
er sie nicht; sie waren zu viele, als daß er sie alle kennen
konnte oder wollte.
Varyn wußte, wen er an diesem Tag in seiner Nähe
wünschte, und vor seinem inneren Auge konnte er ihre
vertrauten Gesichter auf die verschwommenen Körper setzen, all
die guten Menschen, die jetzt tot waren, heute sollten sie bei ihm
sein. Er dachte an seine Familie, er dachte an Männer, die er
im Krieg hatte sterben sehen - es ging nicht um Rache, er wollte
ein König der Lebenden sein, aber an diesem Tag wollte er
niemanden vergessen. Und doch, es gab ein Gesicht, das wollte er
sehen können, in der vordersten Reihe. Er sah es nicht.
»Wir haben uns hier versammelt -«
»Halt!« sagte Varyn.
Das gehörte nicht zum Ritual, das Varyn so aufmerksam
auswendig gelernt hatte. Der Richter, in so feierliche Roben
gekleidet, daß Varyn unwillkürlich an sich selbst
hinunterschielen mußte, um zu sehen, was er selbst an diesem
Tag trug, und feststellte, daß man ihm irgendwann innerhalb
des letzten Tages eine Art Rüstung angelegt haben mußte,
stockte mitten im Satz.
»Wo ist mein Bruder?« fragte Varyn. Er konnte die
Gesichter in der vorderen Reihe erkennen. Da saß Dannen mit
seiner Frau, Leota und Jaro, eine Frau, die wohl ihre Mutter sein
mußte, und sogar Rul war da, er sah bittere, eingefrorene
Mienen und keinen darunter, der aussah, als ob er sich um des hohen
Tages freute - aber Varyns Familie, der eine Mensch, aus dem sie
noch bestand, war nicht da.
Hinten im Saal gab es einen kleinen Tumult, dann tauchte ein etwas
zerzauster Gaven vor Varyn auf. »Sie wollten mich nicht
reinlassen!« rief er aufgebracht, und es schien ihm egal zu
sein, daß dort zweihundert Leute oder mehr versammelt
saßen. Genau dafür liebte Varyn ihn, und das war es
auch, was Gaven zum kostbarsten aller Menschen um ihn herum machte.
»Ich wollte zu dir, heute früh, aber ich durfte nicht,
und dann haben sie mich festgehalten - ich bin doch immer noch dein
Bruder!«
»Ich will, daß du hier nach vorne kommst!« sagte
Varyn. »Und ihr, laßt ihn gefälligst in Ruhe! Er
gehört zu mir!«
»Und wo soll ich jetzt hin?« fragte Gaven. Die erste
Reihe machte keine Anstalten, ihm Platz zu machen, und das war es
auch nicht, wo Varyn Gaven haben wollte. Die Familie des alten
Königs waren immer noch Fremde. Es war gut, daß er sich
mit ihnen hatte verbünden können, und sie waren wichtig -
weniger für ihn persönlich als mehr für seine
Aufgaben. Aber Gaven war Gaven.
»Hier zu mir«, sagte Varyn, und ihm war alles egal,
worüber er mit Dannen noch geredet hatte, alle Bräuche
und Rituale. Er wollte nicht untergehen in der Rolle eines
Königs. Nicht, wenn es bedeutete, die Menschen zu verlieren,
die ihm wirklich etwas bedeuteten. Eine neue Zeit brach an.
Zumindest ein bißchen. »Bring dir einen Stuhl
mit.«
»Das geht nicht!« sagte der Richter, und sein Blick
und Tonfall wiesen darauf hin, daß Varyn mitnichten schon
König war und nicht derjenige, der in diesem Saal das Sagen
hatte. »Die vordere Reihe gebührt der königlichen
Familie, und alles, was dann kommt, nur den Engeln.«
»Aber er ist mein Bruder! Und die anderen da sind nicht
einmal mit mir verwandt!« Der Richter war sicher die
falscheste Person, mit der man sich am Tag seiner Krönung
anlegen sollte, aber das gleiche galt auch für den Richter und
Varyn.
»Seid Ihr kein Erbe Vigilanders? Und sind sie nicht von
Vigilanders Blut?«
»Er kann sich hier zu mir setzen!« sagte Dannen laut,
vielleicht, um dem Ganzen ein Ende zu setzen, bevor es wirklich
unschön wurde, und Gaven schien das zu genügen - Varyn
nickte nur. Er wollte es nicht an seinem ersten Tag mit allen
verscherzen, aber er fühlte sich zerschlagen und
übernächtigt, sein Kopf dröhnte noch dazu, er fror
trotz der Wärme, welche die Kerzen abgaben - je schneller er
das jetzt hinter sich brachte, desto besser.
Ausgerechnet Dannen, dem er den Thron quasi unter dem Hintern
weggezogen hatte, schien von allen an entspanntesten zu wirken,
aber es war Varyn nicht entgangen, daß der Fürst sich
von seiner Familie schlimmste Beschimpfungen hatte anhören
müssen, weil er den Zweikampf verloren hatte und damit das
Land - so saß die Familie da wie ein Haufen Feinde, die man
zwang, Freunde zu spielen, jeder mußte jeden hassen, und
Varyn, der mit diesem ganzen Rudel unter einem Dach leben
mußte, ahnte, daß mit der Krönung mitnichten
Frieden einkehren würde - der eigentliche Ärger stand ihm
noch bevor. Wenigstens hatte er jetzt Gavens Gesicht, an dem er
sich festhalten konnte, aber selbst Gaven sah nicht aus, als ob er
glücklich war über Varyns Krönung.
Es dauerte noch einen Moment, bis es im Saal wieder ruhiger wurde,
und Varyn verfluchte sich schon für den Aufstand, den er um
Gavens Willen veranstaltet hatte. Er wollte doch nicht alle auf den
Jungen aufmerksam machen! Der Abgrund mußte nicht wissen,
daß Varyn noch einen Bruder hatte, es reichte schon,
daß er Varyns die ganze restliche Familie weggenommen hatte.
Gaven schwebte schon in zu großer Gefahr, warum dann noch so
auf seiner Anwesenheit herumreiten? Die Antwort war einfach: Weil
er alles andere nicht verdient hatte. Es ging nicht nur darum,
daß Gaven lebte. Sondern auch darum, daß ihm
Gerechtigkeit widerfuhr.
Varyn mußte lächeln. Wo es um die Gerechtigkeit ging,
konnte der Richter sich ihm schlecht widersetzen. Oder wußte
er nicht, daß Varyn auch ein Erbe von Tolimander war? Es half
nicht viel. Außer dem Namen wußte Varyn nichts von
diesem Engel. Und er war hier, um König von Doubladir zu
werden.
»Wir haben uns hier versammelt«, sagte der Richter,
zum wievielten Mal, wußte Varyn nicht, aber er sprach etwas
schneller, als er einmal über die kritische Stelle hinweg war:
Noch mal unterbrochen werden wollte er sicher nicht. »Um in
Vigilanders Namen diesem Land seinen König zurückzugeben.
Doubladir mag geschwächt scheinen durch den Tod seines
geliebten Königs, doch beugen wird es sich niemals, und so
wahr Vigilanders unbezwingbarer Adler das Wappen des Landes ziert,
so wahr hat Vigilander uns den Erben seiner Kraft, seines Blutes
und seiner Wahl übersandt.« Der Richter atmete durch,
froh, zum Ende gekommen zu sein. »Schwört Ihr, Varyn,
das Land Doubladir mit Eurem Blut zu verteidigen, seine Feinde zu
zerschmettern und jeden, der es wagt, sich gegen es zu erheben,
Vigilanders Heiliger Rache zu unterwerfen?«
»Das schwöre ich, bei meinem Leben«, antwortete
Varyn. Wirklich, sein letzter Eid war da deutlich schwerer.
»Schwört Ihr, dem Himmel zu dienen und Euch dem Abgrund
entgegenzustemmen mit allem, was Ihr habt, und allem, was die Engel
Euch mitgegeben haben, um die Herrschaft der Elomaran über die
Welt zu erhalten und zu verhindern, daß ihre Feinde, Feinde
allen Lebens und aller Menschen, Macht über das, was des
Himmels ist, erlangen?«
»Das schwöre ich, bei meinem Leben.« Vigilanders
Erben mußte einen eisernen Willen haben und einen stahlharten
Körper, der bereit war, allem zu trotzen, vor dem ein normaler
Mann in die Knie ging. Aber große Geistesleistungen schien
niemand von ihnen zu verlangen. Dannen hatte Varyn schon
darüber aufgeklärt, daß die eigentliche
Krönungszeremonie nicht allzu lang ausfallen würde, weil
das Pack danach zum Essen strebte, und das die eigentlichen
Feierlichkeiten an der Banketttafel ausgetragen wurden. Varyn
mußte zugeben, daß ihm davor grauste. Über Monate
hinweg keinen Tropfen Alkohol anzurühren war eine
größere Willensleistung, als eine Nacht im Stehen zu
verbringen, und davon schmerzten Varyns Beine noch immer - wie
würde es dann erst sein, einem ganzen Festmahl voller
feierwütiger Männer nüchtern zu entkommen?
»Schwört Ihr, Eure Kinder und Kindeskinder die Heilige
Rache zu lehren, auf daß Vigilander auch in tausend Jahren
noch seine schützenden Schwingen über unser Land
ausbreiten möge und alles Unheil von Doubladir
fernhalten?«
»Das schwöre ich, bei meinem Leben«, sagte Varyn.
Solange er nicht schwören mußte, selbst auch nur ein
Kind zu zeugen, konnte ihm das Recht sein. Ungeborene Kinder konnte
man so ziemlich alles lehren. Außer Leben, vielleicht.
»So seid Ihr nun bereit, Euch dem letzten und entscheidenden
Urteil Eures Engels zu unterwerfen, dem Urteil des
Schwertes?«
Varyn schluckte und fragte sich dann, was er fürchtete. Das
Schwert und er waren doch inzwischen wie alte Freunde, es hatte
sich seit dem Tod des alten Königs widerstandslos von ihm
führen lassen, warum sollte es sich dann ausgerechnet jetzt
als Feind und Spielverderber herausstellen?
»Ich bin bereit«, sagte Varyn laut. »Ich lege
mein Herz, meine Seele und mein Leben in Vigilanders Hände und
vertraue darauf, daß er mich als seinen
rechtmäßigen Erben erkennt.« Er hatte keine Angst
- vielmehr war er neugierig, was passieren würde. Nicht mit
dem Schwert, sondern mit den Menschen, die den Saal füllten.
Wie viele von denen in Wirklichkeit auf den großen Knall
warteten, den Moment, in dem Varyn von Vigilander persönlich
als Betrüger entlarvt wurde, wußte er nicht, aber es
waren bestimmt viele. Eine Krönung war sicher interessant,
aber Blutvergießen und ein Engelsurteil um so mehr.
Wie Dannen es ihm beigebracht hatte, hob er beide Hände und
hoffte, daß jeder ihn gut sehen konnte. Links und rechts des
Throns, auf dem er saß, standen die Gehilfen des Richters mit
Fackeln in der Hand, so reglos, wie Varyn die Nacht verbracht
hatte, und schon um ihretwillen hoffte Varyn, daß die
Krönung nicht noch stundenlang dauern würde. Er
wußte, wie anstrengend es war zu stehen, und hier, vor all
den Zuschauern, konnten die Männer noch nicht einmal das
Gesicht verziehen oder die Arme sinken lassen. Aber niemand achtete
auf sie. Die Augen waren auf den Richter gerichtet, der eine Schale
in der einen Hand hielt und ein Messer in der anderen, und auf
Varyns bloße Unterarme, aus denen gleich das Blut
fließen sollte.
Es tat nicht weh, als der Richter die Schnitte setzte. Die Klinge
war so scharf, daß Varyns eigenes Messer dagegen grob und
schartig erschien, etwas, womit man vielleicht eine Scheibe Wurst
abschneiden konnte, aber nicht viel mehr. Diese Klinge hier war
Hunderte von Jahren alt und wurde nur dann benutzt, wenn ein
König zu krönen war, aber sie war scharf wie am ersten
Tag. Der Richter wußte genau, was er tat. Er konnte
unmöglich schon den alten König gekrönt haben,
dafür war er zu jung, aber vielleicht hatte er geübt.
Varyn konnte die Unterarme der Gehilfen nicht erkennen, aber es
würde ihn nicht wundern, wenn sie bandagiert waren. Statt
dessen sah er sein eigenes Blut in die Schale rinnen. Und das war
ein Anblick, der sich seltsam gut anfühlte.
Varyns Blut war warm als Zeichen, daß er lebte - er
fühlte, wie es über seine Haut rann, bevor der Richter es
mit der Schale auffing, Tropfen um Tropfen. Es war nicht viel Blut,
nichts, woran er verbluten würde, aber wie es herausquoll in
dem Takt, in dem sein Herz schlug, gefiel Varyn. So kalt ihm auch
war, sein eigenes Blut wärmte ihn ein wenig. Und es war rot,
so wie das Blut jedes Menschen. Alle sprachen von Varyns Engelsblut
- ob es nun Vigilanders war, auf das es wie hier ankam, oder das
all der anderen - aber das Blut, das Varyn aus seinen Adern
fließen sah, das Blut, das in seinen Ohren rauschte und
hinter seinen Augen pulsierte, war nicht anders als das eines
gewöhnlichen Menschen.
Varyn hatte viel Blut fließen sehen im Krieg, Menschen
sterben oder verwundet zusammenbrechen, und in diesem Moment
hätte jeder von ihnen er sein können. Engelsblut war
egal. Was Varyn haben wollte, war Menschenblut, um zu wissen,
daß er immer noch menschlich war. Wie viel Mensch blieb
übrig bei einem, der das Blut so vieler Engel teilte? Genug,
daß es noch rot war. Die Engel selbst konnten nicht bluten.
Sie waren unsterblich, aber ebenso waren sie unlebendig. Varyn sah
sein Blut fließen, und es war rot.
Dann drehte sich der Richter zu den Zuschauern, hielt die Schale
mit beiden Händen hoch und zeigte sie nach allen Seiten.
»Seht hier das Blut«, sagte er.
Varyn sah es nicht, er sah nur sein Eigenes, das weiterhin aus den
Schnitten quoll und sich hoch und rund wie ein Gewölbe
über seiner Haut staute. Er wußte nicht, was jetzt damit
werden sollte. Normalerweise, wenn er sich geschnitten hatte, nahm
er den Finger in den Mund, bis das Blut nicht mehr floß und
nur der süße Geschmack roten Lebens auf der Zunge
zurückblieb, aber hier konnte er das schlecht tun. Es war
nicht besorgniserregend, aber der Anblick war zu faszinierend, wie
sich die Oberfläche des Blutes an der Luft veränderte -
als ein weiterer Diener kam und die Wunde mit einem Stück
Stoff verband, während die Menschen nur auf den Richter
schauten und ihn nicht weiter beachteten, war Varyn fast
enttäuscht.
»Seht das Blut«, rief der Richter. »Ist es das
Blut eines Engels? Ist es das Blut Vigilanders? Nur das heilige
Schwert kennt die Antwort.«
Aber was immer das Schwert auch wissen mochte, es sagte nichts.
Dort lag es unschuldig auf einem Ständer, mitten vor dem
Thron, wo es schon die ganze Nacht über gewartet hatte, und
sah aus wie jedes andere Schwert. Wenigstens wußten sie so
alle, daß es da war - Varyn hatte gehört, was in
Koristan passiert sein sollte, daß die Krone ausgerechnet bei
der Krönung verschwunden war. Hier war alles da, wo es sein
sollte, die Krone in den Händen eines Dieners, der hinten in
den Schatten stand, bis er gebraucht wurde, aber auf die Krone kam
es nicht weiter an - sie war ein schlichter Reif, man brauchte sie,
weil eine Krönung ohne Krone schlecht möglich war, aber
wichtig war nur das Schwert.
Der Richter ging zu dem Ständer hin, zeigte die Schale ein
letztes Mal vor und goß dann, Tropfen für Tropfen,
Varyns Blut auf die Klinge. Der ganze Saal hielt den Atem an.
»Vigilander, Wächter des Himmels, Herr über
Doubladir und alle seine Menschen, sende uns dein Zeichen«,
rief er Richter in einem Singsang, der zu seiner sonst allzu
nüchternen und ruhigen Stimme nicht passen mochte. Varyn
fragte sich, ob der Mann überhaupt selbst zu Vigilander betete
oder ob er das jetzt nur tat, weil es in Doubladir von ihm erwartet
wurde. Man konnte schlecht Tolimander fragen, wer Vigilanders
Nachfahre werden sollte, oder? »Erkennst du diesen Mann, der
vor uns steht als dein Erbe, als rechtmäßigen Herren
deines Schwertes an?«
Eigentlich machte die ganze Prüfung keinen Sinn mehr. Das
Schwert hatte schon deutlich genug gezeigt, daß es zu Varyn
gehörte, als es auf dem Schlachtfeld in seine Hand gefallen
war, aber Ritual war Ritual… Und dann wurde es Varyn
plötzlich schlecht. Ein Schwert, das aussah wie jedes andere -
wer sagte ihm denn, ob dies das richtige war? Ja, er würde es
wissen, wenn er es in der Hand hielt, sie erkannten einander, Varyn
und das Schwert, aber so, auf dem Ständer, konnte es jedes
sein. Wenn in Koristan eine Krone verschwinden konnte, dann
mußte es auch in Doubladir möglich sein, das heilige
Schwert durch ein Unheiliges auszutauschen… Varyn
wußte nicht, wem er das zutrauen konnte, aber hatte sich
Dannen wirklich so schnell und so einfach geschlagen gegeben, wie
er vorgab? Oder war er nur zum Schein darauf eingegangen, weil er
wußte, daß er weiterhin der nächste Erbe war,
sollte bei Varyns Krönung etwas schieflaufen? Was für ein
Zeichen erwartete der Richter?
»Vigilander, zeige uns deinen Willen!« rief er. Und
Varyn konnte nichts tun als zusehen.
Erst schien es so, als ob gar
nichts passierte, und Varyn wußte nicht, ob das jetzt gut war
oder schlecht. Dannen hatte ihm nur gesagt, daß es diese
Prüfung gab, und wie es weitergehen sollte, wenn er sie
bestand, aber ob der Engel nun sein Mißfallen zeigen und
sonst schweigen würde oder ob er etwas tun mußte, damit
Varyn gekrönt wurde, wußte er nicht. Und auch wenn er
den Richter nur von hinten sehen konnte und nicht sein Gesicht, nur
seine Körperhaltung interpretieren konnte, kam es Varyn so
vor, als ob der Richter selbst die Antwort nicht kannte.
Varyn stellte sich vor, wie der Richter in einem verstaubten Buch
geblättert hatte, um selbst alles Wichtige für die
Krönung zu lernen - was tat der Mann denn sonst, urteilte er
über alle Verbrechen, die in diesem Land geschahen oder nur in
Car Diuree, stiftete er die Ehen, oder hatte er überhaupt
nichts zu tun, weil er der oberste Richter war und so wichtig,
daß er alles, was nicht mit dem Königshaus zu tun hatte,
seine Gehilfen tun ließ? Das konnte er hinterher immer noch
herausfinden. Erst einmal mußten sie abwarten, bis der
Richter erklärte, daß kein Zeichen auch ein Zeichen war
und sie folglich mit dem Krönen fortfahren konnten - als etwas
Seltsames passierte. Es klickte.
Es war nur ein leises Klicken, als wenn ein Schlüssel im
Schloß gedreht wurde, aber es fiel Varyn auf, weil es zu
nichts paßte, was gerade geschah. Von der Tür konnte es
nicht kommen, denn die Flügel standen weit offen, als wolle
man die ganze Welt zu Varyns Krönung einladen, und selbst wenn
sich daran gerade jemand zu schaffen machte, war es doch zu weit
weg - das, was Varyn hörte, mußte ganz in seiner
Nähe sein, und da war nichts, was klicken konnte. Er blickte
sich nach links und rechts um, aber da standen die
Fackelträger, wie sie die ganze Zeit über standen; die
Fackeln knackten leicht, wenn er sich genau darauf konzentrierte,
aber das war das falsche Geräusch.
Es konnte Einbildung sein, ein Klicken, das nur in Varyns Kopf
existierte, würde zu dem ganzen Rest passen, niemand sonst
verhielt sich, als ob er etwas gehörte hatte. Trotzdem, es
fühlte sich anders an als alle Einbildung, irgendwie wichtig
und vor allem wie etwas, das Varyn genau so schon einmal
gehört hatte. Aber er kam nicht mehr dazu, lange darüber
nachzudenken, denn das Zeichen, nach dem der Richter gerufen hatte,
trat ein.
Die ersten Tropfen von Varyns Blut waren auf der Schwertklinge
gelandet, ohne daß etwas damit passierte, aber dann begann
sich ein kleines Rauchfähnchen zu bilden, dort wo das Blut auf
den Stahl traf. Varyn wäre gern aufgestanden, um besser sehen
zu können, aber es war besser, wenn er sitzenblieb, er
mußte so tun, als ob er mit genau dieser Reaktion gerechnet
hätte und es nicht anders sein durfte, damit der Richter das
auch glaubte.
Varyn sah, wie der Rauch sich in der Lust kräuselte, und wie
der Richter einen halben Schritt zurück machte - ob er damit
gerechnet hatte? Varyn biß die Lippen zusammen, er hatte es
nicht in der Hand, was jetzt passierte, und irgendwie war der Rauch
nichts gutes. Wenn das Schwert zu glühen begann, oder zu
leuchten, oder zu summen, dann war das in jedem Fall ein Zeichen,
daß es Varyn akzeptierte. Aber Rauchen? Das sah aus, als ob
das Schwert sich ärgerte… Trotzdem, es mußte
geschehen, egal was dabei herauskommen sollte. Der Richter
ließ, vielleicht etwas überhastet, den Rest des Blutes
auf das Schwert fließen, und aus dem leichten Rauch wurde
schwerer Qualm, dunkelgrau und mächtig stieg er über der
Klinge auf, daß man ihn auch in der hintersten Reihe sehen
konnte.
Aber es war kein Rauch wie von einem Feuer. Er war nicht zu
riechen, nicht zu hören, und statt wie normaler Rauch
hingeweht zu werden zur offenen Tür, stieg dieser nur in die
Höhe und ballte sich dort zusammen zu einer dichten Wolke. Die
plötzliche Stille, die sich im ganzen Saal ausbreitete, das
waren hundert Menschen, die gleichzeitig die Luft anhielten, die
einfroren in dem, was auch immer sie gerade taten, und erschrocken
oder aufgeregt abwarteten, was nun kommen würde. Wenn sie
jetzt Angst bekamen, konnten sie immer noch davonrennen, aber Varyn
mußte bleiben, wo er war, durfte keine Angst zeigen, noch
nicht einmal vor sich selbst -
Mit einem lauten Knall fielen die Türflügel zu, beide
gleichzeitig. Es wurde kalt im Thronsaal, und das Licht wurde fahl,
und die schwarzgraue Wolke begann sich zu verändern. Erst sah
es aus, als nehme sie die Gestalt eines Mannes an, so hoch wie
drei, aber dann entfaltete die Gestalt ein paar mächtige
Schwingen, und Varyn sah, daß es ein Engel war. Er zwinkerte,
einen Moment unsicher, ob er der Einzige war, der das sehen konnte
- der dichte Rauch verdeckte ihm die Sicht auf die Menschen, er
konnte ihre Reaktionen nicht erkennen, doch dann sah er, wie der
Richter rückwärts stolperte, wie die beiden
Fackelträger zitterten, und er wußte, vielleicht zum
ersten Mal, daß er nicht allein war mit dem, was er sah. Ein
Engel hatte Vigilanders Thronsaal betreten, ein Engel, der bis
unter die Decke reichte, dessen Schwingen die Wände zu den
Seiten berührten, und der in seiner Hand ein Schwert aus Rauch
hielt, das allein schon länger war als ein ausgewachsener
Mann.
Immer noch war es so still, daß man eine Maus hätte
atmen hören können. Der Engel trat auf Varyn zu, das
Schwert erhoben, als wolle er ihm damit den Kopf abschlagen, doch
statt dessen berührte er nur mit der Schwertspitze Varyns
Schultern, erst die linke, dann die rechte, eine Berührung,
die Varyn sehen konnte, aber nicht fühlen. Er bewegte sich
nicht, wollte keine falsche Bewegung machen, die den Engel wirklich
werden ließ und mit ihm die drohende Klinge. Dort, wo das
Gesicht hätte sein sollen, war bei dem Engel nur grauer Rauch,
seine Form war ein grobes Schemen, voller Bewegung und Wirbel, ganz
wie echter Rauch gewesen wäre, aber was er tat, war trotzdem
klar zu erkennen: Er berührte Varyns Schultern mit dem
Schwert, und dann ging er vor ihm auf die Knie. Ein Engel, oder
etwas, das wie ein Engel aussah, kniete vor Varyn - deutlicher
konnte das Zeichen, um das der Richter gebetet hatte, nicht mehr
ausfallen.
Und doch fühlte es sich für Varyn falsch an. Er konnte
es an nichts festmachen; ihm waren zwar schon mehr Engel
erschienen, als das einem einzelnen Menschen im Leben passieren
sollte, aber dieses Mal war anders: Er fühlte nichts. Nicht an
seinem Körper, was man noch damit erklären konnte,
daß der Engel nur aus Rauch war und nicht körperlich
anwesend, aber Varyn fühlte auch nichts in seinem Herzen. Ein
Engel, das war eine Gegenwart, die man spüren konnte, die
durch Mark und Bein ging und Herz und Atem lähmte - aber
alles, was Varyn hier reglos verharren ließ, waren Aufregung
und Ungewißheit. Jedes Trugbild, das Varyn heimgesucht hatte,
war wirklicher als dieser Engel, als wäre das nur ein
Schauspiel, um die Ungläubigen im Publikum zu
überzeugen.
Am liebsten wäre Varyn aufgesprungen, hätte gerufen
‘Das ist eine Lüge, er ist überhaupt nicht
echt!’, aber damit hätte er alles zunichtegemacht -
besser, die Leute glaubten an einen Engel, der nicht da war, als
daß sie alle von einem wirklichen Abgrund verschlungen worden
wären. So schwieg er, reihte sein Schweigen ein in die Reihen
der Zuschauer, die atemlos das bestaunten, was sie für eine
echte Erscheinung Vigilanders hielten, bis das Rauchbild sich
auflöste und verflog wie ein Nebel, den der Wind auseinander
blies. Dann brach ein Jubel aus, die Menschen sprangen auf, wollten
nach vorne stürmen und mußten von den Soldaten, die
für Ruhe im Saal sorgen sollten, zurückgehalten werden.
Nur Varyn war nicht nach Jubeln zumute; er fühlte sich, als ob
alles, an was er glaubte, was er zu glauben gezwungen wurde,
erpreßt von Himmel und Abgrund gleichzeitig, von einer
Lüge verdrängt wurde. Die Engel, die er im Traum gesehen
hatte, waren wirklich. Der Dämmervogel, wie er den Leuten in
Lomar erschien, war wirklich. Aber alles, woran sich die Doubladai
nun erinnern würden, war ein graues Trugbild, und Varyn hatte
keine Gelegenheit, das wiedergutzumachen.
Es dauerte einen Moment, bis
wieder Ruhe im Saal einkehrte, und der Erste, der die Sprache
wiederfand, war der Richter. Vielleicht glaubte er ebenso wenig wie
Varyn an das, was er gesehen hatte, vielleicht war er Kraft seines
Amtes an Wunder und dergleichen gewohnt, jedenfalls zitterte seine
Stimme kein bißchen, als er laut und klar sagte: »Wir
haben Vigilander um sein Zeichen gebeten, und sein Zeichen hat er
uns geschickt. Er, der hier vor uns steht, sei nun erkannt als
wahrer Erbe des Engels und rechtmäßiger König von
Doubladir…«
Und in diesem Moment kam Varyn ein Verdacht. Ein ziemlich fieser
Verdacht und keiner, den er einfach so beweisen konnte, zum
Glück - aber was war, wenn der Richter selbst hinter diesem
Schauspiel steckte? Varyn kannte den Richter kaum, hatte ihn nur
ein paarmal getroffen, aber das Gefühl, das er dabei nicht
loswurde, war, daß der Richter über alles froh war,
daß nicht Dannen oder irgendein anderer aus seiner Familie
König werden sollte - es war nicht so, daß er ein
glühender Anhänger Varyns war, da spielte er neutral,
aber ganz sicher war er kein Freund vom alten König und seiner
Sippe, bis zu einem Grad, daß Varyn es spüren konnte.
Wenn der Richter nun mit einem Trick, Schattenspiel, Illusion, was
auch immer, den Zuschauern einen Engel vorspielte, um auch den
letzten Zweifler ruhigzustellen?
Wie er das gemacht haben sollte, wußte Varyn nicht, er
kannte selbst keine solchen Zaubereien, aber es reichte schon,
daß er es dem Mann zutrauen konnte. Es paßte zu dem
Klicken, das niemand außer ihm gehört haben wollte. Und
es waren genug Gehilfen des Richters da, daß einer von ihnen
unbemerkt etwas anstellen konnte - sie standen dort hinten, hielten
die Gegenstände, die für die Krönung benötigt
wurden, bereit, sie im entscheidenden Moment nach vorne zu tragen,
aber was taten sie in der Zwischenzeit? Varyn hatte keine Beweise,
und so hörte er sich nur alles an und sagte, was von ihm
verlangt wurde, damit das Ganze schnell ein Ende hatte.
»So empfangt nun aus meiner Hand den Kelch des alten und
neuen Blutes, Zeichen des wahren Lebens, das von Vigilander
weitergereicht wird an seine Erben, Fleisch seines Fleisches, und
so wie es durch Eure Adern fließt, soll sein Geist
fließen durch das ganze Volk und einen jeden unter uns mit
seinem Herz und Geist erfüllen.«
Da war er, der Moment, den Varyn so sehr gefürchtet hatte.
Vergessen waren alle Gedanken um den Engel aus Rauch, um Schummel
und Schwindel und die Frage, wer dahintersteckte. Aus dem
Hintergrund traten zwei von den Richterdienern und trugen zwischen
sich ein Tablett, auf dem ein mächtiger Kelch stand. Sicher
war der nicht so schwer, daß es wirklich zwei Männer
brauchte, um ihn zu tragen, aber so wurde sichergestellt, daß
die Augen der Zuschauer auch wirklich auf dem Kelch lagen. Man
konnte fast meinen, dieser Kelch wäre wichtiger als Schwert,
Kronen und Thron, wie er dort stand auf dem mit weißen Tuch
verhangenen Tablett, so groß, daß man beide Hände
brauchte, um daraus trinken zu können.
Als Dannen Varyn von dem Kelch erzählte, da hatte Varyn etwas
vor Augen in der Art, woraus die Adligen zu den Mahlzeiten tranken,
aber das hier mußte so groß sein wie fünf von der
Sorte, verziertes Silber, in das der Wappenvogel Doubladirs
eingraviert war, der Adler mit den gekreuzten Schwertern. Einen
Moment lang lenkte sich Varyn mit dem Gedanken ab, ob man nun
für ihn das Wappen ändern mußte, daß der
Adler statt dessen Hammer und Eisen in seinen Krallen halten
sollte, aber schon war er wieder bei dem Kelch, dessen Inhalt noch
verborgen war unter einem silbernen Deckel, sicher um zu
verhindern, daß sich auch nur ein Tropfen des kostbaren
Alkohols verflüchtigen sollte…
Varyn wurde es heiß und kalt. Er hatte nicht mehr mit Dannen
reden können, wußte nicht, ob der sein Versprechen wahr
gemacht hatte, hatte wahr machen können, wenn er das
überhaupt jemals vorhatte. Er wußte nicht, wer den Kelch
gefüllt hatte, wann das geschah, ob er danach bewacht war oder
nicht - konnte der Inhalt ausgetauscht worden sein oder war das
doch ein Weinkelch von der Sorte, die einem nüchternen Mann
das Bewußtsein rauben konnte?
Unwillkürlich biß Varyn die Lippen zusammen, als der
Richter den Deckel vom Kelch nahm, den Kelch hochhob und ihn dann
den Zuschauern zeigte wie eine stolze Trophäe, bevor er ihn an
Varyn weiterreichte. Er versuchte, Dannen Gesicht hinter dem
Kerzenschein zu erkennen und darin die Antwort auf seine Sorgen zu
finden. War das Schuldbewußtsein? Zufriedenheit? Angst? Varyn
konnte es nicht sagen. So gut er sonst darin war, die Gesichter von
Menschen zu lesen und ihre Absichten zu erraten, Dannens Gesicht
war eine starre Maske, versteckt hinter seinem Bart und
düsteren Augenbrauen, und noch nicht einmal seine Augenfarbe
konnte Varyn klar sehen. Dannen war in einer Zwickmühle, er
durfte vor seiner Familie nicht auf Varyns Seite stehen und vor
Varyn nicht auf der seiner Familie, und er hüllte sich in eine
stählerne Maske, die wohl jahrelanger Übung entsprungen
war. Wenn Varyn bei Hofe bestehen wollte, brauchte er auch so ein
Gesicht, aber er wußte, er verriet sich allzu leicht durch
seine Augen und ebenso oft durch die Ringe darunter. Wenn nur
Wasser in dem Kelch war!
Varyn nahm den Kelch mit ausgestreckten Armen an, als wolle er ihn
so weit wie möglich von sich fernhalten, und atmete
unauffällig durch den Mund. »Ich empfange den Kelch des
alten und neuen Blutes«, würgte er hervor; er
fühlte sich, als ob ihm etwas die Luft abschnürte. Auf
den ersten Blick sah die Flüssigkeit im Kelch nicht wie Wein
aus, sie schien hell zu sein und durchsichtig, es mußte
Wasser sein, aber wehe, wenn der Richter etwas davon merkte! Varyn
betete zu allen Engeln und besonders zu Elysander, der seinen Eid
hütete, daß der Richter nicht genau hinsah; er neigte
den Kelch zu sich hin und versuchte, seine Oberfläche im
Schatten zu halten - wenn der Richter bereit war, ein Schattenspiel
zu veranstalten und einen Engel auftreten zu lassen, der nicht da
war, dann würde er auch nicht verhindern, daß Varyn
anstatt Wein Wasser zu trinken bekam. Aber wenn der Richter eben
nicht dahintersteckte… Varyn versuchte, den Kelch so zu
halten, daß jeder glaubte, alles sehen zu können und
doch nichts wirklich sah, ohne daß der Inhalt überlief.
Der Kelch war verdammt schwer! »Ich nehme Vigilanders Blut in
mir auf, ich trinke seinen Atem, um mit seiner Zunge zu sprechen
-«
Da traf ihn der Geruch wie ein Meißel, er fühlte ein
Stechen in seiner Nase, ein Ziehen auf seiner Zunge, aber am
schlimmsten war diese unbändige Freude in seinem Herzen.
Dannen hatte Wort gehalten. Es war kein Wein in dem Kelch. Aber es
war auch kein Wasser. Der Kelch war bis unter den Rand gefüllt
mit Schnaps.
Varyns Hände fingen an zu zittern und krampften sich um das
kalte Silber, um den Kelch nicht fallenzulassen, obwohl das in dem
Moment wohl seine einzige Rettung hätte sein können. Er
starrte Dannen an, entsetzt, entgeistert, er wollte zornig
aussehen, aber sein Herz hämmerte nur vor einer Aufregung, die
freudig war. Dannen erwiderte den Blick, nickte kaum merklich,
Varyn bildete sich ein, daß ein leichtes Lächeln die
bärtigen Mundwinkel verzog, doch das mochte Einbildung sein -
aber in jedem Fall wich Dannen dem Blick nicht aus, und da war kein
Hauch von Schuld in seinem Gesicht. Fand er das lustig? Dachte er
vielleicht, Varyn hätte einen Witz gemacht, als er ihn bat,
ihm den Wein zu ersparen? Hielt er Varyn für einen Feigling,
einen Drückeberger, oder schlimmer, wußte er vielleicht
ganz genau, was er da getan hatte?
Varyn biß die Zähne und kniff die Lippen zusammen, das
Zittern lief ihm von der Stirn über den Nacken und von dort
den ganzen Körper hinunter, er brach die auswendig gelernten
Worte mitten im Satz ab, suchte in seinem Kopf nach einem
Fluchtweg, einem Ausweg, den es nicht gab, wenn er den Kelch nun
fallenließ und einen neuen bekam, in dem dann nur Wein
war… Nur Wein, was hieß das schon, Wein war fast
genauso schlimm und konnte ihn genauso zugrunde richten…
Aber eben nur fast…
»Habt Ihr Euren Text vergessen?« zischte der Richter
ihn an, und Varyn versuchte, aus dem Zittern ein Kopfschütteln
zu machen. »Der Text ist egal, Ihr habt den Kelch, trinkt,
und keiner wird mehr nach dem Text fragen.«
'Ich kann nicht!' wollte Varyn schreien, aber er konnte das ebenso
wenig wie den Kelch loslassen. Das Schlimme war nicht, daß
ihm jemand, Dannen, der Richter, sonst wer, den Schnaps
untergejubelt hatte. Das Problem war, wie sehr sich jede Faser in
Varyns Körper darauf freute, ihn zu trinken. Und wenn sich
dann der Abgrund auftat und ihn verschlang, so wie der Eid es
verlangte, wenn Varyn mit Leib und Seele in den Nilomar fuhr, wenn
diese Krönung ein noch jäheres Ende nahm als die in
Koristan, die mit einem König in Verbannung geendet hatte -
Varyn fühlte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief, unter
seiner Zunge war ein Stechen, in seiner Brust ein Ziehen - hatte er
eine Wahl? Konnte er weglaufen, auf daß doch Dannen
gekrönt wurde, auf daß sonst wer den Abgrund
bekämpfte, auf daß sich der Dämmervogel und die
Schwestern einen anderen Dummen suchten mußten? Es half
nichts. Das, wovor Varyn davonlaufen wollte, saß hinter
seiner Brust, er hatte den Abgrund in sich und die
Abgründigen, und das würde er mitnehmen, wohin auch immer
er rannte.
Er hatte monatelang keinen Tropfen Alkohol angerührt und
gedacht, dieses finstere Loch damit kleinzukriegen, aber hier war
es, genauso stark wie am ersten Tag, der Wille war da, der Wunsch,
das Verlangen, und es würde in einem Jahr noch da sein und in
zehn, egal wie lang Varyn lebte, das war ein Stück von ihm und
würde es bleiben. Alles was er jetzt tun konnte, war, es
auszutricksen. Er fühlte, wie seine Hände den Kelch an
seinen Mund hoben, er fühlte, wie die Flüssigkeit seine
Lippen benetzte, umschmeichelte, es war ein Kuß von einer
lange fernen Geliebten, seine Nasenlöcher weiteten sich, sein
Herz ging schneller, dann war der erste Schluck in seinem Mund,
dieses vertraute Brennen, das ihm so lange gefehlt hatte, geliebt
und gehaßt und begehrt und von nichts in der Welt zu ersetzen
-
Varyn schloß die Augen, als er trank, und gab seinen
Körper unter die Kontrolle seines Verstandes. Er hatte diese
Gabe. Er wäre ein Dummkopf, sie nicht zu nutzen. Wenn er
wollte, daß der Alkohol keine Wirkung auf ihn hatte…
In Varyns Inneren lieferten sich sein Willen und sein Verlangen
einen Kampf, den kein Mensch sehen konnte. Der Teil von ihm, der
den Rausch suchte, der in das Land zwischen den Welten wollte,
süße Bewußtlosigkeit, süßerer Tod, ein
Ende aller Schmerzen, kämpfte gegen Varyns Vernunft,
Pflichtbewußtsein, Verstand. Wo war sein Lebenswillen? Warum
kämpfte der nicht mit? Varyn fühlte, wie das
flüssige Feuer seine Kehle hinunterrann, seinen Magen
ausfüllte und von dort weiterbrannte, um in jeder Ader durch
seinen Körper getragen zu werden, in Hände und
Füße, in die Haarspitzen, ins Herz, ins Hirn, vor allem
ins Hirn - wenn er sterben wollte, jetzt war der richtige Moment
dafür.
Es war lange her, daß Varyn sich diese Frage hatte stellen
müssen. Er hatte sich aufgegeben, so oft schon, zuletzt an dem
Tag, als seine Familie starb, und daß er sich dann doch
entschlossen hatte weiterzumachen war immer für andere -
für Gaven, für Noran, für den Dämmervogel,
für den Himmel. Aber in diesem Moment verlangte sein zweites
Ich eine ganz andere Antwort von ihm: Was wollte Varyn für
sich selbst? Leben für sich selbst, kämpfen für sich
selbst? Wenn er nicht einmal stark genug gewesen war, diesen Kelch
zu nehmen und von sich wegzuschleudern bis an den Kopf desjenigen,
der ihn gefüllt hatte, wenn er nicht einmal den Kampf gegen
sich selbst gewinnen konnte, wie sollte er es dann mit dem Abgrund
aufnehmen?
Aber während die letzten Tropfen des viel zu starken
Gebräus seine Kehle hinunter rannen, stieg irgendwo aus der
Tiefe eine Antwort auf, daß er nicht wußte, ob sie aus
seinem Abgrund kam oder aus seinem Himmel: Leben. Varyn wollte
leben. Für die Welt, für seine Freunde, und für sich
selbst - das eine ging nicht ohne das andere. Jedes Ja, das Varyn
in seinem Leben gesprochen hatte und dachte, es wäre für
jemand anderen, war in Wirklichkeit für ihn selbst, immer
schon. Leben, so lang und so gut es ging. Mit allem, was
dazugehörte, und wenn es Träume waren und Wahnsinn und
Begierden, die er nicht steuern konnte, all das war Leben, sein
Leben. Egal wie viele Engel ihren Teil dazu beigetragen hatten, in
seinem Inneren war Varyn nur Varyn. Und dieser Varyn war jetzt
stark genug zu entscheiden, daß dieser Alkohol keinen
Einfluß auf ihn haben sollte.
Zumindest nicht, bis diese Krönung und alles, was mit ihr
zusammenhing, vorüber war. Wenn er es schaffte, so lang
wachzubleiben, bis sein Körper sich wieder gereinigt hatte,
bis der Alkohol ihm nichts mehr anhaben konnte - und selbst wenn
nicht, er würde es überleben. Es war nur Schnaps, nichts,
was einen ausgewachsenen Mann umbringen würde. Kein Grund,
sich so anzustellen. Andere tranken auch und lebten ganz gut damit.
Er mußte nur aufhören, sich bei jeder Gelegenheit selbst
zu hassen, der Alkohol war keine Entschuldigung, sich nicht zu
mögen, und ohne Alkohol mochte er sich schließlich auch
nicht mehr…
Als Varyn den Kelch sinken ließ, leer, die letzten Tropfen
klebten noch an seinen Lippen wie eine scheidende Geliebte, die
nicht loslassen wollte, begriff er, daß er einen Kampf
gewonnen hatte und gleichzeitig einen verloren. Er hatte seinen Eid
gebrochen, und daß der Abgrund ihn eben nicht verschlang,
mochte daran liegen, daß Elysander andere Dinge mit ihm
vorhatte, aber auch, daß Elysander überhaupt nicht die
Macht hatte, dem Abgrund zu befehligen. Der Eid war gebrochen und
Varyn konnte nicht mehr zu ihm zurückkehren, aber er konnte
immer noch versuchen, das Beste draus zu machen. Die Zeit
würde es zeigen. Die Hauptsache war, Varyn war jetzt
nüchtern und konnte das nicht nur fühlen, sondern auch
die Welt sehen lassen: Schaut her, der Alkohol kann ihm nichts
anhaben!
Varyn öffnete die Augen und ließ sie über die
Gesichter im Publikum wandern, die er erkennen konnte, scharf,
wachsam - er sah keine Schadenfreude bei Dannen, überhaupt
nichts, das darauf schließen ließ, daß der
wußte, was in Varyns Kelch war. Besorgnis bei Gaven, aber der
konnte auch nicht wissen, daß Varyn Wasser statt Wein
erwartet hatte. Am Gesicht von Dannens Frau blieb er einen Moment
zu lang hängen und sah dann schnell weiter, er begriff nicht,
warum sie ihm nackt erschienen war und was das zu bedeuten hatte,
sie war Dannens Frau und er würde sich sicher nicht daran
vergreifen wollen, aber trotzdem - sie war wunderschön, nicht
nur in seinem Traum, sondern auch, wie sie da saß, wie sie zu
lächeln begann, nur ein kleines bißchen, als sein Blick
den ihren kreuzte… Schnell sah Varyn Leota an, auch eine
Frau, auch nicht häßlich, aber wenigstens hatte er bei
der keine Vorstellung davon, wie sie nackt aussah. Und neben ihr
Jaro, der jüngste Bruder, nur ein paar Jahre älter, als
Edrik jetzt gewesen wäre, und Jaro… Jaro
grinste… Wenn dies alles vorüber war, würde sich
Varyn bei Dannen entschuldigen. Nicht nur wegen seiner Frau -
sondern auch, weil er ihn falsch verdächtigt hatte. Und Jaro -
dem würde das Lachen schon noch vergehen.
Langsam beruhigte sich Varyns
Herzschlag wieder. Durchatmen. Varyns Zunge fühlte sich etwas
taub an, und ehe der den Mund öffnete und am Ende nur ein
hilfloses Lallen herauskam, horchte er vorsichtig in sich hinein -
er wäre nicht der erste Kerl, der sich selbst für
nüchtern hielt und dann über die eigenen Füße
stürzte, aber diesmal schien er recht zu haben. Sein Kopf war
klar, die Welt hielt still, alles war in Ordnung. Eines Tages
würde Varyn herausfinden, welcher Engel hinter dieser Gabe
steckte, und sich bei ihm bedanken. Es konnte der Engel der
Weisheit sein - wenn Varyn erst einmal selbst anfing zu glauben,
daß er von allen Engeln auf einmal abstammte, wußte er
es hoffentlich besser, aber für den Moment sollte es reichen,
ein Erbe Vigilanders zu sein.
Varyn reichte dem Richter den Kelch zurück, und die beiden
Diener trugen das Tablett davon. Jetzt fehlte nicht mehr viel, die
abschließenden Worte, dann die Krone, dann erwartete man noch
eine Ansprache von ihm als König, aber all das machte Varyn
keine Angst mehr. Den harten Teil hatte er hinter sich, im
Vergleich dazu war ein bißchen König spielen ein Klacks.
Wenn er wollte, konnte er danach mit den anderen feiern, es war ein
gutes Gefühl, plötzlich nicht mehr vor jedem Bier Angst
haben zu müssen, dieser verdammte Eid, den er da unbedingt
hatte ablegen müssen, hatte ihm das Leben am Ende doch
deutlich mehr erschwert als erleichtert, er war froh, das hinter
sich zu haben.
»Das Schwert hat Euch erkannt«, sagte der Richter,
»der Elomaran Vigilander hat sein Blut mit Euch geteilt, und
nun ist es an der Zeit, Euren alten Namen und Euer altes Leben
hinter Euch zu lassen, Ihr sollt fortan bekannt sein als Vigilander
-«
»Nein«, sagte Varyn laut. Ihn stach nicht der Hafer,
es lag auch nicht am Alkohol, er hatte sich das gut überlegt.
»Mein Name ist Varyn.« Es mochte Brauch sein in
Doubladir, daß die Könige ihren alten Namen ablegten und
den Namen des Engels an, aber nicht nur fand Varyn das vermessen,
die Namen der Engel sollten auch nur für die Engel da sein, er
mußte dem Rechenschaft tragen, daß er eben nicht nur
Vigilanders Blut hatte. Und er wollte nicht am Ende einen ganzen
Rattenschwanz an Namen tragen, einen für jeden Engel.
»Nur Varyn, und dabei bleibt es auch.«
Der Richter hielt inne; sein Diener, der einen Schritt hinter ihm
stand und die Krone schon bereithielt, stutzte ebenfalls und sah
aus, als wäre er bereit, die auch gleich wieder wegzutragen,
wenn Varyn sich der Tradition widersetzte, aber auch darüber
war Varyn bereit, sich hinwegzusetzen. »Ihr wißt aber,
daß es in diesem Lande Brauch ist -«
»Brauch war«, korrigierte ihn Varyn. »Heute
bricht ein neues Zeitalter an, eine neue Generation wächst
heran, und ich werde meinen Namen behalten. Es ändert nichts
an meinem Blut und daran, daß Vigilander mich als Erben
anerkannt hat, wollt Ihr Euch dem Willen eines Engels widersetzen,
nur weil ich den einen Namen behalte, der mein ist?«
»Aber -«, sagte der Richter und kam nicht weit, weil
jetzt nicht nur Gemurmel im Publikum aufkam, sondern ein lauter
Zwischenruf.
»Varyniel!« rief Dannen. »Sein Name ist
Varyniel!« Er sprang auf, vielleicht um sich mehr Gehör
zu verschaffen. »Varyn, das ist nur ein halber Name«,
seine Familie fing an, auf ihn einzureden, aber das schien Dannen
nicht zu stören, er klang immer vergnügter dabei,
»Varyniel, den Namen hat er von den Elomaran selbst bekommen,
es bedeutet 'Ich bin der Oberste' -«
Aber weiter kam er nicht, und auch Varyn kam nicht mehr dazu,
etwas zu erwidern. Dieser Name, mit dem der Dämmervogel
angekommen war an dem Tag, als sie sich kennenlernten, dieser Name,
den Varyn nie für den seinen gehalten hatte, so wie Dannen ihn
jetzt aussprach, hatte er eine Bedeutung, und so gehörte er
auch zu Varyn - aber es blieb bei dem Gedanken. Varyn konnte nichts
mehr sagen, als Dannens Frau einen Laut ausstieß, ein
schmerzerfülltes Klagen, das durch den ganzen Saal drang und
bis hinter die hinterste Säule jedem Menschen für einen
Moment das Herz anhielt. Sie griff sich an ihren Leib, krümmte
sich zusammen und wäre von ihrem Sitz gerutscht, hätten
Dannen und sein Bruder sie nicht aufgefangen, und wieder gab sie
dieses klagende Stöhnen von sich.
»Bringt sie raus!« rief die Frau, die Varyn für
Dannens Mutter hielt. »Schnell, worauf wartet ihr noch, soll
sie ihr Kind vielleicht hier auf dem kalten Boden
bekommen?«
Und dann war endgültig ein Tumult ausgebrochen, in dem jeder
durcheinanderlief und durcheinanderrief, und ein sichtlich
verwirrter Diener drückte Varyn schnell die Krone auf den
Kopf, bevor irgendjemand es sich doch noch anders überlegen
konnte. So wurde er gekrönt, Varyniel vom Blute aller Engel,
und niemand sah hin. Das war vielleicht das Beste des ganzen
Tages.
»Die neue Generation wächst heran, in der Tat«,
hörte er noch den Richter murmeln. Dann begriff er, daß
es überstanden war, daß er gehen konnte, wohin er
wollte, und mit der Krone in der einen Hand und dem Schwert in der
anderen saß Varyn auf seinem Thron, legte den Kopf in den
Nacken und fing an zu lachen wie in seinem ganzen Leben noch nicht.
Sollte die Welt von ihm denken, was sie wollte. Sollte sie ihn
für wahnsinnig halten oder betrunken oder was auch immer.
Dieser Tag gehörte Varyn und sonst keinem auf der Welt, und er
würde ihn auch mit niemandem mehr teilen.
Aber der neue Tag, der gerade anbrechen wollte, auch wenn die
Mittagsstunde gerade erst vorüber war, gehörte einem
neuen, funkelnagelneuen, neugeborenen Leben.
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