Maja Ilisch, 1990

Maja Ilisch, 1990
Marlowe, Lime & Co.

»Ich war schon fast beim Büro angekommen, als ich merkte, daß ich vergessen hatte, mir Schuhe und Stümpfe anzuziehen. Ich mußte also nochmal zurück, um das nachzuholen.«
Mit diesen Worten begrüßte uns unser Laufbursche, als er mit knapp zweieinhalbstündiger Verspätung in der Agentur erschien. Bei jedem anderen hätte ich angenommen, daß es eine Ausrede war und er schlicht und einfach verschlafen hatte, aber Gordon konnte ich alles zutrauen. Während er seine Entschuldigung vorbrachte, wackelte er vertraulich mit seinen übergroßen Ohren. Mit diesen, sowie seiner gigantischen Nase (er pflegte sie als ‘Riechkolben’ zu bezeichnen), erinnerte er entfernt an ein Erdferkel. Allerdings haben die meisten Erdferkel keine rote Zottelmähne. Gordon war - gelinde gesagt - keine Zierde für unser Detektivbüro, aber andere Laufburschen hatten sich nicht bereiterklärt, für uns zu arbeiten, oder sie wären zu teuer für unsere Verhältnisse gewesen.
Phil lag sehr bequem zu 50% auf seinem Schreibtisch und zu 40% in seinem Sessel; weitere 10% seines Körpers schwebten zwischen Schreibtisch und Sessel in der Luft. Er zündete sich eine Zigarette an. Ich zählte die zerkauten Kippen im Aschenbecher und stellte fest, daß es seine achte an diesem Morgen war. Im Laufe des Tages konnte noch viel zusammenkommen…
Ein leises Geräusch in der anderen Zimmerecke ließ mich herumfahren. Es war Harry, der begonnen hatte, die Karten zu mischen. Immer, wenn Harry gerade keinen Fall bearbeitete, fing er an, stundenlang zu pokern. Leider hatte er nie einen Fall, ebensowenig wie wir anderen. Wenn uns jemals ein Fall angeboten worden wäre, hätte ich wohl zugunsten von Phil oder Harry darauf verzichtet. Mir war zwar Harrys Pokerleidenschaft lieber als Phils ewiges Gequalme, aber jetzt wollte ich mit beidem nichts zu tun haben und flüchtete in die ehemalige Abstellkammer, die uns jetzt als Küche diente. Sie bot gerade genug Platz für einen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine, aber uns reichte das. 
Ich erinnerte mich dunkel an eine Gurke im Kühlschrank, aber als ich ihn öffnete, fand ich ihn hauptsächlich von etwas Kleinem, Haarigen mit einer großen Nase ausgefüllt. Gordon hatte wieder einmal Hunger gehabt.
»He, Kleiner!« hörte ich auf einmal Phils Stimme, gerade als ich Gordon aus dem Kühlschrank ziehen wollte. »Komm mal, Kleiner. Du mußt ein paar Briefe für mich zur Post bringen.«
Gordon verließ den Kühlschrank und trottete ins Büro.
»Nennen Sie mich nicht immer Kleiner, Großer! Wenn Sie etwas gegen meinen Vornamen haben, können Sie mich ja Shumway nennen.« 
Dann schien er die Briefe entgegengenommen zu haben, denn ich hörte ihn sagen: »Wieder Briefe an Ihre Freundin? Muß ‘ne tolle Frau sein: Wohnt unter acht verschiedenen Namen an acht verschiedenen Adressen.«
Türenklappern. Ich beugte mich tiefer in den Kühlschrank, um zu sehen, was Gordon übriggelassen hatte. Als mit einem Mal die Türglocke schellte, fuhr ich hoch. An die Kühlschrankdecke hatte ich dabei allerdings nicht gedacht.
Meine Beule reibend, ging ich zurück zu meinem Schreibtisch, um zu sehen, wer uns da besuchen kam. Phils Platz war leer: Er war hinausgegangen, um unseren Gast zu empfangen. Aber wahrscheinlich war es sowieso nur der Gasmann.
Phil kam zurück. Ich hatte nicht gewußt, daß er so groß war, sondern ihn eigentlich als relativ mickrig in Erinnerung gehabt. Bis jetzt hatte ich ihn allerdings auch nur liegend auf seinem Schreibtisch gesehen. Ich sah ihn mir, hingerissen von dieser ungeahnten Größe, noch einmal an und bemerkte: Sein Gast, der mit ihm hereingekommen war, war recht klein. Er war sogar überaus auffällig klein. Nicht ganz so klein wie Gordon, aber immer noch klein genug, um Phil wie einen Riesen erscheinen zu lassen.
Er schien nicht der Gasmann zu sein; vielmehr erinnerte er an einen Laubfrosch. Das kam wahrscheinlich von seinem aalglatten Aussehen und seinen großen hervorquellenden Augen. Er war gekleidet wie zu einem Opernbesuch und lächelte wie eine Zahnpastareklame.
»Guten Tag«, sagt, oder besser: zwitscherte er, »bin ich hier richtig beim Detektivbüro Marlowe, Lime und Co.?«

(aus: Marlowe, Lima & Co, 1990)
 

Mit fünfzehn fand sie ihr Genre in der Kriminalliteratur - fand es im wahrsten Sinne des Wortes, denn im Gegensatz zu zahlreichen unvollendeten ernsthaften Krimis (mit abenteuerlichen Titeln wie »Doppelt gemordet hält besser«) zeichnen sich die Geschichten, die fertiggestellt wurden, dadurch aus, daß Maja fast alle handelnden Figuren aus anderen Werken 'entlieh'.
Sie schrieb vorzugsweise während des Unterrichts, sehr zum Leidwesen ihrer Lehrer, die nicht eimsehen wollten, daß Geschichtenschreiben nichts Verwerfliches war, sofern die Aufmerksamkeit und mündliche Mitarbeit nicht darunter leiden mußte.
Um »Marlowe, Lime & Co.« zu veröffentlichen, gründete sie ihren ersten Selbstverlag, Mortimer-Bücher, Merfeld. Die Erstauflage betrug fünfzehn Stück - ein Rekord, der bis heute steht.

Drei Jahre später…