»Ich war
schon fast beim Büro angekommen, als ich merkte, daß ich
vergessen hatte, mir Schuhe und Stümpfe anzuziehen. Ich
mußte also nochmal zurück, um das
nachzuholen.«
Mit diesen Worten begrüßte uns unser Laufbursche, als er
mit knapp zweieinhalbstündiger Verspätung in der Agentur
erschien. Bei jedem anderen hätte ich angenommen, daß es
eine Ausrede war und er schlicht und einfach verschlafen hatte,
aber Gordon konnte ich alles zutrauen. Während er seine
Entschuldigung vorbrachte, wackelte er vertraulich mit seinen
übergroßen Ohren. Mit diesen, sowie seiner gigantischen
Nase (er pflegte sie als ‘Riechkolben’ zu bezeichnen),
erinnerte er entfernt an ein Erdferkel. Allerdings haben die
meisten Erdferkel keine rote Zottelmähne. Gordon war - gelinde
gesagt - keine Zierde für unser Detektivbüro, aber andere
Laufburschen hatten sich nicht bereiterklärt, für uns zu
arbeiten, oder sie wären zu teuer für unsere
Verhältnisse gewesen.
Phil lag sehr bequem zu 50% auf seinem Schreibtisch und zu 40% in
seinem Sessel; weitere 10% seines Körpers schwebten zwischen
Schreibtisch und Sessel in der Luft. Er zündete sich eine
Zigarette an. Ich zählte die zerkauten Kippen im Aschenbecher
und stellte fest, daß es seine achte an diesem Morgen war. Im
Laufe des Tages konnte noch viel zusammenkommen…
Ein leises Geräusch in der anderen Zimmerecke ließ mich
herumfahren. Es war Harry, der begonnen hatte, die Karten zu
mischen. Immer, wenn Harry gerade keinen Fall bearbeitete, fing er
an, stundenlang zu pokern. Leider hatte er nie einen Fall,
ebensowenig wie wir anderen. Wenn uns jemals ein Fall angeboten
worden wäre, hätte ich wohl zugunsten von Phil oder Harry
darauf verzichtet. Mir war zwar Harrys Pokerleidenschaft lieber als
Phils ewiges Gequalme, aber jetzt wollte ich mit beidem nichts zu
tun haben und flüchtete in die ehemalige Abstellkammer, die
uns jetzt als Küche diente. Sie bot gerade genug Platz
für einen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine, aber uns
reichte das.
Ich erinnerte mich dunkel an eine Gurke im Kühlschrank, aber
als ich ihn öffnete, fand ich ihn hauptsächlich von etwas
Kleinem, Haarigen mit einer großen Nase ausgefüllt.
Gordon hatte wieder einmal Hunger gehabt.
»He, Kleiner!« hörte ich auf einmal Phils Stimme,
gerade als ich Gordon aus dem Kühlschrank ziehen wollte.
»Komm mal, Kleiner. Du mußt ein paar Briefe für
mich zur Post bringen.«
Gordon verließ den Kühlschrank und trottete ins
Büro.
»Nennen Sie mich nicht immer Kleiner, Großer! Wenn Sie
etwas gegen meinen Vornamen haben, können Sie mich ja Shumway
nennen.«
Dann schien er die Briefe entgegengenommen zu haben, denn ich
hörte ihn sagen: »Wieder Briefe an Ihre Freundin?
Muß ‘ne tolle Frau sein: Wohnt unter acht verschiedenen
Namen an acht verschiedenen Adressen.«
Türenklappern. Ich beugte mich tiefer in den Kühlschrank,
um zu sehen, was Gordon übriggelassen hatte. Als mit einem Mal
die Türglocke schellte, fuhr ich hoch. An die
Kühlschrankdecke hatte ich dabei allerdings nicht gedacht.
Meine Beule reibend, ging ich zurück zu meinem Schreibtisch,
um zu sehen, wer uns da besuchen kam. Phils Platz war leer: Er war
hinausgegangen, um unseren Gast zu empfangen. Aber wahrscheinlich
war es sowieso nur der Gasmann.
Phil kam zurück. Ich hatte nicht gewußt, daß er so
groß war, sondern ihn eigentlich als relativ mickrig in
Erinnerung gehabt. Bis jetzt hatte ich ihn allerdings auch nur
liegend auf seinem Schreibtisch gesehen. Ich sah ihn mir,
hingerissen von dieser ungeahnten Größe, noch einmal an
und bemerkte: Sein Gast, der mit ihm hereingekommen war, war recht
klein. Er war sogar überaus auffällig klein. Nicht ganz
so klein wie Gordon, aber immer noch klein genug, um Phil wie einen
Riesen erscheinen zu lassen.
Er schien nicht der Gasmann zu sein; vielmehr erinnerte er an einen
Laubfrosch. Das kam wahrscheinlich von seinem aalglatten Aussehen
und seinen großen hervorquellenden Augen. Er war gekleidet
wie zu einem Opernbesuch und lächelte wie eine
Zahnpastareklame.
»Guten Tag«, sagt, oder besser: zwitscherte er,
»bin ich hier richtig beim Detektivbüro Marlowe, Lime
und Co.?«
(aus: Marlowe, Lima & Co, 1990)
Mit fünfzehn fand sie ihr Genre in der Kriminalliteratur - fand es im wahrsten Sinne
des Wortes, denn im Gegensatz zu zahlreichen unvollendeten
ernsthaften Krimis (mit abenteuerlichen Titeln wie »Doppelt
gemordet hält besser«) zeichnen sich die Geschichten,
die fertiggestellt wurden, dadurch aus, daß Maja fast alle
handelnden Figuren aus anderen Werken 'entlieh'.
Sie schrieb vorzugsweise während des Unterrichts, sehr zum
Leidwesen ihrer Lehrer, die nicht eimsehen wollten, daß
Geschichtenschreiben nichts Verwerfliches war, sofern die
Aufmerksamkeit und mündliche Mitarbeit nicht darunter leiden
mußte.
Um »Marlowe, Lime & Co.« zu veröffentlichen,
gründete sie ihren ersten Selbstverlag, Mortimer-Bücher,
Merfeld. Die Erstauflage betrug fünfzehn Stück - ein
Rekord, der bis heute steht.
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