Maja Ilisch, 2002

Maja Ilisch, 2002
Klagende Flamme

»Du bist gezeichnet.«
Telya blickte nicht auf, sagte nichts, starrte nur reglos in den Staub. Sie wollte keinen Ärger, sie wollte nur, daß die alte Frau fortging. Aufzublicken, zu lächeln, das hatte alles keinen Sinn. Diese Frau würde ihr nichts geben. Einen Pfennig für jeden, der Telya ins Gesicht spuckte oder nach ihr trat… Es half wenig, daß sie Staub in ihr Gesicht rieb, daß sie vornüber gebeugt saß, daß sie ihre Haare weit ins Gesicht hängen ließ - das Mal wollte nicht verbogen sein. Es brannte strahlender als jedes Lächeln, das Telya auch aufsetzen mochte.
Aber die Alte ging nicht fort. Sie beugte sich vor, und mit der Spitze ihres Zeigefingers fuhr sie die Umrisse des Mals entlang, des scharlachroten Flecken, der Telyas rechtes Auge umgab, hoch bis zur Braue, vorbei an ihrer Nase und hinunter bis zur Wange. Telya hielt den Atem an und drückte den Rücken gegen die Hauswand hinter ihr. Die Fingerspitze war warm und berührte Telyas Haut nur leicht, und dennoch war es schrecklich, schrecklicher noch, als angespuckt zu werden.
»Du mußt keine Angst haben, Kind«, sagte die Frau. Ihre Stimme war sanft - und freundlich. »Du trägst sein Zeichen.«
’Ich weiß es’, wollte Telya flüstern. ’Ich weiß es, aber geh weg, geh weg, geh weg! Laß mich in Ruhe!’ Doch gegen ihren Willen mußte sie hochschauen, mußte der alten Frau ins Gesicht sehen. Sie erstarrte. »Aber - du bist blind!«
»Ja«, erwiderte die Frau ruhig und nahm ihre milchigen, pupillenlosen Augen nicht von Telya. »Auch ich bin eine Gezeichnete.«

(aus: Klagende Flamme, 2002)
 

Das Jahr 2002 brachte Umstürze, Dramen und Unruhe. Die kleine Pharma-Marketing-Firma, bei der Maja seit 2001 als Mädchen-für-alles, Kaufmännische Sachbearbeiterin, Webdesignerin und Datenbankadministratorin gearbeitet hatte, geriet in die Mühlen der Banken, und plötzlich fand sich die Autorin an ihrem eigenen Schreibtisch wieder, mit soviel Zeit, wie sie seit der Durststrecke nach ihrem Studium nicht mehr besessen hatte. Kämpfe auf dem Arbeitsamt (»Ich bin keine Sachbearbeiterin! Ich bin Buchhändlerin! Wenn ich die letzten zwei Wochen über bei meiner Oma die Blumen gegossen hätte, würden Sie dann auch versuchen, mich als Landschaftsgärtnerin zu vermitteln?«) versprechen im Nichts zu enden. Aber dann ist doch wieder alles halb so tragisch. Buchhändler werden schließlich gebraucht, und noch einmal würde sie sich nicht die Aussage bieten lassen, mit ihrer Neurodermitis die Kunden zu vergraulen - und bis es wieder so weit ist, versinkt sie in Arbeit. Bücher wollen geschrieben werden, andere gelesen, was oft noch schwieriger ist. Neben der stetigen Arbeit an den Chroniken der Elomaran hat sie die »Spinnweb-Stadt« wieder aufgegriffen und prahlt mit einer baldigen Vollendung, und wem das noch nicht reicht, der kann sich auch schon auf eine neue Geschichte (siehe oben) freuen, die einen kleinen Gegenpol zu den Engeln darstellt.
Als ihre derzeit größte Leistung betrachtet sie jedoch den Aufbau der Fantasyautoren-Mailingliste »Tintenzirkel« sowie die dazugehörige Internetseite - hat sie dort doch das stetige Gefühl, nicht alleine zu sein.
Maja wohnt unverändert in Hollow-Willow, auch wenn sie glaubt, die meiste Zeit in Zügen zu verbringen, denn Christoph hat es inzwischen nach Aachen verschlagen. Aber so wechselhaft sie im Berufsleben auch sein mag, ihre menschlichen Anker - Christoph, Monica, ZOE und Andrea - bleiben die selben. Und werden es hoffentlich noch lange sein.

Drei Jahre später…