»Du bist gezeichnet.«
Telya blickte nicht auf, sagte nichts, starrte nur reglos in den
Staub. Sie wollte keinen Ärger, sie wollte nur, daß die
alte Frau fortging. Aufzublicken, zu lächeln, das hatte alles
keinen Sinn. Diese Frau würde ihr nichts geben. Einen Pfennig
für jeden, der Telya ins Gesicht spuckte oder nach ihr trat… Es half wenig, daß sie Staub in ihr Gesicht rieb,
daß sie vornüber gebeugt saß, daß sie ihre
Haare weit ins Gesicht hängen ließ - das Mal wollte
nicht verbogen sein. Es brannte strahlender als jedes Lächeln,
das Telya auch aufsetzen mochte.
Aber die Alte ging nicht fort. Sie beugte sich vor, und mit der
Spitze ihres Zeigefingers fuhr sie die Umrisse des Mals entlang,
des scharlachroten Flecken, der Telyas rechtes Auge umgab, hoch bis
zur Braue, vorbei an ihrer Nase und hinunter bis zur Wange. Telya
hielt den Atem an und drückte den Rücken gegen die
Hauswand hinter ihr. Die Fingerspitze war warm und berührte
Telyas Haut nur leicht, und dennoch war es schrecklich,
schrecklicher noch, als angespuckt zu werden.
»Du mußt keine Angst haben, Kind«, sagte die
Frau. Ihre Stimme war sanft - und freundlich. »Du trägst
sein Zeichen.«
’Ich weiß es’, wollte Telya flüstern.
’Ich weiß es, aber geh weg, geh weg, geh weg! Laß
mich in Ruhe!’ Doch gegen ihren Willen mußte sie
hochschauen, mußte der alten Frau ins Gesicht sehen. Sie
erstarrte. »Aber - du bist blind!«
»Ja«, erwiderte die Frau ruhig und nahm ihre milchigen,
pupillenlosen Augen nicht von Telya. »Auch ich bin eine
Gezeichnete.«
(aus: Klagende Flamme, 2002)
Das Jahr 2002 brachte Umstürze, Dramen und Unruhe. Die kleine
Pharma-Marketing-Firma, bei der Maja seit 2001 als
Mädchen-für-alles, Kaufmännische Sachbearbeiterin,
Webdesignerin und Datenbankadministratorin gearbeitet hatte, geriet
in die Mühlen der Banken, und plötzlich fand sich die
Autorin an ihrem eigenen Schreibtisch wieder, mit soviel Zeit, wie
sie seit der Durststrecke nach ihrem Studium nicht mehr besessen
hatte. Kämpfe auf dem Arbeitsamt (»Ich bin keine
Sachbearbeiterin! Ich bin Buchhändlerin! Wenn ich die letzten
zwei Wochen über bei meiner Oma die Blumen gegossen
hätte, würden Sie dann auch versuchen, mich als Landschaftsgärtnerin zu vermitteln?«) versprechen im
Nichts zu enden. Aber dann ist doch wieder alles halb so tragisch.
Buchhändler werden schließlich gebraucht, und noch
einmal würde sie sich nicht die Aussage bieten lassen, mit
ihrer Neurodermitis die Kunden zu vergraulen - und bis es wieder so
weit ist, versinkt sie in Arbeit. Bücher wollen geschrieben
werden, andere gelesen, was oft noch schwieriger ist. Neben der
stetigen Arbeit an den Chroniken der Elomaran hat sie die
»Spinnweb-Stadt« wieder aufgegriffen und prahlt mit
einer baldigen Vollendung, und wem das noch nicht reicht, der kann
sich auch schon auf eine neue Geschichte (siehe oben) freuen, die
einen kleinen Gegenpol zu den Engeln darstellt.
Als ihre derzeit größte Leistung betrachtet sie jedoch
den Aufbau der Fantasyautoren-Mailingliste
»Tintenzirkel« sowie die dazugehörige
Internetseite - hat sie dort doch das stetige Gefühl, nicht
alleine zu sein.
Maja wohnt unverändert in Hollow-Willow, auch wenn sie glaubt,
die meiste Zeit in Zügen zu verbringen, denn Christoph hat es
inzwischen nach Aachen verschlagen. Aber so wechselhaft sie im
Berufsleben auch sein mag, ihre menschlichen Anker - Christoph,
Monica, ZOE und Andrea - bleiben die selben. Und werden es
hoffentlich noch lange sein.
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