Maja Ilisch, 2008

Maja Ilisch, 2008
Lichtland

Das Licht stach Nomi in den Augen, sie begannen zu tränen, bevor er auch nur eine Hand vors Gesicht reißen konnte. Es tat weh, aber schlimmer war, daß Nomi nicht verstand. Licht? Warum Licht?
Er schluckte, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, und sah sich um - und sah das Dunkel. Es war hinter ihm. Es müßte vor ihm sein - nein, auch das nicht: Um ihn. Er war ins Dunkel eingetreten, und das Gefühl würde er im Leben nicht vergessen, es war schrecklich, seine Seele wurde von innen nach außen gekrempelt, aus ihm herausgerissen, während Shen… Nomi stutzte, faßte sich an die Stirn, um klarer denken zu können. Shen hatte etwas… Shen hatte ihn… Nomi wußte es nicht mehr. Er lachte bitter.
»Ich habe es nicht geschafft, nicht wahr?« fragte er in das blendende Licht hinein. Wenn Shen jetzt wenigstens auf seiner Seite war, in jedem Sinn des Wortes!
»Nein«, sagte Shen, und Nomi merkte zu spät, daß diese Antwort alles bedeuten konnte. Aber wenigstens ließ der Schmerz in seinen Augen langsam nach, und er gewöhnte sich an das Licht. Er sah nicht auf das Dunkel hinter sich, er sah zu Shen hin, der genau so aussah, wie Nomi ihn zuletzt gesehen hatte - aber die Landschaft, in der er stand…
»Was wird hier gespielt?« fragte Nomi scharf. »Wo sind wir? Das ist nicht mehr Tolai - warum ist es dann nicht dunkel?« Shen schüttelte den Kopf. »Du glaubst, ich schulde dir eine Erklärung?«
»Ja!« schnaubte Nomi. »Ja, das tut Ihr!« Mit jeder Sekunde bemerkte er mehr Kleinigkeiten, die nicht paßten. Seine Kleider - das waren nicht seine Kleider, soviel konnte Nomi sagen, auch wenn man ihn nicht fragen durfte, was er denn vorher getragen hatte. Kleider eben. Aber nicht diese. Und die Schuhe waren auch falsch. Es waren richtige Schuhe, wie Nomi sie seit dem Moment des Aufbruchs vermißt hatte, Schuhe aus Leder - aber daß sie sich jetzt so plötzlich an seinen Füßen saßen, entschuldigte gar nichts!
Nur sein Schatten war noch da, wo er hingehörte, und so böse und dunkel, wie Nomi ihn liebte - er hatte sich auf das Dunkel gefreut bis zu dem Moment, wo er es betreten mußte, doch nun hatte es ihn ausgespieen, irgendwo, ohne Erinnerung, und die guten Schuhe waren dafür ein schlechter Tausch.
»Du hast Recht«, sagte Shen. Was Nomi Sorgen machte: Der Flötenspieler lächelte dabei nicht. Er war so ernst, wie man bei drei kurzen Worten sein konnte. »Gehen wir.«

(aus: Lichtland, 2008)
 

2008 sollte das Jahr der großen Perspektiven werden. Die erste kam in Form eines Friedhofs, der für die Stadt elektronisch erfaßt und statistisch ausgewertet werden sollte. Dafür gab es zwar so gut wie kein Geld, aber welche morbide Autorin kann der Versuchung widerstehen, die Erschließung eines Friedhofs im Lebenslauf stehen zu haben? Die zweize Perspektive war die Idee, noch einmal zur Uni zu gehen - die RWTH Aachen bot mit Technischer Redaktion den Studiengang aller Studiengänge - und dafür endlich mit dem Freund zusammenzuziehen. Die dritte Perspektive kam, als sie sich tatsäclhich in Aachen einschreiben konnte - aber nicht als Studentin, sondern als Bibliothekarin. Der Buchmensch am Ziel der Wünsche…
Auch mit dem Schreiben ging es wieder bergauf. Die Offenbarung war schon im November 2006 gekommen in Form des Nanowrimo - plörtlich schrieb sie jeden Tag sechs bis acht Seiten, hatt Spaß daran, und das erste Kinderbuch in sechs Wochen fertiggestellt. Danach war der Kampfgeist geweckt - und davon profitierten nicht nur verschiedene andere Projekte, sondern auch Dämmervogel, was nach jahrelanger Arbeit endlich fertig wurde.
Aber die größte Perspektive meldete sich kurz vor Weihnachten. Da klopfte nämlich eine Agentur an Majas virtuelle Tür, und die war erstmals nicht unseriös hinter ihrem Geld her, sondern sah echtes Potenzial in den Chroniken der Elomaran. Der Vertrag wurde geschlossen - und das freudige Warten konnte beginnen. Und so wartet sie noch heute, und wartet, und schreibt, und schreibt, und schreibt…