Ich kann nicht sagen, wem von beiden ich folgte, noch, warum ich es
tat, und doch folgte ich ihnen. Vermutlich hatte ich einfach nur
nichts Besseres zu tun. Untätigkeit ist etwas, das ich hasse,
obwohl, oder gerade weil, ich oft dazu verdammt bin, und es war
schon lange her, daß zuletzt jemand meine Dienste in Anspruch
genommen hatte, zu lange. Ich mochte fluchen über das
Schicksal, das mich so hart gezeichnet hatte, das mich zum
Krüppel gemacht hatte, aber solches Gerede war töricht.
Von meinen Fähigkeiten mit dem Schwert konnte ich all jene
Leute überzeugen, die es auf eine Demonstration ankommen
ließen, und für einen guten Reiter braucht es vieles,
aber zwei gesunde Füße gehören nicht dazu.
Nein, die Wahrheit sieht anders aus, auch wenn ich mich meist
weigere, sie zu sehen. Die Wahrheit ist, daß ich alt werde.
Der Vierzig näher als der Dreißig, müßte ich
lügen, um mich noch in irgendeiner Form als Jüngling zu
bezeichnen. Ich habe das Alter nie gefürchtet, nicht, seit ich
zum Krüppel wurde, denn ich dachte, es gäbe nichts mehr,
daß mir die Zeit noch nehmen konnte, nachdem ich bereits mein
Leben verloren hatte. Aber nun mußte ich erkennen, daß
noch genug für den Verfall übrig war. Mein Feuer
läßt nach, meine Gabe, Menschen mitzureißen, zu
begeistern. Natürlich gelingt es mir noch oft genug, Eindruck
zu hinterlassen, aber es ist nicht mehr dasselbe. Wahrscheinlich
bin ich zu bitter geworden. Es scheint durch, ich kann es nicht
zurückhalten, aber wo früher Rachegelüste brannten,
ist nun kaum mehr als Leere. Die Menschen folgen lieber einem
Fanatiker als einem alten Sauertopf.
Aber nun folgte ich den Beiden. Warum tat ich das? Wollte ich
meinem Leben wieder einen Sinn geben? War es Rache, nach der ich
strebte? Ich kann es nicht sagen, ebensowenig wie die Frage
beantworten, wem ich nun folgte: Dem Sohn der Frau, die ich einmal
geliebt habe, oder dem Sohn der Frau, die mein Leben zerstört
hat.
Als ich die beiden an jenem Abend im Schwanen
zurückließ - aber wer ließ eigentlich wen
zurück? Ich erinnere mich noch gut daran, daß es Anders
war, der zuerst aufstand und ging - war ich noch weit davon
entfernt, eine Entscheidung zu treffen, so beschäftigt war ich
damit, meinen Schock, meine Verwunderung zu überwinden oder
zumindest erklärbar zu machen. Das war, bevor ich wußte,
was geschehen war. Mich wunderte, daß sie alleine reisten,
daß sie überhaupt reisten, wo doch sonst kaum
etwas die Engelsgeborenen aus ihren Schlössern locken kann.
Das war, bevor ich von dem Fall ihres Hauses hörte, von
Korisanders Untergang. Was mich bis heute erstaunt, sogar
fasziniert, ist, wie diese beiden Jungen es schaffen konnten,
schneller zu reisen als Gerüchte - daß sie es schaffen
konnten, mich zu überrumpeln.
Früher, als ich noch auf zwei Beinen stehen konnte, nannte man
mich den Fuchs. Ich habe seither Männer mit ausgefalleneren
Beinamen getroffen, und noch einige mehr, die den meinen teilten,
und doch trage ich ihn mit Stolz, bis heute. Ich stand in dem Ruf,
zu gerissen zu sein, und ich konnte mir genug auf mich einbilden,
um zu sagen: »Ich weiß vielleicht nicht mehr als meine
Gegner, vielleicht nicht einmal halb soviel wie sie. Aber darauf
kommt es nicht an. Ich muß nur wissen, was sie als
nächstes tun werden. Und das weiß ich.« Das sage
ich heute nicht mehr, habe es nicht mehr gesagt seit bald dreizehn
Jahren. Es war das erste, was ich lernen mußte, lernen,
daß ich mich geirrt hatte, lernen, daß ich eben nicht
mehr wußte, nicht schneller dachte als sie, und daß die
Liebe eben nicht nur andere Männer in einen unvorsichtigen
Narren verwandeln konnte. Es war ein schmerzhaftes Lernen, fast so
schmerzhaft wie das Zusammenwachsen der Knochen in meinem
Fuß, aber während die Knochen so falsch heilten,
daß mein rechter Fuß heute bestenfalls zur Zierde dient
und meistens nicht einmal dazu, dachte ich eigentlich, ich
hätte aus meinen Fehlern gelernt, mich das letzte Mal
überrumpeln lassen.
Der Tod des Königs - der schon lange nicht mehr mein
König war - kam für viele überraschend, aber
ichhatte jahrelang darauf gewartet. Zu Fuß machte ich mich
auf den Weg nach Koristir; ich mußte nicht eilen, egal,
wieviel Zeit ich brauchte, dieser Mann würde in der
Zwischenzeit nicht wieder zum Leben erwachen. Jeder Schritt
bedeutete Schmerzen, jede Meile einen Krieg, und ich verbrachte
sehr viel mehr Zeit mit Fluchen, daß ich kein Pferd
besaß, als daß ich mir mit besonnener Bitterkeit sagte,
nun, so würde ich zumindest den Grund meiner Wanderschaft
niemals vergessen. Aber es stimmt vielleicht. Dreizehn Jahre sind
viel Zeit, um zu vergessen, an was man nicht ständig erinnert
wird.
Ich ging davon aus, noch gute zehn Tage bis Koristir zu brauchen,
hatte genug Bedenkzeit, um mir zu überlegen, was ich
eigentlich in der Stadt tun würde, ob ich mich nun dem
Schloß nähern sollte oder nur in einem Wirtshaus in
seinem Schatten den einen oder anderen Becher auf den Tod des
Königs leeren - als ich seinen Erben auf der Straße
traf. Ich brauchte einen Moment zu lang, um ihn zu erkennen - nicht
wiederzuerkennen, denn als ich den Jungen zum letzten Mal
sah, war er ein tobsüchtiges Kind von nicht mehr als drei oder
vier Jahren - aber nachdem ich einmal seine Augen sah, gab es
keinen Zweifel mehr, aus welchem Stall er stammte. Engelsgeborene
erkennt man immer an ihren Augen, und wenn ich in den letzten
Jahren auch nur unter Menschen gelebt habe - gewöhnlichen,
sterblichen Menschen heißt das, denn genaugenommen sind auch
die sogenannten Engelsgeborenen mehr Mensch als sonst was -
würde ich doch niemals diese Augen vergessen, vergessen, was
sie anrichten konnten. Der Junge hatte die gleichen Augen wie sein
Bruder - ein Bruder, der sein Vater hätte sein können und
sich auch wie einer verhielt - aber in seinem Gesicht war auch
genug, das mich an seine Mutter erinnerte. Ich hätte ihn
töten können in jenem Moment, und eine der Fragen, die
ich mir im Verlauf der Nacht am häufigsten stellte, war, warum
ich es nicht getan hatte.
Vielleicht, weil er nicht wußte, wer ich war. Ich sage
wohlüberlegt war, nicht bin, denn heute bin ich ein anderer,
nicht nur, weil ich einen anderen Namen trage. Es wäre keine
Rache mehr, wenn sie nicht wüßten, durch wen, und
überhaupt - Rache an einem Knaben? Er erkannte mich nicht, und
ich hütete mich, es ihm zu verraten. Oh, er stellte mir
Fragen, kluge Fragen, aber sie hatten mehr von der Gerissenheit
seiner Mutter als von der Weisheit seines Engels. Korisanders
Kinder sind schwach geworden wie alle anderen, aber daß sein
Haus als erstes fallen mußte, hat mich dennoch erstaunt -
immerhin war ihr Versuch, engelsgleich zu bleiben, einer der
geschicktesten und in jedem Fall der klügste.
Natürlich.
Die Bräuche in Koristan wollen, daß jeder König
zwei Söhne zeugt: Einen in jungen Jahren, der ihm nach seinem
Tod auf den Thron folgt, und einen im Alter, der wiederum dem
ersten folgt. So währt eine Generation so lang wie anderswo
zwei, und der Tag, an dem auch der letzte Rest von Kraft aus ihrem
Blut verschwindet, kann herausgezögert werden. Netter Versuch,
wirklich. Ich habe Hochachtung vor ihrem Verstand. Nicht jedoch vor
ihrem Charakter.
Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich eines
Tages einen von ihnen auf einen Krug Wein einladen würde, aber
ich tat es, und statt auch nur einen Gedanken an meine Rache zu
verschwenden, versuchte ich, zwischen dem Jungen und seinem Neffen
zu vermitteln. Ich wunderte mich über mich selbst, aber auf
eine gewisse Weise war es ein Triumph, daß Alexander auf
meine Hilfe angewiesen war, daß er darum bat - nicht
verlangte, sondern flehte - und daß ich sie ihm verweigern
konnte. Aber so oder so war die Entscheidung die richtige, schon
weil der Neffe, Halan, eindeutig gegen mich war. Diese Art von
Blick kenne ich nur zu gut. Es gibt zwei, die ich in den
vergangenen Jahren immer häufiger zu sehen bekomme. Der eine
sagt: ‘Sieh nur, der arme Krüppel! Gib ihm einen
Pfennig, damit er weggeht!’ Die andere Art von Blick, jene
Art, mit der Desaras Sohn mich bedachte, war ebenso
verächtlich, aber auf seine Weise ehrlicher, denn er versuchte
nicht erst, Mitleid vorzutäuschen. Wer mich so ansieht, der
hatte vor sich nichts weiter als einen Landstreicher, einen
schäbigen, abgerissenen Trunkenbold, und wer mich so ansah,
bleibt selten lang genug, um sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Das gefiel mir an Alexander: Obwohl er sicher noch nie Kontakt
hatte zu Leuten von meinem Schlag, sah er mir doch als erstes in
die Augen, und wer dazu bereit ist, bereit, mich als Mensch zu
sehen, den kann ich beeindrucken, für mich gewinnen, so wie
ich Alexander gewann in jenem staubigen Moment auf der
Landstraße, als ich mich entschied, ihn nicht zu töten -
weil auch ich mich bereiterklärt hatte, in seine Augen zu
blicken.
Aber Halan - es fällt mir schwer, von ihm als Harold zu
denken, aber ich darf nicht vergessen, wer er ist, wessen Sohn -
nun, ich kann mir nicht vorstellen, daß es jemals
Freundschaft zwischen uns geben wird. Ich weiß nicht, was ich
von ihm zu halten habe, dafür kenne ich ihn zu wenig, wenn
auch nicht so wenig wie er mich - aber sein Vater war einer meiner
erbittertsten Feinde, und in seinem Gesicht finde ich zu wenig
Freude, zuviel von seinem Vater. Was an ihm von Desara ist…
ich will es nicht wissen. Zwei Frauen, an die ich nur ungern
zurückdenke, und die mir doch deutlicher vor Augen
geführt wurden, als mir lieb war. Desara und Aralee …
Halan und Anders… Alexander und Harold… Aralee und
Desara - Halan verließ mich schon kurz nach seinem Onkel,
meine Nähe bereitete ihm deutliches Unbehagen, und so
ließ er mich zurück, aber sein Bild blieb, seines und
Alexanders und die ihrer Mütter.
An diesem Abend trank ich zuviel, und als ich dann endlich schlief,
schlief ich lang bis in den anderen Tag hinein, und als ich gegen
Mittag aufwachte, waren sie längst weitergereist.
Doch ich entschloß mich, ihnen zu folgen.
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