Erstes Kapitel

Zwischen Stille und Schweigen gab es einen Unterschied: Schweigen war, wenn man seine eigenen Gedanken hören konnte. Erstaunlicherweise nahm Alexander es sehr gelassen. Er dachte nicht daran, diesem unverschämten Lügner von einem Berater an die Gurgel zu gehen. Und auch alle anderen verhielten sich ruhig, unglaublich ruhig, ungläubig ruhig. Ich frage mich, wer von uns beiden als erster lacht, dachte Alexander. Harven konnte nicht wirklich die Frechheit besitzen - vielleicht war der Name Ember von Valon falsch, es hätte Alexander zumindest nicht gewundert, und dann hatte Harven in diesem Punkt sogar die Wahrheit gesagt. Aber wie auch immer er hieß, dieser Mann war da gewesen, in Begleitung eines Engelsgeborenen, der von keinem anderen Blut als Lorimanders stammen konnte. Und wenn auch nicht zu beweisen war, daß Ember Alexanders Krone gestohlen hatte - es gab Zeugen für den Mord, der in jener Nacht geschehen war. Jeder wußte es, jeder hatte es gesehen - und Harven wagte es, ihnen ins Gesicht zu lachen und die pure Existenz dieser beiden Besucher abzustreiten?
Aber dann mußte Alexander an Halan denken, an Halan, der ihm ins Gesicht lachen konnte und sagen, in der Nacht sei überhaupt nichts zwischen ihnen passiert, alles nur Einbildung, guten Morgen. Weder Harven noch Halan waren dumm, noch konnten sie Alexander dafür halten, aber… Harven würde sie so lange belügen, bis sie den einzigen Zeugen anbrachten, den er akzeptieren würde: Ihn selbst. Man konnte Selmars Leichnam anschleppen mit dem bis zur Unkenntlichkeit zerschmetterten Schädel, man konnte den Prinzen Lorimander in die Halle schleifen, seine Hände und sein Schwert besudelt vom Blut eines anderen, und doch würde Harven damit fortfahren, alles lächelnd abzustreiten, und er war das Recht, zumindest in diesem Land, in diesen Mauern, und er würde weiterlächeln bis in alle Ewigkeit, bis man ihn zwang, die Wahrheit mit eigenen Augen zu sehen.
Niemand lachte. Nicht einmal Halan machte Alexander jetzt diese Freude, obwohl sein Lachen sie jetzt alle hätte retten können. Das Schweigen waberte durch den Raum; es hätte auch in Anwesenheit einer Totenmagd nicht drückender sein können.
Niemand lachte. Alexander wußte, daß er nicht derjenige sein würde, der damit anfing. Es war Ansgar, der die Stille brach, aber wenn auch erbitterter Hohn aus seinen Worten sprach, war ein erlösendes Lachen danach ferner denn je. Der Kriegsbotschafter blickte nicht Harven an und nicht den König, aber Halan und Alexander.
»Nehmt zur Kenntnis, daß soeben Loringaril Doubladir den Krieg erklärt hat, nicht umgekehrt.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, machte er auf der Ferse kehrt und marschierte zur Tür.
Halan lief hinter ihm her, und so tat es Alexander, obwohl er wußte, daß er es nicht aus Interesse tat oder dem Wunsch, einen Krieg zu verhindern, sondern weil er es nicht ertragen hätte, von Halan getrennt zu sein, und sei es durch eine Tür.
Das Schauspiel, daß sich ihm auf dem Gang bot, war beängstigend. In beiden Richtungen standen Männer mit Schwertern, ruhig wartend, aber wartend auf nicht mehr als einen Wink, auf ein Nicken. Ihre Rüstungen waren schwarz wie Ansgars, ihre Gesichter nicht weniger grimmig. Zielstrebig ging der Kriegsbotschafter auf einen zu, der nahe bei der Tür zum Thronsaal stand und der ein Hauptmann zu sein schien.
»Wartet!« rief Halan.
Ansgar blieb stehen und drehte sich unwirsch um.
»Überstürzt es nicht!«
»Was wollt Ihr von mir?« grollte Ansgar, und er nickte seinem Hauptmann zu. Es war die Geste, auf die alle gewartet hatten.
»Ich weiß, daß er Euch brüskiert und angelogen hat«, sagte Halan schnell. »Einer der Verwandten des Königs hat Euren Botschafter erschlagen, auch daran gibt es keinen Zweifel. Aber müßt Ihr deswegen gleich einen Krieg anfangen?«
»Mit Verlaub, Ihr versteht mich nicht«, erwiderte Ansgar. »Diese unverschämte Beleidigung war die Kriegserklärung. Es ist nun an uns, darauf zu reagieren.«
Alexander fragte sich, was Koris wohl an seiner Stelle getan hätte. »Und da Ihr jetzt schon mit Euren Männern im Schloß seid, habt Ihr nicht viel mehr zu tun, als alle Bewohner zu töten und die Fahne von Doubladir zu hissen«, sagte er leise.
Ansgar starrte ihn an, plötzlich entgeistert. »Wir befinden uns im Krieg«, sagte er kalt. »Wir sind keine Mörder. Auch in einem Krieg herrschen Gesetze. Die Regeln verlangen, daß ich zu meinem König zurückkehre und ihm von Lorimanders Antwort berichte. Dann erst werden wir mit unserem Heer gegen Loringaril marschieren.«
Jetzt konnte Alexander ein Lachen nicht mehr unterdrücken; es platzte einfach aus ihm heraus. »Das ist absurd!« rief er. »Ihr könnt jetzt gewinnen, ohne viele Männer zu verlieren und ohne viele töten zu müssen. Aber wenn Ihr es jetzt erst noch künstlich herauszögert -«
Halan trat hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er sagte nichts, aber Alexander verstummte. Er fühlte Wut in sich, ohne zu wissen, wessen es war, als Ansgar auf ihn hinunterblickte wie auf einen kleinen Jungen.
»In einem Krieg geht es nicht darum, Leben zu schonen, Alexander, und wenn Ihr Euch dafür entscheiden solltet, um Eure Krone zu kämpfen, werdet Ihr das schnell lernen müssen. Im Krieg, wie in der Rache, geht es um Würde und Ehre. Iriander mit seinem Dolch mag sich anschleichen wie ein Mörder und einen Gegner beim Überbringen der Kriegserklärung niederstrecken, um im gleichen Moment wieder den Frieden auszurufen. Aber Vigilanders Zeichen ist das Schwert, Zeichen der gerechten Rache, und der Ehre.«
Alexander biß die Zähne zusammen. »Ich danke Euch für diese Belehrung, Kriegsbotschafter«, stieß er hervor. Er wußte es besser, als Ansgar zu ohrfeigen, aber ihm war danach. »Und welchen Ratschlag habt Ihr nun für mich, nachdem Ihr meine Audienz mit Lorimander auf so treffliche Weise gestört habt, o Mann der Ehre?«
Ansgar gab vor, die Spitze zu überhören. Statt dessen verzog sich sein bärtiges Gesicht zu einem Lächeln, daß vielleicht väterlich wirken sollte. »An Eurer Stelle würde ich dieses Land verlassen, so schnell es geht. Noch ist dies ein Krieg zwischen Doubladir und Loringaril, aber wenn Ihr zwischen die Fronten geraten solltet, können wir keine Rücksicht auf Euch nehmen. Ihr seid noch jung, und erst mit den Jahren lernt man, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Darum empfehle ich Euch, auf meinen Rat zu hören. Kehrt in eurer Land zurück, versammelt Eure Armee und kämpft an unserer Seite gegen Lorimander. Er hat Eure Krone gestohlen, das Recht der Rache liegt auf Eurer Seite wie auf unserer.«
Alexander ließ den Mann ausreden, aber er war es leid. Er wußte, daß er erst sechzehn war und noch nicht in dem Alter, in dem man normalerweise die Verantwortung für ein ganzes Land, ein ganzes Volk trug, aber er trug diese Verantwortung, und es war seine, nicht die eines bärtigen Ausländers. Er wußte, daß ein Krieg ein gutes Mittel war, sein Volk zu vereinen, daß man es auf diese Weise vielleicht ablenken konnte von der Tatsache, daß Alexander vielleicht sein rechtmäßiger König war, doch ungekrönt - daß er sich beliebt machen konnte als Anführer gegen einen gemeinsamen Feind. Aber Alexander wollte keinen Krieg. Koris hatte in den fünfzehn Jahren seiner Regierung keine Kriege geführt, und Koris war ein König, den jeder liebte - jeder, einmal abgesehen von Halan. Alexander wollte nicht wissen, warum, aus Angst, Antworten zu bekommen, aus Angst, das Bild seines geliebten Bruders könne fleckig werden. Er merkte, daß seine Gedanken abschweiften in eine Richtung, in der er sie nicht haben wollte, und er fing sich wieder.
»Keinen Krieg, Ansgar«, sagte er. »Nicht für mich. Wir glauben nur, daß Lorimanders Schergen meine Krone gestohlen haben, wir sind uns sogar recht sicher - doch beweisen können wir nichts. Und wenn ich einen Krieg anfange gegen jemanden, der möglicherweise unschuldig ist, macht mich das zum Mörder. Also erzählt mir nichts von Ehre, weiser Mann. Ich habe vor, meine zu behalten.« Er blickte Ansgar trotzig an, und er zwang ihn, seinen Blick zuerst zu senken. Dann erst traute Alexander, den Kopf zu wenden, sich unter Halans Hand zu drehen, ohne sie zu verlieren, um ihn endlich wieder zu sehen.
Seine nächsten Worte sprach er auf Elomond, und er war niemals glücklicher gewesen, daß kein Außenstehender, kein Menschgeborener diese Sprache verstehen konnte. »Meintest du das gerade ehrlich? Ich meine - was du vorhin gesagt hast?«
»Hat es sich ehrlich angefühlt?« fragte Halan zurück.
Alexander nickte. »Danke«, sagte er nur. Er hatte lange auf diesen Moment gewartet und doch keine Erwiderung parat. Schließlich entschied er sich für: »Ich auch.«
»Und was werden wir jetzt tun?« fragte Halan.
Alexander wollte die Schultern zucken, aber auch wenn die Sprache privat war, solche Gesten waren es nicht, und Ansgar war der Letzte, vor dem er sich Blöße geben würde. So zwang er sich, eine Entscheidung zu treffen. »Ich bin hierher gekommen, um eine Audienz zu haben. Und das werde ich jetzt auch.«
Halan wollte schon auf die Tür zum Thronsaal zusteuern, aber Alexander hielt ihn zurück. »Warte!« Wie konnte er ihm, den er doch ständig in seiner Nähe brauchte, beibringen, daß er es diesmal allein versuchen mußte? »Ich werde nur kurz mir Harven sprechen. Beobachte du solange, was unser Freund Kriegsbotschafter mit seinen Männern anstellt. Ich will nicht, daß sie den Palast anstecken, solange ich drinnen bin.« Er hätte sich für diese Worte, diese Ausrede, diese Lüge schlagen können, aber er errötete nicht, noch versank er im Boden. Halan nickte, was die Sache fast noch unerträglicher machte.
»Wünsch mir Glück«, sagte Alexander und hätte ihn gerne geküßt, und ließ es sein, selbstverständlich, leider. Dann ging er - allein - zu der großen, zweiflügligen Thronsaaltür.
Er klopfte an, ehe er eintrat.

Lorimanders Thronsaal schien größer geworden zu sein in den verstrichenen Minuten, und leerer, und kälter. Der Thron stand weiter, viel weiter vom Eingang entfernt. Alexander wußte nicht, wann er sich zuletzt so klein gefühlt hatte - bei seiner Krönung? Er wollte lieber nicht daran erinnert werden - aber diesmal versuchte er nicht, Stärke zu spielen, wo keine war.
»Entschuldigung«, sagte er leise, und seine Stimme schien ein Echo zu haben, das sie immer lauter klingen ließ.
Die drei Berater blickten aus ihrer Unterhaltung auf. Der Thron war verlassen, aber das erleichterte Alexander mehr, als daß es ihn ärgerte. Diesmal kam er nicht zum König.
»Ja?« fragte Harven, und seine Stimme kam von noch viel ferner.
»Könnte ich Euch noch einmal sprechen?« fragte Alexander leise.
Ein kalter Blick erwiderte den seinen. »Der König hat sich bereits zurückgezogen.«
»Das sehe ich«, entgegnete Alexander. »Aber ich möchte mit Euch sprechen.« Er machte eine Pause, und da Harven nichts sagte, mußte Alexander selbst den Faden wieder aufnehmen. »Ich fürchte, ich muß mich für mein Verhalten entschuldigen.«
In diesem Moment war er glücklich, daß er es fertig gebracht hatte, den Saal allein zu betreten. Es wäre schlimmer gewesen, wenn Halan diese Demütigung hätte erleben müssen, Alexander so sehen.
»So?« sagte Harven. Alexander wünschte sich, der Mann würde es ihm nicht so verdammt schwer machen, und etwas in ihm wollte aufbäumen, wollte trotzen. Ihm war kalt.
»Ich habe Euch von oben herab behandelt, ebenso wie Ihr mich. Da wir also beide auf hoher Stufe stehen, sollten wir das akzeptieren und einen zweiten Anfang starten, einen, bei dem wir uns wie gleichrangig behandeln und nicht die ganze Zeit das Schlimmste von einander erwarten. Ich will Euch nichts Böses, Harven.« Alexander nutzte seinen letzten Rest Selbstachtung, um nicht zu zittern.
»Wozu dieser plötzliche Stimmungswandel?« fragte Harven, und was einen Moment lang wie ein echtes Lächeln ausgesehen hatte, erschien bei genauer Betrachtung nicht mehr zu sein als ein Zucken der Mundwinkel.
Alexander atmete tief durch. »Ansgar möchte, daß ich mich seinem Krieg anschließe«, sagte er. »Ich hätte Lorimander gerade den Krieg erklären können, aber ich will es nicht. Was mich in Euer Land getrieben hat, ist ein Verdacht, der sich auf bloße Vermutung stützt und sich nicht beweisen läßt. Ich will nicht aufgrund einer Mutmaßung Tausende von Männern in den Tod schicken.«
»Das ist löblich«, erwiderte Harven und zwang Alexander somit, weiterzureden.
»Aber wenn Ihr meine Krone nicht habt, irgend jemand hat sie, und ich will, und das werdet Ihr verstehen, sie wiederhaben. Alles, was ich von Euch wünsche, ist ein Rat, nichts weiter. Ich weiß, daß ich keinen Krieg will, aber nicht, was ich tun soll.«
Alexander haßte sich dafür. Er fühlte sich klein und schäbig und elend und wußte, daß Harven ihn jetzt noch viel mehr verachten mußte als vorher. Nur, im Unterschied zu vorher, verachtete sich jetzt auch Alexander selbst.
Die Berater schwiegen. Warum sagte keiner - wenn nicht Harven, dann einer der anderen - daß sie Alexander bewunderten, seinen Mut, sich vor ihnen bloßzustellen? Als Alexander die Halle betrat, glaubte er noch, vor der mutigsten Handlung seines Lebens zu stehen. Jetzt wußte er es besser. Was immer es sich versprochen haben mochte - alles, was er erreicht hatte, war Demütigung.
Dann, endlich, räusperte sich Harven. »Ja, ich denke, ich verstehe, was Ihr meint, Alexander«, sagte er ruhig. »Und ich akzeptiere Eure Entschuldigung. Loringaril wird keinen Krieg gegen Koristan beginnen, natürlich nur, wenn Ihr nicht damit fortfahrt, diese wüsten Beschuldigungen gegen unser geliebtes Herrscherhaus auszustoßen, die, wie Ihr ja gerade selbst sagtet, völlig unbegründet sind.«
Alexander hätte schreien mögen. »Das meine ich nicht!« Aber er schrie nicht, grub nur die Finger tief in die Handflächen und biß sich auf die Lippe, während er versuchte, wieder ein wenig Würde in seine Haltung zu bringen. Gleichrangig, hatte er eben noch gesagt. Das hieß: Ebenbürtig. Er blickte geradeaus. »Ich sagte nicht unbegründet«, entgegnete er so fest wie möglich. »Achtet auf meine Worte, Harven. Ich sagte: Nicht zu beweisen. Das ist etwas vollkommen anderes. Es reicht nur nicht für einen Krieg aus. Wenn wir nun also aufhören könnten, uns gegenseitig zu bedrohen?«
Mit jeder Sekunde wartete er, daß Harven endlich lachen würde, wenigstens lächeln, und ihm sagen, daß er den Test bestanden hatte. Auf dem schmalen Grat zwischen Selbstaufgabe und Selbstbehauptung wurde Alexander schwindelig, und er wußte, daß er dieses Spiel nicht mehr lange durchhalten würde, nicht allein, nicht ohne Koris. Er schluckte noch einmal. »Ich verhöhne Euch nicht länger, Harven. Also solltet auch Ihr damit aufhören, mich zu verhöhnen. Wenn Ihr nicht in der Lage seid, Euch meinen Fragen zu stellen, wenn Ihr außer Spott nichts zu bieten habt, muß ich daraus meine Schlüsse ziehen und zu dem Ergebnis kommen, daß Loringaril doch nicht vom weisesten Kopf des Landes regiert wird.« Ihm war immer noch kalt, doch zugleich fühlte er sich seltsam klebrig, verschwitzt, obwohl es unter der Würde eines Engelsgeborenen lag zu schwitzen und er es daher für gewöhnlich niemals tat. Immer noch keine Reaktion, kein Lachen, keine Antwort. »Ich unterschätze Euch nicht, Harven. Aber wenn Ihr mich unterschätzt, begeht Ihr einen Irrtum, der Euch vielleicht eines Tages teuer zu stehen kommen könnte.«
Jetzt lächelte Harven, doch es war ein Lächeln, das Alexander schon kannte, und keines, daß er zu sehen erhofft hatte. »Oh, ich glaube nicht, daß ich Euch unterschätze, Alexander.« Seinem Tonfall nach war es überhaupt nicht möglich, Alexander zu unterschätzen.
Zorn bäumte sich in Alexander auf, doch er zwang ihn nieder. »Glaubt mir, wenn ich die Wahl gehabt hätte, bis zum Tod meines Bruders noch einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zu warten, dann hätte ich sie genutzt. Ich weiß, daß Ihr mehr Erfahrung habt, wenn es darum geht, über ein Land zu herrschen. Aber Ihr könnt mir nicht meinen Willen nehmen zu lernen, und ich werde nicht dadurch zum Mann, daß Ihr mich wie ein Kleinkind behandelt. Ich will lernen, aber nicht so, und nicht, indem ich den halbgaren Verführungskünsten Eurer Tochter erliege.« Alexander schloß entsetzt den Mund. Das war das letzte, worauf er den Berater hatte ansprechen wollen. Doch jetzt war es zu spät.
Es war nicht Harven, der darauf reagierte - es waren seine zwei Begleiter, die niederen Berater. Beide, als ob sie es abgesprochen hätten, traten einen Schritt von Harven zurück und starrten nun nicht mehr Alexander an, sondern den Ersten Berater. Sie waren gut im Flüstern, sehr gut sogar, aber nicht gut genug für Alexanders Ohren. »Eure Tochter, Harven?« Wer von beiden es sagte, war nicht klar. Vielleicht waren es beide, gleichzeitig.
Harven antwortete nicht. Auch seine Miene blieb starr. Aber seine Haltung veränderte sich, nur ganz leicht, aber genug, um viel zu verraten. Harven war ein intelligenter Mann. Er wußte, wann er zu weit gegangen war, und er wußte es jetzt.
Doch er gab nicht auf. In diesem Moment begriff Alexander, daß er Harven nicht besiegen konnte, nicht überrumpeln, nicht in die Enge drängen. »Ihr habt einen beängstigenden Hang dazu, Worte, Gesten und Personen mißzuverstehen«, waren Harvens Worte. »Und wenn Ihr einen Rat von mir wünscht, so rate ich Euch für die Zukunft, Eure Wollust ein wenig zu zügeln.«
Es war zuviel. Alexander hatte Grenzen, wieviel er aushalten konnte, und seine waren überschritten, sogar weit, und er wollte schon aus dem Saal rennen. Sollten sie doch von ihm denken, was sie mochten! Schlimmer konnte es ohnehin nicht werden. Doch da hörte er, wie einer der Berater, und diesmal war es ganz eindeutig, welcher es war, nämlich der dünne, seine Frage wiederholte: »Eure eigene Tochter?«
Es war laut genug gesprochen, daß auch ein normaler Sterblicher diese Worte verstehen konnte, und daß der Mann nicht einmal mehr versuchte, Alexander zu täuschen, bedeutete, daß sich das Blatt gewendet hatte. Die drei Berater waren keine Einheit mehr, nicht mehr ein Harven und zwei Stumme, sondern drei kluge und machthungrige Männer, von denen einer soeben einen Fehler gemacht hatte und die beiden anderen es wußten.
Alexander blieb. Er ging nicht auf das, was Harven gesagt hatte, ein, aber er wartete. Etwas würde passieren, gleich, ohne daß er noch irgend etwas dafür tun mußte. Aber er hatte auch beileibe genug getan. Gleich würden die Berater übereinander herfallen, und um Harven in schlechtes Licht zu rücken, würden die beiden Alexander von Ember berichten, vielleicht sogar von der Krone -
»Alexander«, sagte der fülligere der beiden. Er hatte eine angenehme, warme Stimme, aber sicher mußte man ein guter Redner sein, um als Berater so weit zu kommen wie er. »Wenn Ihr statt dessen einen Ratschlag von mir annehmen wollt -«
Alexander nickte schnell und blickte den Mann erwartungsfreudig an, begierig, jedes Wort aufzusaugen, und zugleich ängstlich, daß wieder nur neuer Hohn folgen würde. Konnte er von den Loringarim etwas anderes erwarten?
»Ihr solltet Gerechtigkeit suchen«, sagte der Mann. Dem Tonfall nach konnte es durchaus ernst gemeint sein, und so erwiderte Alexander den Satz mit einem Lächeln, doch er wußte nicht, was er davon halten sollte.
»Aber das tue ich doch!« sagte er und konnte die Verzweiflung nicht aus seiner Stimme vertreiben. »Darum bin ich doch hergekommen.«
Der dicke Mann schüttelte den Kopf. »Dann sucht Ihr Gerechtigkeit an einem seltsamen Ort. Hier werdet Ihr sie nicht finden.«
»Das sehe ich«, antwortete Alexander bitter.
Wieder schüttelte der Mann den Kopf, und diesmal hatte die Geste etwas Unwirsches an sich. Aber nun war er es, der im Mittelpunkt stand, während Harven mit dem Hintergrund zu verschmelzen begann, die schmalen Lippen zusammengebissen und vom Blick des dritten wachsam festgehalten. Die Augen des dünnen Beraters hatten das Interesse an Alexander verloren, formten nur weiterhin ungesprochen die Worte ‘Eure eigene Tochter?’ Der Mann erschien zwar alt genug, um längst eine Frau zu haben, aber auch wieder nicht zu alt, um Kala den Hof zu machen. Alexander spürte, daß Harvens Tage als erster Berater gezählt waren, aber er fragte sich, wer von den beiden anderen ihm nachfolgen würde. Ein Blutvergießen am Hof schien unausweichlich, auch ohne Vigilanders Zutun. »Ihr seid am falschen Ort, Alexander. Wir wissen nicht, wo Eure Krone ist und können Euch auch nicht weiterhelfen, nur aufhalten.« Langsam wurde seine Stimme lauter und klang auch weniger sanft und angenehm. Die Zeit, als die Aufgabe dieses Mannes in schmeichlerischem Flüstern bestand, war vorbei, und das schien er zu begreifen, während er sprach. »Wenn Ihr beweisen wollt, daß Ihr der rechtmäßige König Eures Landes seid, dann tut das, was alle anderen tun. Lest es im Buch der Gerechtigkeit nach.«
Langsam nickte Alexander, nicht weil die Worte ihm einleuchteten, sondern weil er begriff, daß man ihn los sein wollte. Hier galt es, den mächtigsten Mann des Landes zu entthronen. Ein flennender Engelsgeborener störte dabei nur, und war er eben noch ein amüsanter Zeitvertreib gewesen, so stand er nun im Weg. Und im Bestreben, ihn loszuwerden, hatte ihm der Mann gerade den ehrlichsten und bestgemeinten Ratschlag gegeben, den Alexander von irgend jemandem in diesem Land erwarten konnte.
»Danke«, sagte er. »Ihr habt mir sehr geholfen. Ich wünsche Euch noch einen angenehmen Nachmittag, Harven, und Euch ebenfalls.« Er nickte ihnen zu, bevor er sich zum Gehen wandte. Kurz überlegte er, sich zu verneigen, aber er ging als König, nicht als Bittsteller, und so ging er, ließ die Berater ihren Intrigen und ein Land dem Krieg. Es hatte ihm nichts gebracht, hierher gekommen zu sein, hatte ihm weder Krone noch Thron zurückgegeben, aber als er durch den Säulengang auf die Tür zuschritt, waren seine Füße leicht und sein Herz fast glücklich, denn hier hatte er Halan gewonnen, und das war, zumindest in diesem Moment wichtiger als alles andere.

Wortlos nahm Alexander Halan beim Arm - hätte gern seine Hand ergriffen, doch er wagte es nicht vor all den Augen - und führte ihn zurück zu ihrer Zimmerflucht, die Halan allein sicher niemals wiedergefunden hätte. Er fühlte, wie sich seine Lippen unwillkürlich kräuselten angesichts Halans Unfähigkeit, sich auch nur zuhause zurechtzufinden. Es waren diese ganzen kleinen Schwächen, für die er seinen Neffen nun lieben konnte, für die er ihn eigentlich immer schon geliebt hatte, für all die Momente, in denen Halan so sehr Halan war, daß es fast weh tat, und für die, in denen er Koris so sehr ähnelte, daß es schmerzte. In diesem Moment liebte Alexander ihn mit jeder Faser seines Körpers, begriff nicht mehr, wie er es im Thronsaal ohne ihn ausgehalten hatte.
Auch Halan sagte nichts, solange sie durch die Gänge eilten, doch kaum hatten sie die Tür zu ihrem Vorzimmer geschlossen, als auch schon die Worte aus ihm herausbrachen: »Schnell, pack deine Sachen zusammen! Wir müssen dieses Land verlassen, bevor der Krieg ausbricht. Ich werde gleich jemanden zu den Stallungen schicken, um die Pferde satteln zu lassen…«
Alexander hörte nicht zu, lauschte dem Klang von Halans Stimme, nicht ihrem Inhalt, während er sich auf seine Bettkante setzte, seine Sandalen abstreifte, die Beine anzog und dann damit fortfuhr, Halan durch die offene Tür zu beobachten, und sich fragte, wie lange es wohl dauern mochte, bis Halan mit seinem hektischen Lamentieren aufhörte, bis er merkte, daß Alexander noch weit davon entfernt war, aufzubrechen.
Endlich stand Halan im Türrahmen, trat einen Schritt weit ins Zimmer hinein, blieb stehen. »Was ist? Willst du nicht packen?«
Alexander schüttelte den Kopf, dann kroch er vorsichtig aus dem schweren Oberkleid, unter dem er sich so warm fühlte, daß er meinte, eine Wolke von Dampf müsse entweichen, als er es auszog. Seine Unterkleider klebten an seinem Körper, und plötzlich fiel ihm ein, daß er keine frischen mehr hatte, kein Stück in seinem Gepäck ungetragen war.
»Wir dürfen nichts überstürzen«, sagte er so ruhig, wie er in diesem Moment konnte. »Wenn wir jetzt wieder fliehen wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel, ist uns nicht geholfen. Du bist ein Denker, Halan. Setz dich zu mir, und hilf mir denken.« Er rutschte in die Mitte des Bettes, machte die Kante frei für Halan. Doch der blieb stehen, wo er war.
»Was ist denn?« fragte er. »Hast du etwas - hat sich etwas Neues ergeben, als du mit ihnen gesprochen hast?« Verletzung sprach aus Halans Worten, ein Gefühl von Zurückgewiesenheit, weil Alexander ihn auf dem Flur alleingelassen hatte. Aber er hätte ihn doch nicht mitnehmen können, nicht bei der Art, wie er sich dargeboten hatte! Alexander fühlte sich schuldig und war zugleich wütend auf die Art, wie Halan ihn diese Schuld jetzt spüren ließ.
»Ach, es war einiges«, antwortete Alexander vage. »Ich werde es dir schon noch erzählen. Warum willst du nicht näherkommen?« Er begann, die Knöpfe seine Unterhemdes zu lösen und stellte sich dabei noch kläglicher an als gewöhnlich - seine Handschuhe behinderten ihn, und er hätte sie ausziehen können, doch er ließ sie an, legte den Kopf schief und biß sich auf die Zunge, aber sein Neffe durchschaute die Farce als was sie war und half nicht.
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, erwiderte Halan tadelnd. »Du kannst mir erzählen, was passiert ist, während du dich anziehst, und dann pack deine Sachen zusammen. Sei nicht kindisch!«
Alexander biß die Lippen zusammen und kämpfte mit den Tränen. Gänsehaut überzog seinen Körper, der plötzlich kläglich kindlich aussah in seiner Nacktheit, seine blasse Brust, die ohne Muskeln nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, seine dürren Arme und Beine… Schnell zog er die Decke über sich.
»Warum quälst du mich so?« wollte er fragen, und schwieg.
»Liebst du mich nicht mehr?« wollte er fragen, und ließ es sein.
»Dann war das alles nur gespielt?« wollte er fragen, doch seine Zähne wollten die Unterlippe nicht loslassen.
Er wußte, daß Halan ihn liebte, daß er in diesem Moment nichts lieber getan hätte, als zu Alexander ins Bett zu kriechen, aber er war nun einmal Halan; er dachte und fühlte anders als andere, anders als Alexander. Am liebsten hätte Alexander einfach gesagt: »Ich würde gerne mit dir schlafen«, doch so konnte man Halan nur vergraulen. Aber wenn man ihm Zeit ließ… Früher oder später würde sich Halan zu seinen Gefühlen bekennen.
So erzählte Alexander nichts von Tolimanders Buch, denn damit wäre Halan in seinem Drang aufzubrechen unaufhaltsam gewesen, und nichts von den Intrigen gegen Harven, sondern sagte nur: »Du kannst machen, was du willst, Halan, von mir aus auch deine Sachen packen. Aber ich glaube nicht, daß du ohne mich gehen würdest, und ich lege mich jetzt hin.«
»Sei nicht kindisch, Anders«, wiederholte Halan.
Alexanders Gesicht brannte, als er versuchte, ein Lächeln hineinzubekommen. »Oh, ich bin nicht kindisch«, sagte er und wollte neckisch klingen, hörte sich in seinen Ohren aber nur um so kläglicher an. »Aber wir haben noch so eine weite Reise vor uns, und ich dachte, erholt und ausgeruht -« Er brach ab.
»Dann schlaf gut«, sagte Halan leise und ging, zog die Vorhänge zu und die Tür hinter sich, und ließ Alexander allein.
Reglos blieb Alexander auf seinem Bett liegen, obwohl er am liebsten hinter Halan hergerannt wäre. Erregung oder Wut ließen ihn erzittern, er wußte nicht, welches von beiden - zwei Gefühle, die so nah beieinander lagen, die so gut waren, wenn man ihnen nachgab und so schmerzhaft, wenn man versuchte, sie zurückzuhalten. Alexander wartete, bemühte sich um ruhigen Atem und wartete, hielt die Luft an, bis ihm schwindelig wurde, und wartete, wartete. Seine Hände juckten von dem unbeschreiblichen Drang, ihre Haut in Stücke zu reißen, und Schmerz wäre jetzt so gut gewesen, so süß, so tröstlich, und es würde auch Halan weh tun zu wissen, daß Alexander seine Wunden nur um seinetwillen aufriß -
Aber Alexander preßte die Handflächen nur flach auf das durchgeschwitzte Laken, zog sich nicht einmal die Handschuhe aus, nur um nachzusehen, sondern blieb ruhig und wartete, auch wenn es ihn umbringen würde.
Er versuchte zu zählen, um zu fühlen, wie die Zeit verging, versuchte auszurechnen, wie lange es noch dauerte, bis Halan zur Besinnung kam, versuchte, Halans Schritte, Halans Bewegungen im Nebenzimmer zu hören, stellte sich vor, wie Halan, selbst von Verlangen getrieben, ruhelos im Zimmer auf und ab lief, immer wieder die Türklinke in die Hand nahm und sie erfüllt von Selbstzweifeln wieder losließ…
Mehrmals war Alexander kurz davor, nach Halan zu rufen, Halan anzuflehen, endlich wieder hereinzukommen, doch er rief nicht. Vor Harven und den anderen Beratern hatte er sich gedemütigt, hatte sich schwach und verletzlich gezeigt. Er wollte seine Würde wiederhaben! Er wollte nicht bettelnd vor Halan im Staub liegen, er wollte ihm stolz und aufrecht entgegentreten.
Im Nebenraum war es ruhig geworden. Alexander stellte sich gerne vor, wie Halan voller Sehnsucht umherging, ziel- und tatenlos, aber die häßliche Wahrheit sah sicher so aus, daß Halan an dem kleinen Tisch am Fenster saß und las oder an seiner Chronik schrieb. Alexander wünschte sich, er könne einschlafen oder sonstwie zur Ruhe kommen, doch etwas tief in ihm zwang ihn wachzuliegen, nahezu reglos, und zu warten.
Endlich ertönte ein Quietschen von der Tür, senkte sich die Klinke, trat Halan ein. Sein Gesicht schimmerte, schien fast zu leuchten, und sein langes Haar war wirr und strähnig. Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen, eines, wie Alexander es noch nie zuvor gesehen hatte.
»Anders«, sagte er sanft, ein klein wenig ängstlich und doch irgendwie viel zu glücklich. »Es tut mir leid. Hast du wirklich die ganze Zeit auf mich gewartet?«
Alexander betrachtete ihn, ehe er antwortete, sog Halans Bild in sich auf, so gierig, daß eigentlich nichts von ihm hätte übrig bleiben dürfen. Halan war voll bekleidet, trug sogar noch seine Sandalen, aber die Enden des Bändchens, mit dem er immer den Halsausschnitt seines Oberkleides zuschnürte, hingen lose herunter. Alexander mußte lächeln. Aber seine Lippen verzogen sich weiter, als er wollte, und plötzlich fühlte er sich kalt, sehr kalt und ruhig, und sehr böse.
»Wenn du glaubst, ich mache mich für dich zum Narren, irrst du dich.« Er setzte sich auf, schob die Decken weg, griff nach seinen Kleidern und begann sich anzuziehen. »Pack deine Sachen und sorge dafür, daß die Pferde vorbereitet werden. Wir reisen zum Engel der Gerechtigkeit.«
Halans Gesichtsausdruck glitt weg, zog sich nach hinten zurück und machte wieder der alten nichtssagenden Maske Platz, leblos und starr. Alexander lächelte grimmig, um seine Schmerzen zu verbergen. Er hätte gerne mit Halan geschlafen, auch jetzt noch. Aber er hatte eine Grenze, bis wie weit er sich demütigen ließ. Es kam der Punkt, wo die Leidenschaft hinter den Stolz zurücktreten mußte.
Es tat gut, endlich einmal einen anderen demütigen zu können.

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