Abendrot tauchte die endlos den Hügel hinabführende
Straße, die kleinen weißen Häuser, in ein warmes,
weiches Licht, und es schien, als könne es auf der ganzen Welt
keine freundlichere Stadt geben. Mit jedem Stadttor, das Anders und
Halan durchquerten, wurde die Stadt jünger, aber war auf dem
Hinweg das Schloß allzeit vor ihren Augen gewesen, so
fühlten sie es nun im Rücken, und das gab ihnen ein sehr
beklemmendes Gefühl, nahm Lomar viel von seiner
Freundlichkeit.
Für ihre Abreise hätten sie keinen schlechteren
Zeitpunkt wählen können. Halan bedauerte jetzt schon,
daß er zum Aufbruch gedrängt hatte, statt Alexander
nachzugeben - denn jetzt bedeutete es, daß es Abend wurde und
sie schon bald hinter der Stadt ein Gasthaus würden aufsuchen
müssen, daß nichts, aber wirklich nichts gewonnen war,
und daß Anders schmollte, seit Stunden schmollte, und nicht
den Eindruck machte, als wolle er jemals wieder damit
aufhören. Warum mußte er nur so ein Kind sein?
In den Straßen, vor allem auf der Hauptstraße,
herrschte rege Lebsamkeit, die ihre Pferde zu einem langsamen
Schrittempo zwang, wollten sie keine Menschen niederreiten. Anders
sah aus, als stünde er kurz davor, und in seinen Augen lag
eine große Verachtung für alles, das sich um ihn herum
bewegte, einschließlich Halan. Er trug diesen Blick mit so
viel Nachdruck, daß Halan gar nicht erst versuchte, sich zu
entschuldigen.
Alles was er konnte war, sich Anders’ Schweigen
anzuschließen und seine Gefühle zu verbergen. Anders
wollte fühlen, wie sehr er Halan verletzt hatte, wie sehr
Halan unter der Zurückweisung seiner Liebe litt, doch diesen
Gefallen konnte und wollte Halan ihm nicht tun, jetzt nicht und
vielleicht niemals wieder. Er hatte Anders geliebt, einen Tag lang
und eine Nacht, und ein wenig darüber hinaus, und ebenso
unbegreiflich, wie die Liebe gekommen war, verschwand sie wieder,
und je länger Halan über das Geschehene nachdachte, desto
weniger verstand er es. Diese Liebe paßte nicht zu ihm, und
zu Anders fast noch weniger, aber ihn konnte Halan zumindest
verstehen. Aber ein Halan, der besinnungslos war und blind vor
Liebe und Verlangen… das paßte nicht, das war nicht er
selbst. Für den Moment mochte es schön sein, aber nun war
es wichtiger, besonnen zu bleiben und einen kühlen Kopf zu
bewahren, vor allem jetzt, da Anders sich wie ein Kleinkind
gebärdete.
Die Straße staubte unter den Hufen der Pferde, so schmutzig
war es hier. Die Stadt wurde immer neuer und zugleich ärmer.
Dieses Gebiet konnte man nicht mehr sehen von den Fenstern des
Schlosses aus, und wenn die Engelsgeborenen die Stadt durchquerten,
dann in Sänften. So konnte es egal sein, in welchem Zustand
die Häuser waren, hastig errichtete Lehmbauten, eilig
getüncht, zumindest an den Vorderseiten, und auch da nur
scheckig, und auch nur direkt an der Hauptstraße - die
Seitenstraßen waren so trostlos, daß es Halan
genügte, in eine von ihnen hineingeblickt zu haben. Aber es
tröstete ihn, daß dieses Land zumindest nicht
fähiger beherrscht wurde als Koristan. Hier ging es den
Menschen nicht besser, auch wenn sie in der Arena unterhalten
wurden… Halan wunderte sich über sich selbst, über
den Anteil, den er plötzlich an der Welt nahm, an einer Welt,
die niemals in einer Chronik Erwähnung finden würde, an
ihren Menschen. Sie taten ihm leid, und Mitleid gehörte nicht
zu dem, was ein Engelsgeborener empfinden sollte. Er sehnte sich
fort aus dieser Stadt, zurück in die zeitlose Geborgenheit
einer Bibliothek, in der es keine Liebe gab, kein Mitleid und keine
Gefühle - in der man die Welt begreifen konnte, ohne sie
verstehen zu müssen.
Ein Bettler stolperte vor ihnen auf die Straße, es mochte
auch eine Frau sein, aber man konnte es nicht genau erkennen,
mehrere Schichten schmutzstarrender Lumpen bedeckten den
Körper, und das eingefallene, verwachsene Gesicht konnte zu
allem gehören, nicht einmal zwangsweise zu einem Menschen.
Halan hielt die Gestalt erst für einen Greis, doch die
verfilzten Haarsträhnen waren tiefschwarz.
Farrell begann zu tänzeln, als der Bettler direkt vor seinen
Hufen zu Boden stürzte, doch Anders ließ ihn ruhig zur
Seite ausweichen und beschrieb einen kleinen Bogen um das
Hindernis, dessen Menschlichkeit ihm offensichtlich
gleichgültig war.
»Erbarmen«, krächzte die Gestalt - die Stimme
erinnerte an die einer Frau. »Erbarmen, edle Herren!«
Sie rollte sich zur Seite und geriet wieder zwischen Farrells
Beine, doch diesmal schien Absicht dahinter zu stecken.
Halan ritt sein Pferd, einen namenlosen Wallach, so dicht wie
möglich an den Straßenrand und hoffte, daß kein
Unfall geschehen würde. Farrell war ein unruhiges Tier, aber
es war gefährlicher, wenn Anders die Nerven verlor.
Anders ließ Farrell anhalten und blickte nach unten.
»Verschwinde!« herrschte er den Bettler an. »Aus
meinem Weg!« Dann ließ er den Hengst zur Seite
parieren, bis er wieder neben dem Bettler stand, der sich
aufzurappeln versuchte, um wieder zwischen die Hufe zu kommen. Der
Mann - so es einer war - mußte Mut haben.
»Almosen, ihr Herren!« winselte er. »Habt
Erbarmen! Meine Kinder hungern!«
»Bleib ruhig, Anders!« rief Halan. »Ich werde
ihm etwas -«
Einen größeren Fehler hätte er nicht begehen
können. »Nein!« schrie Anders, treib Farrell seine
Fersen in die Seiten und trabte an, wäre über den Bettler
hinweggeritten, hätte dieser sich nicht mit einem unerwartet
gelenkigen Sprung zur Seite in Sicherheit gebracht. Halan wollte
niemanden verletzen, aber es war wichtiger, so dicht wie
möglich hinter Anders zu bleiben. Zum Glück fiel Farrell
nicht in Galopp, und so erreichten sie die Stadtgrenze zwar nicht
ohne Aufsehen, aber zumindest, ohne daß noch mehr Menschen zu
Schaden gekommen wären. Jetzt endlich schien Anders sich
wieder beruhigt zu haben. Aber dafür wußte Halan nicht,
wohin mit seiner Wut.
»Anders«, sagte er leise. Am liebsten hätte er
geschrieen, wie Anders es immer tat, aber er konnte es nicht. Diese
gräßliche Ruhe ließ sich nicht abschütteln,
und Halan saß dahinter wie hinter Mauern. »Warum hast
du das getan?«
Anders zuckte die Schultern. »Er hat mich
belästigt.«
»Aber du hast ihn beinahe niedergeritten!«
»Er hätte mich eben nicht belästigen
dürfen.« Normalerweise wurde Anders nach einem Ausbruch
schnell wieder umgänglich, aber jetzt lag immer noch zuviel
Gereiztheit in seiner Stimme.
»Er hat nur gebettelt! Wir waren immer schon mildtätig
an Bettlern!« Halans Stimme wurde nicht lauter, aber
schrill.
Anders schnaubte. »Das war nicht mein Bettler«,
erwiderte er. »Das fehlte noch, daß wir Lorimanders
Bettler durchfüttern! Soll er sich doch um sie kümmern!
Ich wette, er hat den mit voller Absicht auf mich
gehetzt!«
»Alexander!« sagte Halan noch einmal und kam sich
plötzlich vor wie Aralee.
»Laß mich in Ruhe, verstanden?« fauchte Anders,
und Halan ließ ihn in Ruhe, schluckte seine Wut hinunter,
auch wenn er das Gefühl hatte, daran ersticken zu
müssen.
Erst, als sie mit Einbruch der Dämmerung in einem Gasthaus
abstiegen, begriff Halan, wie gut es war, daß sie dem Bettler
nichts gegeben hatten. Die Zeit der Mildtätigkeit war für
sie bis auf weiteres vorbei. Sie konnten es sich nicht mehr
leisten. Aralee hatte ihnen Geld mitgegeben, aber es würde
nicht mehr lange ausreichen, wenn sie weiterhin allabendlich auf
das besten Zimmer bestanden. Wie weit war die Reise bis Tayellin?
Wie viele Nächte konnten sie es sich noch gut gehen lassen,
bis für sie die Zeit zum Betteln gekommen war?
Halan belästigte Anders nicht mit diesen Sorgen. Der Junge
hatte ohnehin nie gelernt, mit Geld umzugehen, ging wahrscheinlich
davon aus, daß die Wirte, geehrt durch den hohen Besuch, nie
auf die Idee kommen würden, Geld von ihnen zu
verlangen…
Also schwieg Halan gegenüber Anders. Und dem Wirt machte er
unmißverständlich klar, daß auch wirklich nur das
allerbeste Zimmer in Frage kam.
Die Elomaran waren Brüder, und glaubte man den alten
Aufzeichnungen, so lebten die Engel dort oben friedlich
miteinander. Nur ihre sterblichen Kinder taten sich damit so
schwer…
Es lag nahe, daß wenig Freundschaft zwischen Loringaril und
Koristan lag - der Engel der Weisheit und der Engel der Stärke
waren einfach zu unterschiedlich. Aber damit konnte man nicht
erklären, weswegen sich die Nachfahren Korisanders und
Tolimanders nicht ausstehen konnten.
Halan hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, während sie
nordwärts ritten. Es war ein weiter Weg bis Tayellin, quer
durch Loringaril, und Anders war so biestig, wie er nur konnte.
Ohne jemals einen Grund dafür zu nennen, ließ er keine
Gelegenheit aus, Halan seine Übellaunigkeit spüren zu
lassen. Warum sollten Korisanders Kinder mit dem Engel der
Gerechtigkeit befreundet sein, wenn sie sich schon untereinander
haßten?
Halan kannte die Chroniken. Er wußte, daß aus Tayellin
niemals irgendwelche Feindseligkeiten gekommen waren, weder damals,
noch heute. Tolimanders Kinder wußten, was gerecht war und
was nicht. Sie würden niemals etwas tun, was ihre
Neutralität gefährden konnte. Aber Korisander?
Halan betrachtete den reitenden Anders. Er fühlte nichts
mehr, wenn er ihn ansah, keinen Schmerz, keine Sehnsucht - er war
endlich wieder er selbst; er mußte nicht mehr lieben. Anders
schmollte nicht, weil er Anders war, sondern weil alle Erben
Korisanders gut darin waren. Halans Vater war nicht minder
halsstarrig und zeigte sich allzu schnell beleidigt, und auch sein
Vater, Halans Großvater, schmollte, wenn etwas nicht nach
seinem Willen ging. Halan wußte, daß er selbst nicht so
war, aber schließlich hatte sein Wille nie auch nur irgend
etwas gezählt.
Generationen schmollender Engelsgeborener unter der Krone der
Weisheit - sie hatten Tolimander niemals verwunden, daß er es
war, der seinem Sohn ein Buch hinterließ, das einzige Buch,
das Korisander niemals besitzen würde. Wie sehr hatte Halan
sich danach gesehnt, einmal dieses Buch zu sehen, in dem die
Gerechtigkeit geschrieben war, es zu berühren… so viele
Bücher hatte er schon für Korisanders Bibliothek kopiert,
sechzehn und das eine von Graf Merin, das unvollendete… Aber
gegen das Buch der Gerechtigkeit waren sie nur irgendwelche
Schriftstücke.
Halan konnte über seine schmollenden Vorfahren lächeln.
Er ahnte, daß auch Anders’ nicht enden wollende
Verdrossenheit daher rührte, daß er nun als Bittsteller
vor einen anderen Engelsgeborenen treten mußte, nicht
länger fordern konnte, sondern nur noch um seine
Königswürde betteln. Aber Halan konnte sie doch alle
verstehen. Es war schwer, der Weiseste der Welt zu sein, über
alles Wissen, allen Verstand zu verfügen, und dennoch zusehen
zu müssen, wie ein anderer das Ansehen genoß, die
einzigen wahren, endlos gerechten Urteile zu fällen. Der
Richter war das höchste aller menschlichen Ämter, und nur
wer es in Tayellin gelernt hatte, durfte auf diesen Titel hoffen.
All diese ausländischen Richter treffen zu müssen - das
schmerzte.
»Darf man dich etwas fragen?« fragte Anders.
»Was?« Erschrocken riß Halan den Kopf herum.
»Ich sehe, daß der hochwohlgeborene Chronist
grübelt«, schnitt Anders’ Stimme durch die Luft,
»aber ist es mir gestattet, dir eine Frage zu
stellen?«
»Was?« fragte Halan noch einmal. Er konnte mit Anders,
solange er so war, nichts anfangen.
»Wo sind wir?«
Halan seufzte. »Irgendwo zwischen Lomar und Tayellin, noch
einige Tagesritte von der Grenze entfernt.«
»Und woher weißt du das? Immer sagst du, hier jetzt
links oder weiter geradeaus, aber woher willst du das wissen? Es
gibt hier keine Wegweiser, zumindest habe ich noch keinen gesehen,
und du -«
»Ich habe die Landkarten gesehen«, erwiderte Halan. Er
wußte, daß jetzt Ärger auf ihn zukam, egal was er
antwortete, weil Anders das gerade so wollte. Aber er mußte
mitspielen.
»Du hast Karten gesehen? Wann? In der Bibliothek? Ich
weiß, daß du genau eine Karte dabei hast - vom
nördlichen Koristir bis knapp über die Grenze. Und du
willst mir jetzt weismachen, daß es reicht, wenn du einmal in
deiner Bibliothek eine Karte gesehen hast? Wo du es
schaffst, dich auf dem Weg von deinem Zimmer bis ins Bad zu
verlaufen!«
»Ich weiß, welche Weiler und Orte auf unserem Weg
liegen«, sagte Halan, blickte wieder nach vorne, statt zu
Anders hinüber. Er konnte diesen Blick, dieses höhnische
Triumphieren, nicht ertragen. »Und ich frage bei jedem Halt
nach der nächsten Wegstrecke.«
Er konnte fühlen, wie Anders ihn nun anstarrte, und die
nächsten Worte seines Onkels waren fassungslos
geflüstert. »Du gibst dich öffentlich
unwissend?« Halan füllte seine Pause mit nichts als
Schweigen. »Du wirfst unseren letzten Rest Würde, das
einzige, was wir von Korisander noch haben, einfach so
fort?«
Halan sagte nichts von der Überwindung, die es ihm beim
ersten Mal bereitet hatte, und nichts davon, wie erstaunlich leicht
es ihm inzwischen fiel. Keine Worte zu Anders, aus denen der so
etwas wie Gefühle erahnen konnte! Statt dessen fragte Halan
nur: »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Du sagst, wir
müssen zu Tolimander, aber du kennst den Weg nicht besser als
ich.«
»Aber jetzt sind wir mitten in einem Wald«, sagte
Alexander kläglich. »Und bald geht die Sonne unter, und
ich sehe noch keinen Gasthof. Man muß dich nur einmal in die
Irre schicken«, langsam wurde seine Stimme schriller,
»oder in einen Hinterhalt, und was tun wir dann? Das hier ist
feindliches Land, Halan, und wir sind allein und tragen unsere
Schwerter nur zur Zierde, und es muß nur ein Schuft dich
heute morgen mit dem Wirt reden gehört haben, und ein Blick
auf unsere Pferde, auf unsere Gewänder sagt, daß wir
reiche Leute sind! Aber du bist so arglos, so dumm -«, Anders
brach ab und war wieder so jung, so hilflos und verletzlich,
daß Halan ihn berühren wollte, ihn in die Arme
schließen, doch er ließ es bleiben und blickte fest
zwischen die Ohren seines Pferdes, nicht zur Seite, nicht zu
Anders.
»Jetzt können wir nichts mehr ändern«, sagte
er. »In Zukunft werde ich darauf achten, daß uns
niemand belauschen kann.« In seinem Inneren regten sich
Sorgen, die nicht wachsen durften. Es gab Räuber in allen
Wäldern, warum also nicht in diesem? Und es war wirklich nicht
mehr lange hin bis zum Einbruch der Dunkelheit, ihre Schatten auf
der Straße wurden schon merklich länger, und die
zwischen den Bäumen ebenso. Halan wußte, daß sie
vielleicht wie reiche Beute aussahen, aber keine waren - doch
wußten das auch die Räuber? Und war nicht allein Farrell
einen Überfall wert? »Mach dir keine Sorgen
deswegen«, sagte er so zuversichtlich wie möglich und
mehr zu sich selbst denn zu Anders. »Ebenso könnten wir
hier im Wald von den Wölfen gefressen werden. Oder in einem
Unwetter vom Blitz erschlagen. Aber wir sind Engelsgeborene. Die
Elomaran wachen über uns, und darum wird nichts Derartiges
geschehen. Noch nie wurde ein Engelsgeborener überfallen oder
von Tieren gerissen.« Zumindest stand nichts davon in den
Chroniken… Halan hätte Anders auch darauf hinweisen
können, daß sicher kein gewöhnlicher Mensch die
Schwäne überlebt hätte, doch er kannte den Jungen zu
gut, als daß er diesen Fehler begangen hätte.
»Die Elomaran…«, sagte Alexander tonlos, und
Halan fragte sich, ob er im Stillen betete, so abwesend klang seine
Stimme. Beten war vielleicht keine schlechte Idee. Halan hatte
lange nicht mehr gebetet, seit seiner Kindheit nicht mehr, seit dem
Tod seiner Mutter. In seinem Herzen wußte er, daß er
den Elomaran egal war, ebenso wenig bedeutete wie andere Menschen.
Aber hier ging es um Anders, um den Erben der Krone…
»Sie beschützen mich nicht«, sagte Anders, und er
klang so schwach, daß Halan nun nicht mehr anders konnte, als
zu ihm zu blicken, zu sehen, wie er bleich und reglos die
Hände in die Zügel krallte. »Dich vielleicht, aber
mich nicht. Korisander verachtet mich, und ich weiß auch,
warum er mir die Krone fortgenommen hat.«
Halan sog die Luft ein. Dann sagte er: »Also gut, wir kehren
um, laß uns nach Hause reiten. Den Weg kennen wir
zumindest.«
»Was?« Anders klang atemlos und erstickend, aber
lebendiger.
»Korisander hat deine Krone, niemand anderes. Und wenn du es
schon weißt, müssen wir nicht die weite Reise auf uns
nehmen, nur damit Tolimander dir die ganze Schande der Wahrheit
noch einmal ins Gesicht sagt. Korisander hat also seinen Kindern
seine Gunst entzogen… Meinst du nicht, es reicht, wenn
wir das wissen?«
Halan konnte nicht sagen, wie lang die Pause dauerte, nur
daß der Wald schon merklich dunkler erschien und die
Bäume merklich näher herangerückt waren, als Anders
endlich sagte: »Reite weiter, Halan.«
Danach ritten sie, langsam und schweigend, bemüht, im
sterbenden Licht nicht von der Straße abzukommen,
bemüht, sich nicht zu wundern, warum der Wald so tief war, der
Weg so schmal, und warum seit so vielen Stunden kein Gasthaus am
Weg gelegen hatte. Keine gepflasterte Straße, nur ein
schmaler Hohlweg…
»Ich bin das Reiten leid«, murmelte Anders irgendwann,
aber es klang mehr, als rede er mit sich selbst. »Früher
sind wir zum Vergnügen ausgeritten, aber jetzt bin ich so wund
und zerschlagen, daß ich gar nichts mehr fühlen kann.
Wir werden eine Kutsche kaufen im nächsten Ort.
Sechsspännig, falls es da so etwas gibt. Wir wären auch
viel schneller…«
Halan ließ ihn reden, hörte nur halb zu und sagte auch
nicht, daß ihr Geld wohl nicht einmal für einen Kutscher
reichen würde. Wachsam lauschte er gegen Anders’ Worte,
gegen das Hufgetrappel an, suchte nach verdächtigen
Geräuschen, die zu Räubern oder Wölfen gehören
konnten. Die Pferde waren den ganzen Tag gelaufen, sie brauchten
dringend nicht nur eine Rast, sondern Schlaf. Der Wald war dunkel,
warm und still. Ein freundlicher Ort, auch jetzt noch, ohne
Bedrohung. Halan atmete auf. Anders hatte Angst im Dunkeln, es war
kein Geheimnis zwischen den beiden, aber solange das Dunkel nichts
barg, das Halan fürchten mußte, machte es ihm nichts
aus, war nur eine andere Form von Licht.
»Ist es noch weit?« fragte Anders. Seine Angst war
jetzt unüberhörbar. Halan hätte ihn gern auf sein
Pferd geholt, ihm etwas gegeben, an dem er sich festhalten konnte,
aber er mußte abwägen, wen er beschützen wollte und
wen schonen - Anders würde schon nichts passieren, aber dem
armen Pferd durfte nicht noch mehr Gewicht zugemutet werde. Er
schwieg.
Rechts von der Straße zweigte ein Weg ab, eigentlich nur ein
jämmerlich schmaler Pfad und doch eindeutig menschgemacht.
Neugierig spähte Halan in die Richtung und hielt sein Pferd
an. Ein Pfad, der irgendwohin führen mußte… und
an seinem Ende… ein Licht.
»Was ist?« fragte Anders. »Kommen die
Wölfe?«
Dann sah er es auch.
Sie mußten hintereinander reiten, so schmal war der Pfad. Er
konnte nicht häufig benutzt werden, denn sonst wären die
Zweige, die ihnen ins Gesicht schlugen, schon längst
abgerissen worden. Und doch führte er zu einem Haus, keiner
verlassenen Ruine, sondern einem richtigen Anwesen, in dem helle
Lichter brannten.
Es war kein Wirtshaus, nicht die Hütte eines Wilderers,
nichts, was man mitten in einem Wald erwarten konnte.
Außerhalb hätte man es vielleicht als Landhaus
bezeichnet, ein großes Hauptgebäude, nur eingeschossig,
aber weit mehr als zehn Schritt breit, und Stallungen dabei.
Lärm drang nach außen, Musik, munteres Stimmengewirr,
Gesang.
Halan kniff die Augen zusammen, doch das änderte nichts an
dem, was er sah. Vielleicht war es doch ein Gasthaus, abseits der
Straße, vielleicht hatten sie nur irgendwo ein Schild am
Wegesrand übersehen, oder es war umgestürzt…
Anders saß ab. »Worauf wartest du noch? Gehen wir
hinein!«
Aber Halan zögerte. Er hatte plötzlich ein ungutes
Gefühl. Irgend etwas stimmte mit diesem Haus nicht.
»Wir können schlecht erwarten, daß sie
herauskommen und uns in Empfang nehmen«, fuhr Anders, leicht
ungeduldig, fort. »Die hören uns nicht bei dem Radau,
und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie hier
draußen Besuch erwarten. Nicht mehr um diese Zeit.« Er
führe Farrell zu den Stallungen hinüber und schob die
Tür auf.
»Hier ist noch viel Platz!« rief er Halan zu.
»Komm, bring deines auch noch rein, wir schicken dann
später jemanden raus, der sich um sie kümmert.« Mit
nicht zu verkennendem Stolz sattelte er Farrell ab. Das war etwas,
das er noch vor einer Woche nicht gekonnt hatte, eine Handlung, die
seiner nicht würdig war. Aber manchmal, so schien es, war
selbst Anders lernfähig.
Halan hatte keine Wahl, als es ihm nachzutun. Sein Verstand riet
ihm davon ab, sich dem Gebäude weiter zu nähern, es
mochte eine Falle sein, oder ein Räuberlager, aber was wollte
er sonst? Etwa im Hof stehenbleiben, oder im Stall schlafen?
Anders klopfte nicht, ehe er die Tür öffnete,
ebensowenig, wie er an eine Wirtshaustür geklopft hätte.
Er trat einfach ein, mit der größten
Selbstverständlichkeit, und mit ebensolcher
Selbstverständlichkeit mußte Halan ihm folgen. Er
wünschte sich, doch lieber erst vom Hof aus durch ein Fenster
gespäht zu haben. Sie waren mitten in ein Gelage geraten.
Ein gutes Dutzend Menschen war auf die weite Halle verteilt, die
ohne Flur oder Vorzimmer den wichtigsten Teil des Gebäudes
darzustellen schien, gleich einer Wirtsstube. Doch es gab nichts,
das wie ein Schanktisch ausgesehen hätte, keinen Wirt und
keine Magd. Nur Menschen in den unterschiedlichen Stadien der
Trunkenheit. Niemand stand. Große Kissen am Boden dienten zum
Sitzen und, mehr noch, zum Liegen. Während draußen die
Luft angenehm mild und lau war, herrschte hier drinnen eine
große brodelnde Hitze, denn am Ende der Halle brannte ein
Feuer im größten Kamin, den Halan jemals gesehen hatte.
Erst sah es so aus, als niemand sie beachtete. Alle schienen zu
sehr mit sich selbst beschäftigt, oder miteinander, Halan
wollte es gar nicht erst wissen, und so ließ er seinen Blick
über umgestürzte Krüge wandern, über die
Weinflecken auf dem gefliesten Boden, und blickte dann Anders an.
Er sah seltsam aus. Den Mund halb geöffnet, verdrehte der
Junge die Augen, aber sie erfaßten nicht den Raum, sondern
irrten ziellos umher, weiteten sich, als versuchten sie
verzweifelt, sich an etwas festzuhalten, und rutschten wieder ab.
Im Stehen taumelte Anders zur Seite. Halan verfluchte sich für
sein Zögern und ergriff ihn beim Arm, bevor er fallen konnte.
Einen Moment lang sah es so aus, als ringe Anders mit dem
Bewußtsein. Doch dann riß er seinen Arm unwirsch fort.
»Es geht schon«, zischte er. »Aber sie
sind… sehr stark.«
»Was?« fragte Halan verwirrt. Er verstand nicht.
»Wovon redest du?«
»Diese Leute… sie fühlen alle das gleiche. Es
drängt sich auf. Ich muß mich konzentrieren, um es
abzuschütteln, und das Schlimme ist -« Er machte eine
Pause und sah Halan an, sehr scharf und sehr klar. »Es
fühlt sich zu gut an, als daß ich es wirklich
will.« Anders lehnte sich rückwärts gegen die Wand
und ließ seine Augen wieder davon driften, doch diesmal
entging Halan nicht, daß er es nur spielte. Vielleicht hatte
Anders wirklich einen Moment lang auf der Kippe gehangen, doch nun
hatte er sich voll und ganz unter Kontrolle, ebenso wie Halan. Es
war gut so. In einem Haus wie diesem konnten sie nichts anderes
sein als wachsam und vorsichtig.
In der Nähe des Feuers erhoben sich drei Personen vom Boden
und kamen auf sie zu, zwei Männer und eine Frau. Aber Halan
hatte nur Augen für den größeren der beiden
Männer - er hatte etwas an sich, das alle Blicke sofort an
sich sog und nicht mehr los ließ, und es war unmöglich
zu sagen, was an ihm denn nun so besonders war, denn es fiel alles
an ihm auf, alles gleichzeitig.
Es war seine Größe. Vielleicht lag es am Licht,
vielleicht waren seine Begleiter so klein, vielleicht hielten sie
sich so krumm und er so gerade, aber er war groß,
größer als alle Menschen, die Halan jemals gesehen
hatte. Dabei wirkte er weder massig noch hager, es war seine
perfekte, wohlproportionierte Größe, die ihn
furchteinflößend, die ihn gewaltig erscheinen
ließ.
Es waren seine Bewegungen. Seine Begleiter schwankten unsicher an
seiner Seite, doch er glitt über den Boden, als stamme die
Musik, die in Halans Kopf ertönte, deren Ursprung aber
nirgendwo zu sehen war, von ihm, aus ihm.
Es war sein Gesicht, das so schön war, daß Halan
verzweifelt nach einem größeren Wort als
‘schön’ suchte und, da er kein passendes fand,
verzweifelte. Es war seine schillernde, gebräunte Haut, es
waren die honiggoldenen Haare, die sein Gesicht in weichen Locken
umflossen, es war sein Lächeln, das anzüglichste
Lächeln, das Halan jemals gesehen hatte, und doch nicht
verletzend, es waren seine Augen - schnell riß Halan seinen
Blick von diesen Augen fort, wenn er hineinsah, war er verloren,
und er widerstand dem Drang, sich in ihren Tiefen zu verlieren,
ebenso wie Anders dem Drang widerstehen mußte, in den
Gefühlen dieser Leute zu schwelgen… Es war nicht die
Kleidung des Mannes. Beinahe beiläufig nahm Halan wahr,
daß der Hausherr - denn niemand anderes konnte es sein,
niemand konnte sich derart selbstverständlich bewegen in einem
Haus, das nicht seines war, das er nicht selbst erbaut hatte - mit
nicht mehr bekleidet war als einigen weiten Tüchern, die er
lose um seinen Körper geschlungen hatte: Das war, wie auch der
Kelch in seinen Händen, nur Zierwerk, ein Rahmen für ein
perfektes Gebilde.
Es war sein Gesicht - es waren seine Augen -
Es war seine Stimme. »Seid mir willkommen«, sagte er.
»Ich bin Damiander, der Engel des Rausches.« Seine
Stimme klang so, daß Halan einen Moment lang bereit war, ihm
zu glauben.
»Wagt es nicht!« preßte Anders hervor, hin- und
hergerissen zwischen Faszination und unbeherrschter Wut.
»Zieht nicht das Ansehen der Elomaran in den Schmutz! Es gibt
keinen Engel des Rausches!«
Damiander drehte lächelnd den Kelch in seinen Händen.
»Nun, dann werde ich mich wohl geirrt haben. Ihr
müßt es wissen… Engelsgeborene.« Sein
Lächeln war atemberaubend, doch Anders’ Worte hatten
Halan wieder aufgerüttelt, hatten seine Wachsamkeit
zurückgebracht.
»Einen guten Abend«, sagte er freundlich, aber
distanziert. Schließlich standen sie in der Halle eines
fremden Mannes, und niemand hatte sie eingeladen. »Wir sind
Harold und Alexander von Korisanders Blute, und wir
wüßten gern, ob es möglich ist, eine Nacht in Eurem
Haus zu verbringen.« Er wußte, daß er gegen die
Etikette verstieß, Anders hätte die Möglichkeit
haben müssen, sich zuerst vorzustellen - aber da hätten
sie lange warten können, und es war eigentlich auch nicht
anders, als in einem Gasthaus mit dem Wirt zu verhandeln. Und da
Damiander sie ohne Zweifel als Engelsgeborene erkannt hatte…
warum es leugnen?
»Aber natürlich«, Damiander legte ihm eine Hand
auf die Schulter, und, als Halan rasch einen Schritt zurück
trat, die andere auf Alexanders. »Ihr seid meine Gäste.
Bleibt, solange ihr wollt. Ich werde euch gleich einen Ort zeigen,
an dem ihr schlafen könnt. Ihr seht erschöpft aus,
mitgenommen, ihr habt eine Rast mehr als verdient.«
Seine Stimme war wundervoll, aber was er sagte…
Halan schüttelte sich innerlich. In Gedanken bat er die
Elomaran, alle acht, um Vergebung, daß er diesem Hochstapler
überhaupt zuhörte. Wahrscheinlich ist er
betrunken, versuchte er sich herauszureden, um nicht zugeben zu
müssen, daß ein leibhaftiger Engel kaum anziehender
wirken konnte. Aber es gab keinen Engel des Rausches. Allein der
Gedanke war ein Hohn. Damiander, oder wie immer er in Wirklichkeit
heißen mochte, denn sicher hatte er sich diesen Namen selbst
gegeben, mochte sich von seinen Kumpanen so feiern lassen, solange
sie nicht durch die Gegend zogen und Ärgernis und Irrglauben
verbreiteten…
»Aber zuerst«, fuhr Damiander fort, »möchte
ich euch bitten, euch zu setzen, und einen Schluck mit mir zu
trinken.«
Halan und Alexander blickten einander an. Diese Aufforderung
auszuschlagen hieß, sich den Regeln der Gastfreundschaft zu
widersetzen, aber nach allem, was hier vorging, war kaum
vorstellbar, daß Damiander es bei einem Schluck
belassen würde. Langsam nickte Halan. Sie konnten auf sich
achtgeben. Auch Alexander war, selbst wenn er oft den Anschein vom
Gegenteil erweckte, so willensstark wie alle von Korisanders
Blut.
Anders lächelte. Es grenzte an ein Strahlen, was Halan
leichte Sorgen verursachte. Seine Augen waren auf den Kelch in
Damianders Händen gerichtet. Sie glitzerten unheilvoll. Es war
ein schwerer Kelch, silbern, und von nicht zu verachtenden
Fassungsvermögen. Ein schöner Kelch. Halan hatte noch nie
einen feiner gearbeiteten gesehen. Wahrhaftig eines Mannes
würdig, der sich Engel nannte. Aber in diesem Moment
wußte Halan auch, daß er nicht daraus trinken
würde. Nicht, solange sich Rausch und Weisheit
widersprachen.
Damiander wies ihnen einen Platz, von dem aus sie das Feuer gegen
all den Lärm knistern und krachen hören konnten und der
Flammenschein unruhige heiße Flecken in ihre Gesichter malte,
als sie sich setzten. Die Kissen waren warm und weich, schmiegten
sich um ihre Körper, als hätten sie nur darauf gewartet.
Aber Halan ließ sich nicht einlullen. Er blickte halb auf
Anders, halb an ihm vorbei in die Glut.
»Meine Gäste«, sagte Damiander. »Meine
würdigen, engelsgeborenen Gäste.« Er klang
amüsiert. Er ließ sich in das Kissen neben Halan sinken,
rutschte dann etwas nach hinten, um sie beide im Blick zu haben,
und doch schien es ihn nicht zu stören, daß er nun auf
dem Boden saß. Ohne seine Augen von Halan und Anders zu
nehmen, reichte er den Kelch hoch zu einem seiner Begleiter, der
ihn aus einem großen Krug füllte. Lächelnd hielt er
dann, mit beiden Händen, Halan den Kelch hin. »Auf eure
Seelen«, sagte er.
Aber Halan zögerte, schrak davor zurück, den bis direkt
unter den Rand gefüllten Pokal zu nehmen. Damiander lachte,
führte das Gefäß an seine eigenen Lippen und nahm
einen Schluck, bevor er die Geste wiederholte. »Auf
Korisander, dann«, flüsterte er, »der euch die
Weisheit der Vorsicht und die Dummheit des Mißtrauens
eingegeben hat.«
Halan nahm den Kelch; er war schwerer, als er gedacht hatte, und
hob ihn an seinen Mund. Er gab vor zu trinken, doch er
verschloß seinen Gaumen mit seiner Zunge, und als er den
Kelch sinken ließ und schluckte, schluckte er nur Luft.
Damiander beobachtete ihn, doch obwohl ihm Halans Schwindel nicht
entgangen sein konnte, verzog er keine Miene. Erst, als Halan den
Kelch an ihn zurückreichen wollte, hob er abwehrend die Hand
und führte sie dann in einem Bogen zu Anders. Etwas
zögerlich reichte Halan den Kelch weiter, hoffend, daß
Anders ihm nachtun würde.
Anders nahm den Kelch, wog ihn, ohne ihn anzublicken, in seinen
Händen. Sein Gesicht war leer. Jetzt erst fiel Halan auf, wie
plump Anders’ Finger unter den längst schmutzigbraunen
Handschuhen wirkten, wie unförmig, doch dann begriff er,
daß es nicht stimmte, daß in Wirklichkeit nur der Kelch
so wunderschön und zierlich verarbeitet war, daß er
alles um ihn herum verblassen ließ, sogar die Hände
eines Engelsgeborenen. Nur Damianders Hände nicht.
Anders blickte durch Halan hindurch, doch Damiander an, und dann
nickte er, hob den Kelch, so daß sein Gesicht völlig
dahinter verschwand. Lange rührte er sich nicht, bis auf die
tanzenden Bewegungen seines Kehlkopfs, als er schluckte. Endlich
ließ er den Kelch sinken und reichte ihn an Damiander
zurück, leer.
Er sagte nichts dabei, und er unternahm auch nichts, um Halans
vorwurfsvollem Blick auszuweichen, erwiderte ihn mit
triumphierender Zufriedenheit. Halan versuchte auszurechnen,
wieviel der Kelch fassen mochte, wieviel Anders vertrug, ob es
möglich war, von dieser Menge betrunken zu werden, doch er
wußte nicht, wie stark dieser Wein war…
Er schrak zusammen, als etwas seine linke Kopfhälfte
berührte, und wäre am liebsten im Boden versunken, als er
begriff, daß Damiander ihm soeben die Haare aus dem Gesicht
gestrichen hatte.
»Hier«, sagte Damiander und streckte ihm wieder den
Kelch hin, wieder bis an den Rand gefüllt, doch diesmal hielt
er ihn nur mit einer Hand, mit der anderen hielt er zwischen zwei
Fingern eine von Halans Haarsträhnen, ganz leicht, ohne
daß man es fühlen konnte. »Bist du nicht gerade zu
kurz gekommen?«
Halan schüttelte den Kopf, und dabei entglitt die
Strähne Damianders Fingern, die sie nicht zurückzuhalten
versuchten; ihre Spitze streifte das Silber des Kelchs und schien
danach zu glänzen.
Halan schüttelte die Wärme ab, die sich seiner zu
bemächtigen suchte - er akzeptierte die Hitze des Kamins, doch
diese war falsch, sie kam von innen, und Halan verbannte sie.
»Danke«, sagte er, und »Nein«, und nahm
den Kelch nicht.
»Du willst mich beleidigen«, sagte Damiander, und
wieder nahm er erst selbst einen Schluck, ehe er Halan den Kelch
hinstreckte. Halan fühlte sich nun von beiden Seiten
beobachtet, als er das Angebot annahm; er verfluchte sich, das Haus
entdeckt, den Weg hierher jemals betreten zu haben. Wieder gab er
vor zu trinken, denn wenn dies schon ausreichte, um Damiander
zufriedenzustellen, war es gut. Sie waren in einem kranken Traum
gefangen und mußten mitspielen.
Wieder wollte Halan den Kelch an Damiander zurückgeben, aber
diesmal umfaßte der Mann Halans Handgelenk und führte
sie selbst zu Anders, der sofort zugriff und den Kelch
entgegennahm. Halan hielt die Luft an - er würde doch nicht
noch einmal…
Denn diesmal hatte Halan den Duft des Weines eingeatmet, er roch,
dem konnte niemand widersprechen, köstlich, aber ebenso ohne
jeden Zweifel war er schwer, und sehr stark, und weder Halan noch
Anders hatten an diesem Tag viel gegessen…
Halan entging nicht, wie Anders beim Trinken über den Rand
des Kelches hinweg zu ihm hinüberschielte, als versuche er
wieder einmal nur, Halan zu provozieren, und Halan wollte schon
aufspringen, wollte Anders den Kelch aus der Hand reißen, aus
der Hand schlagen, wollte Anders packen und ihn hinauszerren
- aber er konnte es nicht, konnte nicht einmal sein Handgelenk, das
Damiander immer noch sachte umfaßt hielt, befreien, konnte es
nicht einmal versuchen…
Die Bewegung, mit der Anders den leeren Kelch Damiander
zurückreichte, ging nur vage in die Richtung des
selbsternannten Engels, während er mit der anderen Hand Halt
suchte, sich am Boden abstützte, um nicht im Sitzen das
Gleichgewicht zu verlieren. Sein Gesicht war so glücklich, wie
Halan es noch nie gesehen hatte - berauscht und glücklich und
verzückt - doch dann erkannte Halan, daß in den
großen glänzenden Augen noch etwas lag, ein
verzweifeltes Flehen, ein Betteln, ein verlangendes Gieren nach
mehr.
Halan zog sich zurück, nach hinten und innen. Es war zu
spät. Anders hatte seine Entscheidung getroffen, und wenn er
sie auch schnell bitter bereuen würde, spätestens wenn er
anfing sich zu übergeben, konnte ihn jetzt doch nichts mehr
davon abbringen.
Danach war es wieder Halan, an den Damiander den Kelch, nachdem er
selbst einen Schluck daraus getrunken hatte, weiterreichte, auch
wenn Anders schon seine Hände danach ausstreckte.
»Die Elomaran singen«, sagte er leise, »und du
willst ihnen nicht zuhören?«
Diesmal behielt Halan den Kelch nicht, täuschte gar nicht
erst ein Trinken vor, sondern reichte ihn direkt mit
verächtlicher Miene und ohne den Jungen dabei anzusehen, an
Anders weiter. Selten zuvor hatte er jemanden so gehaßt wie
Damiander in diesem Moment, Damiander, dessen
Verführungsversuche an Halan abprallten und der sie darum an
einem hilflosen Kind demonstrieren mußte, Damiander, der
versuchte, ihren Willen zu brechen -
Obwohl er es nicht wollte, es ihn entsetzte und ekelte,
mußte Halan doch wieder zu Anders hinübersehen. Er
redete sich ein, daß er es nur aus Sorge tat, doch es war
auch Faszination dabei und Neugier - und Neid.
Anders hielt den Kelch mit beiden Händen, er zitterte,
während er trank, und dunkler Wein lief über sein
Gesicht, tropfte von seinem Kinn und ließ neue Flecken wie
Blut in den Handschuhen entstehen. Es war ein entsetzlicher
Anblick, und ein entsetzlich schöner.
Dann stieß Anders ein leises Geräusch aus, das wie ein
Seufzen klang. Der Kelch entglitt seinen Fingern und rollte zu
Boden, wo er seine letzten Tropfen wie ein dünnes rotes Band
hinter sich her zog. Einen Moment lang saß Anders reglos,
dann verdrehte er die Augen und rutschte zur Seite, sank in sich
zusammen.
»Anders!« schrie Halan auf und rüttelte ihn an
der Schulter. Unter seiner Hand bewegte sich der Körper des
Jungen schlaff hin und her. Angst griff nach Halan, aber sie gab
ihm auch die Kraft, sich auf Damiander zu stürzen. »Was
habt Ihr gemacht? Ihr habt ihn vergiftet!«
Damiander faßte ihn bei beiden Schultern, vorsichtig, ohne
ihm weh zu tun, und doch zu fest, als daß Halan sich
hätte befreien können. »Nein«, sagte er
sanft. »Er ist nicht vergiftet. Er hat meinen Kelch geleert,
dreimal, und das war seine eigene Entscheidung.«
»Ihr habt ihn dazu getrieben! Es ist Eure Schuld
-«
»Nein«, sagte Damiander. Halan hatte noch nie ein
entgültigeres ‘Nein’ gehört. »Ich habe
nichts dergleichen getan. Du warst die ganze Zeit über dabei,
kannst bezeugen, daß ich ihn mit keinem Wort, keiner Geste
gezwungen, nicht einmal überredet habe. Es war seine eigene,
freie Entscheidung. Mach dir keine Sorgen. Ich werde mich um ihn
kümmern.«
Halan riß sich los, warf sich zwischen den Mann und den
bewußtlosen Knaben. »Ihr rührt ihn nicht
an!« schrie er verzweifelt. »Ich werde ihm
helfen.«
Damiander schüttelte den Kopf, und seine Haare flossen hin
und her wie Wellen flüssigen Goldes. »Das kannst du
nicht«, sagte er belustigt. »Er weiß das. Darum
hat er auch beschlossen, sich lieber von mir helfen zu
lassen.« Er strich Halan mit dem Rücken seines
Zeigefingers über das Gesicht. »Ebenso, wie du deine
Entscheidung getroffen hast.« Mit sanfter Gewalt schob er
Halan beiseite und beugte sich über Anders.
Halan ergriff ihn beim Arm und zog ihn zurück. »Ihr
rührt ihn nicht an! Ihr werdet mir zeigen, wie ich ihm helfen
kann!« Zorn brannte in ihm, schoß wie Feuer durch seine
Adern. Damiander blickte schweigend an ihm hinunter. Dann
lächelte er.
»Deine Seele singt«, sagte er. »Aber du willst
ihr nicht zuhören.«
»Laßt mich ihm helfen«, wiederholte Halan.
Ohne die Augen von ihm zu nehmen, angelte Damiander nach dem
Kelch. »Du bist immer noch eingeladen, einen Schluck mit mir
zu trinken«, wisperte er.
Halan schüttelte den Kopf. Hatte er es zuvor schon nicht
gewollt, so genügte nun der Anblick des kläglich
zusammengesunkenen Anders, um diesen Willen für alle Zeit zu
festigen. »Wer seid Ihr?« flüsterte oder schrie
er.
Lächelnd blickte der Mann ihn an. »Ich sagte es
bereits«, sagte er. »Ich bin Damiander, der Engel des
Rausches.«
Seine Augen waren ein Meer des Goldes, grün wie die Nacht und
schwarz wie der Himmel und blau wie die Ewigkeit. Ihre unendlich
warme Tiefe hüllte Halan ein. Wellen des Glücks schossen
durch seinen Körper, zerschlugen alle Ängste, zermalmten
alle Zweifel, zerschmetterten alle Gedanken. Die Welt verschwamm
vor Halans Augen.
Das Gold umfing ihn.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2000 - 2015 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.
Kommentare und Diskussionen zu diesem Kapitel
Kommentar verfassen