Zweites Kapitel

Abendrot tauchte die endlos den Hügel hinabführende Straße, die kleinen weißen Häuser, in ein warmes, weiches Licht, und es schien, als könne es auf der ganzen Welt keine freundlichere Stadt geben. Mit jedem Stadttor, das Anders und Halan durchquerten, wurde die Stadt jünger, aber war auf dem Hinweg das Schloß allzeit vor ihren Augen gewesen, so fühlten sie es nun im Rücken, und das gab ihnen ein sehr beklemmendes Gefühl, nahm Lomar viel von seiner Freundlichkeit.
Für ihre Abreise hätten sie keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können. Halan bedauerte jetzt schon, daß er zum Aufbruch gedrängt hatte, statt Alexander nachzugeben - denn jetzt bedeutete es, daß es Abend wurde und sie schon bald hinter der Stadt ein Gasthaus würden aufsuchen müssen, daß nichts, aber wirklich nichts gewonnen war, und daß Anders schmollte, seit Stunden schmollte, und nicht den Eindruck machte, als wolle er jemals wieder damit aufhören. Warum mußte er nur so ein Kind sein?
In den Straßen, vor allem auf der Hauptstraße, herrschte rege Lebsamkeit, die ihre Pferde zu einem langsamen Schrittempo zwang, wollten sie keine Menschen niederreiten. Anders sah aus, als stünde er kurz davor, und in seinen Augen lag eine große Verachtung für alles, das sich um ihn herum bewegte, einschließlich Halan. Er trug diesen Blick mit so viel Nachdruck, daß Halan gar nicht erst versuchte, sich zu entschuldigen.
Alles was er konnte war, sich Anders’ Schweigen anzuschließen und seine Gefühle zu verbergen. Anders wollte fühlen, wie sehr er Halan verletzt hatte, wie sehr Halan unter der Zurückweisung seiner Liebe litt, doch diesen Gefallen konnte und wollte Halan ihm nicht tun, jetzt nicht und vielleicht niemals wieder. Er hatte Anders geliebt, einen Tag lang und eine Nacht, und ein wenig darüber hinaus, und ebenso unbegreiflich, wie die Liebe gekommen war, verschwand sie wieder, und je länger Halan über das Geschehene nachdachte, desto weniger verstand er es. Diese Liebe paßte nicht zu ihm, und zu Anders fast noch weniger, aber ihn konnte Halan zumindest verstehen. Aber ein Halan, der besinnungslos war und blind vor Liebe und Verlangen… das paßte nicht, das war nicht er selbst. Für den Moment mochte es schön sein, aber nun war es wichtiger, besonnen zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren, vor allem jetzt, da Anders sich wie ein Kleinkind gebärdete.
Die Straße staubte unter den Hufen der Pferde, so schmutzig war es hier. Die Stadt wurde immer neuer und zugleich ärmer. Dieses Gebiet konnte man nicht mehr sehen von den Fenstern des Schlosses aus, und wenn die Engelsgeborenen die Stadt durchquerten, dann in Sänften. So konnte es egal sein, in welchem Zustand die Häuser waren, hastig errichtete Lehmbauten, eilig getüncht, zumindest an den Vorderseiten, und auch da nur scheckig, und auch nur direkt an der Hauptstraße - die Seitenstraßen waren so trostlos, daß es Halan genügte, in eine von ihnen hineingeblickt zu haben. Aber es tröstete ihn, daß dieses Land zumindest nicht fähiger beherrscht wurde als Koristan. Hier ging es den Menschen nicht besser, auch wenn sie in der Arena unterhalten wurden… Halan wunderte sich über sich selbst, über den Anteil, den er plötzlich an der Welt nahm, an einer Welt, die niemals in einer Chronik Erwähnung finden würde, an ihren Menschen. Sie taten ihm leid, und Mitleid gehörte nicht zu dem, was ein Engelsgeborener empfinden sollte. Er sehnte sich fort aus dieser Stadt, zurück in die zeitlose Geborgenheit einer Bibliothek, in der es keine Liebe gab, kein Mitleid und keine Gefühle - in der man die Welt begreifen konnte, ohne sie verstehen zu müssen.
Ein Bettler stolperte vor ihnen auf die Straße, es mochte auch eine Frau sein, aber man konnte es nicht genau erkennen, mehrere Schichten schmutzstarrender Lumpen bedeckten den Körper, und das eingefallene, verwachsene Gesicht konnte zu allem gehören, nicht einmal zwangsweise zu einem Menschen. Halan hielt die Gestalt erst für einen Greis, doch die verfilzten Haarsträhnen waren tiefschwarz.
Farrell begann zu tänzeln, als der Bettler direkt vor seinen Hufen zu Boden stürzte, doch Anders ließ ihn ruhig zur Seite ausweichen und beschrieb einen kleinen Bogen um das Hindernis, dessen Menschlichkeit ihm offensichtlich gleichgültig war.
»Erbarmen«, krächzte die Gestalt - die Stimme erinnerte an die einer Frau. »Erbarmen, edle Herren!« Sie rollte sich zur Seite und geriet wieder zwischen Farrells Beine, doch diesmal schien Absicht dahinter zu stecken.
Halan ritt sein Pferd, einen namenlosen Wallach, so dicht wie möglich an den Straßenrand und hoffte, daß kein Unfall geschehen würde. Farrell war ein unruhiges Tier, aber es war gefährlicher, wenn Anders die Nerven verlor.
Anders ließ Farrell anhalten und blickte nach unten. »Verschwinde!« herrschte er den Bettler an. »Aus meinem Weg!« Dann ließ er den Hengst zur Seite parieren, bis er wieder neben dem Bettler stand, der sich aufzurappeln versuchte, um wieder zwischen die Hufe zu kommen. Der Mann - so es einer war - mußte Mut haben.
»Almosen, ihr Herren!« winselte er. »Habt Erbarmen! Meine Kinder hungern!«
»Bleib ruhig, Anders!« rief Halan. »Ich werde ihm etwas -«
Einen größeren Fehler hätte er nicht begehen können. »Nein!« schrie Anders, treib Farrell seine Fersen in die Seiten und trabte an, wäre über den Bettler hinweggeritten, hätte dieser sich nicht mit einem unerwartet gelenkigen Sprung zur Seite in Sicherheit gebracht. Halan wollte niemanden verletzen, aber es war wichtiger, so dicht wie möglich hinter Anders zu bleiben. Zum Glück fiel Farrell nicht in Galopp, und so erreichten sie die Stadtgrenze zwar nicht ohne Aufsehen, aber zumindest, ohne daß noch mehr Menschen zu Schaden gekommen wären. Jetzt endlich schien Anders sich wieder beruhigt zu haben. Aber dafür wußte Halan nicht, wohin mit seiner Wut.
»Anders«, sagte er leise. Am liebsten hätte er geschrieen, wie Anders es immer tat, aber er konnte es nicht. Diese gräßliche Ruhe ließ sich nicht abschütteln, und Halan saß dahinter wie hinter Mauern. »Warum hast du das getan?«
Anders zuckte die Schultern. »Er hat mich belästigt.«
»Aber du hast ihn beinahe niedergeritten!«
»Er hätte mich eben nicht belästigen dürfen.« Normalerweise wurde Anders nach einem Ausbruch schnell wieder umgänglich, aber jetzt lag immer noch zuviel Gereiztheit in seiner Stimme.
»Er hat nur gebettelt! Wir waren immer schon mildtätig an Bettlern!« Halans Stimme wurde nicht lauter, aber schrill.
Anders schnaubte. »Das war nicht mein Bettler«, erwiderte er. »Das fehlte noch, daß wir Lorimanders Bettler durchfüttern! Soll er sich doch um sie kümmern! Ich wette, er hat den mit voller Absicht auf mich gehetzt!«
»Alexander!« sagte Halan noch einmal und kam sich plötzlich vor wie Aralee.
»Laß mich in Ruhe, verstanden?« fauchte Anders, und Halan ließ ihn in Ruhe, schluckte seine Wut hinunter, auch wenn er das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen.
Erst, als sie mit Einbruch der Dämmerung in einem Gasthaus abstiegen, begriff Halan, wie gut es war, daß sie dem Bettler nichts gegeben hatten. Die Zeit der Mildtätigkeit war für sie bis auf weiteres vorbei. Sie konnten es sich nicht mehr leisten. Aralee hatte ihnen Geld mitgegeben, aber es würde nicht mehr lange ausreichen, wenn sie weiterhin allabendlich auf das besten Zimmer bestanden. Wie weit war die Reise bis Tayellin? Wie viele Nächte konnten sie es sich noch gut gehen lassen, bis für sie die Zeit zum Betteln gekommen war?
Halan belästigte Anders nicht mit diesen Sorgen. Der Junge hatte ohnehin nie gelernt, mit Geld umzugehen, ging wahrscheinlich davon aus, daß die Wirte, geehrt durch den hohen Besuch, nie auf die Idee kommen würden, Geld von ihnen zu verlangen…
Also schwieg Halan gegenüber Anders. Und dem Wirt machte er unmißverständlich klar, daß auch wirklich nur das allerbeste Zimmer in Frage kam.

Die Elomaran waren Brüder, und glaubte man den alten Aufzeichnungen, so lebten die Engel dort oben friedlich miteinander. Nur ihre sterblichen Kinder taten sich damit so schwer…
Es lag nahe, daß wenig Freundschaft zwischen Loringaril und Koristan lag - der Engel der Weisheit und der Engel der Stärke waren einfach zu unterschiedlich. Aber damit konnte man nicht erklären, weswegen sich die Nachfahren Korisanders und Tolimanders nicht ausstehen konnten.
Halan hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, während sie nordwärts ritten. Es war ein weiter Weg bis Tayellin, quer durch Loringaril, und Anders war so biestig, wie er nur konnte. Ohne jemals einen Grund dafür zu nennen, ließ er keine Gelegenheit aus, Halan seine Übellaunigkeit spüren zu lassen. Warum sollten Korisanders Kinder mit dem Engel der Gerechtigkeit befreundet sein, wenn sie sich schon untereinander haßten?
Halan kannte die Chroniken. Er wußte, daß aus Tayellin niemals irgendwelche Feindseligkeiten gekommen waren, weder damals, noch heute. Tolimanders Kinder wußten, was gerecht war und was nicht. Sie würden niemals etwas tun, was ihre Neutralität gefährden konnte. Aber Korisander?
Halan betrachtete den reitenden Anders. Er fühlte nichts mehr, wenn er ihn ansah, keinen Schmerz, keine Sehnsucht - er war endlich wieder er selbst; er mußte nicht mehr lieben. Anders schmollte nicht, weil er Anders war, sondern weil alle Erben Korisanders gut darin waren. Halans Vater war nicht minder halsstarrig und zeigte sich allzu schnell beleidigt, und auch sein Vater, Halans Großvater, schmollte, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging. Halan wußte, daß er selbst nicht so war, aber schließlich hatte sein Wille nie auch nur irgend etwas gezählt.
Generationen schmollender Engelsgeborener unter der Krone der Weisheit - sie hatten Tolimander niemals verwunden, daß er es war, der seinem Sohn ein Buch hinterließ, das einzige Buch, das Korisander niemals besitzen würde. Wie sehr hatte Halan sich danach gesehnt, einmal dieses Buch zu sehen, in dem die Gerechtigkeit geschrieben war, es zu berühren… so viele Bücher hatte er schon für Korisanders Bibliothek kopiert, sechzehn und das eine von Graf Merin, das unvollendete… Aber gegen das Buch der Gerechtigkeit waren sie nur irgendwelche Schriftstücke.
Halan konnte über seine schmollenden Vorfahren lächeln. Er ahnte, daß auch Anders’ nicht enden wollende Verdrossenheit daher rührte, daß er nun als Bittsteller vor einen anderen Engelsgeborenen treten mußte, nicht länger fordern konnte, sondern nur noch um seine Königswürde betteln. Aber Halan konnte sie doch alle verstehen. Es war schwer, der Weiseste der Welt zu sein, über alles Wissen, allen Verstand zu verfügen, und dennoch zusehen zu müssen, wie ein anderer das Ansehen genoß, die einzigen wahren, endlos gerechten Urteile zu fällen. Der Richter war das höchste aller menschlichen Ämter, und nur wer es in Tayellin gelernt hatte, durfte auf diesen Titel hoffen. All diese ausländischen Richter treffen zu müssen - das schmerzte.
»Darf man dich etwas fragen?« fragte Anders.
»Was?« Erschrocken riß Halan den Kopf herum.
»Ich sehe, daß der hochwohlgeborene Chronist grübelt«, schnitt Anders’ Stimme durch die Luft, »aber ist es mir gestattet, dir eine Frage zu stellen?«
»Was?« fragte Halan noch einmal. Er konnte mit Anders, solange er so war, nichts anfangen.
»Wo sind wir?«
Halan seufzte. »Irgendwo zwischen Lomar und Tayellin, noch einige Tagesritte von der Grenze entfernt.«
»Und woher weißt du das? Immer sagst du, hier jetzt links oder weiter geradeaus, aber woher willst du das wissen? Es gibt hier keine Wegweiser, zumindest habe ich noch keinen gesehen, und du -«
»Ich habe die Landkarten gesehen«, erwiderte Halan. Er wußte, daß jetzt Ärger auf ihn zukam, egal was er antwortete, weil Anders das gerade so wollte. Aber er mußte mitspielen.
»Du hast Karten gesehen? Wann? In der Bibliothek? Ich weiß, daß du genau eine Karte dabei hast - vom nördlichen Koristir bis knapp über die Grenze. Und du willst mir jetzt weismachen, daß es reicht, wenn du einmal in deiner Bibliothek eine Karte gesehen hast? Wo du es schaffst, dich auf dem Weg von deinem Zimmer bis ins Bad zu verlaufen!«
»Ich weiß, welche Weiler und Orte auf unserem Weg liegen«, sagte Halan, blickte wieder nach vorne, statt zu Anders hinüber. Er konnte diesen Blick, dieses höhnische Triumphieren, nicht ertragen. »Und ich frage bei jedem Halt nach der nächsten Wegstrecke.«
Er konnte fühlen, wie Anders ihn nun anstarrte, und die nächsten Worte seines Onkels waren fassungslos geflüstert. »Du gibst dich öffentlich unwissend?« Halan füllte seine Pause mit nichts als Schweigen. »Du wirfst unseren letzten Rest Würde, das einzige, was wir von Korisander noch haben, einfach so fort?«
Halan sagte nichts von der Überwindung, die es ihm beim ersten Mal bereitet hatte, und nichts davon, wie erstaunlich leicht es ihm inzwischen fiel. Keine Worte zu Anders, aus denen der so etwas wie Gefühle erahnen konnte! Statt dessen fragte Halan nur: »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Du sagst, wir müssen zu Tolimander, aber du kennst den Weg nicht besser als ich.«
»Aber jetzt sind wir mitten in einem Wald«, sagte Alexander kläglich. »Und bald geht die Sonne unter, und ich sehe noch keinen Gasthof. Man muß dich nur einmal in die Irre schicken«, langsam wurde seine Stimme schriller, »oder in einen Hinterhalt, und was tun wir dann? Das hier ist feindliches Land, Halan, und wir sind allein und tragen unsere Schwerter nur zur Zierde, und es muß nur ein Schuft dich heute morgen mit dem Wirt reden gehört haben, und ein Blick auf unsere Pferde, auf unsere Gewänder sagt, daß wir reiche Leute sind! Aber du bist so arglos, so dumm -«, Anders brach ab und war wieder so jung, so hilflos und verletzlich, daß Halan ihn berühren wollte, ihn in die Arme schließen, doch er ließ es bleiben und blickte fest zwischen die Ohren seines Pferdes, nicht zur Seite, nicht zu Anders.
»Jetzt können wir nichts mehr ändern«, sagte er. »In Zukunft werde ich darauf achten, daß uns niemand belauschen kann.« In seinem Inneren regten sich Sorgen, die nicht wachsen durften. Es gab Räuber in allen Wäldern, warum also nicht in diesem? Und es war wirklich nicht mehr lange hin bis zum Einbruch der Dunkelheit, ihre Schatten auf der Straße wurden schon merklich länger, und die zwischen den Bäumen ebenso. Halan wußte, daß sie vielleicht wie reiche Beute aussahen, aber keine waren - doch wußten das auch die Räuber? Und war nicht allein Farrell einen Überfall wert? »Mach dir keine Sorgen deswegen«, sagte er so zuversichtlich wie möglich und mehr zu sich selbst denn zu Anders. »Ebenso könnten wir hier im Wald von den Wölfen gefressen werden. Oder in einem Unwetter vom Blitz erschlagen. Aber wir sind Engelsgeborene. Die Elomaran wachen über uns, und darum wird nichts Derartiges geschehen. Noch nie wurde ein Engelsgeborener überfallen oder von Tieren gerissen.« Zumindest stand nichts davon in den Chroniken… Halan hätte Anders auch darauf hinweisen können, daß sicher kein gewöhnlicher Mensch die Schwäne überlebt hätte, doch er kannte den Jungen zu gut, als daß er diesen Fehler begangen hätte.
»Die Elomaran…«, sagte Alexander tonlos, und Halan fragte sich, ob er im Stillen betete, so abwesend klang seine Stimme. Beten war vielleicht keine schlechte Idee. Halan hatte lange nicht mehr gebetet, seit seiner Kindheit nicht mehr, seit dem Tod seiner Mutter. In seinem Herzen wußte er, daß er den Elomaran egal war, ebenso wenig bedeutete wie andere Menschen. Aber hier ging es um Anders, um den Erben der Krone…
»Sie beschützen mich nicht«, sagte Anders, und er klang so schwach, daß Halan nun nicht mehr anders konnte, als zu ihm zu blicken, zu sehen, wie er bleich und reglos die Hände in die Zügel krallte. »Dich vielleicht, aber mich nicht. Korisander verachtet mich, und ich weiß auch, warum er mir die Krone fortgenommen hat.«
Halan sog die Luft ein. Dann sagte er: »Also gut, wir kehren um, laß uns nach Hause reiten. Den Weg kennen wir zumindest.«
»Was?« Anders klang atemlos und erstickend, aber lebendiger.
»Korisander hat deine Krone, niemand anderes. Und wenn du es schon weißt, müssen wir nicht die weite Reise auf uns nehmen, nur damit Tolimander dir die ganze Schande der Wahrheit noch einmal ins Gesicht sagt. Korisander hat also seinen Kindern seine Gunst entzogen… Meinst du nicht, es reicht, wenn wir das wissen?«
Halan konnte nicht sagen, wie lang die Pause dauerte, nur daß der Wald schon merklich dunkler erschien und die Bäume merklich näher herangerückt waren, als Anders endlich sagte: »Reite weiter, Halan.«
Danach ritten sie, langsam und schweigend, bemüht, im sterbenden Licht nicht von der Straße abzukommen, bemüht, sich nicht zu wundern, warum der Wald so tief war, der Weg so schmal, und warum seit so vielen Stunden kein Gasthaus am Weg gelegen hatte. Keine gepflasterte Straße, nur ein schmaler Hohlweg…
»Ich bin das Reiten leid«, murmelte Anders irgendwann, aber es klang mehr, als rede er mit sich selbst. »Früher sind wir zum Vergnügen ausgeritten, aber jetzt bin ich so wund und zerschlagen, daß ich gar nichts mehr fühlen kann. Wir werden eine Kutsche kaufen im nächsten Ort. Sechsspännig, falls es da so etwas gibt. Wir wären auch viel schneller…«
Halan ließ ihn reden, hörte nur halb zu und sagte auch nicht, daß ihr Geld wohl nicht einmal für einen Kutscher reichen würde. Wachsam lauschte er gegen Anders’ Worte, gegen das Hufgetrappel an, suchte nach verdächtigen Geräuschen, die zu Räubern oder Wölfen gehören konnten. Die Pferde waren den ganzen Tag gelaufen, sie brauchten dringend nicht nur eine Rast, sondern Schlaf. Der Wald war dunkel, warm und still. Ein freundlicher Ort, auch jetzt noch, ohne Bedrohung. Halan atmete auf. Anders hatte Angst im Dunkeln, es war kein Geheimnis zwischen den beiden, aber solange das Dunkel nichts barg, das Halan fürchten mußte, machte es ihm nichts aus, war nur eine andere Form von Licht.
»Ist es noch weit?« fragte Anders. Seine Angst war jetzt unüberhörbar. Halan hätte ihn gern auf sein Pferd geholt, ihm etwas gegeben, an dem er sich festhalten konnte, aber er mußte abwägen, wen er beschützen wollte und wen schonen - Anders würde schon nichts passieren, aber dem armen Pferd durfte nicht noch mehr Gewicht zugemutet werde. Er schwieg.
Rechts von der Straße zweigte ein Weg ab, eigentlich nur ein jämmerlich schmaler Pfad und doch eindeutig menschgemacht. Neugierig spähte Halan in die Richtung und hielt sein Pferd an. Ein Pfad, der irgendwohin führen mußte… und an seinem Ende… ein Licht.
»Was ist?« fragte Anders. »Kommen die Wölfe?«
Dann sah er es auch.

Sie mußten hintereinander reiten, so schmal war der Pfad. Er konnte nicht häufig benutzt werden, denn sonst wären die Zweige, die ihnen ins Gesicht schlugen, schon längst abgerissen worden. Und doch führte er zu einem Haus, keiner verlassenen Ruine, sondern einem richtigen Anwesen, in dem helle Lichter brannten.
Es war kein Wirtshaus, nicht die Hütte eines Wilderers, nichts, was man mitten in einem Wald erwarten konnte. Außerhalb hätte man es vielleicht als Landhaus bezeichnet, ein großes Hauptgebäude, nur eingeschossig, aber weit mehr als zehn Schritt breit, und Stallungen dabei. Lärm drang nach außen, Musik, munteres Stimmengewirr, Gesang.
Halan kniff die Augen zusammen, doch das änderte nichts an dem, was er sah. Vielleicht war es doch ein Gasthaus, abseits der Straße, vielleicht hatten sie nur irgendwo ein Schild am Wegesrand übersehen, oder es war umgestürzt…
Anders saß ab. »Worauf wartest du noch? Gehen wir hinein!«
Aber Halan zögerte. Er hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Irgend etwas stimmte mit diesem Haus nicht.
»Wir können schlecht erwarten, daß sie herauskommen und uns in Empfang nehmen«, fuhr Anders, leicht ungeduldig, fort. »Die hören uns nicht bei dem Radau, und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie hier draußen Besuch erwarten. Nicht mehr um diese Zeit.« Er führe Farrell zu den Stallungen hinüber und schob die Tür auf.
»Hier ist noch viel Platz!« rief er Halan zu. »Komm, bring deines auch noch rein, wir schicken dann später jemanden raus, der sich um sie kümmert.« Mit nicht zu verkennendem Stolz sattelte er Farrell ab. Das war etwas, das er noch vor einer Woche nicht gekonnt hatte, eine Handlung, die seiner nicht würdig war. Aber manchmal, so schien es, war selbst Anders lernfähig.
Halan hatte keine Wahl, als es ihm nachzutun. Sein Verstand riet ihm davon ab, sich dem Gebäude weiter zu nähern, es mochte eine Falle sein, oder ein Räuberlager, aber was wollte er sonst? Etwa im Hof stehenbleiben, oder im Stall schlafen?
Anders klopfte nicht, ehe er die Tür öffnete, ebensowenig, wie er an eine Wirtshaustür geklopft hätte. Er trat einfach ein, mit der größten Selbstverständlichkeit, und mit ebensolcher Selbstverständlichkeit mußte Halan ihm folgen. Er wünschte sich, doch lieber erst vom Hof aus durch ein Fenster gespäht zu haben. Sie waren mitten in ein Gelage geraten.
Ein gutes Dutzend Menschen war auf die weite Halle verteilt, die ohne Flur oder Vorzimmer den wichtigsten Teil des Gebäudes darzustellen schien, gleich einer Wirtsstube. Doch es gab nichts, das wie ein Schanktisch ausgesehen hätte, keinen Wirt und keine Magd. Nur Menschen in den unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit. Niemand stand. Große Kissen am Boden dienten zum Sitzen und, mehr noch, zum Liegen. Während draußen die Luft angenehm mild und lau war, herrschte hier drinnen eine große brodelnde Hitze, denn am Ende der Halle brannte ein Feuer im größten Kamin, den Halan jemals gesehen hatte.
Erst sah es so aus, als niemand sie beachtete. Alle schienen zu sehr mit sich selbst beschäftigt, oder miteinander, Halan wollte es gar nicht erst wissen, und so ließ er seinen Blick über umgestürzte Krüge wandern, über die Weinflecken auf dem gefliesten Boden, und blickte dann Anders an. Er sah seltsam aus. Den Mund halb geöffnet, verdrehte der Junge die Augen, aber sie erfaßten nicht den Raum, sondern irrten ziellos umher, weiteten sich, als versuchten sie verzweifelt, sich an etwas festzuhalten, und rutschten wieder ab. Im Stehen taumelte Anders zur Seite. Halan verfluchte sich für sein Zögern und ergriff ihn beim Arm, bevor er fallen konnte. Einen Moment lang sah es so aus, als ringe Anders mit dem Bewußtsein. Doch dann riß er seinen Arm unwirsch fort.
»Es geht schon«, zischte er. »Aber sie sind… sehr stark.«
»Was?« fragte Halan verwirrt. Er verstand nicht. »Wovon redest du?«
»Diese Leute… sie fühlen alle das gleiche. Es drängt sich auf. Ich muß mich konzentrieren, um es abzuschütteln, und das Schlimme ist -« Er machte eine Pause und sah Halan an, sehr scharf und sehr klar. »Es fühlt sich zu gut an, als daß ich es wirklich will.« Anders lehnte sich rückwärts gegen die Wand und ließ seine Augen wieder davon driften, doch diesmal entging Halan nicht, daß er es nur spielte. Vielleicht hatte Anders wirklich einen Moment lang auf der Kippe gehangen, doch nun hatte er sich voll und ganz unter Kontrolle, ebenso wie Halan. Es war gut so. In einem Haus wie diesem konnten sie nichts anderes sein als wachsam und vorsichtig.
In der Nähe des Feuers erhoben sich drei Personen vom Boden und kamen auf sie zu, zwei Männer und eine Frau. Aber Halan hatte nur Augen für den größeren der beiden Männer - er hatte etwas an sich, das alle Blicke sofort an sich sog und nicht mehr los ließ, und es war unmöglich zu sagen, was an ihm denn nun so besonders war, denn es fiel alles an ihm auf, alles gleichzeitig.

Damiander. gemalt von Andrea Jelen

Es war seine Größe. Vielleicht lag es am Licht, vielleicht waren seine Begleiter so klein, vielleicht hielten sie sich so krumm und er so gerade, aber er war groß, größer als alle Menschen, die Halan jemals gesehen hatte. Dabei wirkte er weder massig noch hager, es war seine perfekte, wohlproportionierte Größe, die ihn furchteinflößend, die ihn gewaltig erscheinen ließ.
Es waren seine Bewegungen. Seine Begleiter schwankten unsicher an seiner Seite, doch er glitt über den Boden, als stamme die Musik, die in Halans Kopf ertönte, deren Ursprung aber nirgendwo zu sehen war, von ihm, aus ihm.
Es war sein Gesicht, das so schön war, daß Halan verzweifelt nach einem größeren Wort als ‘schön’ suchte und, da er kein passendes fand, verzweifelte. Es war seine schillernde, gebräunte Haut, es waren die honiggoldenen Haare, die sein Gesicht in weichen Locken umflossen, es war sein Lächeln, das anzüglichste Lächeln, das Halan jemals gesehen hatte, und doch nicht verletzend, es waren seine Augen - schnell riß Halan seinen Blick von diesen Augen fort, wenn er hineinsah, war er verloren, und er widerstand dem Drang, sich in ihren Tiefen zu verlieren, ebenso wie Anders dem Drang widerstehen mußte, in den Gefühlen dieser Leute zu schwelgen… Es war nicht die Kleidung des Mannes. Beinahe beiläufig nahm Halan wahr, daß der Hausherr - denn niemand anderes konnte es sein, niemand konnte sich derart selbstverständlich bewegen in einem Haus, das nicht seines war, das er nicht selbst erbaut hatte - mit nicht mehr bekleidet war als einigen weiten Tüchern, die er lose um seinen Körper geschlungen hatte: Das war, wie auch der Kelch in seinen Händen, nur Zierwerk, ein Rahmen für ein perfektes Gebilde.
Es war sein Gesicht - es waren seine Augen -
Es war seine Stimme. »Seid mir willkommen«, sagte er. »Ich bin Damiander, der Engel des Rausches.« Seine Stimme klang so, daß Halan einen Moment lang bereit war, ihm zu glauben.
»Wagt es nicht!« preßte Anders hervor, hin- und hergerissen zwischen Faszination und unbeherrschter Wut. »Zieht nicht das Ansehen der Elomaran in den Schmutz! Es gibt keinen Engel des Rausches!«
Damiander drehte lächelnd den Kelch in seinen Händen. »Nun, dann werde ich mich wohl geirrt haben. Ihr müßt es wissen… Engelsgeborene.« Sein Lächeln war atemberaubend, doch Anders’ Worte hatten Halan wieder aufgerüttelt, hatten seine Wachsamkeit zurückgebracht.
»Einen guten Abend«, sagte er freundlich, aber distanziert. Schließlich standen sie in der Halle eines fremden Mannes, und niemand hatte sie eingeladen. »Wir sind Harold und Alexander von Korisanders Blute, und wir wüßten gern, ob es möglich ist, eine Nacht in Eurem Haus zu verbringen.« Er wußte, daß er gegen die Etikette verstieß, Anders hätte die Möglichkeit haben müssen, sich zuerst vorzustellen - aber da hätten sie lange warten können, und es war eigentlich auch nicht anders, als in einem Gasthaus mit dem Wirt zu verhandeln. Und da Damiander sie ohne Zweifel als Engelsgeborene erkannt hatte… warum es leugnen?
»Aber natürlich«, Damiander legte ihm eine Hand auf die Schulter, und, als Halan rasch einen Schritt zurück trat, die andere auf Alexanders. »Ihr seid meine Gäste. Bleibt, solange ihr wollt. Ich werde euch gleich einen Ort zeigen, an dem ihr schlafen könnt. Ihr seht erschöpft aus, mitgenommen, ihr habt eine Rast mehr als verdient.«
Seine Stimme war wundervoll, aber was er sagte… Halan schüttelte sich innerlich. In Gedanken bat er die Elomaran, alle acht, um Vergebung, daß er diesem Hochstapler überhaupt zuhörte. Wahrscheinlich ist er betrunken, versuchte er sich herauszureden, um nicht zugeben zu müssen, daß ein leibhaftiger Engel kaum anziehender wirken konnte. Aber es gab keinen Engel des Rausches. Allein der Gedanke war ein Hohn. Damiander, oder wie immer er in Wirklichkeit heißen mochte, denn sicher hatte er sich diesen Namen selbst gegeben, mochte sich von seinen Kumpanen so feiern lassen, solange sie nicht durch die Gegend zogen und Ärgernis und Irrglauben verbreiteten…
»Aber zuerst«, fuhr Damiander fort, »möchte ich euch bitten, euch zu setzen, und einen Schluck mit mir zu trinken.«
Halan und Alexander blickten einander an. Diese Aufforderung auszuschlagen hieß, sich den Regeln der Gastfreundschaft zu widersetzen, aber nach allem, was hier vorging, war kaum vorstellbar, daß Damiander es bei einem Schluck belassen würde. Langsam nickte Halan. Sie konnten auf sich achtgeben. Auch Alexander war, selbst wenn er oft den Anschein vom Gegenteil erweckte, so willensstark wie alle von Korisanders Blut.
Anders lächelte. Es grenzte an ein Strahlen, was Halan leichte Sorgen verursachte. Seine Augen waren auf den Kelch in Damianders Händen gerichtet. Sie glitzerten unheilvoll. Es war ein schwerer Kelch, silbern, und von nicht zu verachtenden Fassungsvermögen. Ein schöner Kelch. Halan hatte noch nie einen feiner gearbeiteten gesehen. Wahrhaftig eines Mannes würdig, der sich Engel nannte. Aber in diesem Moment wußte Halan auch, daß er nicht daraus trinken würde. Nicht, solange sich Rausch und Weisheit widersprachen.
Damiander wies ihnen einen Platz, von dem aus sie das Feuer gegen all den Lärm knistern und krachen hören konnten und der Flammenschein unruhige heiße Flecken in ihre Gesichter malte, als sie sich setzten. Die Kissen waren warm und weich, schmiegten sich um ihre Körper, als hätten sie nur darauf gewartet. Aber Halan ließ sich nicht einlullen. Er blickte halb auf Anders, halb an ihm vorbei in die Glut.
»Meine Gäste«, sagte Damiander. »Meine würdigen, engelsgeborenen Gäste.« Er klang amüsiert. Er ließ sich in das Kissen neben Halan sinken, rutschte dann etwas nach hinten, um sie beide im Blick zu haben, und doch schien es ihn nicht zu stören, daß er nun auf dem Boden saß. Ohne seine Augen von Halan und Anders zu nehmen, reichte er den Kelch hoch zu einem seiner Begleiter, der ihn aus einem großen Krug füllte. Lächelnd hielt er dann, mit beiden Händen, Halan den Kelch hin. »Auf eure Seelen«, sagte er.
Aber Halan zögerte, schrak davor zurück, den bis direkt unter den Rand gefüllten Pokal zu nehmen. Damiander lachte, führte das Gefäß an seine eigenen Lippen und nahm einen Schluck, bevor er die Geste wiederholte. »Auf Korisander, dann«, flüsterte er, »der euch die Weisheit der Vorsicht und die Dummheit des Mißtrauens eingegeben hat.«
Halan nahm den Kelch; er war schwerer, als er gedacht hatte, und hob ihn an seinen Mund. Er gab vor zu trinken, doch er verschloß seinen Gaumen mit seiner Zunge, und als er den Kelch sinken ließ und schluckte, schluckte er nur Luft. Damiander beobachtete ihn, doch obwohl ihm Halans Schwindel nicht entgangen sein konnte, verzog er keine Miene. Erst, als Halan den Kelch an ihn zurückreichen wollte, hob er abwehrend die Hand und führte sie dann in einem Bogen zu Anders. Etwas zögerlich reichte Halan den Kelch weiter, hoffend, daß Anders ihm nachtun würde.
Anders nahm den Kelch, wog ihn, ohne ihn anzublicken, in seinen Händen. Sein Gesicht war leer. Jetzt erst fiel Halan auf, wie plump Anders’ Finger unter den längst schmutzigbraunen Handschuhen wirkten, wie unförmig, doch dann begriff er, daß es nicht stimmte, daß in Wirklichkeit nur der Kelch so wunderschön und zierlich verarbeitet war, daß er alles um ihn herum verblassen ließ, sogar die Hände eines Engelsgeborenen. Nur Damianders Hände nicht.
Anders blickte durch Halan hindurch, doch Damiander an, und dann nickte er, hob den Kelch, so daß sein Gesicht völlig dahinter verschwand. Lange rührte er sich nicht, bis auf die tanzenden Bewegungen seines Kehlkopfs, als er schluckte. Endlich ließ er den Kelch sinken und reichte ihn an Damiander zurück, leer.
Er sagte nichts dabei, und er unternahm auch nichts, um Halans vorwurfsvollem Blick auszuweichen, erwiderte ihn mit triumphierender Zufriedenheit. Halan versuchte auszurechnen, wieviel der Kelch fassen mochte, wieviel Anders vertrug, ob es möglich war, von dieser Menge betrunken zu werden, doch er wußte nicht, wie stark dieser Wein war…
Er schrak zusammen, als etwas seine linke Kopfhälfte berührte, und wäre am liebsten im Boden versunken, als er begriff, daß Damiander ihm soeben die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte.
»Hier«, sagte Damiander und streckte ihm wieder den Kelch hin, wieder bis an den Rand gefüllt, doch diesmal hielt er ihn nur mit einer Hand, mit der anderen hielt er zwischen zwei Fingern eine von Halans Haarsträhnen, ganz leicht, ohne daß man es fühlen konnte. »Bist du nicht gerade zu kurz gekommen?«
Halan schüttelte den Kopf, und dabei entglitt die Strähne Damianders Fingern, die sie nicht zurückzuhalten versuchten; ihre Spitze streifte das Silber des Kelchs und schien danach zu glänzen.
Halan schüttelte die Wärme ab, die sich seiner zu bemächtigen suchte - er akzeptierte die Hitze des Kamins, doch diese war falsch, sie kam von innen, und Halan verbannte sie.
»Danke«, sagte er, und »Nein«, und nahm den Kelch nicht.
»Du willst mich beleidigen«, sagte Damiander, und wieder nahm er erst selbst einen Schluck, ehe er Halan den Kelch hinstreckte. Halan fühlte sich nun von beiden Seiten beobachtet, als er das Angebot annahm; er verfluchte sich, das Haus entdeckt, den Weg hierher jemals betreten zu haben. Wieder gab er vor zu trinken, denn wenn dies schon ausreichte, um Damiander zufriedenzustellen, war es gut. Sie waren in einem kranken Traum gefangen und mußten mitspielen.
Wieder wollte Halan den Kelch an Damiander zurückgeben, aber diesmal umfaßte der Mann Halans Handgelenk und führte sie selbst zu Anders, der sofort zugriff und den Kelch entgegennahm. Halan hielt die Luft an - er würde doch nicht noch einmal…
Denn diesmal hatte Halan den Duft des Weines eingeatmet, er roch, dem konnte niemand widersprechen, köstlich, aber ebenso ohne jeden Zweifel war er schwer, und sehr stark, und weder Halan noch Anders hatten an diesem Tag viel gegessen…
Halan entging nicht, wie Anders beim Trinken über den Rand des Kelches hinweg zu ihm hinüberschielte, als versuche er wieder einmal nur, Halan zu provozieren, und Halan wollte schon aufspringen, wollte Anders den Kelch aus der Hand reißen, aus der Hand schlagen, wollte Anders packen und ihn hinauszerren - aber er konnte es nicht, konnte nicht einmal sein Handgelenk, das Damiander immer noch sachte umfaßt hielt, befreien, konnte es nicht einmal versuchen…
Die Bewegung, mit der Anders den leeren Kelch Damiander zurückreichte, ging nur vage in die Richtung des selbsternannten Engels, während er mit der anderen Hand Halt suchte, sich am Boden abstützte, um nicht im Sitzen das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Gesicht war so glücklich, wie Halan es noch nie gesehen hatte - berauscht und glücklich und verzückt - doch dann erkannte Halan, daß in den großen glänzenden Augen noch etwas lag, ein verzweifeltes Flehen, ein Betteln, ein verlangendes Gieren nach mehr.
Halan zog sich zurück, nach hinten und innen. Es war zu spät. Anders hatte seine Entscheidung getroffen, und wenn er sie auch schnell bitter bereuen würde, spätestens wenn er anfing sich zu übergeben, konnte ihn jetzt doch nichts mehr davon abbringen.
Danach war es wieder Halan, an den Damiander den Kelch, nachdem er selbst einen Schluck daraus getrunken hatte, weiterreichte, auch wenn Anders schon seine Hände danach ausstreckte.
»Die Elomaran singen«, sagte er leise, »und du willst ihnen nicht zuhören?«
Diesmal behielt Halan den Kelch nicht, täuschte gar nicht erst ein Trinken vor, sondern reichte ihn direkt mit verächtlicher Miene und ohne den Jungen dabei anzusehen, an Anders weiter. Selten zuvor hatte er jemanden so gehaßt wie Damiander in diesem Moment, Damiander, dessen Verführungsversuche an Halan abprallten und der sie darum an einem hilflosen Kind demonstrieren mußte, Damiander, der versuchte, ihren Willen zu brechen -
Obwohl er es nicht wollte, es ihn entsetzte und ekelte, mußte Halan doch wieder zu Anders hinübersehen. Er redete sich ein, daß er es nur aus Sorge tat, doch es war auch Faszination dabei und Neugier - und Neid.
Anders hielt den Kelch mit beiden Händen, er zitterte, während er trank, und dunkler Wein lief über sein Gesicht, tropfte von seinem Kinn und ließ neue Flecken wie Blut in den Handschuhen entstehen. Es war ein entsetzlicher Anblick, und ein entsetzlich schöner.
Dann stieß Anders ein leises Geräusch aus, das wie ein Seufzen klang. Der Kelch entglitt seinen Fingern und rollte zu Boden, wo er seine letzten Tropfen wie ein dünnes rotes Band hinter sich her zog. Einen Moment lang saß Anders reglos, dann verdrehte er die Augen und rutschte zur Seite, sank in sich zusammen.
»Anders!« schrie Halan auf und rüttelte ihn an der Schulter. Unter seiner Hand bewegte sich der Körper des Jungen schlaff hin und her. Angst griff nach Halan, aber sie gab ihm auch die Kraft, sich auf Damiander zu stürzen. »Was habt Ihr gemacht? Ihr habt ihn vergiftet!«
Damiander faßte ihn bei beiden Schultern, vorsichtig, ohne ihm weh zu tun, und doch zu fest, als daß Halan sich hätte befreien können. »Nein«, sagte er sanft. »Er ist nicht vergiftet. Er hat meinen Kelch geleert, dreimal, und das war seine eigene Entscheidung.«
»Ihr habt ihn dazu getrieben! Es ist Eure Schuld -«
»Nein«, sagte Damiander. Halan hatte noch nie ein entgültigeres ‘Nein’ gehört. »Ich habe nichts dergleichen getan. Du warst die ganze Zeit über dabei, kannst bezeugen, daß ich ihn mit keinem Wort, keiner Geste gezwungen, nicht einmal überredet habe. Es war seine eigene, freie Entscheidung. Mach dir keine Sorgen. Ich werde mich um ihn kümmern.«
Halan riß sich los, warf sich zwischen den Mann und den bewußtlosen Knaben. »Ihr rührt ihn nicht an!« schrie er verzweifelt. »Ich werde ihm helfen.«
Damiander schüttelte den Kopf, und seine Haare flossen hin und her wie Wellen flüssigen Goldes. »Das kannst du nicht«, sagte er belustigt. »Er weiß das. Darum hat er auch beschlossen, sich lieber von mir helfen zu lassen.« Er strich Halan mit dem Rücken seines Zeigefingers über das Gesicht. »Ebenso, wie du deine Entscheidung getroffen hast.« Mit sanfter Gewalt schob er Halan beiseite und beugte sich über Anders.
Halan ergriff ihn beim Arm und zog ihn zurück. »Ihr rührt ihn nicht an! Ihr werdet mir zeigen, wie ich ihm helfen kann!« Zorn brannte in ihm, schoß wie Feuer durch seine Adern. Damiander blickte schweigend an ihm hinunter. Dann lächelte er.
»Deine Seele singt«, sagte er. »Aber du willst ihr nicht zuhören.«
»Laßt mich ihm helfen«, wiederholte Halan.
Ohne die Augen von ihm zu nehmen, angelte Damiander nach dem Kelch. »Du bist immer noch eingeladen, einen Schluck mit mir zu trinken«, wisperte er.
Halan schüttelte den Kopf. Hatte er es zuvor schon nicht gewollt, so genügte nun der Anblick des kläglich zusammengesunkenen Anders, um diesen Willen für alle Zeit zu festigen. »Wer seid Ihr?« flüsterte oder schrie er.
Lächelnd blickte der Mann ihn an. »Ich sagte es bereits«, sagte er. »Ich bin Damiander, der Engel des Rausches.«
Seine Augen waren ein Meer des Goldes, grün wie die Nacht und schwarz wie der Himmel und blau wie die Ewigkeit. Ihre unendlich warme Tiefe hüllte Halan ein. Wellen des Glücks schossen durch seinen Körper, zerschlugen alle Ängste, zermalmten alle Zweifel, zerschmetterten alle Gedanken. Die Welt verschwamm vor Halans Augen.
Das Gold umfing ihn.

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