Drittes Kapitel

Die Menschen waren schnell bereit, ihre Toten zu vergessen, aber noch schneller ihre Taten. Niemand sprach mehr von der Meute, die versucht hatte, Lyda in den Nilomar zu stoßen, niemand kam, um es noch einmal zu versuchen - es war niemals geschehen, nur ein böser Traum, der sich für Lyda zwar allnächtens wiederholte, an den sie aber nicht erinnert werden wollte, solange sie wach war. Niemand kam, um eine Totenmagd in den Tod zu hetzen. Und niemand hatte ein kleines Mädchen die Kellertreppe hinuntergestoßen…
Lyda blieb im Schloß, nicht, weil sie es wollte, und nicht, weil es keinen anderen Ort für sie gab, sondern aus einem seltsamen Pflichtgefühl heraus. Das Schloß brauchte eine Totenmagd, und für Neala gab es in der Stadt zu viel zu tun, als daß Lyda von ihr diese Arbeit auch nur hätte erbitten können. Aber Lyda blieb aus noch einem Grund: Um ein falsches Schweigen durch ein richtiges zu ersetzen.
Noch nie war es die Aufgabe der Totenmägde, die Wahrheit aufzudecken, einen Todesfall aufzuklären. Aber Lyda war nicht nur eine Totenmagd. Sie war auch ein Mensch, voller Zweifel, und Ängste, und Neugier. Zwischen ihr und ihrem gewohnten Leben lag ein kleiner eiserner Schlüssel, der Schlüssel zu einer Tür, und der Schlüssel zum Tod eines Mädchens.
Es waren viele Kinder gestorben in Lydas Jahren am Hof, bestimmt ebenso viele wie Erwachsene, aber keine Mädchen von vierzehn Jahren, zu alt, um dem Kindstod zu erliegen, und zu jung, um im Kindsbett zu sterben. Menschen hatten einander im Streit erschlagen, aber nie war einer ermordet worden…
Lyda stutzte. Eine Erinnerung drängte sich auf, an eine Behauptung, an einen Verdacht. Vielleicht hatte es doch einen Mord gegeben. Vielleicht war der König nicht nur an seinem kranken Herzen gestorben…
Ein Teil von Lyda suchte die Gleichgültigkeit. Wer konnte - und wollte - das heute noch wissen? Der Leib des Königs trieb durch die grundlosen Tiefen des Nilomar, wie auch der Leib der Zofe, und ihre Seelen mochten längst Frieden gefunden haben… Aber ein anderer Teil von Lyda sagte: Es war noch nie die Aufgabe der Stille, einen Menschen vom Denken abzuhalten.
Lyda verließ ihre Kammer, was sie sonst nur selten tat, und machte sich auf die Suche nach dem kleinen stillen Mädchen.
Es war keine leichte Suche. Zum einen kannte Lyda nicht einmal den Namen des Kindes - es war keines aus dem Palast, nur soviel stand fest - und zum anderen mußte Lyda allen, jedem einzelnen Bewohner, mißtrauen. Das war fremd für sie. Eine Totenmagd traute niemandem, keinem Lebenden zumindest, aber noch nie hatte Lyda jemandem direkt und aktiv mißtraut.
Es gab nur eine, die Lyda nach dem fremden Mädchen fragen konnte. Und ihr traute Lyda weniger als irgend einem anderen: Aralee. Es gab kaum einen Zweig einen Gedankenbaum, der nicht in der Königswitwe endete, von Harolds ersten Anschuldigungen bis hin zu der Tatsache, daß dieses kleine Mädchen ihr Zögling zu sein schien…
Auf ihrem Weg durch das Schloß war Lyda von einer seltsamen Stille begleitet, einer, die sie nicht kontrollieren konnte. Etwas schien in diesen Gängen zu fehlen, ein Lachen, oder das Geräusch hüpfender Füße - mit Hester hatte Koristir mehr als nur eine Zofe verloren.
Lyda wußte, wo Aralees Zimmer lagen, dort hatte sie gesessen, bevor der König starb, und versucht, der Frau, die ihn - vielleicht - ermordet hatte, Trost zu spenden. Sie war dankbar, nicht nach dem Weg fragen zu müssen. Niemand sollte wissen, wohin sie ging.
Die Tür war verschlossen. Lyda stockte. Totenmägde klopften nicht an Türen, man bat sie ins Haus - eine Totenmagd, die von sich aus eintrat, wurde als ein schlechtes Zeichen gesehen, als ein Bote des Unheils, oder des Todes. Plötzlich mußte Lyda lächeln - noch etwas, das Totenmägde nicht taten: So sollte es an ihr sein, Unheil über Aralee zu bringen? Sie klopfte an.
Im Zimmer blieb es still. Lyda verharrte, klopfte noch einmal, wartete, und dann öffnete sie die Tür und trat ein. Dann machte sie erschrocken einen halben Schritt zurück. Sie hatte erwartet, das Zimmer leer zu finden, heimlich und unbemerkt eindringen zu können - aber das Zimmer war nicht leer. Auf dem Boden kniete niemand anderes als das kleine Mädchen.
Vor ihm auf dem Boden lag, aufgeschlagen, ein großes Buch und ein Bogen Pergament, das mehr von Tintenflecken als Schriftzeichen bedeckt war. Mit großer Mühe malte das Kind sehr, sehr langsam die Rundungen eines Buchstabens und war dabei so in die Arbeit vertieft, daß es Lyda gar nicht bemerkte.
Lyda zog leise die Tür hinter sich zu. Dann wartete sie noch einen Moment, beobachtete das Mädchen, bevor sie sagte: »Ich habe dich gesucht.«
Das Mädchen zuckte zusammen, seine die Feder blieb hängen und machte, als sie davonsprang, einen weiteren großen Fleck auf das Blatt. »Ich bin die ganze Zeit über hier gewesen.«
Lyda nickte. »Was schreibst du?« fragte sie, auch wenn es sicher nicht das war, worüber zu reden sie gekommen war - vermutlich waren sie beide zu überrascht.
»Ich lerne es gerade erst«, erwiderte das Mädchen. »Es ist sehr schwer. Nicht die Zeichen - ich kann sie bald alle verstehen, wenn ich sie sehe - aber ich hasse diese Feder! Es geht alles so langsam.« Abrupt und ohne den Tonfall zu wechseln, setzt sie hinterher: »Habt Ihr den Schlüssel noch?«
»Ich trage ihn bei mir«, erwiderte Lyda. »Aber ich habe ihn noch niemandem gezeigt. Hat dich jemand danach gefragt?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Niemand.«
»Und nach Hester?«
»Auch niemand.«
»Und hast du noch jemandem von deinem Verdacht erzählt? Daß sie nicht allein im Keller gewesen sein kann?« Lyda fühlte sich seltsam fremd. Sie war niemand, der Fragen stellte, weder sich, noch anderen, ebenso wie sie sonst niemals Fragen beantwortete. Aber hier stand sie, stellte Fragen voller Ernst und erhielt, mit ebenso großem Ernst, Antworten.
»Keinem Menschen«, sagte das Mädchen.
Vorsichtig - sehr, sehr vorsichtig - fragte Lyda weiter: »Noch nicht einmal Aralee?«
Das Mädchen schwieg einen Augenblick zu lange. »Nein«, sagte sie dann. »Aber ich glaube, sie ahnt, daß ich ein Geheimnis vor ihr habe. Manchmal blickt sie mich seltsam an.«
Beunruhigt fragte Lyda: »Vertraust du ihr?«
»Manchmal«, sagte das Mädchen. »Manchmal macht sie mir Angst. Sie tut mir leid. Sie hat große Sorgen und sehr viel zu tun. Ich glaube, niemand hier arbeitet so viel wie sie.«
Lyda konnte nicht anders, als dieses Kind für seinen Verstand zu bewundern. So klug, und so vernünftig. Und viel zu ernst für ein Kind. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, es von hier fortzubringen, in den Konvent zu ihren Schwestern. Vielleicht steckte in diesem Kind eine Totenmagd. Aber dann schüttelte Lyda den Kopf. Keine Totenmagd, das konnte jeder sehen, der wußte, worauf er achten mußte. Aber wenn ein Kind Dinge sah, die es nicht sehen durfte…
»Ich kenne deinen Namen nicht«, sagte Lyda.
Das Mädchen errötete leicht. »Natara«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß ich es nicht -«
Lyda schüttelte den Kopf. »Es ist in Ordnung. Namen sind nicht so wichtig wie manches andere. Viele wissen nicht einmal, daß ich einen besitze.« Sie lächelte in Erwartung einer Erwiderung. Kinder in diesem Alter sollten zumindest lächeln.
»Ihr heißt Lyda«, entgegnete Natara. »Aralee hat Euch so genannt. Sie nennt alle Leute bei ihren Namen, das mag ich an ihr. Sie will auch, daß ich sie Aralee nenne.«
Lyda sagte nichts von Harolds Anschuldigungen, von seinem Verdacht, der längst auch ihr eigener war. Natara mußte vorsichtig sein, aber das war sie auch so schon, und je mehr Angst sie hatte, desto eher würde sie sich verraten, und desto eher würde Aralee Verdacht schöpfen. Schon beinahe wollte Lyda wieder gehen - je länger sie blieb, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, von der zurückkehrenden Aralee angetroffen zu werden und sich erklären zu müssen - aber dann fiel ihr ein, wonach sie von Anfang an hatte fragen wollen.
»Zu was für einem Raum - glaubst du - gehört der Schlüssel?«
Natara zögerte wieder, ehe sie antwortete. »Zwei Frauen werden im Palast gefangengehalten«, sagte sie dann. »Zwei Ausländerinnen, die Pferde stehlen wollten - ganz seltsame Frauen, sie sind böse, glaube ich - ich hatte vergessen, die Tür hinter ihnen wieder zuzusperren, und Hester wollte es für mich machen -« Plötzlich kippte Nataras Stimme, und Tränen schossen wieder in die Augen des Mädchens. »Und wenn die beiden nun Hester gestoßen haben, damit sie fliehen konnten?«
Lyda hielt sie fest, strich ihr über den Kopf, über den Rücken, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Das hättest du erfahren«, sagte sie leise. »Wenn du den Schlüssel hattest, und die Frauen wären geflohen, hätte man dich sicher zur Rechenschaft gezogen. Man würde im ganzen Palast von nichts anderem sprechen. Aber kannst du mir zeigen, wo die Frauen gefangengehalten werden?«
Natara nickte, und im nächsten Moment schüttelte sie den Kopf. »Ich kann Euch nicht beschreiben, wo sie sind, nur versuchen, Euch hinzuführen, aber… ich will sie doch nie wiedersehen, und ich soll doch nicht von hier weggehen.« Sie machte eine Pause. »Aber ich kann Euch das Zimmer auch zeigen, ohne daß ich selbst mit hineinmuß, oder? Und wenn mich jemand fragt, kann ich immer noch sagen, ich mußte mal austreten.«
Lyda fühlte sich schuldig. Ein Kind zum Lügner zu erziehen war das letzte, was sie wollte. Doch sie widersprach nicht.
Sorgsam drückte Natara den Korken auf die Tintenflasche und strich die Feder sauber, bevor sie aufstand und ihr Kleid glättete. »Aber wenn wir uns verlaufen«, sagte sie, »dürfte Ihr mir nicht böse sein.«

Lyda hatte einen Gang in den Keller erwartet, dorthin, wo die Kerker waren, dorthin, wo Hester gestoben war, wo sich eines zum anderen fügen konnte. Aber Natara führte sie zwei Treppen hinauf, in einen hellen, freundlichen Flur, wo es keine Wachen gab, nur hurtige Diener.
»Dort«, sagte das Mädchen und zeigte auf eine Tür, die nichts von den anderen zu unterscheiden schien. »Es war hier - glaube ich.«
Lyda sah sich noch einmal verstohlen nach den Seiten um, lauschte in die Stille, ob auch wirklich niemand kam, und zog dann den Schlüssel hervor. Er sah nicht anders aus als gewöhnliche Schlüssel, nicht so groß, als daß er für Erstaunen gesorgt hätte, nicht so klein, als daß er an verborgene Geheimnisse denken ließ. Vielleicht war er ein klein wenig rostig, aber… waren nicht alle Schlüssel irgendwie rostig?
Lyda nickte Natara zu, die ihr mit weitaufgerissenen Augen und festzusammengebissenen Lippen zusah, und steckte, mit Fingern, die sie zur Ruhe zwingen mußte, den Schlüssel ins Schloß. Sie versuchte es. Er paßte nicht. Nicht einmal, daß er sich nicht hätte umdrehen lassen - er paßte nicht ins Schloß. Er war zu groß, nur ein winziges bißchen und doch genug, um eindeutig zu zeigen, daß er und das Schloß nicht zusammengehörten. Lyda schüttelte den Kopf und schob dann den Schlüssel zurück in ihre Tasche, wollte schon wieder gehen, es gemeinsam mit Natara an einer anderen Tür, in einem anderen Stockwerk versuchen - als sie Geräusche hinter der Tür hörte, ein Rascheln, ein Flüstern.
Sie blickte zu Natara hinüber, legte - als ob das noch nötig gewesen wäre - einen Finger an die Lippen, dann trat sie dicht an die Tür heran, und lauschte. Drinnen sprachen zwei Frauen. Ihre Stimmen kamen Lyda bekannt vor, doch da keine Worte zu verstehen waren, konnte Lyda sie erst nicht richtig einordnen. Sie warf noch einen letzten Blick auf den Schlüssel, ehe sie ihn wieder in die Tasche steckte. Er würde seine Herkunft noch offenbaren, dessen war Lyda sich sicher.
Unschlüssig stand sie vor der Tür, wußte nicht, ob sie auf gut Glück versuchen sollte einzutreten, ob sie noch näher herangehen sollte, um zu verstehen, was drinnen geredet wurde - als Natara sie am Ärmel zupfte. Wortlos deutete das Kind auf einen Nagel neben der Tür. Dort hing, als hätte er nur auf sie gewartet, ein Schlüssel.
Lyda runzelte die Stirn. Das kam ihr zu wünschenswert vor, um Wirklichkeit sein zu können. Wer einen Raum verschloß, hängte doch nicht den Schlüssel direkt neben die Tür… Neben keiner anderen Tür auf diesem Flur hingen Schlüssel. Und dieser Nagel sah auch nicht so aus, als würde er hierhergehören. Dort, wo er in die Wand geschlagen war, fehlte etwas Verputz; die Stelle nahm sich dunkel unter dem sauberen Kalk aus… Wieder blickte Lyda sich um, dann nahm sie den Schlüssel und öffnete die Tür.
Bevor sie die Klinke herunterdrückte, nickte sie Natara zu. »Du gehst jetzt besser«, sagte sie leise. »Beeil dich, bevor Aralee sich wundert, wo du bist!«
Das Mädchen machte auf der Stelle kehrt und lief davon, und einen Moment lang fragte sich Lyda, was es wohl mehr fürchtete: Aralees Fragen, oder die beiden Frauen noch einmal treffen zu müssen.
Lyda zog den Schlüssel ab und hielt ihn in der Hand, als sie eintrat. Warme, stickige Luft schlug ihr entgegen, der Geruch von einem schweren Parfüm, das zuerst an Rosen und dann an Moder denken ließ. Dabei stand das Fenster weit offen, und Licht fiel genug in den Raum. Es gab keinen Zweifel mehr, daß Lyda die richtigen Frauen gefunden hatte.
Die beiden hockten nebeneinander auf dem Stück des Fußbodens, das noch nicht von Stoff bedeckt war. Um sie herum lagen verstreute Kleidungsstücke, Bettzeug und etwas, das wie ein halbfertiger Wandteppich aussah - aus einem einzelnen gestickten Arm hing ein Faden heraus, an dessen Ende mit eine Nadel baumelte: Offenbar waren die Frauen also nicht ganz ohne Zeitvertreib hier eingesperrt. Lyda erkannte die beiden wieder, aber nach Nataras Worten hatte sie auch niemand anderen erwartet. Sie versuchte, sich an die Namen der Frauen zu erinnern, doch während sich nahezu alles, was an jenem Tag passiert war, schmerzhaft unauslöschlich in Lydas Erinnerung eingebrannt hatte, war die Szene in den Stallungen seltsam verschwommen.
Die beiden Frauen starrten Lyda entgeistert an. Ob sie sich an sie erinnern konnten? Bestimmt nicht. Zu schnell war Lyda damals mit dem Pferd geflohen… Seltsam, daß nun diese beiden bestraft wurden für den Versuch einer Tat, die, wiewohl ausgeführt, für Lyda straflos ausgegangen war. Seltsam, daß Lyda dennoch keine Schuld verspürte.
Dann sagte die Rothaarige: »Ich denke, jetzt geht sie einen Schritt zu weit.« Als sie ihre Stimme hörte, fiel Lyda auch ihr Name wieder ein: Roveen. Die Blonde hieß Gaell. Ihre Stimmen hatte Lyda sehr viel besser kennenlernen können als ihre Gesichter, auf die sie nur einen flüchtigen Blick erhascht hatte. »Wir hatten alte Frauen, junge Frauen, ein kleines Mädchen, die gnädige Sirahë in Person, alles außer Männern - und jetzt also eine Totenmagd.«
Sie sagte es, ohne die Mitgefangene anzublicken, direkt in den Raum hinein und schien mehr mit der Luft zu reden als mit jemandem sonst.
»Mich schickt sie nicht«, erwiderte Lyda.
Roveen hob eine Augenbraue, dunkel wie ihr Haaransatz, der das Rot eine Fälschung nannte. »Nicht? Glaubt Ihr, es erleichtert mich, wenn eine Totenmagd mich freiwillig besucht? Oder seid Ihr ihretwegen gekommen?« Sie deutete flüchtig auf Gaell.
Lyda schüttelte den Kopf. »Ich komme zu euch beiden. Ich will mit euch sprechen.«
Jetzt hob Roveen ihre Mundwinkel, aber nur kurz. »Wenigstens seid Ihr ehrlich… nun, Ihr könnt auch schlecht vorgeben, und bedienen zu wollen.« Mit einem kurzen Seitenblick auf Gaell fügte sie hinzu: »Auch wenn wir sehr, sehr kurz davor stehen, vor Langeweile zu sterben.«
Lyda betrachtete die Stickerei auf dem Fußboden. Sie hatten zu zweit daran gearbeitet, beide nicht unbegabt - nicht die ganze Fläche mit kleinen Knötchen bedeckt, sondern die Umrisse von Bildern gestickt. Der Stoff lag in einem unordentlichen Haufen, aber alle Bilder, die Lyda erkennen konnte, zeigten das Gleiche: Männer und Frauen… Gaell und Roveen hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihnen Kleidung zu sticken.
Lyda zog die Tür hinter sich zu, überlegte, ob sie wieder abschließen sollte, und entschied sich dann dagegen. Schließlich wollte sie zeigen, daß sie nicht von Aralee geschickt wurde.
»Was hat Aralee mit euch vor?« fragte sie.
Die Frauen sahen erst einander, dann Lyda an. »Wer?«
»Die Königswitwe«, erklärte Lyda. »Die jetzige Regentin.«
Gaell und Roveen lachten hell auf. »Königswitwe!« rief Gaell. »So nennen sie es hier also! Bei uns gibt es kein Wort für eine Konkubine, die ihren Prinzen überlebt.«
Lyda bemühte sich, weder zu erröten noch zu lachen, als sie plötzlich Aralees Ehre wiederherstellen mußte. »Sie ist die Witwe eines Königs«, sagte sie ruhig. »Ihr Mann starb vor fünfzehn Jahren. Er war der Vater der letzten Königs, und der von Alexander. Sie ist keine Konkubine.«
»Nichts, wofür man sich schämen müßte«, entgegnete Roveen, immer noch lachend, aber mit beleidigter Schärfe in ihrer Stimme. »Und nach allem, was wir wissen, war die Sirahë durchaus die Geliebte des letzten Königs, auch wenn ihr hier keine offiziellen Konkubinen habt.«
Lyda fragte sich, woher die Frauen das wußten. Koristir war ein Ort voller Klatsch und Gerüchte, aber alles, was sie bis jetzt über eine Liebschaft zwischen Aralee und dem König gehört hatte, waren Behauptungen aus Harolds Mund - was durchaus bedeuten konnte, daß sie wahr waren, aber… wie sollte man in Loringaril davon wissen? Lyda stellte die Frage nicht, wiederholte nur die erste.
»Was hat sie mit euch vor?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Gaell und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. Sie war sorgfältig geschminkt, doch ihr Haar unordentlich und zerzaust, nicht kunstvoll aufgetürmt wie Roveens. Diese lachte wieder spöttisch.
»Ich glaube langsam, daß sie es selbst nicht weiß. Sie sagte, wir hätten versucht, Pferde zu stehlen -«
»Haben wir auch!« warf Gaell ein, nicht ohne Stolz.
»- aber selbst bei uns kommt man für so etwas in den Kerker und vor Gericht, oder andersherum. Ich dachte, sie versucht vielleicht, Lösegeld für uns zu bekommen, aber Harven würde nichts für uns bezahlen. Er ist ein Geizhals, und außerdem sind wir ersetzbar. Aber die gnädige Sirahë versucht, uns auszuquetschen. Kommt und stellt Fragen. Dann, als wir nicht mit ihr reden wollen, schickt sie uns andere, nur keine Männer - sie glaubt, damit kann sie uns zermürben. Einmal hat sie versucht, uns betrunken zu machen, obwohl sie noch vom Festbankett wissen müßte, daß wir dann nur sinnloses Zeug von uns geben…« Roveen lachte wieder, auf diese kurze, bellende Art, die an ein Husten erinnerte, und wickelte einen Faden roten Seidengarns um den Finger.
Lyda deutete auf die Stickerei. »War das auch ihre Idee?«
Gaell nickte, während Roveen wortlos das lose Ende des Fadens um ihre andere Hand wickelte, anspannte, und wieder locker ließ. »Wir haben ihr gesagt, wir sind Hofdamen. Sie sagt, dann hat sie genau das richtige für uns. Und als nächstes bringt sie uns einen Korb mit diesem halbvermoderten Stoff und das Garn. Wir können sticken, aber sie ganz gewiß nicht.«
Lyda versuchte, sich Aralee über einer Stickerei vorzustellen, und merkte, daß ihr das nicht gelang. Sie beugte sich nieder, hob eine Ecke des Stoffes an und roch daran. Der schwere Geruch, der ihr beim Eintreten aufgefallen war, ging nicht von den Frauen aus. Es war der Stoff.
»Wir haben ihn parfümiert, um den Gestank zu überdecken«, kicherte Gaell, »und den Korb aus dem Fenster geworfen. Dieses Zeug muß mindestens hundert Jahre alt sein! Wollt Ihr sehen, was wir sticken? Es soll eine Überraschung für die Sirahë werden.«
Lyda sagte nicht, was sie dazu dachte - daß wohl alles andere Aralee mehr verwundert und überrascht hätte. Mit einem stillen Lächeln auf den Lippen ließ sie den alten Stoff vor sich ausbreiten und konnte nun all die verrenkten und verschlungenen Leiber in aller Pracht bewundern. Wenn es dies war, was Roveen und Gaell vermißten, nahmen sie es zumindest mit Humor. Ganz konnte Lyda es nicht nachvollziehen - im Leben einer Totenmagd waren so viele andere Dinge wichtig, aber für Konkubinen… Einen Moment lang dachte Lyda daran, daß sie niemals eine Wahl gehabt hatte; sie war niemals etwas anderes gewesen…
»Gaell, jetzt!« schrie Roveen, und als nächstes wurde Lyda von hinten gepackt und zu Boden gerissen.
Für einen Moment kehrte alles zurück: Die Angst, die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein. Einen Moment lang wurde sie wieder in den Nilomar geworfen. Aber nur einen Moment lang. Dann griff Lyda nach der Stille, und während sich um ihren Hals eine Schlinge legte, zusammenzog, bis sie sich gerade eben in ihre Haut einschnitt, hüllte sich Lyda ganz in eine Ruhe, die sie die Schmerzen von außen sehen ließ. Sie rührte sich nicht - dafür nahm sie das Knie in ihrem Rücken und die Schnur um ihre Kehle zu ernst - aber sie verspürte keine Angst mehr.
»Nimm ihr den Schlüssel ab!« rief Roveen. »Schnell! Sie hat ihn noch in der Hand!«
Lyda schloß ihre Finger um den Schlüssel zusammen. Sie hatte noch niemals Gewalt gegen jemanden angewandt, aber sie wußte, solange sie nicht an den Schlüssel kamen, würden Roveen und Gaell sie am Leben lassen.
»Sie versteckt ihn!« sagte Gaell. »Mach was, ich kann sie nicht mehr lange halten!«
Dann Roveen, weitaus ruhiger, aber deutlich am Rande ihrer Geduld: »Gaell, so wie du auf ihr sitzt, kann sie sich gar nicht bewegen, und sie versucht es auch nicht. Also nimm ihr jetzt den Schlüssel ab. Brech ihr die Hand, wenn es sein muß.«
»Mach du doch!«
»Ich habe keine Hand frei. Ich halte die Garotte.«
Einen Moment lang schwiegen beide. Der Druck auf Lydas Wirbelsäule wurde stärker, das Atmen schwerer, aber es war Gaell, nicht Lyda, die vor Anstrengung ächzte.
»So«, sagte Roveen. »Ihr hört uns, Totenmagd. Es ist uns ernst. Wenn Ihr uns nicht herauslaßt, bringen wir Euch um. Wir töten Euch bestimmt nicht gern, aber wir tun es.«
»So wie das Mädchen?« fragte Lyda flüsternd.
»Was?« rief Roveen alarmiert und zog mit einem Ruck die Schnur fest in Lydas Hals, nur um sie im nächsten Moment wieder lockerer, viel lockerer als vorher, zu lassen. »Gaell, komm von ihr runter!«
»Warum?« fragte Gaell, und gehorchte.
»Ich will ihr Gesicht sehen können.« Roveen brachte das Kunststück fertig, mit einer Hand Lyda beim Aufstehen zu helfen, ohne mit der anderen Hand die Schnur, einen Strang Stickgarn, wie Lyda nun erkennen konnte, loszulassen. Noch zweimal schnitt das Band sich tief ein, aber Lyda ließ sich nichts anmerken und ignorierte den Schmerz.
»Halt das fest.« Roveen drückte das Schnurende Gaell in die Hand, was diese zaghaft annahm. Dann wandte sie sich an Lyda - und machte einen Schritt zurück, als sich ihre Augen begegneten. »Ihr könnt mir keine Angst machen«, sagte sie, heiser. »Und wenn das ein Trick ist, seid Ihr so oder so tot. Wen sollen wir umgebracht haben? Wenn sie uns einen Mord anhängen will -« Sie brach ab, unwissend, daß sie soeben zum ersten Mal das Wort ausgesprochen hatte, das über dem Tod der Zofe schwebte und doch noch nie gefallen war.
Lyda antwortete nicht, blickte sie nur an, ruhig, so ruhig sie nur konnte, bis Roveen noch weiter zurückwich und Gaell mit einer Geste bedeutete, die Garotte loszulassen.
»Redet!« flüsterte Roveen. Ihre Hände zitterten, als sie nach einer langen Nadel griff und sie wie eine Waffe auf Lyda richtete.
»Eine junge Zofe wurde eine Treppe hinuntergestürzt«, antwortete Lyda endlich. »Ein Mädchen namens Hester.« Sie beobachtete das Gesicht der Konkubine, um eine Reaktion darin ablesen zu können, und fand Bestürzung.
»Und sie sagt, daß wir es getan haben?« fragte Roveen schrill. »Sie hält uns hier fest, damit sie jemanden hat, dem sie ihre Morde in die Schuhe schieben kann!«
»Gerade wolltet ihr mich noch umbringen«, erwiderte Lyda.
Fahrig schüttelte Roveen den Kopf. »Wir wollten den Schlüssel! Wir wollen hier raus.«
»Ich habe nie hinter mir abgesperrt«, sagte Lyda und verbarg ein Lächeln. Roveen errötete, was bei ihrem Haar seltsam aussah.
»Wahrscheinlich wären wir ohnehin nicht einmal bis zum Tor gekommen.«
»Wahrscheinlich«, sagte Lyda. »Ihr wißt nichts über den Tod der Zofe?«
»War das die, die einmal hier war?« fragte Roveen.
Lyda antwortete nicht - sie wußte nicht, ob nach Natara auch Hester die Frauen aufgesucht hatte, wollte aber auch nicht zeigen, daß sie es nicht wußte.
»So ein kleines dürres Ding«, übernahm Gaell die Beschreibung. »Kurze Haare, die Farbe wie eine Mischung aus Staubgrau und Honig. Gesicht geformt wie eine Erdbeere, und die Augen -«
»Das reicht!« unterbrach Roveen sie scharf, bevor Gaell noch mehr davon verraten konnte, was für ausgezeichnete Beobachterinnen die Konkubinen in Wirklichkeit waren. »War sie das?«
Lyda schüttelte den Kopf. »Ein älteres Mädchen, schon beinahe zur Frau gereift…« Mehr wußte sie nicht zu sagen. Es war ihre Gabe nicht, einen Menschen zu beschreiben. Im Tod ähnelten sie sich ohnehin.
Roveen und Gaell sahen sich an. Dann trat ein listiges Lächeln in Roveens Gesicht. »Wenn sie ermordet worden ist«, sagte sie, »dann haben wir sie vorher natürlich noch nie gesehen.«
»Und wir haben sie nicht umgebracht«, fügte Gaell hinzu.
»Ich weiß«, sagte Lyda.
»Ihr glaubt uns? Ihr wißt, wer es in Wirklichkeit war? War es die Sirahë?« Die Frauen waren so aufgebracht, daß sie durcheinanderredeten, wobei Gaell immer wieder Roveen Worte zu wiederholen schien. »War es die Sirahë?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lyda. »Aber wer einmal ein Kind getötet hat, der wird nicht davor zurückschrecken, eine erwachsene Frau umzubringen.« Sie kannte keine Mörder. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie es anders sein sollte.
Roveen lachte nur. »Wir können Euch immer noch töten, Totenmagd. Aber wir sitzen hier in der Falle. Wenn sie uns jetzt einen Mord anhängen… Dann werden sie uns durch das halbe Land jagen, nur um jemanden zu haben, den sie aufhängen können.« Sie stieß die Nadel mit solcher Vehemenz in den Stoff, daß Lyda begriff, welch großes Glück sie in Wirklichkeit gehabt hatte.
»Noch hat euch niemand beschuldigt«, sagte Lyda und ging zur Tür. »Zu wenige wissen von dem Mord, und zu wenige wissen von euch. Aber wenn es sich herumspricht…« Nun lag ihre Hand auf der Klinke. »Ich werde versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen, und euch von den Fortschritten zu berichten. Bis dahin -« Leise drückte sie die Klinke, die Tür einen Spaltweit auf und spähte, ob der Gang auch wirklich leer war, »werde ich euch wieder einschließen.«
»Roveen, der Schlüssel! Sie soll ihn uns dalassen.«
»Sei still!« unterbrach Roveen die Blonde. »Die Totenmagd muß uns einschließen, damit niemand auf die Idee kommt, daß wir uns frei bewegen und Leute umbringen können.«
Als Lyda die Tür schloß, hörte sie noch Roveen sagen: »Von allen ihren Tricks war das wirklich der beste. Um ein Haar wäre ich auf sie hereingefallen.«
Lyda schüttelte belustigt und beunruhigt zugleich den Kopf und hängte den Schlüssel wieder an den Nagel. Dann schlich sie zurück in ihre Kammer. Diese Frauen hatten Hester nicht ermordet. Aber Lyda begriff, daß sie das auch niemals geglaubt hatte.
Sie wollte nur beweisen, daß es Aralee war.

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