Die Menschen waren schnell bereit, ihre Toten zu vergessen, aber
noch schneller ihre Taten. Niemand sprach mehr von der Meute, die
versucht hatte, Lyda in den Nilomar zu stoßen, niemand kam,
um es noch einmal zu versuchen - es war niemals geschehen, nur ein
böser Traum, der sich für Lyda zwar allnächtens
wiederholte, an den sie aber nicht erinnert werden wollte, solange
sie wach war. Niemand kam, um eine Totenmagd in den Tod zu hetzen.
Und niemand hatte ein kleines Mädchen die Kellertreppe
hinuntergestoßen…
Lyda blieb im Schloß, nicht, weil sie es wollte, und nicht,
weil es keinen anderen Ort für sie gab, sondern aus einem
seltsamen Pflichtgefühl heraus. Das Schloß brauchte eine
Totenmagd, und für Neala gab es in der Stadt zu viel zu tun,
als daß Lyda von ihr diese Arbeit auch nur hätte
erbitten können. Aber Lyda blieb aus noch einem Grund: Um ein
falsches Schweigen durch ein richtiges zu ersetzen.
Noch nie war es die Aufgabe der Totenmägde, die Wahrheit
aufzudecken, einen Todesfall aufzuklären. Aber Lyda war nicht
nur eine Totenmagd. Sie war auch ein Mensch, voller Zweifel, und
Ängste, und Neugier. Zwischen ihr und ihrem gewohnten Leben
lag ein kleiner eiserner Schlüssel, der Schlüssel zu
einer Tür, und der Schlüssel zum Tod eines
Mädchens.
Es waren viele Kinder gestorben in Lydas Jahren am Hof, bestimmt
ebenso viele wie Erwachsene, aber keine Mädchen von vierzehn
Jahren, zu alt, um dem Kindstod zu erliegen, und zu jung, um im
Kindsbett zu sterben. Menschen hatten einander im Streit
erschlagen, aber nie war einer ermordet worden…
Lyda stutzte. Eine Erinnerung drängte sich auf, an eine
Behauptung, an einen Verdacht. Vielleicht hatte es doch einen Mord
gegeben. Vielleicht war der König nicht nur an seinem kranken
Herzen gestorben…
Ein Teil von Lyda suchte die Gleichgültigkeit. Wer konnte -
und wollte - das heute noch wissen? Der Leib des Königs trieb
durch die grundlosen Tiefen des Nilomar, wie auch der Leib der
Zofe, und ihre Seelen mochten längst Frieden gefunden
haben… Aber ein anderer Teil von Lyda sagte: Es war noch nie
die Aufgabe der Stille, einen Menschen vom Denken abzuhalten.
Lyda verließ ihre Kammer, was sie sonst nur selten tat, und
machte sich auf die Suche nach dem kleinen stillen
Mädchen.
Es war keine leichte Suche. Zum einen kannte Lyda nicht einmal den
Namen des Kindes - es war keines aus dem Palast, nur soviel stand
fest - und zum anderen mußte Lyda allen, jedem einzelnen
Bewohner, mißtrauen. Das war fremd für sie. Eine
Totenmagd traute niemandem, keinem Lebenden zumindest, aber noch
nie hatte Lyda jemandem direkt und aktiv mißtraut.
Es gab nur eine, die Lyda nach dem fremden Mädchen fragen
konnte. Und ihr traute Lyda weniger als irgend einem anderen:
Aralee. Es gab kaum einen Zweig einen Gedankenbaum, der nicht in
der Königswitwe endete, von Harolds ersten Anschuldigungen bis
hin zu der Tatsache, daß dieses kleine Mädchen ihr
Zögling zu sein schien…
Auf ihrem Weg durch das Schloß war Lyda von einer seltsamen
Stille begleitet, einer, die sie nicht kontrollieren konnte. Etwas
schien in diesen Gängen zu fehlen, ein Lachen, oder das
Geräusch hüpfender Füße - mit Hester hatte
Koristir mehr als nur eine Zofe verloren.
Lyda wußte, wo Aralees Zimmer lagen, dort hatte sie
gesessen, bevor der König starb, und versucht, der Frau, die
ihn - vielleicht - ermordet hatte, Trost zu spenden. Sie war
dankbar, nicht nach dem Weg fragen zu müssen. Niemand sollte
wissen, wohin sie ging.
Die Tür war verschlossen. Lyda stockte. Totenmägde
klopften nicht an Türen, man bat sie ins Haus - eine
Totenmagd, die von sich aus eintrat, wurde als ein schlechtes
Zeichen gesehen, als ein Bote des Unheils, oder des Todes.
Plötzlich mußte Lyda lächeln - noch etwas, das
Totenmägde nicht taten: So sollte es an ihr sein, Unheil
über Aralee zu bringen? Sie klopfte an.
Im Zimmer blieb es still. Lyda verharrte, klopfte noch einmal,
wartete, und dann öffnete sie die Tür und trat ein. Dann
machte sie erschrocken einen halben Schritt zurück. Sie hatte
erwartet, das Zimmer leer zu finden, heimlich und unbemerkt
eindringen zu können - aber das Zimmer war nicht leer. Auf dem
Boden kniete niemand anderes als das kleine Mädchen.
Vor ihm auf dem Boden lag, aufgeschlagen, ein großes Buch
und ein Bogen Pergament, das mehr von Tintenflecken als
Schriftzeichen bedeckt war. Mit großer Mühe malte das
Kind sehr, sehr langsam die Rundungen eines Buchstabens und war
dabei so in die Arbeit vertieft, daß es Lyda gar nicht
bemerkte.
Lyda zog leise die Tür hinter sich zu. Dann wartete sie noch
einen Moment, beobachtete das Mädchen, bevor sie sagte:
»Ich habe dich gesucht.«
Das Mädchen zuckte zusammen, seine die Feder blieb
hängen und machte, als sie davonsprang, einen weiteren
großen Fleck auf das Blatt. »Ich bin die ganze Zeit
über hier gewesen.«
Lyda nickte. »Was schreibst du?« fragte sie, auch wenn
es sicher nicht das war, worüber zu reden sie gekommen war -
vermutlich waren sie beide zu überrascht.
»Ich lerne es gerade erst«, erwiderte das
Mädchen. »Es ist sehr schwer. Nicht die Zeichen - ich
kann sie bald alle verstehen, wenn ich sie sehe - aber ich hasse
diese Feder! Es geht alles so langsam.« Abrupt und ohne den
Tonfall zu wechseln, setzt sie hinterher: »Habt Ihr den
Schlüssel noch?«
»Ich trage ihn bei mir«, erwiderte Lyda. »Aber
ich habe ihn noch niemandem gezeigt. Hat dich jemand danach
gefragt?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Niemand.«
»Und nach Hester?«
»Auch niemand.«
»Und hast du noch jemandem von deinem Verdacht erzählt?
Daß sie nicht allein im Keller gewesen sein kann?« Lyda
fühlte sich seltsam fremd. Sie war niemand, der Fragen
stellte, weder sich, noch anderen, ebenso wie sie sonst niemals
Fragen beantwortete. Aber hier stand sie, stellte Fragen voller
Ernst und erhielt, mit ebenso großem Ernst, Antworten.
»Keinem Menschen«, sagte das Mädchen.
Vorsichtig - sehr, sehr vorsichtig - fragte Lyda weiter:
»Noch nicht einmal Aralee?«
Das Mädchen schwieg einen Augenblick zu lange.
»Nein«, sagte sie dann. »Aber ich glaube, sie
ahnt, daß ich ein Geheimnis vor ihr habe. Manchmal blickt sie
mich seltsam an.«
Beunruhigt fragte Lyda: »Vertraust du ihr?«
»Manchmal«, sagte das Mädchen. »Manchmal
macht sie mir Angst. Sie tut mir leid. Sie hat große Sorgen
und sehr viel zu tun. Ich glaube, niemand hier arbeitet so viel wie
sie.«
Lyda konnte nicht anders, als dieses Kind für seinen Verstand
zu bewundern. So klug, und so vernünftig. Und viel zu ernst
für ein Kind. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, es
von hier fortzubringen, in den Konvent zu ihren Schwestern.
Vielleicht steckte in diesem Kind eine Totenmagd. Aber dann
schüttelte Lyda den Kopf. Keine Totenmagd, das konnte jeder
sehen, der wußte, worauf er achten mußte. Aber wenn ein
Kind Dinge sah, die es nicht sehen durfte…
»Ich kenne deinen Namen nicht«, sagte Lyda.
Das Mädchen errötete leicht. »Natara«, sagte
sie. »Es tut mir leid, daß ich es nicht -«
Lyda schüttelte den Kopf. »Es ist in Ordnung. Namen
sind nicht so wichtig wie manches andere. Viele wissen nicht
einmal, daß ich einen besitze.« Sie lächelte in
Erwartung einer Erwiderung. Kinder in diesem Alter sollten
zumindest lächeln.
»Ihr heißt Lyda«, entgegnete Natara.
»Aralee hat Euch so genannt. Sie nennt alle Leute bei ihren
Namen, das mag ich an ihr. Sie will auch, daß ich sie Aralee
nenne.«
Lyda sagte nichts von Harolds Anschuldigungen, von seinem
Verdacht, der längst auch ihr eigener war. Natara mußte
vorsichtig sein, aber das war sie auch so schon, und je mehr Angst
sie hatte, desto eher würde sie sich verraten, und desto eher
würde Aralee Verdacht schöpfen. Schon beinahe wollte Lyda
wieder gehen - je länger sie blieb, desto größer
war die Wahrscheinlichkeit, von der zurückkehrenden Aralee
angetroffen zu werden und sich erklären zu müssen - aber
dann fiel ihr ein, wonach sie von Anfang an hatte fragen
wollen.
»Zu was für einem Raum - glaubst du - gehört der
Schlüssel?«
Natara zögerte wieder, ehe sie antwortete. »Zwei Frauen
werden im Palast gefangengehalten«, sagte sie dann.
»Zwei Ausländerinnen, die Pferde stehlen wollten - ganz
seltsame Frauen, sie sind böse, glaube ich - ich hatte
vergessen, die Tür hinter ihnen wieder zuzusperren, und Hester
wollte es für mich machen -« Plötzlich kippte
Nataras Stimme, und Tränen schossen wieder in die Augen des
Mädchens. »Und wenn die beiden nun Hester gestoßen
haben, damit sie fliehen konnten?«
Lyda hielt sie fest, strich ihr über den Kopf, über den
Rücken, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Das
hättest du erfahren«, sagte sie leise. »Wenn du
den Schlüssel hattest, und die Frauen wären geflohen,
hätte man dich sicher zur Rechenschaft gezogen. Man würde
im ganzen Palast von nichts anderem sprechen. Aber kannst du mir
zeigen, wo die Frauen gefangengehalten werden?«
Natara nickte, und im nächsten Moment schüttelte sie den
Kopf. »Ich kann Euch nicht beschreiben, wo sie sind, nur
versuchen, Euch hinzuführen, aber… ich will sie doch
nie wiedersehen, und ich soll doch nicht von hier weggehen.«
Sie machte eine Pause. »Aber ich kann Euch das Zimmer auch
zeigen, ohne daß ich selbst mit hineinmuß, oder? Und
wenn mich jemand fragt, kann ich immer noch sagen, ich mußte
mal austreten.«
Lyda fühlte sich schuldig. Ein Kind zum Lügner zu
erziehen war das letzte, was sie wollte. Doch sie widersprach
nicht.
Sorgsam drückte Natara den Korken auf die Tintenflasche und
strich die Feder sauber, bevor sie aufstand und ihr Kleid
glättete. »Aber wenn wir uns verlaufen«, sagte
sie, »dürfte Ihr mir nicht böse sein.«
Lyda hatte einen Gang in den Keller erwartet, dorthin, wo die
Kerker waren, dorthin, wo Hester gestoben war, wo sich eines zum
anderen fügen konnte. Aber Natara führte sie zwei Treppen
hinauf, in einen hellen, freundlichen Flur, wo es keine Wachen gab,
nur hurtige Diener.
»Dort«, sagte das Mädchen und zeigte auf eine
Tür, die nichts von den anderen zu unterscheiden schien.
»Es war hier - glaube ich.«
Lyda sah sich noch einmal verstohlen nach den Seiten um, lauschte
in die Stille, ob auch wirklich niemand kam, und zog dann den
Schlüssel hervor. Er sah nicht anders aus als gewöhnliche
Schlüssel, nicht so groß, als daß er für
Erstaunen gesorgt hätte, nicht so klein, als daß er an
verborgene Geheimnisse denken ließ. Vielleicht war er ein
klein wenig rostig, aber… waren nicht alle Schlüssel
irgendwie rostig?
Lyda nickte Natara zu, die ihr mit weitaufgerissenen Augen und
festzusammengebissenen Lippen zusah, und steckte, mit Fingern, die
sie zur Ruhe zwingen mußte, den Schlüssel ins
Schloß. Sie versuchte es. Er paßte nicht. Nicht einmal,
daß er sich nicht hätte umdrehen lassen - er paßte
nicht ins Schloß. Er war zu groß, nur ein winziges
bißchen und doch genug, um eindeutig zu zeigen, daß er
und das Schloß nicht zusammengehörten. Lyda
schüttelte den Kopf und schob dann den Schlüssel
zurück in ihre Tasche, wollte schon wieder gehen, es gemeinsam
mit Natara an einer anderen Tür, in einem anderen Stockwerk
versuchen - als sie Geräusche hinter der Tür hörte,
ein Rascheln, ein Flüstern.
Sie blickte zu Natara hinüber, legte - als ob das noch
nötig gewesen wäre - einen Finger an die Lippen, dann
trat sie dicht an die Tür heran, und lauschte. Drinnen
sprachen zwei Frauen. Ihre Stimmen kamen Lyda bekannt vor, doch da
keine Worte zu verstehen waren, konnte Lyda sie erst nicht richtig
einordnen. Sie warf noch einen letzten Blick auf den
Schlüssel, ehe sie ihn wieder in die Tasche steckte. Er
würde seine Herkunft noch offenbaren, dessen war Lyda sich
sicher.
Unschlüssig stand sie vor der Tür, wußte nicht, ob
sie auf gut Glück versuchen sollte einzutreten, ob sie noch
näher herangehen sollte, um zu verstehen, was drinnen geredet
wurde - als Natara sie am Ärmel zupfte. Wortlos deutete das
Kind auf einen Nagel neben der Tür. Dort hing, als hätte
er nur auf sie gewartet, ein Schlüssel.
Lyda runzelte die Stirn. Das kam ihr zu wünschenswert vor, um
Wirklichkeit sein zu können. Wer einen Raum verschloß,
hängte doch nicht den Schlüssel direkt neben die
Tür… Neben keiner anderen Tür auf diesem Flur
hingen Schlüssel. Und dieser Nagel sah auch nicht so aus, als
würde er hierhergehören. Dort, wo er in die Wand
geschlagen war, fehlte etwas Verputz; die Stelle nahm sich dunkel
unter dem sauberen Kalk aus… Wieder blickte Lyda sich um,
dann nahm sie den Schlüssel und öffnete die Tür.
Bevor sie die Klinke herunterdrückte, nickte sie Natara zu.
»Du gehst jetzt besser«, sagte sie leise. »Beeil
dich, bevor Aralee sich wundert, wo du bist!«
Das Mädchen machte auf der Stelle kehrt und lief davon, und
einen Moment lang fragte sich Lyda, was es wohl mehr
fürchtete: Aralees Fragen, oder die beiden Frauen noch einmal
treffen zu müssen.
Lyda zog den Schlüssel ab und hielt ihn in der Hand, als sie
eintrat. Warme, stickige Luft schlug ihr entgegen, der Geruch von
einem schweren Parfüm, das zuerst an Rosen und dann an Moder
denken ließ. Dabei stand das Fenster weit offen, und Licht
fiel genug in den Raum. Es gab keinen Zweifel mehr, daß Lyda
die richtigen Frauen gefunden hatte.
Die beiden hockten nebeneinander auf dem Stück des
Fußbodens, das noch nicht von Stoff bedeckt war. Um sie herum
lagen verstreute Kleidungsstücke, Bettzeug und etwas, das wie
ein halbfertiger Wandteppich aussah - aus einem einzelnen
gestickten Arm hing ein Faden heraus, an dessen Ende mit eine Nadel
baumelte: Offenbar waren die Frauen also nicht ganz ohne
Zeitvertreib hier eingesperrt. Lyda erkannte die beiden wieder,
aber nach Nataras Worten hatte sie auch niemand anderen erwartet.
Sie versuchte, sich an die Namen der Frauen zu erinnern, doch
während sich nahezu alles, was an jenem Tag passiert war,
schmerzhaft unauslöschlich in Lydas Erinnerung eingebrannt
hatte, war die Szene in den Stallungen seltsam verschwommen.
Die beiden Frauen starrten Lyda entgeistert an. Ob sie sich an sie
erinnern konnten? Bestimmt nicht. Zu schnell war Lyda damals mit
dem Pferd geflohen… Seltsam, daß nun diese beiden
bestraft wurden für den Versuch einer Tat, die, wiewohl
ausgeführt, für Lyda straflos ausgegangen war. Seltsam,
daß Lyda dennoch keine Schuld verspürte.
Dann sagte die Rothaarige: »Ich denke, jetzt geht sie einen
Schritt zu weit.« Als sie ihre Stimme hörte, fiel Lyda
auch ihr Name wieder ein: Roveen. Die Blonde hieß Gaell. Ihre
Stimmen hatte Lyda sehr viel besser kennenlernen können als
ihre Gesichter, auf die sie nur einen flüchtigen Blick
erhascht hatte. »Wir hatten alte Frauen, junge Frauen, ein
kleines Mädchen, die gnädige Sirahë in Person, alles außer Männern - und
jetzt also eine Totenmagd.«
Sie sagte es, ohne die Mitgefangene anzublicken, direkt in den
Raum hinein und schien mehr mit der Luft zu reden als mit jemandem
sonst.
»Mich schickt sie nicht«, erwiderte Lyda.
Roveen hob eine Augenbraue, dunkel wie ihr Haaransatz, der das Rot
eine Fälschung nannte. »Nicht? Glaubt Ihr, es
erleichtert mich, wenn eine Totenmagd mich freiwillig besucht? Oder
seid Ihr ihretwegen gekommen?« Sie deutete flüchtig auf
Gaell.
Lyda schüttelte den Kopf. »Ich komme zu euch beiden.
Ich will mit euch sprechen.«
Jetzt hob Roveen ihre Mundwinkel, aber nur kurz. »Wenigstens
seid Ihr ehrlich… nun, Ihr könnt auch schlecht
vorgeben, und bedienen zu wollen.« Mit einem kurzen
Seitenblick auf Gaell fügte sie hinzu: »Auch wenn wir
sehr, sehr kurz davor stehen, vor Langeweile zu sterben.«
Lyda betrachtete die Stickerei auf dem Fußboden. Sie hatten
zu zweit daran gearbeitet, beide nicht unbegabt - nicht die ganze
Fläche mit kleinen Knötchen bedeckt, sondern die Umrisse
von Bildern gestickt. Der Stoff lag in einem unordentlichen Haufen,
aber alle Bilder, die Lyda erkennen konnte, zeigten das Gleiche:
Männer und Frauen… Gaell und Roveen hatten sich nicht
die Mühe gemacht, ihnen Kleidung zu sticken.
Lyda zog die Tür hinter sich zu, überlegte, ob sie
wieder abschließen sollte, und entschied sich dann dagegen.
Schließlich wollte sie zeigen, daß sie nicht von Aralee
geschickt wurde.
»Was hat Aralee mit euch vor?« fragte sie.
Die Frauen sahen erst einander, dann Lyda an.
»Wer?«
»Die Königswitwe«, erklärte Lyda. »Die
jetzige Regentin.«
Gaell und Roveen lachten hell auf. »Königswitwe!«
rief Gaell. »So nennen sie es hier also! Bei uns gibt es kein
Wort für eine Konkubine, die ihren Prinzen
überlebt.«
Lyda bemühte sich, weder zu erröten noch zu lachen, als
sie plötzlich Aralees Ehre wiederherstellen mußte.
»Sie ist die Witwe eines Königs«, sagte sie ruhig.
»Ihr Mann starb vor fünfzehn Jahren. Er war der Vater
der letzten Königs, und der von Alexander. Sie ist keine
Konkubine.«
»Nichts, wofür man sich schämen
müßte«, entgegnete Roveen, immer noch lachend,
aber mit beleidigter Schärfe in ihrer Stimme. »Und nach
allem, was wir wissen, war die Sirahë durchaus die Geliebte
des letzten Königs, auch wenn ihr hier keine offiziellen
Konkubinen habt.«
Lyda fragte sich, woher die Frauen das wußten. Koristir war
ein Ort voller Klatsch und Gerüchte, aber alles, was sie bis
jetzt über eine Liebschaft zwischen Aralee und dem König
gehört hatte, waren Behauptungen aus Harolds Mund - was
durchaus bedeuten konnte, daß sie wahr waren, aber…
wie sollte man in Loringaril davon wissen? Lyda stellte die Frage
nicht, wiederholte nur die erste.
»Was hat sie mit euch vor?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Gaell und strich sich
eine Locke aus dem Gesicht. Sie war sorgfältig geschminkt,
doch ihr Haar unordentlich und zerzaust, nicht kunstvoll
aufgetürmt wie Roveens. Diese lachte wieder
spöttisch.
»Ich glaube langsam, daß sie es selbst nicht
weiß. Sie sagte, wir hätten versucht, Pferde zu stehlen
-«
»Haben wir auch!« warf Gaell ein, nicht ohne
Stolz.
»- aber selbst bei uns kommt man für so etwas in den
Kerker und vor Gericht, oder andersherum. Ich dachte, sie versucht
vielleicht, Lösegeld für uns zu bekommen, aber Harven
würde nichts für uns bezahlen. Er ist ein Geizhals, und
außerdem sind wir ersetzbar. Aber die gnädige
Sirahë versucht, uns auszuquetschen. Kommt und stellt Fragen.
Dann, als wir nicht mit ihr reden wollen, schickt sie uns andere,
nur keine Männer - sie glaubt, damit kann sie uns
zermürben. Einmal hat sie versucht, uns betrunken zu machen,
obwohl sie noch vom Festbankett wissen müßte, daß
wir dann nur sinnloses Zeug von uns geben…« Roveen
lachte wieder, auf diese kurze, bellende Art, die an ein Husten
erinnerte, und wickelte einen Faden roten Seidengarns um den
Finger.
Lyda deutete auf die Stickerei. »War das auch ihre
Idee?«
Gaell nickte, während Roveen wortlos das lose Ende des Fadens
um ihre andere Hand wickelte, anspannte, und wieder locker
ließ. »Wir haben ihr gesagt, wir sind Hofdamen. Sie
sagt, dann hat sie genau das richtige für uns. Und als
nächstes bringt sie uns einen Korb mit diesem halbvermoderten
Stoff und das Garn. Wir können sticken, aber sie ganz
gewiß nicht.«
Lyda versuchte, sich Aralee über einer Stickerei
vorzustellen, und merkte, daß ihr das nicht gelang. Sie
beugte sich nieder, hob eine Ecke des Stoffes an und roch daran.
Der schwere Geruch, der ihr beim Eintreten aufgefallen war, ging
nicht von den Frauen aus. Es war der Stoff.
»Wir haben ihn parfümiert, um den Gestank zu
überdecken«, kicherte Gaell, »und den Korb aus dem
Fenster geworfen. Dieses Zeug muß mindestens hundert Jahre
alt sein! Wollt Ihr sehen, was wir sticken? Es soll eine
Überraschung für die Sirahë werden.«
Lyda sagte nicht, was sie dazu dachte - daß wohl alles
andere Aralee mehr verwundert und überrascht hätte. Mit
einem stillen Lächeln auf den Lippen ließ sie den alten
Stoff vor sich ausbreiten und konnte nun all die verrenkten und
verschlungenen Leiber in aller Pracht bewundern. Wenn es dies war,
was Roveen und Gaell vermißten, nahmen sie es zumindest mit
Humor. Ganz konnte Lyda es nicht nachvollziehen - im Leben einer
Totenmagd waren so viele andere Dinge wichtig, aber für
Konkubinen… Einen Moment lang dachte Lyda daran, daß
sie niemals eine Wahl gehabt hatte; sie war niemals etwas anderes
gewesen…
»Gaell, jetzt!« schrie Roveen, und als nächstes
wurde Lyda von hinten gepackt und zu Boden gerissen.
Für einen Moment kehrte alles zurück: Die Angst, die
Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein. Einen Moment lang wurde sie
wieder in den Nilomar geworfen. Aber nur einen Moment lang. Dann
griff Lyda nach der Stille, und während sich um ihren Hals
eine Schlinge legte, zusammenzog, bis sie sich gerade eben in ihre
Haut einschnitt, hüllte sich Lyda ganz in eine Ruhe, die sie
die Schmerzen von außen sehen ließ. Sie rührte
sich nicht - dafür nahm sie das Knie in ihrem Rücken und
die Schnur um ihre Kehle zu ernst - aber sie verspürte keine
Angst mehr.
»Nimm ihr den Schlüssel ab!« rief Roveen.
»Schnell! Sie hat ihn noch in der Hand!«
Lyda schloß ihre Finger um den Schlüssel zusammen. Sie
hatte noch niemals Gewalt gegen jemanden angewandt, aber sie
wußte, solange sie nicht an den Schlüssel kamen,
würden Roveen und Gaell sie am Leben lassen.
»Sie versteckt ihn!« sagte Gaell. »Mach was, ich
kann sie nicht mehr lange halten!«
Dann Roveen, weitaus ruhiger, aber deutlich am Rande ihrer Geduld:
»Gaell, so wie du auf ihr sitzt, kann sie sich gar
nicht bewegen, und sie versucht es auch nicht. Also nimm ihr jetzt
den Schlüssel ab. Brech ihr die Hand, wenn es sein
muß.«
»Mach du doch!«
»Ich habe keine Hand frei. Ich halte die Garotte.«
Einen Moment lang schwiegen beide. Der Druck auf Lydas
Wirbelsäule wurde stärker, das Atmen schwerer, aber es
war Gaell, nicht Lyda, die vor Anstrengung ächzte.
»So«, sagte Roveen. »Ihr hört uns,
Totenmagd. Es ist uns ernst. Wenn Ihr uns nicht herauslaßt,
bringen wir Euch um. Wir töten Euch bestimmt nicht gern, aber
wir tun es.«
»So wie das Mädchen?« fragte Lyda
flüsternd.
»Was?« rief Roveen alarmiert und zog mit einem Ruck
die Schnur fest in Lydas Hals, nur um sie im nächsten Moment
wieder lockerer, viel lockerer als vorher, zu lassen. »Gaell,
komm von ihr runter!«
»Warum?« fragte Gaell, und gehorchte.
»Ich will ihr Gesicht sehen können.« Roveen
brachte das Kunststück fertig, mit einer Hand Lyda beim
Aufstehen zu helfen, ohne mit der anderen Hand die Schnur, einen
Strang Stickgarn, wie Lyda nun erkennen konnte, loszulassen. Noch
zweimal schnitt das Band sich tief ein, aber Lyda ließ sich
nichts anmerken und ignorierte den Schmerz.
»Halt das fest.« Roveen drückte das Schnurende
Gaell in die Hand, was diese zaghaft annahm. Dann wandte sie sich
an Lyda - und machte einen Schritt zurück, als sich ihre Augen
begegneten. »Ihr könnt mir keine Angst machen«,
sagte sie, heiser. »Und wenn das ein Trick ist, seid Ihr so
oder so tot. Wen sollen wir umgebracht haben? Wenn sie uns einen
Mord anhängen will -« Sie brach ab, unwissend, daß
sie soeben zum ersten Mal das Wort ausgesprochen hatte, das
über dem Tod der Zofe schwebte und doch noch nie gefallen
war.
Lyda antwortete nicht, blickte sie nur an, ruhig, so ruhig sie nur
konnte, bis Roveen noch weiter zurückwich und Gaell mit einer
Geste bedeutete, die Garotte loszulassen.
»Redet!« flüsterte Roveen. Ihre Hände
zitterten, als sie nach einer langen Nadel griff und sie wie eine
Waffe auf Lyda richtete.
»Eine junge Zofe wurde eine Treppe
hinuntergestürzt«, antwortete Lyda endlich. »Ein
Mädchen namens Hester.« Sie beobachtete das Gesicht der
Konkubine, um eine Reaktion darin ablesen zu können, und fand
Bestürzung.
»Und sie sagt, daß wir es getan haben?«
fragte Roveen schrill. »Sie hält uns hier fest, damit
sie jemanden hat, dem sie ihre Morde in die Schuhe schieben
kann!«
»Gerade wolltet ihr mich noch umbringen«, erwiderte
Lyda.
Fahrig schüttelte Roveen den Kopf. »Wir wollten den
Schlüssel! Wir wollen hier raus.«
»Ich habe nie hinter mir abgesperrt«, sagte Lyda und
verbarg ein Lächeln. Roveen errötete, was bei ihrem Haar
seltsam aussah.
»Wahrscheinlich wären wir ohnehin nicht einmal bis zum
Tor gekommen.«
»Wahrscheinlich«, sagte Lyda. »Ihr wißt
nichts über den Tod der Zofe?«
»War das die, die einmal hier war?« fragte Roveen.
Lyda antwortete nicht - sie wußte nicht, ob nach Natara auch
Hester die Frauen aufgesucht hatte, wollte aber auch nicht zeigen,
daß sie es nicht wußte.
»So ein kleines dürres Ding«, übernahm Gaell
die Beschreibung. »Kurze Haare, die Farbe wie eine Mischung
aus Staubgrau und Honig. Gesicht geformt wie eine Erdbeere, und die
Augen -«
»Das reicht!« unterbrach Roveen sie scharf, bevor
Gaell noch mehr davon verraten konnte, was für ausgezeichnete
Beobachterinnen die Konkubinen in Wirklichkeit waren. »War
sie das?«
Lyda schüttelte den Kopf. »Ein älteres
Mädchen, schon beinahe zur Frau gereift…« Mehr
wußte sie nicht zu sagen. Es war ihre Gabe nicht, einen
Menschen zu beschreiben. Im Tod ähnelten sie sich ohnehin.
Roveen und Gaell sahen sich an. Dann trat ein listiges
Lächeln in Roveens Gesicht. »Wenn sie ermordet worden
ist«, sagte sie, »dann haben wir sie vorher
natürlich noch nie gesehen.«
»Und wir haben sie nicht umgebracht«, fügte Gaell
hinzu.
»Ich weiß«, sagte Lyda.
»Ihr glaubt uns? Ihr wißt, wer es in Wirklichkeit war?
War es die Sirahë?« Die Frauen waren so aufgebracht,
daß sie durcheinanderredeten, wobei Gaell immer wieder Roveen
Worte zu wiederholen schien. »War es die
Sirahë?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lyda. »Aber wer
einmal ein Kind getötet hat, der wird nicht davor
zurückschrecken, eine erwachsene Frau umzubringen.« Sie
kannte keine Mörder. Aber sie konnte sich nicht vorstellen,
wie es anders sein sollte.
Roveen lachte nur. »Wir können Euch immer noch
töten, Totenmagd. Aber wir sitzen hier in der Falle. Wenn sie
uns jetzt einen Mord anhängen… Dann werden sie uns
durch das halbe Land jagen, nur um jemanden zu haben, den sie
aufhängen können.« Sie stieß die Nadel mit
solcher Vehemenz in den Stoff, daß Lyda begriff, welch
großes Glück sie in Wirklichkeit gehabt hatte.
»Noch hat euch niemand beschuldigt«, sagte Lyda und
ging zur Tür. »Zu wenige wissen von dem Mord, und zu
wenige wissen von euch. Aber wenn es sich
herumspricht…« Nun lag ihre Hand auf der Klinke.
»Ich werde versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen, und euch
von den Fortschritten zu berichten. Bis dahin -« Leise
drückte sie die Klinke, die Tür einen Spaltweit auf und
spähte, ob der Gang auch wirklich leer war, »werde ich
euch wieder einschließen.«
»Roveen, der Schlüssel! Sie soll ihn uns
dalassen.«
»Sei still!« unterbrach Roveen die Blonde. »Die
Totenmagd muß uns einschließen, damit niemand auf die
Idee kommt, daß wir uns frei bewegen und Leute umbringen
können.«
Als Lyda die Tür schloß, hörte sie noch Roveen
sagen: »Von allen ihren Tricks war das wirklich der beste. Um
ein Haar wäre ich auf sie hereingefallen.«
Lyda schüttelte belustigt und beunruhigt zugleich den Kopf
und hängte den Schlüssel wieder an den Nagel. Dann
schlich sie zurück in ihre Kammer. Diese Frauen hatten Hester
nicht ermordet. Aber Lyda begriff, daß sie das auch niemals
geglaubt hatte.
Sie wollte nur beweisen, daß es Aralee war.
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