Viertes Kapitel

Die Musik war verstummt, als Alexander die Augen aufschlug, und er wußte nicht, wo er war, aber er wollte auch gar nicht darüber nachdenken, über gar nichts mehr. Ihm war warm, angenehm warm, und der Stoff, auf dem er lag, war kühl, und auch das war angenehm. Ohne sich in dem halbdunklen Raum umzusehen schloß Alexander die Augen wieder. Hier war er glücklich, zum ersten Mal seit… seit wann? Alexander grübelte kurz und schmerzhaft und begriff, daß er noch niemals zuvor glücklich gewesen war, in seinem ganzen Leben nicht, nicht bevor er hier gelernt hatte, was Glück war.
Etwas strich sanft über seinen Körper, lautlos und kühl, ein sanfter Hauch, mehr wie ein Gedanke denn wie eine Berührung. Alexander fühlte Atem und wandte nun doch den Kopf zur Seite, um zu sehen.
Erst erkannte er nur den bläulichdunklen Umriß einer hochgewachsenen Gestalt, die direkt neben ihm auf der Kante des Lagers hockte, doch dann, vielleicht durch eine kaum wahrnehmbare Bewegung, fing sich das Licht in einer irgendwo im Hintergrund brennenden Fackel in den Augen des Mannes und erfüllte sie mit goldenem Licht. Gänsehaut zog sich über Alexanders Körper, ein langsamer, wundervoller Schauer, vielleicht durch den Blick, vielleicht auch durch die Feder, deren Spitze Damiander auf Alexanders Haut spielen ließ.
»Gut geschlafen?« fragte Damiander.
Alexander brauchte einen Moment, um sich wieder auf die Sprache zu besinnen. »Es war gut«, erwiderte er, »aber ich weiß nicht, ob ich geschlafen habe.«
»Geträumt?«
Alexander nickte. Dann streckte er die Hand aus und berührte die Feder. Sie war lang und weiß, wie die Gänsekiele, mit denen Halan schrieb, aber noch größer, und Alexander erkannte, daß es eine Schwanenfeder war. Doch diesmal überkam ihn keine Angst, und auch keine Wut. In der Hand eines Engels war eine Schwanenfeder keine Erinnerung, nur Gegenwart. Alexander ließ seinen Finger die Feder entlang gleiten, über den Flaum und den Kiel hinauf, bis er innehielt, kurz bevor er Damianders Haut berührte, als er die Wärme schon spüren konnte. Statt dessen ließ er seinen Blick weiterwandern, über Damianders Hand, seinen Arm hinauf, in dem solche Stärke zu stecken schien wie in zehn Lorimandern nicht, über das Schlüsselbein, das sich so wunderschön unter der glänzenden Haut abzeichnete, daß Alexander dafür gestorben wäre, es berühren zu dürfen; dann Damianders Hals hinauf, bis er wieder von diesem Gesicht gebannt wurde, von diesem Lächeln. Alexander erwiderte es mit jeder Faser seines Körpers.
Damiander hielt die Feder ruhig, solange Alexander sie berührte, und so zog dieser seine Hand wieder zurück, damit der Engel fortfahren konnte. Ohne seinen Blick zu lösen, lag er ganz still und wartete auf die Berührung, denn das Ende der Feder schwebte um Haaresbreit über seiner Haut, ließ sich erahnen, wenn Alexander einatmete, und blieb doch fern. Damiander rührte sich nicht, blickte nur Alexander an, als erwarte er etwas, eine Regung, ein Eingreifen, als wolle er Alexander zwingen, die Wünsche, die in seinen Augen, seinen Adern brannten, auszusprechen. Die Feder verharrte. Das Lächeln wurde etwas breiter.
Alexander holte Luft, so tief er konnte, um die Feder wie zufällig zu erreichen, doch Damiander zog sie fort, hob sie gerade so weit, daß sie wieder um Haaresbreite über Alexanders angeschwollenem Brustkorb hing. Damiander lachte; er genoß das Spiel, und er war wunderschön, aber zugleich schmerzhaft, und Alexander wußte, daß er es nicht länger aushalten konnte. Seine Hand, auch wenn er sie dafür haßte, dann er hätte zugleich gerne diese Spannung noch länger ausgehalten, schnellte vor und ergriff die Feder, zog sie zurück auf seine Haut, und hielt doch weiter die Luft an, um dieses Gefühl als müsse er bersten nicht zu verlieren.
»Nun?« fragte Damiander, oder es sah so aus als frage er, denn in Alexanders Ohren rauschte es zu laut, als daß er noch klar denken konnte.
Vorsichtig schob Alexander die Feder über seine Haut, über seine Brust, im Kreis um seinen Bauchnabel herum, und dann weiter nach unten… Er wußte nicht, ob es seine Finger waren, welche die Feder führten, oder Damianders Hand, denn er dachte nicht über seine Bewegungen nach. Es war, als wandere die Feder von selbst.
Dann war sie in Alexanders Hand, vielleicht hatte Damiander sie losgelassen, Alexander wußte es nicht, zu vieles von dem, was geschah, war wie ein Traum, und dann wieder nicht genug…
Er berührte Damiander mit der Feder, ließ sie über seine Haut hüpfen und genoß es, den Widerstand zu führen. Einen Moment lang versuchte er noch den Drang niederzukämpfen, Damianders Gefühle zu teilen - er fürchtete sie ebensosehr, wie er sie begehrte - doch sie drängten sich ihm auf, er konnte und wollte sie nicht länger fernhalten. Wärme schwemmte auf ihn ein, Begehren, Verlangen, Glück - Die Feder entglitt Alexanders Fingern, seine Hand umklammerte Damianders, und als sie sich endlich berührten, war es, als schlösse sich ein Kreis.
Es waren seine eigenen Gefühle, die er durch Damianders fühlen konnte, und Damianders, und seine, und Damianders, und seine, und Damianders, und seine - Alexander war, als müsse er schreien, und er schrie, vor Glück und vor Liebe und vor Verzweiflung. Damianders Körper war unter seinen Händen und sein Körper unter Damianders, und ihr Blut floß durch einen Körper, und die ganze Welt war ein Abgrund aus Farben.
Damiander fing Alexander auf, bevor er untergehen konnte, und Damiander ließ ihn ertrinken. Damiander hielt ihn fest und ließ ihn fliegen… Noch lange danach, auch als sie sich nicht mehr berührten, als Alexander nur noch ruhig auf dem Rücken lag und versuchte, zu Atem zu kommen, konnte er die Gegenwart des Engels weiter spüren. Damiander blieb an seiner Seite, strich ihm mit der Hand über das Gesicht, über das Haar. Alexander konnte die Berührungen nicht erwidern. Er war zu verzückt, um sich rühren zu können, sein Verstand war zu weit vom Körper entfernt, um ihm Befehle geben zu können. Damianders Lippen streiften Alexanders wie ein flüchtiger, achtloser Kuß, und dann war es vorbei. Damiander stand auf und ging, verließ das Bett, ließ Alexander allein zurück, und verzweifeln.
Noch war es da, dieses schwebegleiche Gefühl. Aber Damiander war fort, und ohne ihn, wie eine Wolke, die an der Sonne vorbeizog, verflog der Rausch momentlang, und Alexander fühlte sich schuldig, und schmutzig, wie ein Verräter. Immer nur einen Moment lang, aber diese Momente kamen häufiger, in immer kürzeren Abständen, und brachten ihm beinahe das Gefühl für das Vergehen der Zeit zurück. Alexander haßte nicht sich selbst, aber diese Augenblicke, in denen er sich so fremd fühlte. Er durfte begehren, wen immer er wollte.
Noch war das Liegen angenehm, aber da Alexander nicht mehr schwebte, wußte er, daß es ihm schnell langweilig werden würde. Alleine liegen machte keinen Spaß. Alexander öffnete die Augen und hob den Kopf, um sich umzusehen, sich einzugestehen, daß er keine Ahnung hatte, wo er war und wie dorthin gekommen. Es war ein kleines Zimmer, leer bis auf die Bettstatt und nur durch einen Vorhang vom Nebenraum getrennt. Von Damiander war nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören, doch er hatte ein Geschenk für Alexander dagelassen.
Auf dem Boden, so daß Alexander mit ausgestrecktem Arm danach greifen konnte, stand ein Kelch voll Wein. Das Glück lebte wieder auf, als Alexander sich an diesen Wein erinnert, Wein wie ihn die Engel tranken, oder die alten Götter - er schmeckte verboten wie die Götter, und geheimnisvoll, und mit jedem Schluck, den man nahm, offenbarte sich die Welt wie eine Blütenknospe, die sich auftat und in sich eine neue Knospe barg, ein Wein wie die Liebe, wie das Verlangen selbst… Alexander leckte sich die Lippen voller Erwartungsfreude und lehnte sich weit aus dem Bett, um ihn zu erreichen, und als sich endlich seine Finger um den Griff schlossen, zitterten sie so stark, daß er lieber den Kelch stehenließ wo er war und aus dem Bett stieg, über den Fußboden kroch, um nicht einen Tropfen des kostbaren Trankes zu verlieren. Er benutzte beide Hände, um den Kelch vorsichtig anzuheben. Sein Mund war erfüllt von Erinnerung an diesen Geschmack, sein Kopf fühlte sich schon leer und leicht, bevor auch nur die erste Tropfen seine Lippen benetzen konnten, und Alexander atmete noch einmal ein, atmete den Duft des Weines ein, und dann schloß er die Augen und öffnete den Mund -
Er schmeckte Wein auf seiner Zunge, exzellenten roten Wein, aber zwischen ihm und dem, was er gestern gekostet hatte war ein Unterschied wie zwischen einen Menschen zu küssen und mit einem Engel zu schlafen. Alexander leerte den Kelch, doch es wollte sich keine Leichtigkeit einstellen. Was blieb, war ein Gefühl der Unvollkommenheit. Wenn nicht zuvor, wußte Alexander jetzt, daß ihm etwas fehlte. Jemand.
Er machte sich auf die Suche. Er wußte nicht, wo seine Kleider waren, aber er nahm das Laken vom Bett und schlang es um sich - wenn es an einem Ort der Welt egal war, dann hier. Dann nahm er den Kelch mit und verließ das Zimmer.

Als er im Flur stand und die Kälte der Steinfliesen unter seinen bloßen Füßen fühlte, hätte er sich selbst ohrfeigen können. Er hatte Halan vergessen. Wie konnte er…
Mit jedem Vorhang, den er beiseite zog, um hindurchzuspähen, hoffte und fürchtete er zugleich, Halan auf der anderen Seite zu finden, aber er war nicht dabei, und Damiander auch nicht. Wahrscheinlich hätte es ihn am schlimmsten getroffen, die beiden zusammen zu finden - zum ersten Mal merkte Alexander, daß das, was er an Halan so liebte, seine naive Unschuld war. Er merkte es, als er sich fragte, warum er solche Angst hatte.
Links und rechts des Flures lagen viele kleine Räume, und in den meisten waren Leute - paarweise oder in kleinen Gruppen, und überall war Begehren. Alexander wollte keines der Zimmer betreten, sie waren nicht für ihn, gingen ihn nichts an - alles, was er wissen wollte war, wo Halan steckte.
»Komm rein!« sagte eine Frau und faßte ihn beim Arm. Alexander machte einen Schritt zurück, aber er riß sich nicht los, geistesgegenwärtig fiel ihm nur ein, mit beiden Händen sein Laken zusammenzuhalten, und dabei fiel ihm der Kelch herunter. Die Frau bückte sich und hob ihn auf. Sie war nackt, und um nicht an ihr hinunterzusehen, blickte Alexander ihr Gesicht genauer an als jemals das einer anderen Frau. Es kam ihm bekannt vor, aber erst, als sie einen Krug vom Boden aufnahm und ihm den Kelch auffüllte, begriff er, daß er sie am Vortag in Damianders Begleitung gesehen hatte. Dankbar nahm er den Kelch, und ebenso dankbar war er, daß sie nicht darauf bestand, daß er blieb. Sie mochte nett sein, sogar schön, aber er wollte nichts von ihr, nicht einmal hier.
Doch auch ihr Krug enthielt nur gewöhnlichen Wein, ebenso wie der, den ein Mann ihm im übernächsten Raum anbot.

Damianders Garten. von Rotraud Ilisch

Wieviel Wein er trank, bis er endlich den Innenhof fand, konnte Alexander nicht sagen, nur, daß der richtige nicht dabei war. Er suchte Leichtigkeit, aber alles, was passierte war, daß seine Ungeduld anschwoll. Überall waren Leute, um ihm Wein zu geben, aber niemand von ihnen war Halan, und niemand Damiander - Alexander wußte nicht mehr, ob er einen von ihnen suchte oder nur diesen Wein. Sein Kopf schwirrte, und die Welt wogte auf und ab wie das Sonnenlicht, das zwischen den Blumen wie Schmetterlinge tanzte, als Alexander durch einen steinernen Bogen in einen Innenhof trat, der ein kleiner Garten war. Niemand schien dort zu sein als die Pfauen, die auf den gekiesten Wegen wandelten, bis Alexander, der stehenblieb um klarer sehen zu können, in der Figur auf dem Springbrunnen Damiander erkannte. Der Engel saß auf der Kante des Beckens wie zuvor an Alexanders Bett, nahezu reglos - Alexander vermochte nicht zu sagen, ob sich nur die Welt vor seinen Augen bewegte oder ob Damiander sich wirklich rührte - die Beine gerade zur Seite gestreckt, eine Hand im Wasser. Er schenkte Alexander keine Beachtung, als dieser sich vorsichtig auf ihn zu bewegte. Lieber wäre Alexander gerannt, aber er war nüchtern genug, um zu erkennen, daß er sicher gefallen wäre, und der Kies schmerzte unter seinen Füßen.
»Damiander«, brachte er hervor, seine Zunge fühlte sich schwer und fremd an.
Damiander blickte vom Wasser auf und zog seine rechte Hand heraus; nun konnte Alexander auch erkennen, daß er seinen Kelch darin hielt, den großen Kelch, aus dem sie am Vortag getrunken hatten, nun bis an den Rand gefüllt mit klarem Wasser. »Hast du mich gesucht?«
Der Kelch erinnerte Alexander an etwas, aber er wollte nicht wissen, woran - im Moment konnte er nur einen Gedanken auf einmal führen, und den wollte er nicht mit so etwas vergeuden. Gesucht? Er hatte etwas gesucht, das stimmte, und jetzt wußte Alexander auch mit Bestimmtheit, daß es Damiander nicht war. Er schüttelte den Kopf, länger als er eigentlich wollte, weil die Bewegung sich selbst antrieb und er erst den Befehl zum Aufhören geben mußte.
Damiander zuckte die Schultern, stellte den Kelch zu seinen Füßen ab und drehte den Kopf fort, blickte wieder auf die Fontäne, welche die obere Schale füllte und von dort in das untere Becken lief. Der Brunnen war der schönste, den Alexander jemals gesehen hatte, und der aufsprudelnde Wasserschwall… aber darüber wollte Alexander jetzt nicht nachdenken. Zum Denken hatte er Halan…
Wieder rührte sich die Gestalt am Brunnen, drehte ihr Gesicht Alexander zu, aber es war nicht länger Damianders Gesicht. Seine Züge waren schmaler geworden, die Wangenknochen steiler, die Haut bleich wie junger Schnee. Seine Haare waren so tief schwarz, daß sie bläulich schimmerten, und seine Augen - große, engelhafte Augen, doch nun vom tiefsten, dunkelsten Blau, silberne Sterne tanzten darin…
Alexander erstarrte. Er glaubte nicht, was er sah, hätte es doch so gern geglaubt, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen und das Bild wieder verwischten. Er zwinkerte nicht. In diesem Moment wollte er nicht klar sehen können, noch klar denken.
»Hast du mich gesucht?« fragte die Gestalt, und ihre Stimme war die -
»Nein!« schrie Alexander. Die Wut in ihm schoß auf wie die Fontäne des Springbrunnens, als er vorwärts sprang, beide Arme vor sich ausgestreckt, und Damiander mit der einen Hand vor die Brust stieß, mit der anderen bei der Schulter packte und ihn in das Becken warf. Dann drehte er um und ging zurück zum Haus. Er fühlte Feuchtigkeit in seinem Gesicht, aber das mußten Spritzer des Brunnenwassers sein; seine Hände waren auch ganz naß, er heulte nicht… Das Laken glitt zu Boden; er hatte nicht mehr daran gedacht, es festzuhalten, und als er es eilig hochhob und sich wieder umlegte, klebte Kies daran und drückte in seine Haut.
»Warte!« hörte er Damianders Stimme hinter sich und konnte nicht anders, als zu ihm hinüberzublicken.
Da stand der Engel im Becken des Springbrunnens, tropfnaß, mit strähnigem Haar und so kläglichem Gesichts, daß er Alexander beinahe leid tat. Zumindest sah Damiander wieder aus wie Damiander. »Lauf nicht weg!«
Alexander hätte ihn am liebsten angeschrieen. Unsere Liebe ist größer als alles, was du mir hier bieten kannst! Wage es nicht, sie so zu verhöhnen! Aber er wußte, wenn er jetzt den Mund aufmachte, würde er losheulen.
»Ich dachte, es freut dich, ihn zu sehen«, sagte Damiander leise.
»Du bist nicht er«, flüsterte Alexander.
Damiander stieg aus dem Becken. Das Wasser tropfte aus dem Saum seiner Toga und den Spitzen seiner Haare, und er trug den wassergefüllten Kelch wie eine Trophäe vor der Brust. »Komm mit mir«, sagte er. Alexander folgte ihm.
Das Zimmer, in das sie kamen, hatte Alexander bei seinem ersten Rundgang nicht gefunden. Es hatte, anders als alle, die er gesehen hatte, eine Tür, und die war verschlossen. Innen brannten Kerzen. Und auf einem Bett lag Halan.
»Da hast du ihn.«
»Schläft er?« fragte Alexander. Irgend etwas stimmte nicht mit der Art, wie Halan dort lag, Augen geschlossen, reglos, die Haare wie ein Kranz um sein Gesicht herum verteilt. Er sah nicht aus wie ein Schläfer. Halan würde sich nicht ohne Decke schlafen legen, nur auf einem Laken, und auch nicht in allen Kleidern. Das einzig Beruhigende war, daß Halan eben diese Kleider noch trug, daß Damiander sie ihm nicht ausgezogen hatte.
»Er träumt«, erwiderte Damiander. »Und er hat nicht viel Übung darin.«
Aber Alexander achtete nicht mehr auf ihn, nicht auf den Spott in seiner Stimme. Er kniete an Halans Seite nieder, strich ihm mit der Hand über das Gesicht. Es fühlte sich so kühl an, selbst für Halan! Mit den Fingern fuhr Alexander Halans Züge nach, seine Augenbrauen, den Schwung seiner Lippen… Halan regte sich nicht. Alexander wollte nicht an Koris denken, der genauso dagelegen hatte, aufgebahrt auf weißem Laken… Für einen Moment sah der Sohn wieder wie der Vater aus… Alexander warf sich auf ihn in Verzweiflung, begann ihn zu küssen, auf den Mund, der dem Kuß nicht antworten konnte, auf die Augenlider, auf die Stirn, den Hals - es war vergebens. Kein Leben kam in Halan.
Schließlich gab Alexander auf. In Verzweiflung rollte er sich an Halans Seite zusammen, so klein er konnte, und so dicht wie es ging an dem stillen Körper, und versuchte zu schlafen. Der Wein hätte ihn müde machen sollen.
Eine Bewegung ließ ihn wieder hochschrecken. Aber es war nur Damiander, der ihn an der Schulter berührte.
»Und das reicht dir schon? Vorhin warst du noch so voller Leidenschaft, und nun willst du nichts als schlafen?«
»Ich kann ihn nicht aufwecken«, flüsterte Alexander. Seine Wut war fort, obwohl er Damiander am liebsten seine schönen Augen ausgekratzt hätte. Das wilde Verlangen war fort. Am liebsten wäre er mit Halan allein gewesen, obwohl es ihm erstaunlich wenig ausmachte, daß Damiander ihm zusah.
»Vielleicht stellst du es nicht richtig an?«
Alexander schüttelte den Kopf. Dann legte er die Lippen an Halans Ohr und begann auf ihn einzuflüstern, einzureden, zu schreien. »Wach auf, Halan! Ich kann nicht ohne dich sein!«
Immer noch kam kein Leben in Halan. Immer noch fühlte er sich so ruhig an, so kalt, so… trocken. Wie lange mochte er hier schon liegen - einen Tag, einen halben? Alexander wußte es nicht, wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, seit sie im Wald diesen Pfad eingeschlagen hatten. Vielleicht hatte Halan, seit er Damianders Wein ausgeschlagen hatte, nichts mehr zu trinken bekommen, noch nicht einmal Wasser? Halans Lippen, leicht geöffnet, seit Alexanders Zunge sie bei seinem letzten Kuß gespreizt hatten, waren so trocken, fühlten sich so durstig an…
»Wenn du immer noch da bist«, herrschte Alexander Damiander an, »dann gib mir deinen Kelch - wenn du schon das Wasser durch die Gegend tragen mußt, laß lieber Halan davon abhaben!«
Damiander lächelte, als er Alexander den Kelch reichte, plötzlich scheinbar besorgt und hilfsbereit. Alexander kam sich so verhöhnt vor… Dabei hätte Damiander sicher mit einem Wink seiner Hand Halan wieder aufwecken können… »Bitte«, sagte Damiander.
Alexander kniete an Halans Seite nieder, hob seinen Kopf an, und als er merkte, daß er beide Hände brauchte für den Kelch, der so groß war, daß man ihn mit einer Hand wohl tragen, aber schlecht führen konnte, rutschte er halb hinter Halan und zog seinen Kopf auf den Schoß. Vorsichtig achtete er darauf, nichts zu verschütten - obwohl ein Schwall kalten Wassers im Gesicht Halan bestimmt geholfen hätte, wollte Alexander es doch zuvor auf alle anderen, freundlichen Weisen versucht haben.
Er tauchte einen Finger in das Wasser und tupfte es sacht an Halans Lippen, versuchte, seine Zunge hinter den Zähnen zu berühren. Dann probierte er, Halan das Wasser aus dem Kelch direkt einzuflößen, doch der Kelch war zu sperrig, selbst mit beiden Händen konnte Alexander ihn schlecht kontrollieren, nicht an einem fremden Mund, und Halan sollte nicht an dem Wasser ersticken, oder ertrinken.
Alexander fühlte, daß Damiander ihn immer noch belustigt beobachtete, und es störte ihn ein wenig, aber der Blick war auch gut. Es lag eine gewisse Lust darin, eine Wonne, mit der Damiander Alexanders Bemühungen zusah und die Alexander auch spüren konnte. Er fühlte ein Prickeln auf seiner Haut. Aber er versuchte, nicht darauf einzugehen. Hier ging es um Halan. Nur um Halan.
Alexander konnte nur lächeln, als ihm eine Idee kam. Er führte den Kelch an seine eigenen Lippen, nahm einen Schluck des Wassers in den Mund - köstliches kaltes erfrischendes Wasser, und erst jetzt merkte Alexander, wie durstig ihn der Wein gemacht hatte - und beugte sich dann, ohne selbst zu schlucken, über Halan, legte seine Lippen an Halans und ließ dann, sehr, sehr behutsam, etwas von dem Wasser in Halans Mund laufen.
Halans Lippen bewegten sich, als er schluckte.
Alexander blies den Rest des Wassers in Halans Mund, und dann, weil sich das alles so wundervoll anfühlte, schob er langsam seine Zunge hinterher. Sie begegnete der Spitze von Halans Zunge, die sich im gleichen Augenblick zurückzog, wie eine Blume, die man anstupste in dem Moment, da sie aus der Erde brach. Die Berührung war nur kurz, doch Alexander trieb es Schauer des Glücks durch den Körper. Halans Zungenspitze war warm und fest, bedeckt von kleinen knospengleichen Knötchen, die sich von einer Sekunde auf die andere verhärteten wie Gänsehaut. Alexander schluckte, zwang sich, seine Lippen von Halans zu lösen, und nahm einen weiteren Schluck Wasser aus dem Kelch. Dieses Glück war größer, als aller Wein der Welt ihm hätte schenken können, dies war die Leichtigkeit, nach der er so verlangt hatte, das Gefühl, gleichzeitig zu schwimmen und zu schweben. Seine Seele riß an ihren Fesseln, wollte sich losmachen und durch den Elomar treiben… Alexander hielt sich an ihr fest. Er wollte sie nicht zurückhalten - er wollte, daß sie ihn mitnahm, ihn und Halan.
Noch einmal wollte Alexander Halan küssen, preßte seine Lippen gegen Halans Mund, um das Glück zu trinken, ließ seine Zungenspitze um Halans Zähne spielen - als diese plötzlich zuschnappten.
Im gleichen Moment, in dem sich Halans Zähne in Alexanders Zunge gruben, in dem sich Alexanders Mund mit dem Geschmack von Blut füllte, krallte sich eine Hand von hinten in seine Nackenhaare. Der Schmerz war so überwältigend, daß Alexander gar nicht ans Schreien denken konnte. Halan sog an Alexanders Zunge, sog das Blut heraus, während seine Hände sich in Alexanders Schultern krallten, als wollten sie ihm ein Stück des Fleisches herausreißen. Es fühlte sich zu gut an, als daß Alexander ihm hätte Einhalt gebieten können oder wollen. Es fühlte sich groß an, und schmerzhaft, und wild. Trotzdem riß er sein Gesicht von Halans los, um nach Luft zu schnappen.

Die Liebenden. von ZOE

Halan stöhnte auf und biß ihn in den Hals, dort, wo er in die Schulter überging. Sein Körper wand sich, und bäumte sich auf, und umklammerte Alexanders, rasend vor Verlangen. Seine Kleider schienen ihn zu stören, und er riß an ihnen wie an Ketten, und es war an Alexander, ihn daraus zu befreien. Halan glühte, nicht vor Hitze, sondern von einem inneren Feuer, wie Alexander es noch niemals in ihm gefühlt hatte. Halans Liebe, Halans Begehren war immer ein zartes junges Pflänzchen unter einem Glassturz gewesen, aber nun schwoll es zu einem mächtigen Baum an, und das Glas barst in tausend Stücke. Alexander, nicht Halan, schrie, als es geschah; die Trümmer hatten ihn getroffen, er war verwundet, er blutete, und es fühlte sich so entsetzlich gut an, so entsetzlich und so gut wie nur irgend etwas in seinem Leben.
Er küßte Halan, und er spürte Salz in seinem Mund wie von Tränen, und er küßte ihn wieder, und eine süße Ruhe kam über sie, Erschöpfung und Glück zugleich. Halan wütete nicht mehr, ganz still lag er an Alexanders Seite, aber er lebte noch.
Alexander streckte einen zitternden Arm aus und tastete nach dem Kelch, aber da, wo er ihn meinte abgestellt zu haben, konnte er ihn nicht finden. Seine Fingerspitzen berührten den Fußboden, der sich so seltsam unwirklich anfühlte, härte und rauher als die Haut, an die sich seine Sinne immer noch so deutlich erinnerten, als müsse es erst noch geschehen. Halans Atem stupste ihn ans Ohr, und er vergaß den Arm und die Hand und den Kelch und hielt ganz still -
Halan stupste ihn mit der Nase an, und, als Alexander sich nicht rührte, mit der Stirn, und als Alexander ihm endlich das Gesicht zuwandte, legte Halan die Lippen an seine, und mit einem Kuß ergoß sich ein Schluck dieses wundervoll süßen Wassers in Alexanders Mund. Alexander wagte nicht zu schlucken, aus Angst, dieses kostbare Gefühl zu verlieren, diesen Geschmack…
Damiander hatte sie überlistet; nicht Wasser war in seinem Kelch, sondern Nektar, Sonnentau oder auch Engelsblut genannt, jener geheimnisvolle Saft, den zu trinken nur den Elomaran und ihren Kindern zustand. Alexander rieb seine Zunge am Gaumen, versuchte diesen Geschmack am ganzen Körper fühlbar zu machen, und noch immer schluckte er nicht -
Halan berührte Alexanders Lippen kurz mit der Zungenspitze, dann setzte er zu einem weiteren Kuß an, doch dann sog er das Wasser aus Alexanders Mund zurück in seinen eigenen, und schluckte, und lachte glücklich. Auch Alexander mußte lachen, und er rieb sein Gesicht an Halans Hals, schlang beide Arme um ihn und schloß die Augen…
Damiander lachte mit ihnen, leise, als er das Zimmer verließ.

Manchmal dachten sie daran, aufzubrechen - jeder Tag, den sie bei Damiander verbrachten, barg einen oder zwei solcher Momente in sich - doch je länger sie blieben, desto abwegiger erschien es Alexander, jemals wieder von hier fort zu gehen. An keinem Ort der Welt konnten sie so glücklich sein wie in Damianders Haus.
Im Grunde seines Herzens hatte Alexander nie einen anderen Wunsch verspürt, als zu lieben und geliebt zu werden, und hier wurde er geliebt. Hier konnte er Halan lieben und begehren, ohne von schlechtem Gewissen gebeutelt zu werden, hier konnten sie endlich die sein, die sie immer hatten sein wollen. In Damianders Haus gab es alles, was sie zum Leben brauchten. Was störte es, daß es zu essen nur Brot gab? Es war gutes Brot, braun und knusprig außen, innen weiß und weich und noch heiß von der Glut des Ofens - aber wer wollte essen, wenn er lieben konnte, wenn er Wein hatte? Alexander trank viel Wein, und sogar Halan begann es ihm nachzutun, als sie begriffen, wie besonders Damianders Wein - allerWein im Haus des Engels - war: Egal, wieviel man davon trank, es hörte nie auf, angenehm zu sein. Weder begann der Magen zu rebellieren, noch strafte sie der andere Morgen mit Übelkeit. Man konnte den Wein trinken und trinken, sich daran berauschen, und irgendwann schlief man ein… Es tat gut, nicht mehr weise sein zu müssen, nicht mehr unnahbar. Ein leibhaftiger Engel wohnte in diesem Haus, und solange er angebetet wurde, waren auch Engelsgeborene nicht mehr als Menschen, und wollten auch nichts anderes sein.
Jeden Tag kam Damiander zu ihnen, ein oder zwei Mal - er kam zu allen seinen Gästen, nahm sich Zeit für jeden, und doch war es immer etwas Besonderes. Alexander liebte Halan; er genoß es, mit ihm zu schlafen, und doch zählte er jeden Morgen die Sekunden, bis endlich Damiander den Vorhang beiseite schob… Er liebte Halan, doch Halan konnte nicht seine Gefühle teilen, nicht das gespiegelte Glück bis in die Unendlichkeit anschwellen lassen… Alexander liebte Halan. Doch es war kein Vergleich.
Sie waren glücklich in Damianders Haus. An den Abenden saß Alexander mit den anderen Gästen in der Halle. Er redete nicht mit ihnen, versuchte nicht, sie kennenzulernen und winkte ab, wenn sie ihn zu sich einluden - sein Platz war auf einem Kissen in der Ecke. Dort lag er - allein, denn Halan zog es nicht in die Gesellschaft der anderen - ausgestreckt auf dem Rücken, neben sich einen Kelch mit Wein, und träumte vor sich hin, glücklich und angefüllt mit den Gefühlen aller Leute, derer er habhaft werden konnte. Er verstand Damiander, begriff, warum dieser sich ebensogern aufs Zuschauen - Zufühlen - beschränkte, statt selbst mit jemandem das Lager zu teilen. Wenn Damiander auch dort war, lächelten sie sich wissend zu. Indem sie eine Gabe teilten, teilten sie alles…
Alexander drehte sich ein wenig, um einen Schluck von seinem Wein zu nehmen, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Das machte ihn ein klein wenig neugierig, denn er hatte noch nie jemanden gesehen, der das Haus durch die Vordertür verlassen hätte, und nach ihm und Halan waren auch keine weiteren Gäste mehr gekommen - doch nicht neugierig genug. Er hätte aufstehen müssen, um sehen zu können, oder sich aufsetzen - und er lag doch gerade so bequem…
Fremde Gefühle mischten mit den Wogen der Glückseligkeit, in denen Alexander schwamm, so etwas wie… Verwunderung? Ärger? Es war zu undeutlich im Vergleich zum Rest, und Alexander wollte sich nicht darauf konzentrieren, es genauer herauszufinden - aber es störte ihn. Von der Tür wehte ein kühler Luftzug quer durch die Halle zu Alexander hin, und auch das störte.
»Guten Abend, wünsche ich«, sagte eine ruhige, trockene Stimme, die eine Gänsehaut über Alexanders Körper jagte. Diese Stimme kannte er… Woher? Alexander kniff die Brauen zusammen. Nachdenken war das letzte, was er wollte.
»Nein, bleibt ruhig liegen. Ich werde mich nur ein wenig umsehen.« Die Tür wurde wieder zugezogen. Alexander hörte langsame, unregelmäßige Schritte, und dazwischen ein… Klopfen.
»Sei mir willkommen, mein Freund«, sagte Damiander. Seine Schritte waren niemals zu hören, nur das Rascheln, wenn der Stoff seiner Toga hinter ihm herschleifte. Mit geschlossenen Augen lauschte Alexander und war fast bestrebt, den Kopf zu heben.
»Was ist mit dir? Wie kann ich dir helfen?«
»Ich suche einen Jungen. Sein Name ist Alexander, oder auch Anders. Kurzes schwarzes Haar, blaß, die Augen wie ein Engelsgeborener…«
Alexander hielt die Luft an. Er fühlte, wie die Welt um ihn herum kalt wurde und erstarrte, wie er selbst erstarrte. Janek?
»Ich kenne ihn«, erwiderte Damiander. »Er ist ein Gast von mir.«
»Dann zeig mir, wo ich ihn finden kann!«
Damiander lachte. »Du scheinst es eilig zu haben… Komm!«
Die Schritte, das Klopfen des Gehstocks und Damianders schwebendes Gleiten kamen näher, bis Alexander fühlte, daß sie neben ihm standen. Was machte Janek hier? Was wollte er? Warum mußte er hier hereinplatzen und alles stören? Alexander konnte Janek fühlen, und er fühlte sich nicht gut an, viel zu ernst und entschlossen -
»Da hast du ihn«, sagte Damiander. »Du kannst ihn haben. Ich kann euch aber auch zu seinem Zimmer bringen…«
Alexander wußte nicht, wie er reagieren sollte, was sagen. Janek fühlte sich so grimmig an, und er kannte Alexanders richtigen Namen… So tun, als ob er schlief, das war es! Es war ein jämmerlicher Trick, aber Alexander wußte, daß er in diesem Moment zu nichts anderem imstande war. Und da er bereits lag…
Janek beugte sich über ihn, seine Stimme war nun direkt an Alexanders Ohr. »Anders, alles in Ordnung mit dir?« Alexander hielt still, aber Janek faßte ihn bei der Schulter und schüttelte ihn hin und her. »Es ist noch zu früh zum Schlafen, Junge! Wo ist dein Neffe?«
Alexander begann sich zu räkeln und strecken, als käme langsam Leben in ihn. Er mochte die Berührung, Janeks festen, sicheren Griff. Trotzdem wunderte er sich über sich selbst, als er begriff, daß er gerne mit Janek schlafen wollte, und hielt sich davon ab, beide Arme um ihn zu schlingen und ihn zu sich hinunterzuziehen. Er konnte zuviel Mißtrauen in Janek spüren, zuviel Ablehnung.
»Hmhm«, machte Alexander und öffnete die Augen. »Mhmm?«
Er blickte in Janeks Gesicht - wachsam, ärgerlich und naß. Draußen mußte es regnen. Janek roch nach nasser Wolle - nicht sonderlich angenehm. Alexander schrumpfte unter Janeks durchdringendem, bernsteinhellen Blick. In ihm wuchs die Verlegenheit, etwas sagen zu müssen, aber er wußte nicht, was. Am einfachsten war es, so zu tun, als erkenne er den Mann nicht wieder. »Janek?«
Jankes Mundwinkel hoben sich nach Art eines Lächelns. »Damit könntest du Recht haben, Junge. Aber weißt du noch, wer du bist?«
Alexander mußte lachen. Wenn Janek keine anderen Probleme hatte! »Du weißt doch, wer ich bin! Ich habe es dir nicht gesagt, aber du weißt es. War wohl auch nicht so schwer.« Er schüttelte den Kopf. Eine Haarsträhne hing ihm ins Auge. Nicht seine, merkte er dann. Janeks. Und sie war feucht. Jetzt hatte er Wasser im Gesicht. »Ich bin Alexander von Korisanders Blute.«
»Der rechtmäßige König von Koristan?« fragte Janek weiter. Seine Stimme war nun freundlicher, aber so trocken, daß sie Alexander Durst machte. Er griff nach seinem Wein, doch Janek legte schnell eine Hand über den Kelch und zog ihn fort, als Alexander emsig nickte.
»Und was tust du dann hier?« fuhr Janek ihn an. »Hast du keine Aufgabe? Braucht dein Land dich nicht?«
»Das geht dich überhaupt nichts an!« schrie Alexander, wütend und verletzt. »Du hast mir nichts zu sagen! Was machst du denn hier? Warum verfolgst du Halan und mich?«
»Nun hör mir mal zu«, sagte Janek, seine ruhige Stimme ärgerlich, aber frei von Zorn. »Ich habe besseres zu tun, als mich mit einem betrunkenen Jungen zu streiten. Aber wenn ich keine andere Möglichkeit finde, um dich wieder zur Besinnung zu bringen, werde ich dich übers Knie legen, wie du es verdient hast.«
Alexander konnte nichts mehr sagen, nur noch schreien. »Verschwinde! Ich hasse dich!« Warum mußte dieser Krüppel kommen und alles kaputtmachen? Warum zerstörte er Alexanders Glück?
Damiander kam, um Alexander zu retten. Er trat hinter Janek, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte mit einer Stimme, deren Wärme sich niemand entziehen konnte: »Hier ist kein Ort zum Streiten, mein Freund. Hier ist ein Ort, an dem die erschöpfte Seele Rast finden kann. Draußen regnet es. Du bist völlig durchnäßt. Dein Pferd ist in meinem Stall so gut untergebracht wie du in meinem Haus.«
Während er sprach, löste er die Schnallen von Damianders Umhang und ließ ihn zu Boden gleiten. Alexander atmete auf. Alles mußte wieder gut werden! Janek würde von Damianders Wein trinken, und bleiben, und glücklich werden…
»Setz dich ans Feuer«, sprach Damiander. »Sicher, noch ist Zeit, um den nächsten Gasthof zu erreichen, aber er könnte dir nicht mehr bieten, als du hier findest. Morgen wirst du genug Zeit haben, um weiterzureisen, ausgeruht und erholt…«
Alexander lächelte. Janek erwiderte nichts auf Damianders Worte, ging nicht auf die Angebote ein, aber Alexander war sicher, daß er sie auch nicht ablehnen konnte, denn sonst hätte er das längst getan. Wenn Janek dann am anderen Morgen immer noch mürrisch war und fort wollte, bitte, dann sollte er gehen. Aber wenn er blieb…
»Bei einem Schluck Wein sehen alle Dinge anders aus«, sagte Damiander. Alexander blickte ihn flehentlich an. Er wußte, von welchem Wein die Rede war. »Du bist durstig, und -«
»Ich habe noch nie einen Becher Wein ausgeschlagen«, unterbrach Janek ihn scharf. »Aber es hat auch noch nie jemand versucht, ihn mir aufzuschwatzen wie saures Bier. Ich sehe, daß du mit dem Jungen Erfolg hattest, aber mich bekommst du nicht so leicht.«
Damiander lachte nur. »Mich kannst du nicht beleidigen, Hauptmann. Nicht, so lange ich weiß, was du wirklich wünschst.«
Janeks Augen zogen sich zusammen und wurden noch heller. »Und was weißt du noch alles?«
»Genug, um meine Neugier zu wecken, alter Fuchs.« Janek verzog keine Miene, aber ihm fehlte Halans Gabe, seine Gefühle zu verbergen. Es lag zuviel Anstrengung darin. »Und wenn nun endlich auch deine geweckt ist…«
»Ich lasse mich nicht erpressen«, knurrte Janek. Und dann sagte er: »Bei einem Becher Wein, ja?«
Damiander nickte und zuckte zugleich die Schultern. »Bei so vielen, wie du willst. Ganz wie es dir beliebt.«
»Einen Becher«, sagte Janek fest und erhob sich. Suchend blickte er sich um. Damiander hielt den Gehstock in der Hand, doch er reichte ihm die andere.
»Nimm meinen Arm. Ich bin dir eine bessere Stütze.«
Janek schnaubte, aber er nahm an. Alexander rappelte sich auf, wollte mit ihnen gehen, doch Janek schüttelte den Kopf.
»Ein Becher für mich, Anders, und ein Wort mit deinem… Freund. Nichts für deinen Mund, Junge, und nichts für deine Ohren.«
Alexander biß die Lippen zusammen und blickte Damiander noch etwas flehentlicher an als zuvor. Doch auch der Engel wies ihn zurück, nicht mit Worten, nur mit einem Blick. Aber es war auch ein Lächeln in Damianders Augen, aufmunternd und so vielsagend, daß Alexander sich nicht weiter grämte, als die beiden die Halle verließen.
Alexander sah Janek an diesem Abend nicht wieder. Er konnte sich denken, warum. Und er konnte sich auch denken, daß sie sich in den nächsten Tagen noch oft genug begegnen würden.

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