Fünftes Kapitel

Aralee runzelte die Stirn, und es sah sehr mißbilligend aus. »Die Sonne ist groß«, sagte sie langsam. »Ich frage mich, was ich davon halten soll.«
Natara schrumpfte noch ein wenig weiter in sich zusammen. »Aber das ist sie doch!« wagte sie zu flüstern.
»Ja«, erwiderte Aralee. »Wie auch der Himmel. Und die Stadt. Und der Palast. Den hast du außerdem falsch geschrieben, ein L ist völlig ausreichend. Und wie geht es weiter?« Aralee griff nach der nächsten Seite und schob das erste Blatt unwirsch beiseite. Natara hatte sie schon oft kurz angebunden erlebt, aber noch nie so böse. Und so ungerecht. Natara hatte sich mit der Aufgabe wirklich Mühe gegeben. Was erwartete Aralee denn von ihr?
»Sieh an, der Baum ist auch groß! Und das Fenster!« Sie ließ auch den zweiten Bogen fallen und funkelte Natara böse an. »Versuchst du, mich zum Narren zu halten?«
Natara schüttelte den Kopf, zaghaft, weil Aralee es ihr ohnehin nicht glauben würde. »Ich wußte nicht, was ich schreiben sollte.« Sie hätte sich weniger Zeit als den halben Nachmittag genommen, nur um der Königswitwe einen Streich zu spielen.
»Du wußtest es nicht? Hatte ich dir keine Aufgabe gestellt?«
»Doch.« Nataras Hals fühlte sich so zugeschnürt an, daß sie nur noch piepsen konnte. »Ich sollte zwei Bögen vollschreiben.«
»Hatte ich gesagt - mit Unfug?«
»Ihr hattet mir gar nichts gesagt, was ich schreiben sollte«, verteidigte sich Natara. »Und ich wußte nichts… Ich kann das nicht!«
»Diesmal hilft es dir auch nichts, wenn du weinst«, sagte Aralee kalt, und natürlich konnte Natara danach nichts anderes mehr. »Diesmal glaube ich es dir einfach nicht. Du bist ein kluges Mädchen, du bist nicht auf den Kopf gefallen, und du bist alt genug. Mein Sohn war vier Jahre alt, als er lesen und schreiben gelernt hat, und sein Neffe Harold, nach allem was ich weiß, sogar erst drei.«
»Aber sie sind Korisanders Kinder«, brachte Natara hervor, nachdem sie sich mit Aralees geduldig dargebotenen Taschentuch Nase und Gesicht abgetrocknet hatte.
»Ich selbst«, fuhr Aralee fort, »war vierzehn Jahre alt, als ich an diesen Hof kam, ein Mädchen aus Fleisch und Blut, wie du, ganz ohne Engel, und ich konnte zu diesem Zeitpunkt auch seit Jahren Lesen und Schreiben. Du kennst alle Zeichen, du kannst alles lesen, du redest in ganzen Sätzen - aber kaum sollst du selbständig etwas aufschreiben, kommt nichts anderes dabei herum als ‘Der Himmel ist groß.’«
»Es tut mir leid«, sagte Natara.
»Schreib das auf!« Aralee drückte ihr einen Tintenkiel in die Hand und einen ihrer Bögen, auf dem noch Platz war.
Gehorsam fing Natara an zu schreiben. Es tut mir… »Hundertmal?«
Jetzt mußte Aralee endlich lachen. »Das hättest du wohl gerne! Damit dir wieder erspart bleibt, selbst denken zu müssen!«
Natara biß sich auf die Zunge, wußte nicht, ob sie mitlachen oder lieber weinen sollte. Sie konnte die Wahrheit nicht sagen - den eigentlichen Grund, warum sie immerzu fast das gleiche geschrieben hatte - und sie betete, daß Aralee die Bögen nicht nachzählen würde. Einer fehlte - der, den Natara heimlich in der Küche verbrannt hatte. Viele Sätze - viele verschiedene Sätze - standen darauf, bis hin zu dem letzten: Hester ist tot.
Warum sie das geschrieben hatte, wußte Natara nicht. Es war einfach aus der Feder herausgekommen. Aber sie wußte, daß sie Aralee diesen Bogen nicht zeigen durfte. Danach hatte sie sich konzentriert - wenn sie immer das selbe schrieb, wenn alles nur groß war, dann konnte sich ihr kein tot mehr dazwischenmogeln. Am liebsten hätte Natara es Aralee doch gesagt. Aber sie hatte es der Totenmagd versprochen… Und sie hatte Angst.
Aralee seufzte. »Es tut mir leid, Natara. Ich müßte den Satz selbst hundertmal schreiben. Ich war wieder ungerecht.« Natara blickte sie irritiert an. Sie hatte keine Entschuldigung erwartet. »Wie soll ich von dir erwarten, einen eigenen Text zu schreiben, wenn dein ganzes Leben darin besteht, die Chroniken anderer - längst toter - Leute zu lesen und abschreiben?« Sie machte eine Pause. Natara blickte angestrengt auf ihre Fingerspitzen, die sie jeden Abend mit Bimsstein scheuern mußte, damit die Tinte nicht einwuchs. »So hat hier jeder andere auch das Lesen gelernt, seit Generationen haben alle Chronisten ihre Laufbahn damit begonnen, die Werke der anderen auswendig zu lernen - aber du willst schließlich kein Chronist werden, nicht wahr?«
Natara traute sich, leise zu lachen, weil Aralee das wahrscheinlich erwartete. In Wirklichkeit wußte sie es nicht. Chronist war ebensogut wie Lehrerin, nur natürlich höher im Ansehen. Die meisten Chronisten waren selbst Engelsgeborene, Brüder oder Onkel der Könige, niemals irgendwelche Frauen, geschweige denn Mädchen - aber wie auch immer, wenn jemand anderes als Aralee Natara fragen sollte, was sie einmal werden wollte, würde sie immer noch sagen: Eine Tänzerin.
»Deshalb ist es vielleicht das Beste, ein wenig Abwechslung in deinen Alltag zu bringen«, fuhr Aralee fort. »Ich habe heute keine Zeit mehr für dich, und so wie es aussieht, auch in den nächsten beiden Tagen nicht - zieh dir dein bestes Kleid an, damit dich niemand für ein Dienstmädchen hält und zum Arbeiten schickt, und geh ein wenig im Park spazieren. Dort gibt es genug Dinge, von denen du hinterher schreiben kannst - halte die Augen offen, damit du mehr erkennen kannst, als daß der Park groß ist. Das einzige, was du dort zur Zeit nicht sehen kannst, sind Schwäne - aber ich habe gehört, daß sich statt dessen ein Rudel Enten auf dem See niedergelassen hat. Fall nicht hinein, und verirr dich nicht - und alles weitere sollst du selbst herausfinden.«
»Wie viele Seiten?« fragte Natara. Es war offensichtlich die falsche Frage.
»Geh einfach in den Park!« schnappte Aralee. »Dann schreib, was dir einfällt. Wenn es zehn Seiten sind, gut. Wenn es nur eine ist, kann ich damit auch leben. Solange du nicht noch einmal solchen Unsinn machst und gutes Pergament verschwendest. Ich werde diese Seiten abschaben.« Sie deutete auf die Bögen auf dem Tisch. Nataras Herz sank. Wenn Aralee so sehr auf ihre Pergamente achtete, würde sie das Fehlen bestimmt bald bemerken.
Schnell sagte Natara: »Ich werde jetzt gehen. Danke, daß Ihr Euch soviel Zeit für mich genommen habt.«
Aralee nickte ihr nur zu. Sie sah müde aus, wie eigentlich immer. Manchmal fragte sich Natara, ob sich die Königswitwe überhaupt jemals schlafen legte, und sie fühlte sich schuldig, denn es waren auch ihre Unterrichtsstunden, die Aralee am Schlafen hinderten. Aber es war schließlich alles Aralees Idee! Natara hatte nie um die Stunden gebeten. Sie hatte nie darum gebeten, überhaupt ins Schloß zu kommen.
Mit schnellen, hüpfenden Schritten schlich Natara zu ihrem Zimmer. So bewegte sie sich immer, wenn niemand dabei war. Sie mochte die Geräusche nicht, die ihre Schritte in den Gängen machten - und die Vorstellung, daß man sie überall im Gebäude, zumindest aber im ganzen Stockwerk hören konnte. Zwar rannte sie nicht, aber sie huschte. Die Flure waren kein Ort, an dem sie sich sicher fühlte.
Aber als sie dann ihr bestes Kleid aus der Truhe holte - das Kleid, daß sie zuletzt getragen hatte an dem Tag, als Hester starb - und es über dem Stuhl ausbreitete, damit die Falten verschwanden - begriff sie, daß sie sich auf den Park freute, und darauf, einen ganzen Tag lang endlich wieder nichts zu sein als ein ganz normales Mädchen.

Draußen war es warm, und die Luft schmeckte nach Sommer. Natara fragte sich, wie in aller Welt sie das schreiben sollte - der Satz war zu lang, um ihn sich vorzustellen, und die Zeichen… Aralee hatte gut reden, daß man jeden Satz, den man denken konnte, auch schreiben konnte, wenn man schreiben konnte - Natara wußte, daß es nicht so einfach war. Aber was dachte sie hier an Tinte, an Buchstaben? Sie war draußen, und die Sonne schien… Wann war Natara zuletzt draußen gewesen?
Und in so einem Park? Noch nie. Ihr ganzes Leben hatte Natara in der Stadt verbracht. Sie kannte Bäume; sie wußte, daß draußen vor der Stadt ein großer Wald lag, und sie kannte auch den Park - man konnte ihn sehen, nicht von ihrem eigenen Fenster aus, aber von Aralees. Doch noch nie hatte Natara einen solchen Ort betreten.
Der Park war verwunschen. Wenn man den Wegen folgte - und das tat Natara, aus Angst, sie könne das Grün beschädigen, wenn sie es betrat - sah man hinter jeder Biegung etwas völlig Neues, einen riesigen Baum, der genau so wuchs, ein kleiner Bach, über den eine zierliche Brücke genau so führte; nichts durfte irgendwie anders sein, als es war, und Natara fragte sich, wie man es machte, daß Bäume so wuchsen, daß sie perfekt aussahen - die Bäume konnten es schließlich nicht wissen!
Aber es war auch vieles in diesem Park eindeutig von Menschen gemacht. Kein Strauch käme von sich aus auf die Idee, wie ein Tier auszusehen; keine Hecke würde so gerade Wände bilden. Immer wieder blieb Natara stehen, um sich umzusehen und zu wundern. Wenn sie aus den Chroniken eines über die Nachfahren Korisanders gelernt hatte, dann, daß in allem, was sie taten, bauten und planten, Weisheit steckte. War dieser Park weise? Er war schön, aber was an ihm hatte mit Weisheit zu tun? Und warum gab es dort keine Menschen?
Wenn Natara ein Engelsgeborener gewesen wäre - und sie erschrak kurz bei dem Gedanken, denn es war frevlerisch, sich so etwas auch nur vorzustellen, und vermessen dazu - aber wenn Natara eine Engelsgeborene gewesen wäre mit so einem großen Park, dann hätte sie die Tore weit geöffnet, damit die Leute aus der Stadt, all die Kinder, die nicht in den Wald durften, weil es dort zu gefährlich war, das Grün ansehen konnten. Natara fing an zu lachen. Vermessener Frevel? Die Elomaran konnten doch nicht wissen, was Natara sich ausdachte - sie hörten die Gebete, nicht die Gedanken, konnten zwar vom Himmel aus alles sehen, aber Natara war klein, und wenn sie unter einem Baum stand - Wie wußten die Elomaran überhaupt, was im Inneren von Häusern passierte?
Und dann fiel Natara wieder ein, daß sie selbst ein Engelsgeborener war, der Mächtigste von allen, Arilen, der Sohn des Elomaran Korisander. Die Tanzschritte fielen ihr wieder ein, und sie fing an zu tanzen wie bei dem Maskenspiel von Alexanders Krönung. Aber es ging nicht gut. Die Schuhe störten sie; es waren keine, in denen man gut tanzen konnte, und weil niemand da war, der sie beobachtete, zog Natara sie aus, streifte auch ihre Strümpfe ab und legte sie dazu, und dann lief sie hinaus auf die Wiese.
Ein Birkenbaum war der Engel Korisander, und die Vögel, die versteckt in den Büschen sangen, waren das Volk, das ihr zujubelte und sie als König verehrte. Natara verneigte sich vor dem Volk, und vor dem Engel, und tanzte weiter, dachte sich neue Schritte aus, mutige, gewagte Drehungen und Sprünge, und sie summte dabei die Musik vor sich hin, nicht genau wie damals, aber auch schön, sogar schöner, und genau passend zu ihren Bewegungen.
Sie kannte die Geschichte von Korisander und seinem Sohn genau, Aralee hatte daraus vorgelesen und abschreiben lassen, bis Natara sich zu wünschen begann, die Engel wären niemals herabgestiegen, hätten niemals Kinder in die Welt gesetzt. Aber nun merkte Natara wieder, wie wunderschön diese Geschichte eigentlich doch war.
Sie brauchte eine Krone! Ohne Krone ging es nicht, das hatte Alexanders Schicksal gezeigt, Korisanders Erben brauchten seine Krone - und Natara riß Zweige von der Birke ab, um daraus einen Kranz, eine Krone zu winden. Es ging nicht besonders gut, aber da hier niemand zum Zuschauen war, reichte das, was heraus kam, allemal.
Kleine grüne Blätter hingen in Nataras Augen, als sie weitertanzte, und die herausstehenden Enden der Zweige stachen ihr in die Stirn, aber wenn sie sich Mühe gab, konnte Natara tatsächlich glauben, daß sie die Krone des Engels auf dem Kopf trug. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt derart vergnügt gewesen war… Sie würde eine Tänzerin sein, nichts anderes, keine Lehrerin, keine Chronistin -
Und dann fiel ihr eine Frage ein. Alle Könige hatten Chronisten, sagte Aralee. Und was war dann mit dem toten König, Korisander, vor dessen Bild Hester den Fußboden geküßt hatte? Wo war seine Chronik? Wer war sein Chronist? Aralee hatte sie von so vielen Königen lesen lassen, nur nicht von dem, der gerade gestorben war, und sie hatte auch nie seinen Chronisten erwähnt. Wenn ein König starb, wurde seine Frau Königswitwe und durfte am Hof bleiben, aber was war mit dem Mann, der den König sein ganzes Leben lang begleitet hatte? Wurde er verjagt, oder mußte er auch sterben, wie die königlichen Schwäne, um zu zeigen, daß eine neue Zeit angebrochen war?
Natara wurde kalt. Plötzlich erschien ihr der Park unheimlich, Schatten verdrängten das Licht aus den Bäumen, und die Sonne war fort - Es ist nur eine Wolke, sagte sich Natara,und gleich wird sie verschwunden sein und die Sonne wieder scheinen - aber es war zu spät. Natara hatte wieder angefangen, über das Sterben nachzudenken, und nun wollte ihr Kopf nichts anderes mehr. Harold, Alexanders Chronist, war mit ihm verschwunden, als Alexander seine Krone verlor - aber vielleicht log Aralee auch? Vielleicht waren beide…
Natara begann sich zu drehen, wie sie sich noch nie zuvor gedreht hatte - nicht, damit ihr wieder warm wurde, sondern damit all diese Gedanken aus ihrem Kopf hinausgewirbelt wurden; sie breitete ihre Arme aus und wirbelte und wirbelte, bis nichts mehr in ihr war, keine Chronisten und keine Chroniken, keine Buchstaben und keine Aralee und keine Toten -
Sie wußte nicht mehr, wie sie zu drehen aufhören sollte, aber dann zerriß ein Schrei den Sommer, und Natara stürzte.
Der Schrei war laut, und lang, und um ihn aufzuschreiben gab es keine Zeichen. Schrift war nur für menschliche Sprache. Dieser Schrei klang wie nichts, was von einem Menschen stammen konnte - aber welches Tier würde so schreien?
Natara lag im Gras und wußte nicht, wo oben und unten war und vorne und hinten und links und rechts. Alles drehte sich, und sie versuchte, sich mit ihren Augen an der großen Birke festzuhalten, damit die Welt zumindest einen Punkt hatte, um den sie sich drehen konnte.
Erst, als der Schwindel nachließ und Natara begann, sich über den Schrei zu wundern, merkte sie, wie weh ihr Fuß tat, der linke. Liegend, mit ausgestrecktem Bein, versuchte sie, ihn zu bewegen - aufzustehen getraute sie sich nicht, aus Angst, er könne gebrochen sein und schief zusammenwachsen, wenn sie versuchte, darauf zu stehen, und sie würde niemals wieder tanzen können -
Doch sie konnte den Fuß noch bewegen, es tat zwar sehr weh, aber er war bestimmt nicht gebrochen - denn wenn er nun doch gebrochen war, wie sollte sie jemals wieder aus dem Park ins Schloß zurück finden, wenn doch niemals jemand hierher kam? Der Fuß war bestimmt nicht gebrochen!
Natara drehte sich auf die Seite und betrachtete ihre Füße. Der linke Knöchel kam ihr geschwollen vor, aber nicht sehr - bestimmt nur vertreten oder verstaucht. Eine der anderen Tänzerinnen war damals bei einer Probe gestürzt, genau wie Natara jetzt, und ihr Fuß hatte viel schlimmer ausgesehen. Das Wichtigste war, daß sie vom Boden hoch und zum Schloß zurück kam, wo man sich dann um alles kümmern konnte. Und wenn sie erst wieder auf den Beinen war, blieb genug Zeit, nach dem Ursprung des Schreis zu suchen - bestimmt war es nur ein Tier, vielleicht ein Vogel oder so… Natara kannte so wenige Tiere…
Sie drückte sich vom Boden hoch und stand vorsichtig auf, ganz auf ihren rechten Fuß gestützt, und es ging recht gut. Die Schmerzen waren eigentlich auch schon so gut wie fort… Natara machte einen kleinen Schritt. Diesmal war sie selbst es, die schrie, vor Schmerzen. Wieder lag sie im Gras, aber der Knöchel tat viel mehr weh als zuvor, so sehr, daß sie sich auf die Zunge beißen mußte, um nicht laut zu heulen. Diesmal konnte sie sich nicht mehr einreden, daß der Fuß nur ein bißchen vertreten war. Er durfte nicht gebrochen sein… Er tat so weh…
Natara wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Um Hilfe rufen? Das hatte wenig Sinn, niemand war da, der ihr helfen konnte, niemand, um sie zu hören. Noch einmal versuchen aufzustehen? Vielleicht später, wenn sie den Mut dazu gefunden hatte und die Schmerzen nachließen… Vielleicht - ganz sicher - würde Aralee nach ihr suchen lassen, wenn Natara am Abend nicht wieder im Palast war…
Die Schatten wuchsen, und es wurde kälter. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen. Natara lag im Gras, seit Stunden, wie es ihr vorkam, und in ihrem Kopf hallte noch immer dieser seltsame Schrei wieder, den sie gehört hatte - so schreit kein Mensch…
Sie bemühte sich, keine Angst zu haben, nicht an den Tod zu denken und nicht daran, daß irgendwo auf dem Schloßgelände, irgendwo im Park, eine Pforte zum Nilomar war, zum Unteren Abgrund, der Welt der seelenlosen Körper… Es war schwer, nicht an etwas zu denken, wenn man doch genau wußte, woran… Die Schatten wuchsen.
Die Vögel sangen nun lauter als zuvor. Die Dämmerung hatte viele Geräusche, Rascheln im Gras, im Laub - in der Dämmerung war der Park lebendiger. Die aus Bäumen und Hecken geschnittenen Tiere sahen aus, als könnten sie sich bewegen, die grünen Schwäne, als wollten sie gleich davonfliegen. Und die große Birke, die Natara zum Elomaran erklärt hatte, konnte nun wirklich ein Engel sein. Natara stellte sich vor, daß er, solange sie hier lag, auf sie aufpaßte… Die Schatten wuchsen. Die Geräusche veränderten sich - das Rascheln wurde lauter, kam näher - es erinnerte an Schritte.
Nataras Herz klopfte wilder; sie sagte sich, daß es Freude war. Aralee, oder die Köchin, oder die Totenmagd oder sonst jemand aus dem Schloß hatte ihr Fehlen bemerkt und sich auf die suche nach ihr gemacht! Natara sah in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, aber dort wuchs eine Hecke, welche die Sicht versperrte, und Natara konnte ebensowenig sehen wie gesehen werden - und wenn man sie nun nicht fand?
»Ich bin hier!« rief Natara. »Ich bin hingefallen!«
Es kam keine Antwort. Vielleicht hatte Natara sich nur geirrt, gehört, was sie sich wünschte zu hören?
Doch dann traten drei Gestalten hinter der Hecke hervor und kamen auf Natara zu, schweigend und bedrohlich. Natara biß sich in die Hand und verfluchte ihr Rufen. Das waren keine Leute aus dem Palast. Es war eine Frau - und zwei Vögel, die wie Schwäne aussahen, weiße Schwäne. Doch sie waren viel größer als alle, von denen Natara jemals gehört hatte, nahezu ebenso groß wie die Frau…
Die Frau ging genau zwischen ihnen. Sie trug ein kurzes weißes Kleid und hielt etwas Weißes in Händen, das Natara nicht erkennen konnte. Die drei gingen sehr langsam, und die Bewegungen hatten etwas unwirkliches an sich - Natara hatte noch nie jemanden gesehen, der so kleine Schritte machte wie diese Dame.
Die drei kamen näher, und mit ihnen die Angst. Die großen weißen Vögel hatten mit ihren schwarzen Augen etwas Gespenstisches an sich, aber als Natara die Augen der Dame erkennen konnte… Riesige dunkle Augen, die viel zu groß schienen für das kleine, bleiche Gesicht - Natara kannte solche Augen. Sie hatte schon oft in dem langen Gang vor den Abbildern der Könige gestanden - und einmal sogar selbst in ein solches Augenpaar geblickt.
Natara wollte weglaufen, aber selbst wenn sie hätte aufstehen können, selbst wenn sie nicht vor Angst und Schmerzen wie gelähmt gewesen wäre - vor einem Engel konnte man nicht davonlaufen. Natara hatte im Park einen Frevel begangen, und nun wurde sie dafür bestraft.

Das Schwanenkind. von Rotraud Ilisch

Die drei kamen näher und näher, sprachen kein Wort, gaben keinen Laut von sich. Natara sah sie kommen - und mußte mit einem Mal lachen. Das Licht und ihr seltsamer Blickwinkel, vom Boden aus, hatten ihr einen Streich gespielt. Das war nicht eine Frau mit zwei menschengroßen Schwänen. Das war ein kleines Kind. Es konnte kaum älter sein als drei oder vier Jahre. Und davor hatte sich Natara gefürchtet!
Das Kind blieb vor ihr stehen, schaute mit großen verwunderten Augen zu ihr hinunter, und sein kleiner Mund kräuselte sich zu einem Lächeln. Natara hatte noch nie ein derart bezauberndes Kind gesehen, aber jetzt war nicht die Zeit, um darüber nachzudenken.
»Wer bist du?« fragte die Kleine. »Warum willst du nicht aufstehen?«
»Ich bin Natara«, sagte Natara. »Ich kann nicht aufstehen. Mein Fuß tut mir weh.« Wie sollte sie einem so kleinen Kind erzählen, was passiert war? »Kannst du Hilfe holen?«
Das Kind schüttelte den Kopf.
»Bitte«, sagte Natara. Die Schmerzen wurden wieder stärker, nachdem sie nicht mehr durch die Angst abgelenkt wurden. »Geh zum Schloß und sag den Großen, daß ich hier liege. Das kannst du schon!« Sie versuchte, sich an die Zeit zu erinnern, als sie selbst so klein war - aber es ging nicht gut. Es war zu lange her.
»Zu dem Schloß da?« fragte das Kind, als gäbe es hier noch ein anderes. Aber Natara lachte nicht - das wußte sie noch, wie sehr sie es gehaßt hatte, ausgelacht zu werden, und sie haßte es noch immer.
Sie nickte nur und sagte noch einmal: »Bitte. Außer dir ist hier niemand, der mir helfen kann.«
»Gut«, sagte die Kleine, und ging. Die Schwäne folgten ihr.
Erst als sie fort waren, fing Natara wieder an, sich zu wundern. Gut, es war nur ein Kind, aber was für eines? Und woher kamen die Schwäne, wenn Alexander sie doch alle getötet hatte? Aber vielleicht waren es ja nicht wirklich Schwäne. Natara kannte diese Vögel nur von Abbildungen. Konnten Gänse nicht auch so groß werden? Sie versuchte, sie genau zu erinnern, an die Bilder und an die Vögel, aber alles war so seltsam verschwommen. Nur das Kind sah sie noch genau vor sich, mit diesen unglaublich großen blauen Augen und dem schwarzen Haar und der weißen Haut… Als wäre es plötzlich nicht mehr so dämmrig gewesen, konnte Natara das Kind genau beschreiben, seine bloßen Füße und das weiße Hemd… Aber auch hier schien ihre Einbildungskraft Natara wieder einen Streich zu spielen, denn in ihrer Erinnerung hatte das Kind plötzlich die Papierkrone in Händen, mit der Natara für Alexander getanzt hatte.
»Sie ist hier!« Zwei Frauen kamen auf Natara zugelaufen, ihre geschürzten Kleider wiesen sie als Mägde aus, aber Natara kannte sie nicht. »Ich glaube, sie ist verletzt!«
Natara nickte, als die beiden ihr aufhalfen. »Danke für die Hilfe«, sagte sie leise. »Hat das kleine Mädchen euch Bescheid gesagt?«
Die beiden Frauen blickten sie verwundert an. »Nein - Was für ein Mädchen? Die Königswitwe schickt uns. Sie sagte, wir sollten nach dir suchen gehen, du hättest längst im Schloß sein sollen.«
»Hat sie sich Sorgen gemacht?« fragte Natara.
Die Ältere der Beiden schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wir. Weißt du schon, daß der Nilomar offen steht?«
»Was?« Natara fuhr zusammen. Hätten die Frauen sie nicht festgehalten und gestützt, wäre sie noch einmal hingefallen.
»Langsam, langsam! Kannst du auftreten?«
»Was ist mit dem Nilomar?« fragte Natara noch einmal.
»Jemand muß ihn geöffnet haben - wir vermuten, daß es ein paar von den Jungen waren, denen fällt so etwas ein. Der Gärtner vergewissert sich jeden Abend, daß alles in Ordnung ist, damit kein Tier hineinfällt, und heute lagen die Platten daneben. Irgend jemand muß sie aufgestemmt haben. Gut, daß du nicht hineingefallen bist!«
Natara hüpfte auf einem Bein in Richtung Schloß, von den Mägden gehalten, und kam sich sehr dumm dabei vor. »Aber das Kind!« rief sie. »Was ist, wenn das Kind hineinfällt?«
Die Frauen blieben stehen. »Von was für einem Kind redest du da immerzu?«
»Da ist ein Mädchen im Park«, sagte Natara. »Ein ganz kleines Kind. Und sie hat zwei Vögel dabei, zwei -« Sie machte eine ganz kurze Pause, wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie wußte, wie Gänse aussahen und wie nicht. »Schwäne.«
Eine warme Hand legte sich auf ihre Stirn, und die Stimme der Frau klang besorgt. »Als du gefallen bist, Kind - hast du dir vielleicht den Kopf angeschlagen? Ist dir schwindelig? Möchtest du dich lieber noch etwas hinsetzen?«
Sie glaubten ihr nicht. »Aber das ist wahr!« rief Natara. »Ich habe sie gesehen! Ich habe mit ihr gesprochen! Sie wollte Hilfe für mich holen. Sie war wirklich da!«
»Wir werden nach ihr sehen«, versprachen die Frauen, doch irgendwie glaubte ihnen Natara nicht so recht. »Aber erst einmal bringen wir dich ins Warme und finden jemanden, der sich um deinen Fuß kümmern kann.«
»Und wenn sie in den Nilomar fällt?«
»Und wenn sie mit ihren Schwänen aus dem Nilomar gestiegen ist - du gehörst in dein Bett.«
Der schroffe, energische Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß Natara weiterhin die einzige war, die an die Existenz des kleinen Mädchens glaubte, das aussah wie ein Engel. Aber wenn sie es nicht selbst gesehen hätte - würde sie dann daran glauben? Hester hätte…
Sie waren nun bald wieder am Schloß, vor ihnen die spärlich beleuchtete Seitenpforte. Alles sah fremd aus im Halbdunkel, durch das der Mond schien - Natara erinnerte sich an die Warnungen ihrer Eltern, niemals mehr auf die Straße zu gehen, wenn der Mond schien. Das Mondlicht raubte Kindern den Verstand… Vielleicht war ja genau das geschehen, der Mond hatte Natara verwirrt und sie das Kind und die Schwäne sehen lassen. Eigentlich glaubte Natara nicht an solche Geschichten, doch sie wandte den Kopf zur Seite, um den Mond sehen zu können. Er war groß, rund und bleich - und er hatte schon so oft durch ihr Fenster auf ihr Bett geschienen, ohne ihr den Verstand zu nehmen. Natara schüttelte den Kopf - und sah gerade noch, wie, vielleicht ein Dutzend Schritte entfernt, ein Schwan hinter einem Strauch verschwand.
»Aber da ist sie ja!« rief Natara und zeigte in die Richtung. »Da ist das Mädchen mit den Schwänen wieder!«
Jetzt tauchte das Schwanenkind hinter der anderen Seite des Busches auf. Die ältere Magd hob ihre Laterne, doch davon verschwand das Bild nicht. Mehr noch, das Mädchen und die Vögel änderten ihren Weg und kamen nun direkt auf sie zu.
»Das glaube ich nicht!« flüsterte die Magd. »Das kann nicht sein. Das glaube ich nicht.«
Aber Natara sagte nichts. Den Schrecken hatte sie hinter sich, jetzt war sie ruhig, und irgendwie seltsam zufrieden. Sie lächelte das kleine Mädchen an, das mit kleinen Schritten, von seinen Schwänen begleitet, näherkam.
Ihre Erinnerung hatte Natara keinen Streich gespielt. Das Kind hielt tatsächlich eine Krone in den Händen.
Doch sie war nicht aus Papier.

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