Aralee runzelte die Stirn, und es sah sehr mißbilligend aus.
»Die Sonne ist groß«, sagte sie langsam.
»Ich frage mich, was ich davon halten soll.«
Natara schrumpfte noch ein wenig weiter in sich zusammen.
»Aber das ist sie doch!« wagte sie zu
flüstern.
»Ja«, erwiderte Aralee. »Wie auch der Himmel.
Und die Stadt. Und der Palast. Den hast du außerdem falsch
geschrieben, ein L ist völlig ausreichend. Und wie geht
es weiter?« Aralee griff nach der nächsten Seite und
schob das erste Blatt unwirsch beiseite. Natara hatte sie schon oft
kurz angebunden erlebt, aber noch nie so böse. Und so
ungerecht. Natara hatte sich mit der Aufgabe wirklich Mühe
gegeben. Was erwartete Aralee denn von ihr?
»Sieh an, der Baum ist auch groß! Und das
Fenster!« Sie ließ auch den zweiten Bogen fallen und
funkelte Natara böse an. »Versuchst du, mich zum Narren
zu halten?«
Natara schüttelte den Kopf, zaghaft, weil Aralee es ihr
ohnehin nicht glauben würde. »Ich wußte nicht, was
ich schreiben sollte.« Sie hätte sich weniger Zeit als
den halben Nachmittag genommen, nur um der Königswitwe einen
Streich zu spielen.
»Du wußtest es nicht? Hatte ich dir keine Aufgabe
gestellt?«
»Doch.« Nataras Hals fühlte sich so
zugeschnürt an, daß sie nur noch piepsen konnte.
»Ich sollte zwei Bögen vollschreiben.«
»Hatte ich gesagt - mit Unfug?«
»Ihr hattet mir gar nichts gesagt, was ich schreiben
sollte«, verteidigte sich Natara. »Und ich wußte
nichts… Ich kann das nicht!«
»Diesmal hilft es dir auch nichts, wenn du weinst«,
sagte Aralee kalt, und natürlich konnte Natara danach nichts
anderes mehr. »Diesmal glaube ich es dir einfach nicht. Du
bist ein kluges Mädchen, du bist nicht auf den Kopf gefallen,
und du bist alt genug. Mein Sohn war vier Jahre alt, als er lesen
und schreiben gelernt hat, und sein Neffe Harold, nach allem was
ich weiß, sogar erst drei.«
»Aber sie sind Korisanders Kinder«, brachte Natara
hervor, nachdem sie sich mit Aralees geduldig dargebotenen
Taschentuch Nase und Gesicht abgetrocknet hatte.
»Ich selbst«, fuhr Aralee fort, »war vierzehn
Jahre alt, als ich an diesen Hof kam, ein Mädchen aus Fleisch
und Blut, wie du, ganz ohne Engel, und ich konnte zu diesem
Zeitpunkt auch seit Jahren Lesen und Schreiben. Du kennst alle
Zeichen, du kannst alles lesen, du redest in ganzen Sätzen -
aber kaum sollst du selbständig etwas aufschreiben, kommt
nichts anderes dabei herum als ‘Der Himmel ist
groß.’«
»Es tut mir leid«, sagte Natara.
»Schreib das auf!« Aralee drückte ihr einen
Tintenkiel in die Hand und einen ihrer Bögen, auf dem noch
Platz war.
Gehorsam fing Natara an zu schreiben. Es tut mir…
»Hundertmal?«
Jetzt mußte Aralee endlich lachen. »Das hättest
du wohl gerne! Damit dir wieder erspart bleibt, selbst denken zu
müssen!«
Natara biß sich auf die Zunge, wußte nicht, ob sie
mitlachen oder lieber weinen sollte. Sie konnte die Wahrheit nicht
sagen - den eigentlichen Grund, warum sie immerzu fast das gleiche
geschrieben hatte - und sie betete, daß Aralee die Bögen
nicht nachzählen würde. Einer fehlte - der, den Natara
heimlich in der Küche verbrannt hatte. Viele Sätze -
viele verschiedene Sätze - standen darauf, bis hin zu
dem letzten: Hester ist tot.
Warum sie das geschrieben hatte, wußte Natara nicht. Es war
einfach aus der Feder herausgekommen. Aber sie wußte,
daß sie Aralee diesen Bogen nicht zeigen durfte. Danach hatte
sie sich konzentriert - wenn sie immer das selbe schrieb, wenn
alles nur groß war, dann konnte sich ihr kein tot mehr
dazwischenmogeln. Am liebsten hätte Natara es Aralee doch
gesagt. Aber sie hatte es der Totenmagd versprochen… Und sie
hatte Angst.
Aralee seufzte. »Es tut mir leid, Natara. Ich
müßte den Satz selbst hundertmal schreiben. Ich war
wieder ungerecht.« Natara blickte sie irritiert an. Sie hatte
keine Entschuldigung erwartet. »Wie soll ich von dir
erwarten, einen eigenen Text zu schreiben, wenn dein ganzes Leben
darin besteht, die Chroniken anderer - längst toter - Leute zu
lesen und abschreiben?« Sie machte eine Pause. Natara blickte
angestrengt auf ihre Fingerspitzen, die sie jeden Abend mit
Bimsstein scheuern mußte, damit die Tinte nicht einwuchs.
»So hat hier jeder andere auch das Lesen gelernt, seit
Generationen haben alle Chronisten ihre Laufbahn damit begonnen,
die Werke der anderen auswendig zu lernen - aber du willst
schließlich kein Chronist werden, nicht wahr?«
Natara traute sich, leise zu lachen, weil Aralee das
wahrscheinlich erwartete. In Wirklichkeit wußte sie es nicht.
Chronist war ebensogut wie Lehrerin, nur natürlich höher
im Ansehen. Die meisten Chronisten waren selbst Engelsgeborene,
Brüder oder Onkel der Könige, niemals irgendwelche
Frauen, geschweige denn Mädchen - aber wie auch immer, wenn
jemand anderes als Aralee Natara fragen sollte, was sie einmal
werden wollte, würde sie immer noch sagen: Eine
Tänzerin.
»Deshalb ist es vielleicht das Beste, ein wenig Abwechslung
in deinen Alltag zu bringen«, fuhr Aralee fort. »Ich
habe heute keine Zeit mehr für dich, und so wie es aussieht,
auch in den nächsten beiden Tagen nicht - zieh dir dein bestes
Kleid an, damit dich niemand für ein Dienstmädchen
hält und zum Arbeiten schickt, und geh ein wenig im Park
spazieren. Dort gibt es genug Dinge, von denen du hinterher
schreiben kannst - halte die Augen offen, damit du mehr erkennen
kannst, als daß der Park groß ist. Das einzige, was du
dort zur Zeit nicht sehen kannst, sind Schwäne - aber ich habe
gehört, daß sich statt dessen ein Rudel Enten auf dem
See niedergelassen hat. Fall nicht hinein, und verirr dich nicht -
und alles weitere sollst du selbst herausfinden.«
»Wie viele Seiten?« fragte Natara. Es war
offensichtlich die falsche Frage.
»Geh einfach in den Park!« schnappte Aralee.
»Dann schreib, was dir einfällt. Wenn es zehn Seiten
sind, gut. Wenn es nur eine ist, kann ich damit auch leben. Solange
du nicht noch einmal solchen Unsinn machst und gutes Pergament
verschwendest. Ich werde diese Seiten abschaben.« Sie deutete
auf die Bögen auf dem Tisch. Nataras Herz sank. Wenn Aralee so
sehr auf ihre Pergamente achtete, würde sie das Fehlen
bestimmt bald bemerken.
Schnell sagte Natara: »Ich werde jetzt gehen. Danke,
daß Ihr Euch soviel Zeit für mich genommen
habt.«
Aralee nickte ihr nur zu. Sie sah müde aus, wie eigentlich
immer. Manchmal fragte sich Natara, ob sich die Königswitwe
überhaupt jemals schlafen legte, und sie fühlte sich
schuldig, denn es waren auch ihre Unterrichtsstunden, die Aralee am
Schlafen hinderten. Aber es war schließlich alles Aralees
Idee! Natara hatte nie um die Stunden gebeten. Sie hatte nie darum
gebeten, überhaupt ins Schloß zu kommen.
Mit schnellen, hüpfenden Schritten schlich Natara zu ihrem
Zimmer. So bewegte sie sich immer, wenn niemand dabei war. Sie
mochte die Geräusche nicht, die ihre Schritte in den
Gängen machten - und die Vorstellung, daß man sie
überall im Gebäude, zumindest aber im ganzen Stockwerk
hören konnte. Zwar rannte sie nicht, aber sie huschte. Die
Flure waren kein Ort, an dem sie sich sicher fühlte.
Aber als sie dann ihr bestes Kleid aus der Truhe holte - das
Kleid, daß sie zuletzt getragen hatte an dem Tag, als Hester
starb - und es über dem Stuhl ausbreitete, damit die Falten
verschwanden - begriff sie, daß sie sich auf den Park freute,
und darauf, einen ganzen Tag lang endlich wieder nichts zu sein als
ein ganz normales Mädchen.
Draußen war es warm, und die Luft schmeckte nach Sommer.
Natara fragte sich, wie in aller Welt sie das schreiben sollte -
der Satz war zu lang, um ihn sich vorzustellen, und die
Zeichen… Aralee hatte gut reden, daß man jeden Satz,
den man denken konnte, auch schreiben konnte, wenn man
schreiben konnte - Natara wußte, daß es nicht so
einfach war. Aber was dachte sie hier an Tinte, an Buchstaben? Sie
war draußen, und die Sonne schien… Wann war Natara
zuletzt draußen gewesen?
Und in so einem Park? Noch nie. Ihr ganzes Leben hatte Natara in
der Stadt verbracht. Sie kannte Bäume; sie wußte,
daß draußen vor der Stadt ein großer Wald lag,
und sie kannte auch den Park - man konnte ihn sehen, nicht von
ihrem eigenen Fenster aus, aber von Aralees. Doch noch nie hatte
Natara einen solchen Ort betreten.
Der Park war verwunschen. Wenn man den Wegen folgte - und das tat
Natara, aus Angst, sie könne das Grün beschädigen,
wenn sie es betrat - sah man hinter jeder Biegung etwas völlig
Neues, einen riesigen Baum, der genau so wuchs, ein kleiner
Bach, über den eine zierliche Brücke genau so
führte; nichts durfte irgendwie anders sein, als es war, und
Natara fragte sich, wie man es machte, daß Bäume so
wuchsen, daß sie perfekt aussahen - die Bäume konnten es
schließlich nicht wissen!
Aber es war auch vieles in diesem Park eindeutig von Menschen
gemacht. Kein Strauch käme von sich aus auf die Idee, wie ein
Tier auszusehen; keine Hecke würde so gerade Wände
bilden. Immer wieder blieb Natara stehen, um sich umzusehen und zu
wundern. Wenn sie aus den Chroniken eines über die Nachfahren
Korisanders gelernt hatte, dann, daß in allem, was sie taten,
bauten und planten, Weisheit steckte. War dieser Park weise?
Er war schön, aber was an ihm hatte mit Weisheit zu tun? Und
warum gab es dort keine Menschen?
Wenn Natara ein Engelsgeborener gewesen wäre - und sie
erschrak kurz bei dem Gedanken, denn es war frevlerisch, sich so
etwas auch nur vorzustellen, und vermessen dazu - aber wenn
Natara eine Engelsgeborene gewesen wäre mit so einem
großen Park, dann hätte sie die Tore weit geöffnet,
damit die Leute aus der Stadt, all die Kinder, die nicht in den
Wald durften, weil es dort zu gefährlich war, das Grün
ansehen konnten. Natara fing an zu lachen. Vermessener Frevel? Die
Elomaran konnten doch nicht wissen, was Natara sich ausdachte - sie
hörten die Gebete, nicht die Gedanken, konnten zwar vom Himmel
aus alles sehen, aber Natara war klein, und wenn sie unter einem
Baum stand - Wie wußten die Elomaran überhaupt, was im
Inneren von Häusern passierte?
Und dann fiel Natara wieder ein, daß sie selbst ein
Engelsgeborener war, der Mächtigste von allen, Arilen, der
Sohn des Elomaran Korisander. Die Tanzschritte fielen ihr wieder
ein, und sie fing an zu tanzen wie bei dem Maskenspiel von
Alexanders Krönung. Aber es ging nicht gut. Die Schuhe
störten sie; es waren keine, in denen man gut tanzen konnte,
und weil niemand da war, der sie beobachtete, zog Natara sie aus,
streifte auch ihre Strümpfe ab und legte sie dazu, und dann
lief sie hinaus auf die Wiese.
Ein Birkenbaum war der Engel Korisander, und die Vögel, die
versteckt in den Büschen sangen, waren das Volk, das ihr
zujubelte und sie als König verehrte. Natara verneigte sich
vor dem Volk, und vor dem Engel, und tanzte weiter, dachte sich
neue Schritte aus, mutige, gewagte Drehungen und Sprünge, und
sie summte dabei die Musik vor sich hin, nicht genau wie damals,
aber auch schön, sogar schöner, und genau passend zu
ihren Bewegungen.
Sie kannte die Geschichte von Korisander und seinem Sohn genau,
Aralee hatte daraus vorgelesen und abschreiben lassen, bis Natara
sich zu wünschen begann, die Engel wären niemals
herabgestiegen, hätten niemals Kinder in die Welt gesetzt.
Aber nun merkte Natara wieder, wie wunderschön diese
Geschichte eigentlich doch war.
Sie brauchte eine Krone! Ohne Krone ging es nicht, das hatte
Alexanders Schicksal gezeigt, Korisanders Erben brauchten seine
Krone - und Natara riß Zweige von der Birke ab, um daraus
einen Kranz, eine Krone zu winden. Es ging nicht besonders gut,
aber da hier niemand zum Zuschauen war, reichte das, was heraus
kam, allemal.
Kleine grüne Blätter hingen in Nataras Augen, als sie
weitertanzte, und die herausstehenden Enden der Zweige stachen ihr
in die Stirn, aber wenn sie sich Mühe gab, konnte Natara
tatsächlich glauben, daß sie die Krone des Engels auf
dem Kopf trug. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt
derart vergnügt gewesen war… Sie würde eine
Tänzerin sein, nichts anderes, keine Lehrerin, keine
Chronistin -
Und dann fiel ihr eine Frage ein. Alle Könige hatten
Chronisten, sagte Aralee. Und was war dann mit dem toten
König, Korisander, vor dessen Bild Hester den Fußboden
geküßt hatte? Wo war seine Chronik? Wer war sein
Chronist? Aralee hatte sie von so vielen Königen lesen lassen,
nur nicht von dem, der gerade gestorben war, und sie hatte auch nie
seinen Chronisten erwähnt. Wenn ein König starb, wurde
seine Frau Königswitwe und durfte am Hof bleiben, aber was war
mit dem Mann, der den König sein ganzes Leben lang begleitet
hatte? Wurde er verjagt, oder mußte er auch sterben, wie die
königlichen Schwäne, um zu zeigen, daß eine neue
Zeit angebrochen war?
Natara wurde kalt. Plötzlich erschien ihr der Park
unheimlich, Schatten verdrängten das Licht aus den
Bäumen, und die Sonne war fort - Es ist nur eine Wolke,
sagte sich Natara,und gleich wird sie verschwunden sein und die
Sonne wieder scheinen - aber es war zu spät. Natara hatte
wieder angefangen, über das Sterben nachzudenken, und nun
wollte ihr Kopf nichts anderes mehr. Harold, Alexanders Chronist,
war mit ihm verschwunden, als Alexander seine Krone verlor - aber
vielleicht log Aralee auch? Vielleicht waren beide…
Natara begann sich zu drehen, wie sie sich noch nie zuvor gedreht
hatte - nicht, damit ihr wieder warm wurde, sondern damit all diese
Gedanken aus ihrem Kopf hinausgewirbelt wurden; sie breitete ihre
Arme aus und wirbelte und wirbelte, bis nichts mehr in ihr war,
keine Chronisten und keine Chroniken, keine Buchstaben und keine
Aralee und keine Toten -
Sie wußte nicht mehr, wie sie zu drehen aufhören
sollte, aber dann zerriß ein Schrei den Sommer, und Natara
stürzte.
Der Schrei war laut, und lang, und um ihn aufzuschreiben gab es
keine Zeichen. Schrift war nur für menschliche Sprache. Dieser
Schrei klang wie nichts, was von einem Menschen stammen konnte -
aber welches Tier würde so schreien?
Natara lag im Gras und wußte nicht, wo oben und unten war
und vorne und hinten und links und rechts. Alles drehte sich, und
sie versuchte, sich mit ihren Augen an der großen Birke
festzuhalten, damit die Welt zumindest einen Punkt hatte, um den
sie sich drehen konnte.
Erst, als der Schwindel nachließ und Natara begann, sich
über den Schrei zu wundern, merkte sie, wie weh ihr Fuß
tat, der linke. Liegend, mit ausgestrecktem Bein, versuchte sie,
ihn zu bewegen - aufzustehen getraute sie sich nicht, aus Angst, er
könne gebrochen sein und schief zusammenwachsen, wenn sie
versuchte, darauf zu stehen, und sie würde niemals wieder
tanzen können -
Doch sie konnte den Fuß noch bewegen, es tat zwar sehr weh,
aber er war bestimmt nicht gebrochen - denn wenn er nun doch
gebrochen war, wie sollte sie jemals wieder aus dem Park ins
Schloß zurück finden, wenn doch niemals jemand hierher
kam? Der Fuß war bestimmt nicht gebrochen!
Natara drehte sich auf die Seite und betrachtete ihre
Füße. Der linke Knöchel kam ihr geschwollen vor,
aber nicht sehr - bestimmt nur vertreten oder verstaucht. Eine der
anderen Tänzerinnen war damals bei einer Probe gestürzt,
genau wie Natara jetzt, und ihr Fuß hatte viel schlimmer
ausgesehen. Das Wichtigste war, daß sie vom Boden hoch und
zum Schloß zurück kam, wo man sich dann um alles
kümmern konnte. Und wenn sie erst wieder auf den Beinen
war, blieb genug Zeit, nach dem Ursprung des Schreis zu suchen -
bestimmt war es nur ein Tier, vielleicht ein Vogel oder so…
Natara kannte so wenige Tiere…
Sie drückte sich vom Boden hoch und stand vorsichtig auf,
ganz auf ihren rechten Fuß gestützt, und es ging recht
gut. Die Schmerzen waren eigentlich auch schon so gut wie
fort… Natara machte einen kleinen Schritt. Diesmal war sie
selbst es, die schrie, vor Schmerzen. Wieder lag sie im Gras, aber
der Knöchel tat viel mehr weh als zuvor, so sehr, daß
sie sich auf die Zunge beißen mußte, um nicht laut zu
heulen. Diesmal konnte sie sich nicht mehr einreden, daß der
Fuß nur ein bißchen vertreten war. Er durfte nicht
gebrochen sein… Er tat so weh…
Natara wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Um Hilfe rufen?
Das hatte wenig Sinn, niemand war da, der ihr helfen konnte,
niemand, um sie zu hören. Noch einmal versuchen aufzustehen?
Vielleicht später, wenn sie den Mut dazu gefunden hatte und
die Schmerzen nachließen… Vielleicht - ganz sicher -
würde Aralee nach ihr suchen lassen, wenn Natara am Abend
nicht wieder im Palast war…
Die Schatten wuchsen, und es wurde kälter. Bald würde
die Dämmerung hereinbrechen. Natara lag im Gras, seit Stunden,
wie es ihr vorkam, und in ihrem Kopf hallte noch immer dieser
seltsame Schrei wieder, den sie gehört hatte - so schreit kein
Mensch…
Sie bemühte sich, keine Angst zu haben, nicht an den Tod zu
denken und nicht daran, daß irgendwo auf dem
Schloßgelände, irgendwo im Park, eine Pforte zum Nilomar
war, zum Unteren Abgrund, der Welt der seelenlosen
Körper… Es war schwer, nicht an etwas zu denken, wenn
man doch genau wußte, woran… Die Schatten wuchsen.
Die Vögel sangen nun lauter als zuvor. Die Dämmerung
hatte viele Geräusche, Rascheln im Gras, im Laub - in der
Dämmerung war der Park lebendiger. Die aus Bäumen und
Hecken geschnittenen Tiere sahen aus, als könnten sie sich
bewegen, die grünen Schwäne, als wollten sie gleich
davonfliegen. Und die große Birke, die Natara zum Elomaran
erklärt hatte, konnte nun wirklich ein Engel sein. Natara
stellte sich vor, daß er, solange sie hier lag, auf sie
aufpaßte… Die Schatten wuchsen. Die Geräusche
veränderten sich - das Rascheln wurde lauter, kam näher -
es erinnerte an Schritte.
Nataras Herz klopfte wilder; sie sagte sich, daß es Freude
war. Aralee, oder die Köchin, oder die Totenmagd oder sonst
jemand aus dem Schloß hatte ihr Fehlen bemerkt und sich auf
die suche nach ihr gemacht! Natara sah in die Richtung, aus der die
Geräusche kamen, aber dort wuchs eine Hecke, welche die Sicht
versperrte, und Natara konnte ebensowenig sehen wie gesehen werden
- und wenn man sie nun nicht fand?
»Ich bin hier!« rief Natara. »Ich bin
hingefallen!«
Es kam keine Antwort. Vielleicht hatte Natara sich nur geirrt,
gehört, was sie sich wünschte zu hören?
Doch dann traten drei Gestalten hinter der Hecke hervor und kamen
auf Natara zu, schweigend und bedrohlich. Natara biß sich in
die Hand und verfluchte ihr Rufen. Das waren keine Leute aus dem
Palast. Es war eine Frau - und zwei Vögel, die wie
Schwäne aussahen, weiße Schwäne. Doch sie waren
viel größer als alle, von denen Natara jemals
gehört hatte, nahezu ebenso groß wie die
Frau…
Die Frau ging genau zwischen ihnen. Sie trug ein kurzes
weißes Kleid und hielt etwas Weißes in Händen, das
Natara nicht erkennen konnte. Die drei gingen sehr langsam, und die
Bewegungen hatten etwas unwirkliches an sich - Natara hatte noch
nie jemanden gesehen, der so kleine Schritte machte wie diese
Dame.
Die drei kamen näher, und mit ihnen die Angst. Die
großen weißen Vögel hatten mit ihren schwarzen
Augen etwas Gespenstisches an sich, aber als Natara die Augen der
Dame erkennen konnte… Riesige dunkle Augen, die viel zu
groß schienen für das kleine, bleiche Gesicht - Natara
kannte solche Augen. Sie hatte schon oft in dem langen Gang vor den
Abbildern der Könige gestanden - und einmal sogar selbst in
ein solches Augenpaar geblickt.
Natara wollte weglaufen, aber selbst wenn sie hätte aufstehen
können, selbst wenn sie nicht vor Angst und Schmerzen wie
gelähmt gewesen wäre - vor einem Engel konnte man nicht
davonlaufen. Natara hatte im Park einen Frevel begangen, und nun
wurde sie dafür bestraft.
Die drei kamen näher und näher, sprachen kein Wort,
gaben keinen Laut von sich. Natara sah sie kommen - und mußte
mit einem Mal lachen. Das Licht und ihr seltsamer Blickwinkel, vom
Boden aus, hatten ihr einen Streich gespielt. Das war nicht eine
Frau mit zwei menschengroßen Schwänen. Das war ein
kleines Kind. Es konnte kaum älter sein als drei oder vier
Jahre. Und davor hatte sich Natara gefürchtet!
Das Kind blieb vor ihr stehen, schaute mit großen
verwunderten Augen zu ihr hinunter, und sein kleiner Mund
kräuselte sich zu einem Lächeln. Natara hatte noch nie
ein derart bezauberndes Kind gesehen, aber jetzt war nicht die
Zeit, um darüber nachzudenken.
»Wer bist du?« fragte die Kleine. »Warum willst
du nicht aufstehen?«
»Ich bin Natara«, sagte Natara. »Ich kann nicht
aufstehen. Mein Fuß tut mir weh.« Wie sollte sie einem
so kleinen Kind erzählen, was passiert war? »Kannst du
Hilfe holen?«
Das Kind schüttelte den Kopf.
»Bitte«, sagte Natara. Die Schmerzen wurden wieder
stärker, nachdem sie nicht mehr durch die Angst abgelenkt
wurden. »Geh zum Schloß und sag den Großen,
daß ich hier liege. Das kannst du schon!« Sie
versuchte, sich an die Zeit zu erinnern, als sie selbst so klein
war - aber es ging nicht gut. Es war zu lange her.
»Zu dem Schloß da?« fragte das Kind, als
gäbe es hier noch ein anderes. Aber Natara lachte nicht - das
wußte sie noch, wie sehr sie es gehaßt hatte,
ausgelacht zu werden, und sie haßte es noch immer.
Sie nickte nur und sagte noch einmal: »Bitte. Außer
dir ist hier niemand, der mir helfen kann.«
»Gut«, sagte die Kleine, und ging. Die Schwäne
folgten ihr.
Erst als sie fort waren, fing Natara wieder an, sich zu wundern.
Gut, es war nur ein Kind, aber was für eines? Und woher kamen
die Schwäne, wenn Alexander sie doch alle getötet hatte?
Aber vielleicht waren es ja nicht wirklich Schwäne. Natara
kannte diese Vögel nur von Abbildungen. Konnten Gänse
nicht auch so groß werden? Sie versuchte, sie genau zu
erinnern, an die Bilder und an die Vögel, aber alles war so
seltsam verschwommen. Nur das Kind sah sie noch genau vor sich, mit
diesen unglaublich großen blauen Augen und dem schwarzen Haar
und der weißen Haut… Als wäre es plötzlich
nicht mehr so dämmrig gewesen, konnte Natara das Kind genau
beschreiben, seine bloßen Füße und das weiße
Hemd… Aber auch hier schien ihre Einbildungskraft Natara
wieder einen Streich zu spielen, denn in ihrer Erinnerung hatte das
Kind plötzlich die Papierkrone in Händen, mit der Natara
für Alexander getanzt hatte.
»Sie ist hier!« Zwei Frauen kamen auf Natara
zugelaufen, ihre geschürzten Kleider wiesen sie als Mägde
aus, aber Natara kannte sie nicht. »Ich glaube, sie ist
verletzt!«
Natara nickte, als die beiden ihr aufhalfen. »Danke für
die Hilfe«, sagte sie leise. »Hat das kleine
Mädchen euch Bescheid gesagt?«
Die beiden Frauen blickten sie verwundert an. »Nein - Was
für ein Mädchen? Die Königswitwe schickt uns. Sie
sagte, wir sollten nach dir suchen gehen, du hättest
längst im Schloß sein sollen.«
»Hat sie sich Sorgen gemacht?« fragte Natara.
Die Ältere der Beiden schüttelte den Kopf. »Nein.
Aber wir. Weißt du schon, daß der Nilomar offen
steht?«
»Was?« Natara fuhr zusammen. Hätten die Frauen
sie nicht festgehalten und gestützt, wäre sie noch einmal
hingefallen.
»Langsam, langsam! Kannst du auftreten?«
»Was ist mit dem Nilomar?« fragte Natara noch
einmal.
»Jemand muß ihn geöffnet haben - wir vermuten,
daß es ein paar von den Jungen waren, denen fällt so
etwas ein. Der Gärtner vergewissert sich jeden Abend,
daß alles in Ordnung ist, damit kein Tier hineinfällt,
und heute lagen die Platten daneben. Irgend jemand muß sie
aufgestemmt haben. Gut, daß du nicht hineingefallen
bist!«
Natara hüpfte auf einem Bein in Richtung Schloß, von
den Mägden gehalten, und kam sich sehr dumm dabei vor.
»Aber das Kind!« rief sie. »Was ist, wenn das
Kind hineinfällt?«
Die Frauen blieben stehen. »Von was für einem Kind
redest du da immerzu?«
»Da ist ein Mädchen im Park«, sagte Natara.
»Ein ganz kleines Kind. Und sie hat zwei Vögel dabei,
zwei -« Sie machte eine ganz kurze Pause, wußte nicht,
was sie sagen sollte. Sie wußte, wie Gänse aussahen und
wie nicht. »Schwäne.«
Eine warme Hand legte sich auf ihre Stirn, und die Stimme der Frau
klang besorgt. »Als du gefallen bist, Kind - hast du dir
vielleicht den Kopf angeschlagen? Ist dir schwindelig?
Möchtest du dich lieber noch etwas hinsetzen?«
Sie glaubten ihr nicht. »Aber das ist wahr!« rief
Natara. »Ich habe sie gesehen! Ich habe mit ihr gesprochen!
Sie wollte Hilfe für mich holen. Sie war wirklich
da!«
»Wir werden nach ihr sehen«, versprachen die Frauen,
doch irgendwie glaubte ihnen Natara nicht so recht. »Aber
erst einmal bringen wir dich ins Warme und finden jemanden, der
sich um deinen Fuß kümmern kann.«
»Und wenn sie in den Nilomar fällt?«
»Und wenn sie mit ihren Schwänen aus dem Nilomar
gestiegen ist - du gehörst in dein Bett.«
Der schroffe, energische Tonfall ließ keinen Zweifel daran,
daß Natara weiterhin die einzige war, die an die Existenz des
kleinen Mädchens glaubte, das aussah wie ein Engel. Aber wenn
sie es nicht selbst gesehen hätte - würde sie dann daran
glauben? Hester hätte…
Sie waren nun bald wieder am Schloß, vor ihnen die
spärlich beleuchtete Seitenpforte. Alles sah fremd aus im
Halbdunkel, durch das der Mond schien - Natara erinnerte sich an
die Warnungen ihrer Eltern, niemals mehr auf die Straße zu
gehen, wenn der Mond schien. Das Mondlicht raubte Kindern den
Verstand… Vielleicht war ja genau das geschehen, der Mond
hatte Natara verwirrt und sie das Kind und die Schwäne sehen
lassen. Eigentlich glaubte Natara nicht an solche Geschichten, doch
sie wandte den Kopf zur Seite, um den Mond sehen zu können. Er
war groß, rund und bleich - und er hatte schon so oft durch
ihr Fenster auf ihr Bett geschienen, ohne ihr den Verstand zu
nehmen. Natara schüttelte den Kopf - und sah gerade noch, wie,
vielleicht ein Dutzend Schritte entfernt, ein Schwan hinter einem
Strauch verschwand.
»Aber da ist sie ja!« rief Natara und zeigte in die
Richtung. »Da ist das Mädchen mit den Schwänen
wieder!«
Jetzt tauchte das Schwanenkind hinter der anderen Seite des
Busches auf. Die ältere Magd hob ihre Laterne, doch davon
verschwand das Bild nicht. Mehr noch, das Mädchen und die
Vögel änderten ihren Weg und kamen nun direkt auf sie
zu.
»Das glaube ich nicht!« flüsterte die Magd.
»Das kann nicht sein. Das glaube ich nicht.«
Aber Natara sagte nichts. Den Schrecken hatte sie hinter sich,
jetzt war sie ruhig, und irgendwie seltsam zufrieden. Sie
lächelte das kleine Mädchen an, das mit kleinen
Schritten, von seinen Schwänen begleitet, näherkam.
Ihre Erinnerung hatte Natara keinen Streich gespielt. Das Kind
hielt tatsächlich eine Krone in den Händen.
Doch sie war nicht aus Papier.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
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