Sechstes Kapitel

Halan war wach, er hätte aufstehen können, doch er lag still und wartete. Es war schön, morgens von Anders durch einen Kuß auf die Stirn geweckt zu werden - aber noch schöner war es, darauf warten zu können. Und überhaupt - warum sollte Halan aufstehen? Alles, was er liebte, konnte ebensogut zwischen diesen Laken geschehen.
Halan liebte dieses Zimmer mit seinen einfachen, weißen Wänden, liebte es, weil es so schmucklos war und seinen Träumen so viel Raum ließ. Er liebte es, weil es hier keine Bücher gab. Abends, wenn Anders in die Halle ging, lag Halan im Bett und schaute mit halbgeschlossenen Augen die Wände an, füllte sie mit Mustern und Bildern und Menschen, die nur ihm gehörten. Er lauschte der Musik und genoß die Zeit, bis er einschlief, ebensosehr wie jede andere des Tages.
Und wenn er aufwachte, wartete er auf Anders.
Manchmal kam ihm sein Verhalten seltsam bekannt vor: Wieder hatte er ein einzelnes, überschaubares Zimmer zu seinem Reich erklärt, verließ es nur, wenn es nicht anders ging, und hatte doch niemals das Gefühl, einsam zu sein. Damiander hatte ihn nicht gefragt, ob er ein Zimmer mit Alexander teilen wollte oder lieber allein schlafen - aber wenn, hätte sich Halan genau so entschieden, wie es nun war. Er liebte Anders mehr als jemals irgend jemanden in seinem Leben, mehr als sich selbst und den Rest der Welt zusammen - aber er brauchte Zeit, in der er allein sein konnte. Anders ertrug Einsamkeit überhaupt nicht, mußte immerzu jemanden in seiner Nähe haben - aber dafür gab es ja noch Damiander. Hier mußte sich Halan niemals Sorgen um Anders machen…
Er lauschte nach Schritten auf dem Flur. Halan wußte, daß sein Geliebter auf dem Weg zu ihm war, lange bevor er die Tür erreicht hatte. Halan konnte sogar Damiander, von dem Anders immer sagte, er mache niemals ein Geräusch, am Gang erkennen, und er konnte Leute unterscheiden, die er noch niemals oder nur flüchtig gesehen hatte.
Anders’ Schritte auf dem Flur - aber er kam nicht allein.
»Warte einen Moment!« Eine bekannte Stimme, doch nicht aus diesem Haus. Es war dieser seltsame hinkende Landstreicher, Janek. Hier?
Anders blieb stehen. »Was willst du?«
»Das selbe wie gestern: Mit dir reden. Und dich und Halan hier rausholen.«
Halan setzte sich im Bett auf.
»Laß uns in Frieden«, sagte Anders mürrisch.
»Nein. Ihr hattet hier schon genug Frieden. Jetzt kommt ihr mit mir.«
»Ich denke nicht daran!« rief Anders.
»Das merke ich. Laß mich vorbei. Ich will mit deinem Neffen reden.«
Halan sprang aus dem Bett und suchte etwas zum Anziehen. Er fand nichts - Damiander hatte seine Kleider fortgenommen. So blieb Halan nichts anderes übrig, als sich eilig in sein Bettlaken zu wickeln, so wie es hier alle taten.
»Nein!« Die Tür flog auf, und Anders stürzte ins Zimmer. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür, um sie zuzuhalten. »Hilf mir, Halan!«
Halan rührte sich nicht. Was Anders da tat, war kindisch, aber hier war nicht der Ort, um ihm das zu sagen.
Draußen klopfte Janek gegen die Tür. »Bitte! Ich will euch nicht stören - aber ich muß mit euch reden.«
Halan blickte in Anders’ wütende Augen. »Ich dachte, er ist dein Freund?«
»Das dachte ich auch!« stieß Anders hervor. »Selbst ich kann mich mal irren!«
»Und was jetzt?« fragte Halan und konnte einen spöttischen Unterton nicht unterdrücken. »Willst du den ganzen Tag so stehenbleiben?«
Anders schüttelte den Kopf. »Nur, bis er weggeht.«
Halan mußte lachen. Anders’ Ernsthaftigkeit war so unreif, so… niedlich. Und seine Versuche, die Tür zu blockieren, waren vergeblich. Langsam drückte Janek sie auf, schob Anders ins Zimmer hinein und sich selbst durch den Spalt. Dann nickte er Halan zu, bedachte Anders mit einem müden Lächeln und begann, mit der rechten Hand seine Schulter zu massieren. »Ist es euch so lieber?«
Anders starrte ihn wütend an, während er versuchte, seine Toga mit beiden Händen zu richten und zu verhindern, daß sie zu Boden fiel. »Hinaus!« sagte er leise. »Sofort.«
Janek verzog keine Miene. »Liebend gern. Und euch nehme ich mit.« Er wandte sich an Halan. »Du bist doch ein vernünftiger Junge, Halan, und intelligent solltet ihr eigentlich beide sein. Merkt ihr denn nicht, was hier vor sich geht?«
»Ja, das merken wir«, schnappte Anders und befreite Halan so aus der peinlichen Situation, antworten zu müssen. »Du bist in unser Zimmer eingedrungen und hast uns vom Wichtigsten überhaupt abgehalten.«
Das Blut schoß Halan ins Gesicht, als Janek eine Augenbraue hob, obwohl Anders der Sache keinen Namen gegeben hatte. Janek gelang, es durch nichts als seine Anwesenheit diesem Haus so viel von seinen Wundern zu nehmen, daß Halan schon fast wieder zu grübeln begonnen hätte.
Sehr, sehr leise sagte Janek: »So, wie es aussieht, bin ich wohl im allerletzten Moment gekommen.« Dann schlug seine Stimme um, und er schrie: »Wacht endlich auf! Ihr wißt doch selbst nicht, was ihr hier tut! Damiander hat euren Willen gebrochen, euch mit einem Bann belegt.«
Halan schüttelte den Kopf mit soviel Würde, wie er nur mit einem Laken bekleidet aufbringen konnte. »Niemand bricht den Willen von Korisanders Kindern.«
Janek lachte höhnisch. »Das glaubt auch nur ihr! Und was ist dann mit seiner Krone?« Er deutete auf Anders. »Falls ihr tatsächlich meinen solltet, daß sie hier ist, unternehmt ihr nicht gerade viel, um sie zu finden.«
»Wir brauchen sie jetzt nicht mehr!« sagte Anders triumphierend. »Wir haben jetzt etwas viel Besseres.«
Doch Halan schwieg. Er wollte nicht nachdenken müssen, nicht zugeben, daß Janek Recht hatte. Aber verglichen mit allem anderen erschien die Krone so… bedeutungslos.
Das Denken blieb Halan erspart, als Damiander in der Tür erschien. »Gibt es Probleme?«
Janek drehte sich langsam um, und es fehlte nicht viel, daß Blitze aus seinen Augen geschlagen hätten. »Du wirst die Jungen gehen lassen«, sagte er mit einem Grollen in der Stimme.
Damiander lächelte, und Halans Sorgen verflogen, als sein Herz warm und leicht wurde. Wie lange hatte er auf dieses Lächeln gewartet? »Selbstverständlich werde ich das«, sagte der Engel. »Ich halte niemanden zurück. Meine Tür steht offen, für alle, die kommen, und für alle, die gehen wollen.« Bei diesen Worten nickte er Janek spöttisch zu.
Doch dieser schüttelte den Kopf. »Du läßt sie nicht gehen! Du hast ihnen den Willen zu gehen genommen, damit sie nicht merken, daß sie deine Gefangenen sind!«
Damiander lachte, aber jeder konnte erkennen, daß Wut darin lag, und Halan sah, wie sich Anders’ Haare zu sträuben begannen. »Ich hindere niemanden, Hauptmann. Du kannst gehen, wenn du willst und wenn du kein anderes Interesse hast, als Streit in meinem Hause zu sähen. Du enttäuschst mich. Wir hatten gestern so einen schönen Abend - ich hätte nicht gedacht, daß so der Dank für meine Gastfreundschaft aussieht.«
»Gastfreundschaft?« schrie Janek. Seine Stimme wurde nicht höher dabei, nur lauter - es war eine Stimme, vor der man Angst haben mußte. »Ich habe dich nicht um deine Gastfreundschaft gebeten! Du hast sie mir aufgezwungen!«
Damiander lachte weiter, versuchte, die Oberhand zu behalten, indem er seinen Gegner nicht ernst nahm, doch man sah, daß es ihm nicht sehr leicht fiel. »Dafür, daß ich dich gezwungen habe, hast du aber gestern gut getrunken, mein Freund. Kannst du nicht verstehen, daß es sich meine Gäste hier ein paar Tage gut gehen lassen? Ich verlange nichts dafür. Dieses Haus ist mein Geschenk.«
»Sie sind nur hier, weil sie nicht sehen wollen, was du in Wirklichkeit bist!« rief Janek, so laut, als wolle er nicht nur Halan und Anders, sondern auch alle anderen Gäste Damianders aufrütteln.
»Und?« fragte Damiander. »Du willst nicht einmal sehen, was du selbst bist. Deine Zeit ist vorbei. Ich nenne dich Hauptmann, aus einer gewissen Hochachtung heraus vor dem, was du einmal warst - auch wenn du das nicht verdienst - aber wer außer mir weiß noch davon?«
»Ich weiß es«, flüsterte Janek. Sein Gesicht war bleich geworden, und seine Augen noch heller.
»Und die beiden Jungen? Soll ich es ihnen sagen?«
Janek wandte seinen Blick ab. »Wenn du es nötig hast, mich zu erpressen, tust du mir leid, Damiander.«
Damiander lachte nicht mehr, obwohl er jetzt wußte, daß er gewonnen hatte. »Nein. Du tust mir leid.« Er ging auf Janek zu, der am Türrahmen stand und zitterte, und legte seinen Arm um ihn. »Du bist ein armseliger Trunkenbold. Du hast mich nötiger als alle anderen. Aber ich verzeihe dir. Mein Haus steht dir offen.«
»Nein!« schrie Janek und stieß ihn fort. »Ich habe dich nicht nötig! Wenn ich ein Säufer bin, wie du meinst - ist es dann nicht bemerkenswert, daß ich das auch ohne dich geschafft habe? Die Wahrheit ist doch - alles, was du uns hier bieten kannst, kann man auch anderswo finden - Wein, Frauen, was auch immer. Wenn ich den Rausch suche, finde ich ihn, egal wo ich bin. Und das -« er wandte sich abrupt an Halan und Alexander - »gilt auch für euch.«
Halan konnte ihm nicht in die Augen sehen, er drehte den Kopf zur
Wand, wo er allen Blicken ausweichen konnte - einer war so schlimm wie der andere. Ihm wurde kalt, und in seinen Ohren rauschte es. Er wußte, was jetzt kam. Die Gedanken ließen sich nicht mehr zurückdrängen. »Anders«, flüsterte er.
Aber Anders sagte nichts, nahm ihn nicht in den Arm, gab ihm nicht die Gewißheit zurück, am richtigen Ort zu sein. Ohne sich umzublicken, suchte Halan tastend mit seinen Fingern Anders’ Hand, und fand sie, doch auch sie war kalt.
In seinen Ohren klang Damianders süße Stimme. »Laßt euch von ihm keine Angst einjagen. Eure Seelen werden die richtige Entscheidung treffen. Ihr habt viel zu lang auf euren Verstand gehört.«
Was tun wir hier? flüsterte Halans Verstand. Anders, was tun wir hier? Was ist aus uns geworden?
Halan ließ Anders nicht los, als er zu Janek hinübertrat; er zog ihn mit sich, denn er fühlte Anders’ Unsicherheit, und er wußte, wie schwer es war, nicht auf Damiander zu hören…
Dann blickte er den Engel des Rausches an, doch nicht in seine Augen. Und schüttelte den Kopf.

Von allen schrecklichen Tagen in Halans Leben war dies der schrecklichste. Zumindest für den Moment. Es gab nichts in den vergangenen drei Tagen, für das Halan sich nicht schämte wie nie zuvor. Er fixierte beim Reiten einen Punkt zwischen den Ohren seines Pferdes, und mit dem Wind, der ihm entgegenschlug, fühlte er das Brennen in seinem Gesicht.
Aber das Schlimmste waren nicht die grausam klaren Erinnerungen an das, was er getan hatte, sondern die Anwesenheit Janeks. Wäre der Landstreicher nicht gewesen - Halan hätte keinen Gedanken an das Geschehene mehr zugelassen. Doch allein das Wissen darum, daß der Mann mit ihnen ritt - Halan blickte niemals in seine Richtung, doch man konnte ihn spüren - genügte, um Halan mit Gefühlen von Schuld und Selbstverachtung zu überschwemmen. Und mit Haß - auf Janek, auf sich selbst, aber vor allem, und das war das Schlimmste, auf Anders.
Das Reiten war schrecklich. Zu Fuß, sogar in einer Kutsche, hätte Halan seinen Körper ignorieren können, vergessen, daß es ihn gab. Aber auf dem Pferderücken mußte Halan ihn spüren, sich entweder durchschütteln lassen oder dem Auf und Ab der Trabbewegung folgen - und eines wie das andere war entsetzlich.
»Es tut mir leid, euer Brüten unterbrechen zu müssen«, riß ihn Janeks Stimme aus seinen Gedanken, und einen Moment lang war Halan sogar dankbar dafür. »Aber ich denke, wir sollten eine Rast machen. Ihr habt den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
»Ich habe keinen Hunger«, murmelte Anders tonlos. Halan sagte nichts.
»Ich habe nicht gesagt, daß ihr Hunger habt«, erwiderte Janek. In seiner Stimme lag ein ruhiger Triumph, der Halan mißfiel. »Ich habe nur gesagt, daß ihr den ganzen Tag noch nichts gegessen habt.« Er lachte leise. »Ich appelliere an eure Vernunft, nicht an eure Mägen.«
Er trieb sein Pferd an den Rand, ein freundliches Fleckchen Gras zwischen ein paar Bäumen, und saß vorsichtig ab. Am liebsten hätte Halan diesen Moment genützt, um loszugaloppieren, ihn zurückzulassen, denn bis Janek mit seinem lahmen Fuß wieder auf dem Pferd war, konnten sie längst einen guten Vorsprung haben. Aber sein Verstand sagte ihm, daß dies vollkommen sinnlos war. Was immer Janek bewogen hatte, ihn von Koristan aus bis zu diesem Haus - Halan ließ nicht zu, daß seine Gedanken den Namen des… Wirtes formten - zu folgen - es war ihm auf jeden Fall gelungen.
Halan warf Anders einen schnellen, scheuen Blick zu. Er wollte ihn nicht ansehen, aber jemanden, der ihm die Entscheidung abnahm. Doch er hatte Anders’ Gabe vergessen. Ihre Augen trafen aufeinander, und Halan spürte, wie Anders direkt in ihn hineingriff, all seine schlechtkaschierten Gefühle erkannte, all den Haß. Dennoch - oder vielleicht deswegen - war es Anders, der den Blick abwandte.
»Rasten wir«, sagte er leise. »Es ändert ohnehin nichts mehr.«
Sie gesellten sich zu Janek, der sich ins Gras gesetzt hatte und dabei war, einen Lederranzen auszupacken. Er nickte ihnen freundlich zu und reichte jedem von ihnen ein dürres verschrumpeltes Etwas, das ein Fetzen Leder ebenso sein konnte wie eine Wurzel.
»Dörrfleisch«, sagte er. »Ihr müßt es kauen, bis euch der Kiefer abfällt, und viel Wasser dazu trinken.« Bestimmt gab es keine bessere Nahrung für einen Wanderer, aber man mußte hungrig sein, um es zu essen, und Halan ging wirklich aller Appetit ab. Er biß ein Eckchen ab und kaute halbherzig darauf herum, weniger aus der Vernunft heraus, essen zu müssen, als mehr um Janek nicht zu verärgern.
Der Mann nahm eine große Lederflasche, die er entkorkte und an seine Lippen setzte. Nachdem er getrunken hatte, reichte er sie an Halan weiter.
Halan erstarrte. Das war genau wie bei ihrer Ankunft in diesem Haus… Er schauderte. Er fühlte, daß alle ihn anstarrten.
»Das ist nur Wasser«, sagte Janek. »Es ist lauwarm und abgestanden und schmeckt nach altem Leder, aber es ist gut gegen Durst.«
Halan schüttelte den Kopf. Wo war seine Würde? Verloren, aber es gelang ihm, eine Erinnerung daran in seinen Tonfall zu zwingen. »Ich kann das nicht trinken. Eure Lippen haben es berührt.«
Er mußte Janek ins Gesicht blicken, als er das sagte. Engelsgeborene schauten niemals zu Boden… Janeks Augen verengten sich.
»Nun«, sagte er gedehnt. »Immerhin haben meine Lippen nur den Wassersack berührt.«
Anders warf sich auf ihn, mit blinder Wut im Gesicht und geballten Fäusten. Im nächsten Moment lag er neben Janek auf dem Rücken - es ging zu schnell, als daß Halan die Situation begreifen konnte - er bemühte sich, noch nicht einmal zu verstehen, wie Janeks Worte Halan in solchen Zorn versetzen konnten.
»Nein«, sagte Janek schneidend. »Leg dich nicht mit mir an! Wenn ich im Leben eines gelernt habe, dann Kämpfen - du hast keine Chance gegen mich. Euch ist danach, euch gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, also tut das endlich, oder laßt es bleiben, aber reagiert euch nicht an mir ab.«
Er nahm seinen Gehstock, stemmte sich langsam vom Boden hoch und humpelte zu den Pferden hinüber, wo er sich an den Sätteln zu schaffen machte. Anders machte ebenfalls Anstalten, aufzustehen, doch Halan streckte eine Hand aus, hätte ihn beinahe berührt, und ließ es doch sein, sagte nur: »Er will uns nur eine Möglichkeit geben, miteinander -« Er brach ab.
Anders nickte. »Ich weiß. Darum will ich ja auch…« Er schüttelte den Kopf und blieb sitzen. Nach einer Weile, in der keiner von ihnen etwas sagte oder den anderen auch nur ansah, meinte er leise: »Ich würde ja mit dir reden, Halan. Aber du willst nicht.«
Halan schwieg. Janek wartete nur darauf, daß sie sich stritten, und den Gefallen würde er ihm ganz sicher nicht tun. Er achtete einfach nicht auf Anders, fragte sich nicht, ob sein Tonfall nun versöhnlich oder provokant sein sollte…
»Aber was sollen wir auch groß reden?« fuhr Anders fort. »Schließlich hat sich nichts zwischen uns geändert, im Gegenteil… Du mußt nicht glauben, daß es ein Fehler war, so lange bei Damiander zu bleiben… Vielleicht sind wir der Krone nicht näher gekommen dabei, aber… wann hatten wir schon einmal die Gelegenheit…« während er sprach, schob er sich langsam auf Halan zu, beugte seinen Oberkörper vor, und wäre Halan nicht zurückgewichen, Anders hätte seinen Kopf an Halans Schulter legen können.
Bilder tauchten in Halan auf, von dem Mann, dessen Namen Anders ausgesprochen hatte, sein lächelndes Gesicht, seine Augen… Halan, der ihm widersteht, und Anders, der sich ihm hingibt, nur um als nächstes Halan mit sich zu reißen in diesen Abgrund aus Rausch und Verlangen…
»Rühr mich nicht an!« schrie er.
Anders lachte bitter. »Ich wußte, daß du das sagen würdest, Halan. Sogar Janek wußte das. Er ist ein kluger Mann, Halan, klüger als du. Er hatte Recht - alles, was wir bei Damiander machen konnten, können wir auch anderswo.« Er legte eine Hand auf Halans und lachte auf, als Halans seine darunter wegzog. »Aber du nicht, Halan. Das ist das Problem. Ich wäre niemals drei Tage geblieben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß dies der einzige Ort auf der Welt ist, wo du lieben kannst.« Seine Stimme wurde härter, und zugleich brüchiger. »Und sieh dich an: Kaum sind wir nicht mehr dort, kannst du mich auch nicht mehr lieben.«
Danach schwieg er, und nach einer Weile, in der auch Halan nichts erwiderte - aber was hätte er auch dazu sagen sollen? - griff er in das Gras neben sich und hob einen scharfkantigen Flintstein auf, drehte ihn zwischen seinen Fingern und schlug ihn dann mit unvermittelter Wucht in seine linke Hand. Er zuckte nicht einmal zusammen, als er das tat, und es trat kein Schmerz in sein Gesicht, nur ein zufriedenes Lächeln.
Ihm zusehen zu müssen, tat Halan in der Seele weh, aber er wußte, worauf Anders aus war, daß er nicht wirklich sich selbst verletzen wollte, sondern Halan zum eingreifen zwingen. Halan ließ sich nicht erpressen. Nicht schon wieder.
Anders blutende Hand zitterte, als sie den Stein aus der rechten übernahm, und ihr fehlte die Kraft, ihn mit der gleichen Härte in die rechte Handfläche zu treiben. Aber er schloß die Finger um den Stein wie um eine Waffe und riß ihn über die Haut, so lange, bis das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Halan sah ihm reglos zu und unterdrückte alle Gefühle, bis auf seine Abscheu, die Anders ruhig spüren durfte.
Schließlich ließ Anders den blutverschmierten Stein ins Gras fallen und streckte Halan seine Hände hin. »Da!« stieß er atemlos hervor. »Du weißt, was ich tue, wenn es niemanden gibt, der mich liebt.«
Halan unterdrückte auch seine Abscheu. Jedes Gefühl war im Moment zuviel für Anders. »Ja«, sagte er kalt. »Wenn du niemand anderen hast, den du verletzen kannst, mußt du es eben dir selbst antun.«
Alexander zitterte, doch er ließ seine Hände nicht sinken, und das Blut füllte seine Handflächen.
»Die Wahrheit ist«, sagte Halan und wunderte sich, wie leicht ihm das auf einmal fiel, und fing dennoch noch einmal von vorne an: »Die Wahrheit, Anders, ist, daß du nicht lieben kannst. Dich selbst nicht, und auch keinen anderen. Das einzige, was du empfinden kannst, sind Schmerzen, und wenn du nicht die Gefühle anderer Leute trinken kannst -«
»Das ist nicht wahr!« schrie Anders. »Ich kann lieben! Du bist derjenige, der -«
Aber Halan schnitt ihm das Wort ab. »Laß Janek deine Hände verbinden. Er war Soldat, er wird wissen, wie das geht.« In Gedanken fügte er hinzu, aber es auszusprechen ging ihm dann doch zu weit: Aber frag ihn nicht, ob er an meiner Stelle mit dir schlafen will.
Anders starrte ihn an, seine Augen bebten, aber sonst rührte er sich nicht, und auch die Hände ließ er nicht sinken. »Du weißt nicht, wovon du redest!« stieß er hervor. »Du bist derjenige, der nicht lieben kann! Ich kann lieben! Ich habe Koris geliebt! Weißt du, wie es sich anfühlt, daß er tot ist?«
»Er war mein Vater«, sagte Halan beschwichtigend, »aber natürlich weiß ich, daß er dir nähergestanden hat.«
»Du wirst das nie begreifen!« schrie Anders. »Wir haben uns geliebt, verstehst du? Wir haben miteinander geschlafen, die letzten vier Jahre lang! Und jetzt ist er tot…« Anders sprang auf, bevor Halan auch seine Gedanken sortieren oder auch nur reagieren konnte, und rannte in den Wald hinein. »Aber du wirst das niemals verstehen können«, schrie er noch, »weil Liebe viel zu groß für dich ist! Und du wirst für mich niemals so sein wie Koris!«
Dann war es still. Halan machte keine Anstalten, ihm zu folgen.
Er war fassungslos.
Endlich fiel ihm Janek wieder ein… Halan hatte noch nie im Leben daran gedacht, einen Menschen zu töten - aber wenn Janek gehört hatte, was Anders schrie - und er konnte es wirklich kaum überhört haben! - dann… war er eine Gefahr für Korisanders Haus. Dann mußte Halan ihn umbringen.
Er war halb gelähmt vor Angst, als er seine Augen den Pferden zuwandte. Da standen sie, alle drei, mit den Zügeln an eine Birke gebunden. Doch sie waren allein. Janek war fort.

Halan wußte, daß er aufstand und zu den Pferden hinüberging, ebenso wie er wußte, daß er Nachts schlief - er tat es, aber er nahm nichts davon wahr. Mechanisch begann er, Janeks Pferd, einem alten, ausgemergelten Fuchs, die Stirn zu kraulen. Er konnte nicht sagen, warum er das tat, außer, daß er noch nie ein Tier gestreichelt hatte - aber es machte ihn ruhiger, tötete alles in ihm ab. Er wußte noch immer nicht, was er denken sollte, aber er versuchte es auch nicht mehr.
Das Pferd klappte die Ohren nach vorn und beschnupperte Halan interessiert. Sein Atem war warm. Einen Moment lang erstarrte die Zeit. Dann wußte Halan, daß Janek neben ihm stand. Er drehte sich um.
»Das ist ein hübsches Pferd«, sagte er.
Janek schüttelte den Kopf. »Das ist eine erbärmliche klapprige alte Schindmähre. Sie ist halb blind und nicht einmal mehr auf dem Feld zu gebrauchen, aber ich brauchte ein Pferd. Soll ich dir erzählen, wie ich an sie gekommen bin?«
Halan nickte, dankbar für die Ablenkung.
Janek verzog das Gesicht. »Und du glaubst tatsächlich, ich unterhalte mich mit dir über Pferde, anstatt zu fragen, wo Anders ist?«
Halan antwortete nicht, suchte nur verzweifelt in Janeks Augen etwas, das verriet, wieviel der Mann wußte.
»Warum seid Ihr uns gefolgt?« fragte er schließlich. »Ihr sagtet doch, Eure Frau und Eure Kinder -«
Janek schüttelte den Kopf. »Wo ist Anders?« Sehr langsam, sehr leise, sehr eindringlich. »Ich hatte gesagt, schlagt euch gegenseitig die Köpfe ein - aber selbst wenn du das getan hast, konntest du ihn in der kurzen Zeit unmöglich verscharren. Also - wo ist er?«
Halan starrte ihn an. Wieviel hatte er gehört?
»Kein Wort, verdammt!« rief Janek, als könne er Halans Gedanken hören. »Glaubst du, ich belausche euch? Als ihr angefangen habt herumzubrüllen, daß bald die Pferde scheu wurden, bin ich mir die Beine vertreten gegangen. Ich nehme einfach an, es ging um Dinge, die mich nicht angehen - aber ihr wußtest schließlich, daß ich in der Nähe war. Also mach mir jetzt keinen Vorwurf.«
Halan holte tief Luft. »Janek - was habt Ihr gehört?«
Janek klopfte der Fuchsstute auf die Flanke. »Wenn ich sage, nichts, wirst du mir nicht glauben, denn man müßte schon sehr dumm sein, um sich eine solche Gelegenheit entgehen zu lassen. Wenn ich sage, alles, wirst du den ersten besten Stein aufheben und mich erschlagen wollen, bevor ich es herumerzählen kann. Aber wenn ich dir sage, es war in einer Lautstärke, die ein Tauber nur schwer hätte überhören können, aber ich habe kein Wort verstanden - wirst du mir dann glauben?«
Halan schwieg. Hatten sie - hatte Anders Elomond gesprochen? Er wollte sich die Worte nicht in den Kopf zurückrufen müssen, nur um die Sprache zu erkennen… Er wußte es nicht. Schließlich sagte er: »Ihr habt Recht.« Bestimmt hatten sie Elomond gesprochen. Sie sprachen so oft Elomond untereinander.
Damiander hat auch Elomond gesprochen…
»So«, sagte Janek. »Und nachdem das nun soweit geklärt wäre - wo ist Anders?«
Es gelang Halan, seine Gedanken von Damiander loszueisen. »Er ist in den Wald hinein!« brach es aus ihm hervor. »Er hat - wir haben uns gestritten, und dann ist er weggerannt, in den Wald hinein.« Wieso nur fühlte er sich, als würde er lügen?
»Nun gut«, sagte Janek ruhig. »Viel anderes war auch nicht mehr übrig. Müssen wir ihn suchen gehen, oder meinst du, er kommt allein wieder zurück?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Halan leise. Es gab so vieles, um das er sich an diesem Tag gesorgt hatte - ihren Ruf, ihre Ehre, ihre Würde - aber erst jetzt begann er, sich um Anders zu sorgen.
»Dann geh ihn suchen!« Janek wußte, daß sie Engelsgeborene waren, und doch gab er ihnen Befehle… »Ich bin mit diesem Fuß nicht besonders waldtauglich.«
Von einem Moment auf den anderen, so als hätte jemand einen Hebel umgelegt, funktionierte Halans Verstand wieder so, wie er sollte. Schlagartig erkannte er, wie wichtig es war, Anders zu finden, bevor Janek ihn zu Gesicht bekam - wenn der Anders’ zerschlagene Hände sah, würde er sofort ahnen, wer das getan hatte.
»Ich mache mich sofort auf die Suche«, sagte Halan. »Einen Moment noch.« Mit einer Ruhe, die ihn selbst verwunderte, ging Halan zu Anders’ Pferd hinüber und öffnete die Gepäcktasche. Damiander hatte ihnen all ihrer Kleider zurückgegeben - auch die Handschuhe, die Halan beinahe fürchten gelernt hatte, waren dabei. Nur wo?
»Was suchst du?« fragte Janek.
»Ein Taschentuch«, erwiderte Halan mit so gleichgültigen Tonfall, daß Janek nicht weiter fragte und auch nicht auf die Idee kam, Halan selbst ein Tuch anzubieten. Wahrscheinlich hatte er die Lüge durchschaut.
Aber das war Halan gleich. Nicht darüber reden war wichtiger als nicht wissen… Endlich hatte er die Handschuhe gefunden, und auch ein frisches Taschentuch, in das er die Handschuhe rasch einschlug. Er verzichtete darauf, das Tuch auch noch erklärend hochzuhalten - es gab zu viele Möglichkeiten, seine Glaubwürdigkeit zu verspielen. Aber als er auf den Waldrand zuging - langsam, denn es durfte keinen Grund geben, sich Sorgen zu machen - tupfte er sich beiläufig mit dem Stoff den Mund ab. Schließlich hatte er gerade gegessen, und er bedauerte es, Janeks Wasser ausgeschlagen zu haben. Sein Mund war immer noch erfüllt mit dem salzigen Fleischgeschmack.
Der Wald war dämmrig und kühl der Boden seltsam weich unter Halans Füßen. Wälder waren Halan unangenehm, zu fremd, zu wenig zu begreifen. Trotzdem sprach er ein paar bittende Worte an Kaliander, den Engel des Waldes. Er betete niemals zu den anderen Elomaran - selbstverständlich nicht - aber er zollte ihnen Tribut, wenn er sich in ihrem Gebiet aufhielt.
Erst dann - und als er hoffte, außerhalb von Janeks Hörweite zu sein - getraute sich Halan, leise nach Anders zu rufen.
»Bitte, komm zurück! Ich weiß, daß du nicht weit weggelaufen bist! Komm, zeig dich!« Dann schwieg er still und lauschte in den Wald hinein, horchte nach Anders Atmen, vielleicht nach einem Schluchzen, aber der Wald war zu laut, es gab zu viele Tiere und Vögel, und wo sie nicht waren, da rauschten die Bäume im Wind.
Halan irrte ziellos umher, machte sich keine Gedanken, daß er sich verlaufen könnte - er konnte diesen Wald nicht ausstehen, soviel stand fest, und er hoffte, daß ihre Reise in Tayellin ein Ende fand, daß sie niemals nach Indiradin reisen mußten…
Es gab zu viele Bäume, aber Halan konnte immer noch sehen, wo die Straße verlief - der einzige Ort, wo es etwas Sonnenlicht bis zum Boden schaffte. Und kein Alexander!
Sogar seine eigenen Schritte waren zu laut. Halan setzte sich hin, hörte auf seinen eigenen Atem, bis er ihn nicht mehr wahrnahm, dann nahm er die Geräusche des Waldes auf. Es kam ihm sehr langsam vor, und er wußte nicht, ob es funktionierte, aber seine scharfen Sinne waren alles, was er im Moment hatte, und er wollte alle falschen Laute ausschließen, alle, die nicht von Anders stammten…
Ein Rascheln hinter ihm, Schritte. »Halan…«
Halan nickte und blickte auf. Dort stand Anders, und er sah so kläglich aus wie in der Nacht seit seiner Krönung nicht mehr. Sein Gesicht war bleich und verschmiert, als ob er geweint hatte. Die Arme ließ er hängen, seine Hände waren fast vollständig bedeckt mit Blut und Schmutz. Kälte griff nach Halan. Aber er lächelte.
»Ich habe mir gewünscht, du wärst tot«, flüsterte Anders. »Ich habe mir gewünscht, du würdest mich suchen kommen. Warum hast du mir das angetan?«
Es war so viel Anklage in Anders’ Augen, soviel Angst… Wut schäumte in Halan auf, doch er verbarg sie - es war Wut auf den Mann, von dem Halan bis dahin immer, wenn auch nur mit Widerwillen, als seinem Vater gedacht hatte, auf einen Mann, der mit seinem zwölfjährigen Bruder ins Bett ging und ihm sagte, das sei Liebe. Halan fühlte Abscheu und Ekel und den nie gespürten Drang sich zu übergeben. Er konnte nicht anders, als auf diese blutverkrusteten Hände zu starren. Er wollte den Mann verdammen, der daran schuldig war, und er wußte, wenn er das tat, würde er statt dessen Anders verlieren.
Immer hatte er sein menschliches Erbe gehaßt, weil es ihn schwach und verletzlich machte. Nun verfluchte er das Blut der Engel. In diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, ein Bastard zu sein…
Doch nichts davon kam aus seinem Herz, oder über seine Lippen. Er legte nur die Armen um den Jungen und drückte ihn an sich.
»Ich liebe dich«, flüsterte Anders atemlos. »Ich liebe dich so sehr! Wenn ich dich fragen würde, ob du mit mir schlafen willst, jetzt und hier, auf dem Waldboden, was würdest du antworten?«
Halan fror. Er kannte seine Antwort, doch er ahnte, welche Antwort der verstorbene König gegeben hätte, und er wußte, daß auch Anders das wußte. Mit so viel Wärme, wie er noch aufbringen konnte, drückte er Anders noch enger an sich, strich ihm über das Haar, das Gesicht, den Rücken.
»Ich liebe dich auch«, sagte er sanft. »Ich liebe dich sehr. Aber meine Antwort würde Nein lauten.« Er hielt Anders fest, damit dieser sich nicht losreißen konnte, um ihm die Worte ins Gesicht zu speien: Koris hätte es gar nicht mehr nötig gehabt zu antworten.
Der Satz fiel nicht, aber er lag in der Luft. Halan zog Anders’ Kopf gegen seinen, schmiegte seinen Mund gegen Anders’ Ohrmuschel und wisperte: »Wenn du mich wirklich liebst - wenn es wirklich ich ist, den du liebst - dann sag es nicht.«
Anders’ Herz war leicht zu brechen, nicht aber sein Widerstand. Er rührte den Kopf nicht, und seine Worte klangen gedämpft durch Halans steifen Kragen: »Warum willst du denn nicht? Wir könnten uns beweisen, wie sehr wir einander lieben.«
»Ich weiß es auch so«, erwiderte Halan und hoffte, daß es die richtige Antwort war. »Aber ich hasse diesen Wald, und bei den Pferden steht Janek und kommt uns bald selbst suchen, wenn wir nicht schnell wieder da sind, und deine Hände…«
»Ich werde mir wieder die Handschuhe anziehen«, murmelte Anders.
»Ich habe sie dabei«, sagte Halan. »Setz dich hin.«
Er ließ den Jungen los, der sofort zu taumeln anfing, bis Halan ihn mit Nachdruck hinsetzte. Es gefiel Halan gar nicht. Wieviel Blut hatte Anders verloren?
»Wenn es weh tut, beiß mich!« sagte er. »Schrei nicht - Janek kann es hören, und er braucht nicht zu wissen, was du für Dummheiten machst.« Halan wußte, daß er gerade vielleicht die noch größere Dummheit beging - Anders’ Hände sahen aus, als sollte sich am besten ein Heiler darum kümmern, und wenn sie diese verdreckten Wunden nur unter Handschuhen versteckten, konnten sie sich entzünden… »Wenn sie bis Tayellin nicht besser geworden sind, mußt du damit zum Heiler.«
Er nahm das Taschentuch - gut, es mitgebracht zu haben -, zögerte einen Moment, bevor er draufspuckte und vorsichtig begann, den gröbsten Schmutz abzuwaschen. Anders schrie nicht, aber er biß die Zähne aufeinander, und jedesmal, wenn Halan die offenen Stellen berührte, zuckte er schmerzerfüllt zusammen. Die Wunden gingen tief ins Fleisch, vor allem an der linken Hand, die schon leicht geschwollen war und sich zu warm anfühlte. Die Narben von dem Kampf mit den Schwänen waren wieder aufgerissen, und es gab wenig, das Halan tun konnte - außer, die braunen Humusklümpchen nur noch tiefer hineinreiben, und er wußte, daß er damit alles schlimmer machte. Er schüttelte den Kopf.
»Du mußt es bis heute Abend aushalten. Dann bitte ich den Wirt um warmes Wasser, und ich kann dir die Wunden richtig auswaschen. Hältst du das durch?«
Anders lachte gezwungen. »Natürlich! Weißt du, ich bin so sehr daran gewöhnt, daß meine Hände kaputt sind…«
Halan wurde bei diesen Worten beinahe schlecht, weil er wußte, daß sie nur zu sehr stimmten. Schnell zog er Anders die Handschuhe über und warf das schmutzige Tuch fort. Dann gingen sie zu Janek zurück.

Anders hielt sich tapfer. Während sie ritten, spähte Halan immer wieder zu ihm hinüber, doch der Junge ließ sich seine Schmerzen nicht anmerken. Halan konnte sie sehen - er kannte Anders seit dem Tag seiner Geburt, und für ihn verriet sich Anders in vielen Kleinigkeiten: Sein Gesicht war sonst niemals so starr und gleichgültig, und er ritt auch sonst niemals nur mit den Beinen - Anders hielt die Zügel natürlich in Händen, aber gerade so, daß sie nicht herunterfielen: Er ließ sie lose über die Daumen laufen, und die verletzten Handflächen kehrte er zu den Seiten. Aber es gelang ihn, den Hengst mit den Schenkeln zu dirigieren, und sicher auch nur, weil die beiden so vollkommen aufeinander eingespielt waren. Halan wußte, daß Anders starke Schmerzen haben mußte, aber falls Janek das auch erkannt hatte, so erwähnte er es doch mit keinem Wort.
Irgendwann kam der Wald endlich zu einem Ende und wich zivilisiertem Land.
»Ich nehme an, ihr seid auf dem Weg nach Tayellin?« fragte Janek.
Anders nickte nur - wahrscheinlich hätte seine Stimme zuviel von ihm verraten - und so sagte Halan rasch: »Das stimmt.«
Janek durfte nicht versuchen, eine Unterhaltung mit Anders zu beginnen. Aber er ging auch sofort auf die Ablenkung ein.
»Wir müßten in drei oder vier Tagen über die Grenze kommen - wenn sie uns lassen, heißt das, aber ich wüßte nicht, warum es da Probleme geben sollte. Danach sind es noch mal ein paar Tage - je nachdem, wie schnell wir vorankommen.« Der Seitenblick, den er Anders zuwarf, war eine Spur zu scharf.
»Wart Ihr schon einmal in Tayellin?« Halans Gedanken waren viel zu sehr bei Anders’ Händen, als daß er sich wirklich für Janeks Leben, oder Tolimanders Stadt, interessiert hätte, aber er mußte den Mann vom Denken abhalten.
Janek lachte. »Mein lieber Junge, ich bin seit zwölf Jahren Söldner. Ich bin schon in den allermeisten Städten gewesen.«
»Und Tayellin ist schön?« fragte Halan weiter.
»Wenn du dir Mühe gibst, fällt dir vielleicht eine noch oberflächlichere Frage ein.«
Einen Moment lang war Halan sprachlos. »Entschuldigt bitte«, sagte er dann eisig. »Aber ich dachte, ihr wolltet ein Gespräch mit mir beginnen - ein Irrglauben, offenbar.«
»Unter einem Gespräch verstehe ich etwas Sinnvolles«, erwiderte Janek.
Halan war daran gewöhnt, innerhalb seiner Familie den untersten Platz in der Rangfolge innezuhaben, und sich gegenüber Anders durchsetzen zu müssen, kostete ihn immer wieder Überwindung - er hätte niemals die Position seines Onkels angefochten. Aber wenn er noch länger zuließ, daß Janek so mit ihm redete, war er auch bald der niederste dieser Gruppe… Er straffte sich.
»Ich verbiete Euch diesen Ton«, sagte er. »Ich bin bereit, Euch zu respektieren, sogar zu akzeptieren, daß Ihr uns begleitet - auch wenn Ihr nicht bereit scheint, den Grund hierfür zu nennen - aber ich dulde nicht die Art, wie Ihr mich zu behandeln versucht. Ihr habt mich und meinen Onkel in einer für uns höchst peinlichen Situation angetroffen, und für Eure Hilfe danke ich Euch. Aber da Ihr uns nicht sagt, wer Ihr seid, aber durchaus wißt, wer wir sind, verlange ich, daß Ihr uns dementsprechend behandelt.«
Janek legte den Kopf in den Nacken, und Halan erwartete höhnisches schallendes Lachen, doch das kam nicht. »Ich war das Meinung, das täte ich. Sobald ihr anfangt, euch wie die Erben des Engels der Weisheit zu benehmen, werde ich euch auch so behandeln. Bis dahin sehe ich darüber hinweg, daß du der Sohn meines ärgsten Feindes bist.«
Noch bis zum vergangenen Tag hätte Halan - bei allem Haß auf den König - den Verstorbenen verteidigt. Nun fühlte er statt dessen eine Verbundenheit zu Janek, der offen aussprach, was Halan immer zu verschweigen gezwungen war. In der Hoffnung, daß Anders ihn nicht hören würde, zischte er zurück: »Ich bin der Sohn meines ärgsten Feindes. Alexander ist sein Bruder. Was immer er Euch angetan haben mag - es gibt keinen Grund, uns die Schuld daran zu geben. Wir sind bereits bestraft.«
Im nächsten Moment wünschte er sich, es nicht gesagt zu haben. Er hatte niemals so viel verraten wollen! Halan schüttelte sich.
»Schon gut«, sagte Janek. »Ich mag auch nicht darüber reden. Vielleicht heute abend. Die Vergangenheit läuft nicht weg.« Er lachte leise. »Nur wir.«
Halan brauchte nicht Anders’ Gabe, um die Bitterkeit in seiner Stimme zu fühlen. Ein Schauder überlief ihn. Er wußte jetzt, wer Janek war - und auch, daß er es nicht sein konnte.
Seltsamerweise fiel es ihm danach leichter, mit Janek zu reiten - vielleicht, weil es gut es, einen Haß zu teilen. Mehrmals stand er kurz davor, Anders’ Verletzung zu erwähnen - aber jedesmal fiel ihm rechtzeitig ein, daß Janek das nichts anging, daß Halan nur deswegen so viel von sich erzählt hatte, damit Janek sich schneller verraten würde…
»Ehe wir gleich absteigen«, sagte Janek - nur noch zu Halan, denn Anders war so in sich vertieft, daß er nichts mehr sagte, auf nichts mehr achtete als das Reiten - »wieviel Geld habt ihr noch?«
»Wenn Ihr versuchen solltet, uns zu erpressen -«
»Ich habe es nicht nötig, euch zu erpressen. Ich habe ein Schwert und kann damit umgehen. Ich könnte euch beide umbringen und euer Geld und eure Pferde stehlen, wenn es mir darum ginge. Es freut mich, daß ihr beide so eine hohe Meinung von mir habt. Aber alles, was ich wissen wollte, ist: Wieviel Geld habt ihr noch? Ich bin euch lang genug gefolgt, um euren Lebensstil zu kennen, und ich wüßte gerne: Wie lang noch?«
»Wir haben genug Geld«, erwiderte Halan ausweichend. Das war etwas, über das er nicht gern nachdachte, und das Janek nun wirklich nichts anging.
Janek schüttelte den Kopf. »Ich gehe davon aus, du weißt, was du tust - aber denk daran, selbst wenn ihr die Krone in Tayellin finden solltet, müßt ihr immer noch quer durch drei Länder zurück. Und wenn ihr kein Geld mehr habt, müßt ihr arbeiten oder betteln. Ich habe nichts, was ich euch abgeben könnte.« Er klopfte seinem Pferd auf den Hals.
Halan wußte, daß Janek recht hatte. Trotzdem sagte er: »Wir bezahlen immer nur aus Höflichkeit. In Wirklichkeit sind die Wirte dankbar, wenn wir sie mit unserer Anwesenheit beehren.«
»Gnädig«, sagte Janek. »Und doch funktioniert es bestimmt - in einem Land, in dem man euresgleichen liebt. Schade nur, daß Loringaril soviel größer ist als Koristan…«
Halan gab es auf, widersprechen zu wollen. Er verstand Bitterkeit, konnte selbst bitter sein, doch von anderen war er sie nicht gewöhnt, und er konnte nichts dagegenhalten.
»Die Wahrheit ist«, flüsterte er, »wir haben so gut wie kein Geld mehr, aber ich wage es nicht, Anders damit zu belasten. Er hat genug darunter zu leiden, daß er kein König werden kann, da soll er wenigstens -«
»- noch einen richtigen Absturz erleben, wenn ihr euch von einem Tag auf den anderen nicht einmal mehr den Stall leisten könnt«, fiel ihm Janek ins Wort. »Ihr seit entsetzlich, einer schlimmer als der andere. Aber ich habe so etwas vermutet. Laß mich das übernehmen. Anders hat zuviel Respekt vor mir, als daß er mich terrorisieren würde wie dich - ich werde mit ihm reden.«
Beide sahen zu Anders hinüber, und dann einander an. Wenn Janek Anders’ Schmerzen nicht sehen konnte, mußte er blind sein… Und doch fiel kein Wort darüber.
Als sie endlich den Gasthof erreichten - ein kleines, verwittert aussehendes Gebäude, bei dem es ein Wunder war, daß überhaupt noch Menschen darin wohnten - ließ Halan Janek alles regeln. Er selbst blieb bei Anders, hielt ihn beim Arm, damit er nicht hinfiel.
»Laß das!« zischte Anders durch zusammengebissene Zähne. »Du machst mich lächerlich. Was sollen die Leute denken?«
Niemand war in der Schankstube außer ihnen und dem Wirt, aber Halan ließ los. Warmes Wasser, ein warmes Bett, eine Nacht voll Schlaf und Ruhe würden alles wieder ins Lot bringen.
Aber es gab kein warmes Wasser. Es gab keine warmen Betten. Es gab einen Schlafsaal, einen einzigen, zwanzig Betten, die allermeisten davon leer, und in einem von ihnen Halan, und in einem von ihnen Anders.
Anders zog seine Handschuhe nicht aus, und die dünne Decke bis an sein Kinn hoch, bevor er schlafen ging. Halan fürchtete das Schlimmste; er versuchte aufzubleiben und über den Jungen zu wachen. Doch Anders’ Schlaf schien still und friedlich, frei von Schmerzen, und endlich konnte sich auch Halan zurücksinken lassen und zumindest im Halbschlaf den anderen Tag erwarten.
Es konnte nur noch besser werden.

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