Halan war wach, er hätte aufstehen können, doch er lag
still und wartete. Es war schön, morgens von Anders durch
einen Kuß auf die Stirn geweckt zu werden - aber noch
schöner war es, darauf warten zu können. Und
überhaupt - warum sollte Halan aufstehen? Alles, was er
liebte, konnte ebensogut zwischen diesen Laken geschehen.
Halan liebte dieses Zimmer mit seinen einfachen, weißen
Wänden, liebte es, weil es so schmucklos war und seinen
Träumen so viel Raum ließ. Er liebte es, weil es hier
keine Bücher gab. Abends, wenn Anders in die Halle ging, lag
Halan im Bett und schaute mit halbgeschlossenen Augen die
Wände an, füllte sie mit Mustern und Bildern und
Menschen, die nur ihm gehörten. Er lauschte der Musik und
genoß die Zeit, bis er einschlief, ebensosehr wie jede andere
des Tages.
Und wenn er aufwachte, wartete er auf Anders.
Manchmal kam ihm sein Verhalten seltsam bekannt vor: Wieder hatte
er ein einzelnes, überschaubares Zimmer zu seinem Reich
erklärt, verließ es nur, wenn es nicht anders ging, und
hatte doch niemals das Gefühl, einsam zu sein. Damiander hatte
ihn nicht gefragt, ob er ein Zimmer mit Alexander teilen wollte
oder lieber allein schlafen - aber wenn, hätte sich Halan
genau so entschieden, wie es nun war. Er liebte Anders mehr als
jemals irgend jemanden in seinem Leben, mehr als sich selbst und
den Rest der Welt zusammen - aber er brauchte Zeit, in der er
allein sein konnte. Anders ertrug Einsamkeit überhaupt nicht,
mußte immerzu jemanden in seiner Nähe haben - aber
dafür gab es ja noch Damiander. Hier mußte sich Halan
niemals Sorgen um Anders machen…
Er lauschte nach Schritten auf dem Flur. Halan wußte,
daß sein Geliebter auf dem Weg zu ihm war, lange bevor er die
Tür erreicht hatte. Halan konnte sogar Damiander, von dem
Anders immer sagte, er mache niemals ein Geräusch, am Gang
erkennen, und er konnte Leute unterscheiden, die er noch niemals
oder nur flüchtig gesehen hatte.
Anders’ Schritte auf dem Flur - aber er kam nicht
allein.
»Warte einen Moment!« Eine bekannte Stimme, doch nicht
aus diesem Haus. Es war dieser seltsame hinkende Landstreicher,
Janek. Hier?
Anders blieb stehen. »Was willst du?«
»Das selbe wie gestern: Mit dir reden. Und dich und Halan
hier rausholen.«
Halan setzte sich im Bett auf.
»Laß uns in Frieden«, sagte Anders
mürrisch.
»Nein. Ihr hattet hier schon genug Frieden. Jetzt kommt ihr
mit mir.«
»Ich denke nicht daran!« rief Anders.
»Das merke ich. Laß mich vorbei. Ich will mit deinem
Neffen reden.«
Halan sprang aus dem Bett und suchte etwas zum Anziehen. Er fand
nichts - Damiander hatte seine Kleider fortgenommen. So blieb Halan
nichts anderes übrig, als sich eilig in sein Bettlaken zu
wickeln, so wie es hier alle taten.
»Nein!« Die Tür flog auf, und Anders stürzte
ins Zimmer. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür, um
sie zuzuhalten. »Hilf mir, Halan!«
Halan rührte sich nicht. Was Anders da tat, war kindisch,
aber hier war nicht der Ort, um ihm das zu sagen.
Draußen klopfte Janek gegen die Tür. »Bitte! Ich
will euch nicht stören - aber ich muß mit euch
reden.«
Halan blickte in Anders’ wütende Augen. »Ich
dachte, er ist dein Freund?«
»Das dachte ich auch!« stieß Anders hervor.
»Selbst ich kann mich mal irren!«
»Und was jetzt?« fragte Halan und konnte einen
spöttischen Unterton nicht unterdrücken. »Willst du
den ganzen Tag so stehenbleiben?«
Anders schüttelte den Kopf. »Nur, bis er
weggeht.«
Halan mußte lachen. Anders’ Ernsthaftigkeit war so
unreif, so… niedlich. Und seine Versuche, die Tür zu
blockieren, waren vergeblich. Langsam drückte Janek sie auf,
schob Anders ins Zimmer hinein und sich selbst durch den Spalt.
Dann nickte er Halan zu, bedachte Anders mit einem müden
Lächeln und begann, mit der rechten Hand seine Schulter zu
massieren. »Ist es euch so lieber?«
Anders starrte ihn wütend an, während er versuchte,
seine Toga mit beiden Händen zu richten und zu verhindern,
daß sie zu Boden fiel. »Hinaus!« sagte er leise.
»Sofort.«
Janek verzog keine Miene. »Liebend gern. Und euch nehme ich
mit.« Er wandte sich an Halan. »Du bist doch ein
vernünftiger Junge, Halan, und intelligent solltet ihr
eigentlich beide sein. Merkt ihr denn nicht, was hier vor sich
geht?«
»Ja, das merken wir«, schnappte Anders und befreite
Halan so aus der peinlichen Situation, antworten zu müssen.
»Du bist in unser Zimmer eingedrungen und hast uns vom
Wichtigsten überhaupt abgehalten.«
Das Blut schoß Halan ins Gesicht, als Janek eine Augenbraue
hob, obwohl Anders der Sache keinen Namen gegeben hatte. Janek
gelang, es durch nichts als seine Anwesenheit diesem Haus so viel
von seinen Wundern zu nehmen, daß Halan schon fast wieder zu
grübeln begonnen hätte.
Sehr, sehr leise sagte Janek: »So, wie es aussieht, bin ich
wohl im allerletzten Moment gekommen.« Dann schlug seine
Stimme um, und er schrie: »Wacht endlich auf! Ihr wißt
doch selbst nicht, was ihr hier tut! Damiander hat euren Willen
gebrochen, euch mit einem Bann belegt.«
Halan schüttelte den Kopf mit soviel Würde, wie er nur
mit einem Laken bekleidet aufbringen konnte. »Niemand bricht
den Willen von Korisanders Kindern.«
Janek lachte höhnisch. »Das glaubt auch nur ihr! Und
was ist dann mit seiner Krone?« Er deutete auf Anders.
»Falls ihr tatsächlich meinen solltet, daß sie
hier ist, unternehmt ihr nicht gerade viel, um sie zu
finden.«
»Wir brauchen sie jetzt nicht mehr!« sagte Anders
triumphierend. »Wir haben jetzt etwas viel
Besseres.«
Doch Halan schwieg. Er wollte nicht nachdenken müssen, nicht
zugeben, daß Janek Recht hatte. Aber verglichen mit allem
anderen erschien die Krone so… bedeutungslos.
Das Denken blieb Halan erspart, als Damiander in der Tür
erschien. »Gibt es Probleme?«
Janek drehte sich langsam um, und es fehlte nicht viel, daß
Blitze aus seinen Augen geschlagen hätten. »Du wirst die
Jungen gehen lassen«, sagte er mit einem Grollen in der
Stimme.
Damiander lächelte, und Halans Sorgen verflogen, als sein
Herz warm und leicht wurde. Wie lange hatte er auf dieses
Lächeln gewartet? »Selbstverständlich werde ich
das«, sagte der Engel. »Ich halte niemanden
zurück. Meine Tür steht offen, für alle, die kommen,
und für alle, die gehen wollen.« Bei diesen Worten
nickte er Janek spöttisch zu.
Doch dieser schüttelte den Kopf. »Du läßt
sie nicht gehen! Du hast ihnen den Willen zu gehen genommen, damit
sie nicht merken, daß sie deine Gefangenen sind!«
Damiander lachte, aber jeder konnte erkennen, daß Wut darin
lag, und Halan sah, wie sich Anders’ Haare zu sträuben
begannen. »Ich hindere niemanden, Hauptmann. Du kannst
gehen, wenn du willst und wenn du kein anderes Interesse hast, als
Streit in meinem Hause zu sähen. Du enttäuschst mich. Wir
hatten gestern so einen schönen Abend - ich hätte nicht
gedacht, daß so der Dank für meine Gastfreundschaft
aussieht.«
»Gastfreundschaft?« schrie Janek. Seine Stimme wurde
nicht höher dabei, nur lauter - es war eine Stimme, vor der
man Angst haben mußte. »Ich habe dich nicht um deine
Gastfreundschaft gebeten! Du hast sie mir aufgezwungen!«
Damiander lachte weiter, versuchte, die Oberhand zu behalten,
indem er seinen Gegner nicht ernst nahm, doch man sah, daß es
ihm nicht sehr leicht fiel. »Dafür, daß ich dich
gezwungen habe, hast du aber gestern gut getrunken, mein Freund.
Kannst du nicht verstehen, daß es sich meine Gäste hier
ein paar Tage gut gehen lassen? Ich verlange nichts dafür.
Dieses Haus ist mein Geschenk.«
»Sie sind nur hier, weil sie nicht sehen wollen, was du in
Wirklichkeit bist!« rief Janek, so laut, als wolle er nicht
nur Halan und Anders, sondern auch alle anderen Gäste
Damianders aufrütteln.
»Und?« fragte Damiander. »Du willst nicht einmal
sehen, was du selbst bist. Deine Zeit ist vorbei. Ich nenne dich
Hauptmann, aus einer gewissen Hochachtung heraus vor dem, was du
einmal warst - auch wenn du das nicht verdienst - aber wer
außer mir weiß noch davon?«
»Ich weiß es«, flüsterte Janek. Sein
Gesicht war bleich geworden, und seine Augen noch heller.
»Und die beiden Jungen? Soll ich es ihnen sagen?«
Janek wandte seinen Blick ab. »Wenn du es nötig hast,
mich zu erpressen, tust du mir leid, Damiander.«
Damiander lachte nicht mehr, obwohl er jetzt wußte,
daß er gewonnen hatte. »Nein. Du tust mir leid.«
Er ging auf Janek zu, der am Türrahmen stand und zitterte, und
legte seinen Arm um ihn. »Du bist ein armseliger Trunkenbold.
Du hast mich nötiger als alle anderen. Aber ich verzeihe dir.
Mein Haus steht dir offen.«
»Nein!« schrie Janek und stieß ihn fort.
»Ich habe dich nicht nötig! Wenn ich ein Säufer
bin, wie du meinst - ist es dann nicht bemerkenswert, daß ich
das auch ohne dich geschafft habe? Die Wahrheit ist doch - alles,
was du uns hier bieten kannst, kann man auch anderswo finden -
Wein, Frauen, was auch immer. Wenn ich den Rausch suche, finde ich
ihn, egal wo ich bin. Und das -« er wandte sich abrupt an
Halan und Alexander - »gilt auch für euch.«
Halan konnte ihm nicht in die Augen sehen, er drehte den Kopf
zur
Wand, wo er allen Blicken ausweichen konnte - einer war so schlimm
wie der andere. Ihm wurde kalt, und in seinen Ohren rauschte es. Er
wußte, was jetzt kam. Die Gedanken ließen sich nicht
mehr zurückdrängen. »Anders«, flüsterte
er.
Aber Anders sagte nichts, nahm ihn nicht in den Arm, gab ihm nicht
die Gewißheit zurück, am richtigen Ort zu sein. Ohne
sich umzublicken, suchte Halan tastend mit seinen Fingern
Anders’ Hand, und fand sie, doch auch sie war kalt.
In seinen Ohren klang Damianders süße Stimme.
»Laßt euch von ihm keine Angst einjagen. Eure Seelen
werden die richtige Entscheidung treffen. Ihr habt viel zu lang auf
euren Verstand gehört.«
Was tun wir hier? flüsterte Halans Verstand.
Anders, was tun wir hier? Was ist aus uns geworden?
Halan ließ Anders nicht los, als er zu Janek
hinübertrat; er zog ihn mit sich, denn er fühlte
Anders’ Unsicherheit, und er wußte, wie schwer es war,
nicht auf Damiander zu hören…
Dann blickte er den Engel des Rausches an, doch nicht in seine
Augen. Und schüttelte den Kopf.
Von allen schrecklichen Tagen in Halans Leben war dies der
schrecklichste. Zumindest für den Moment. Es gab nichts in den
vergangenen drei Tagen, für das Halan sich nicht schämte
wie nie zuvor. Er fixierte beim Reiten einen Punkt zwischen den
Ohren seines Pferdes, und mit dem Wind, der ihm entgegenschlug,
fühlte er das Brennen in seinem Gesicht.
Aber das Schlimmste waren nicht die grausam klaren Erinnerungen an
das, was er getan hatte, sondern die Anwesenheit Janeks. Wäre
der Landstreicher nicht gewesen - Halan hätte keinen Gedanken
an das Geschehene mehr zugelassen. Doch allein das Wissen darum,
daß der Mann mit ihnen ritt - Halan blickte niemals in seine
Richtung, doch man konnte ihn spüren - genügte, um Halan
mit Gefühlen von Schuld und Selbstverachtung zu
überschwemmen. Und mit Haß - auf Janek, auf sich selbst,
aber vor allem, und das war das Schlimmste, auf Anders.
Das Reiten war schrecklich. Zu Fuß, sogar in einer Kutsche,
hätte Halan seinen Körper ignorieren können,
vergessen, daß es ihn gab. Aber auf dem Pferderücken
mußte Halan ihn spüren, sich entweder
durchschütteln lassen oder dem Auf und Ab der Trabbewegung
folgen - und eines wie das andere war entsetzlich.
»Es tut mir leid, euer Brüten unterbrechen zu
müssen«, riß ihn Janeks Stimme aus seinen
Gedanken, und einen Moment lang war Halan sogar dankbar dafür.
»Aber ich denke, wir sollten eine Rast machen. Ihr habt den
ganzen Tag noch nichts gegessen.«
»Ich habe keinen Hunger«, murmelte Anders tonlos.
Halan sagte nichts.
»Ich habe nicht gesagt, daß ihr Hunger habt«,
erwiderte Janek. In seiner Stimme lag ein ruhiger Triumph, der
Halan mißfiel. »Ich habe nur gesagt, daß ihr den
ganzen Tag noch nichts gegessen habt.« Er lachte leise.
»Ich appelliere an eure Vernunft, nicht an eure
Mägen.«
Er trieb sein Pferd an den Rand, ein freundliches Fleckchen Gras
zwischen ein paar Bäumen, und saß vorsichtig ab. Am
liebsten hätte Halan diesen Moment genützt, um
loszugaloppieren, ihn zurückzulassen, denn bis Janek mit
seinem lahmen Fuß wieder auf dem Pferd war, konnten sie
längst einen guten Vorsprung haben. Aber sein Verstand sagte
ihm, daß dies vollkommen sinnlos war. Was immer Janek bewogen
hatte, ihn von Koristan aus bis zu diesem Haus - Halan ließ
nicht zu, daß seine Gedanken den Namen des… Wirtes
formten - zu folgen - es war ihm auf jeden Fall gelungen.
Halan warf Anders einen schnellen, scheuen Blick zu. Er wollte ihn
nicht ansehen, aber jemanden, der ihm die Entscheidung abnahm. Doch
er hatte Anders’ Gabe vergessen. Ihre Augen trafen
aufeinander, und Halan spürte, wie Anders direkt in ihn
hineingriff, all seine schlechtkaschierten Gefühle erkannte,
all den Haß. Dennoch - oder vielleicht deswegen - war es
Anders, der den Blick abwandte.
»Rasten wir«, sagte er leise. »Es ändert
ohnehin nichts mehr.«
Sie gesellten sich zu Janek, der sich ins Gras gesetzt hatte und
dabei war, einen Lederranzen auszupacken. Er nickte ihnen
freundlich zu und reichte jedem von ihnen ein dürres
verschrumpeltes Etwas, das ein Fetzen Leder ebenso sein konnte wie
eine Wurzel.
»Dörrfleisch«, sagte er. »Ihr
müßt es kauen, bis euch der Kiefer abfällt, und
viel Wasser dazu trinken.« Bestimmt gab es keine bessere
Nahrung für einen Wanderer, aber man mußte hungrig sein,
um es zu essen, und Halan ging wirklich aller Appetit ab. Er
biß ein Eckchen ab und kaute halbherzig darauf herum, weniger
aus der Vernunft heraus, essen zu müssen, als mehr um Janek
nicht zu verärgern.
Der Mann nahm eine große Lederflasche, die er entkorkte und
an seine Lippen setzte. Nachdem er getrunken hatte, reichte er sie
an Halan weiter.
Halan erstarrte. Das war genau wie bei ihrer Ankunft in diesem
Haus… Er schauderte. Er fühlte, daß alle ihn
anstarrten.
»Das ist nur Wasser«, sagte Janek. »Es ist
lauwarm und abgestanden und schmeckt nach altem Leder, aber es ist
gut gegen Durst.«
Halan schüttelte den Kopf. Wo war seine Würde? Verloren,
aber es gelang ihm, eine Erinnerung daran in seinen Tonfall zu
zwingen. »Ich kann das nicht trinken. Eure Lippen haben es
berührt.«
Er mußte Janek ins Gesicht blicken, als er das sagte.
Engelsgeborene schauten niemals zu Boden… Janeks Augen
verengten sich.
»Nun«, sagte er gedehnt. »Immerhin haben
meine Lippen nur den Wassersack berührt.«
Anders warf sich auf ihn, mit blinder Wut im Gesicht und geballten
Fäusten. Im nächsten Moment lag er neben Janek auf dem
Rücken - es ging zu schnell, als daß Halan die Situation
begreifen konnte - er bemühte sich, noch nicht einmal zu
verstehen, wie Janeks Worte Halan in solchen Zorn versetzen
konnten.
»Nein«, sagte Janek schneidend. »Leg dich nicht
mit mir an! Wenn ich im Leben eines gelernt habe, dann Kämpfen
- du hast keine Chance gegen mich. Euch ist danach, euch
gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, also tut das endlich,
oder laßt es bleiben, aber reagiert euch nicht an mir
ab.«
Er nahm seinen Gehstock, stemmte sich langsam vom Boden hoch und
humpelte zu den Pferden hinüber, wo er sich an den
Sätteln zu schaffen machte. Anders machte ebenfalls Anstalten,
aufzustehen, doch Halan streckte eine Hand aus, hätte ihn
beinahe berührt, und ließ es doch sein, sagte nur:
»Er will uns nur eine Möglichkeit geben, miteinander
-« Er brach ab.
Anders nickte. »Ich weiß. Darum will ich ja
auch…« Er schüttelte den Kopf und blieb sitzen.
Nach einer Weile, in der keiner von ihnen etwas sagte oder den
anderen auch nur ansah, meinte er leise: »Ich würde ja
mit dir reden, Halan. Aber du willst nicht.«
Halan schwieg. Janek wartete nur darauf, daß sie sich
stritten, und den Gefallen würde er ihm ganz sicher nicht tun.
Er achtete einfach nicht auf Anders, fragte sich nicht, ob sein
Tonfall nun versöhnlich oder provokant sein sollte…
»Aber was sollen wir auch groß reden?« fuhr
Anders fort. »Schließlich hat sich nichts zwischen uns
geändert, im Gegenteil… Du mußt nicht glauben,
daß es ein Fehler war, so lange bei Damiander zu
bleiben… Vielleicht sind wir der Krone nicht näher
gekommen dabei, aber… wann hatten wir schon einmal die
Gelegenheit…« während er sprach, schob er sich
langsam auf Halan zu, beugte seinen Oberkörper vor, und
wäre Halan nicht zurückgewichen, Anders hätte seinen
Kopf an Halans Schulter legen können.
Bilder tauchten in Halan auf, von dem Mann, dessen Namen Anders
ausgesprochen hatte, sein lächelndes Gesicht, seine
Augen… Halan, der ihm widersteht, und Anders, der sich ihm
hingibt, nur um als nächstes Halan mit sich zu reißen in
diesen Abgrund aus Rausch und Verlangen…
»Rühr mich nicht an!« schrie er.
Anders lachte bitter. »Ich wußte, daß du das
sagen würdest, Halan. Sogar Janek wußte das. Er ist ein
kluger Mann, Halan, klüger als du. Er hatte Recht - alles, was
wir bei Damiander machen konnten, können wir auch
anderswo.« Er legte eine Hand auf Halans und lachte auf, als
Halans seine darunter wegzog. »Aber du nicht, Halan. Das ist
das Problem. Ich wäre niemals drei Tage geblieben, wenn ich
nicht gewußt hätte, daß dies der einzige Ort auf
der Welt ist, wo du lieben kannst.« Seine Stimme wurde
härter, und zugleich brüchiger. »Und sieh dich an:
Kaum sind wir nicht mehr dort, kannst du mich auch nicht mehr
lieben.«
Danach schwieg er, und nach einer Weile, in der auch Halan nichts
erwiderte - aber was hätte er auch dazu sagen sollen? - griff
er in das Gras neben sich und hob einen scharfkantigen Flintstein
auf, drehte ihn zwischen seinen Fingern und schlug ihn dann mit
unvermittelter Wucht in seine linke Hand. Er zuckte nicht einmal
zusammen, als er das tat, und es trat kein Schmerz in sein Gesicht,
nur ein zufriedenes Lächeln.
Ihm zusehen zu müssen, tat Halan in der Seele weh, aber er
wußte, worauf Anders aus war, daß er nicht wirklich
sich selbst verletzen wollte, sondern Halan zum eingreifen zwingen.
Halan ließ sich nicht erpressen. Nicht schon wieder.
Anders blutende Hand zitterte, als sie den Stein aus der rechten
übernahm, und ihr fehlte die Kraft, ihn mit der gleichen
Härte in die rechte Handfläche zu treiben. Aber er
schloß die Finger um den Stein wie um eine Waffe und
riß ihn über die Haut, so lange, bis das Blut zwischen
seinen Fingern hervorquoll. Halan sah ihm reglos zu und
unterdrückte alle Gefühle, bis auf seine Abscheu, die
Anders ruhig spüren durfte.
Schließlich ließ Anders den blutverschmierten Stein
ins Gras fallen und streckte Halan seine Hände hin.
»Da!« stieß er atemlos hervor. »Du
weißt, was ich tue, wenn es niemanden gibt, der mich
liebt.«
Halan unterdrückte auch seine Abscheu. Jedes Gefühl war
im Moment zuviel für Anders. »Ja«, sagte er kalt.
»Wenn du niemand anderen hast, den du verletzen kannst,
mußt du es eben dir selbst antun.«
Alexander zitterte, doch er ließ seine Hände nicht
sinken, und das Blut füllte seine Handflächen.
»Die Wahrheit ist«, sagte Halan und wunderte sich, wie
leicht ihm das auf einmal fiel, und fing dennoch noch einmal von
vorne an: »Die Wahrheit, Anders, ist, daß du nicht
lieben kannst. Dich selbst nicht, und auch keinen anderen. Das
einzige, was du empfinden kannst, sind Schmerzen, und wenn du nicht
die Gefühle anderer Leute trinken kannst -«
»Das ist nicht wahr!« schrie Anders. »Ich kann
lieben! Du bist derjenige, der -«
Aber Halan schnitt ihm das Wort ab. »Laß Janek deine
Hände verbinden. Er war Soldat, er wird wissen, wie das
geht.« In Gedanken fügte er hinzu, aber es auszusprechen
ging ihm dann doch zu weit: Aber frag ihn nicht, ob er an meiner
Stelle mit dir schlafen will.
Anders starrte ihn an, seine Augen bebten, aber sonst rührte
er sich nicht, und auch die Hände ließ er nicht sinken.
»Du weißt nicht, wovon du redest!« stieß er
hervor. »Du bist derjenige, der nicht lieben kann! Ich kann
lieben! Ich habe Koris geliebt! Weißt du, wie es sich
anfühlt, daß er tot ist?«
»Er war mein Vater«, sagte Halan beschwichtigend,
»aber natürlich weiß ich, daß er dir
nähergestanden hat.«
»Du wirst das nie begreifen!« schrie Anders.
»Wir haben uns geliebt, verstehst du? Wir haben miteinander
geschlafen, die letzten vier Jahre lang! Und jetzt ist er
tot…« Anders sprang auf, bevor Halan auch seine
Gedanken sortieren oder auch nur reagieren konnte, und rannte in
den Wald hinein. »Aber du wirst das niemals verstehen
können«, schrie er noch, »weil Liebe viel zu
groß für dich ist! Und du wirst für mich niemals so
sein wie Koris!«
Dann war es still. Halan machte keine Anstalten, ihm zu
folgen.
Er war fassungslos.
Endlich fiel ihm Janek wieder ein… Halan hatte noch nie im
Leben daran gedacht, einen Menschen zu töten - aber wenn Janek
gehört hatte, was Anders schrie - und er konnte es wirklich
kaum überhört haben! - dann… war er eine Gefahr
für Korisanders Haus. Dann mußte Halan ihn
umbringen.
Er war halb gelähmt vor Angst, als er seine Augen den Pferden
zuwandte. Da standen sie, alle drei, mit den Zügeln an eine
Birke gebunden. Doch sie waren allein. Janek war fort.
Halan wußte, daß er aufstand und zu den Pferden
hinüberging, ebenso wie er wußte, daß er Nachts
schlief - er tat es, aber er nahm nichts davon wahr. Mechanisch
begann er, Janeks Pferd, einem alten, ausgemergelten Fuchs, die
Stirn zu kraulen. Er konnte nicht sagen, warum er das tat,
außer, daß er noch nie ein Tier gestreichelt hatte -
aber es machte ihn ruhiger, tötete alles in ihm ab. Er
wußte noch immer nicht, was er denken sollte, aber er
versuchte es auch nicht mehr.
Das Pferd klappte die Ohren nach vorn und beschnupperte Halan
interessiert. Sein Atem war warm. Einen Moment lang erstarrte die
Zeit. Dann wußte Halan, daß Janek neben ihm stand. Er
drehte sich um.
»Das ist ein hübsches Pferd«, sagte er.
Janek schüttelte den Kopf. »Das ist eine
erbärmliche klapprige alte Schindmähre. Sie ist halb
blind und nicht einmal mehr auf dem Feld zu gebrauchen, aber ich
brauchte ein Pferd. Soll ich dir erzählen, wie ich an sie
gekommen bin?«
Halan nickte, dankbar für die Ablenkung.
Janek verzog das Gesicht. »Und du glaubst tatsächlich,
ich unterhalte mich mit dir über Pferde, anstatt zu fragen, wo
Anders ist?«
Halan antwortete nicht, suchte nur verzweifelt in Janeks Augen
etwas, das verriet, wieviel der Mann wußte.
»Warum seid Ihr uns gefolgt?« fragte er
schließlich. »Ihr sagtet doch, Eure Frau und Eure
Kinder -«
Janek schüttelte den Kopf. »Wo ist Anders?« Sehr
langsam, sehr leise, sehr eindringlich. »Ich hatte gesagt,
schlagt euch gegenseitig die Köpfe ein - aber selbst wenn du
das getan hast, konntest du ihn in der kurzen Zeit unmöglich
verscharren. Also - wo ist er?«
Halan starrte ihn an. Wieviel hatte er gehört?
»Kein Wort, verdammt!« rief Janek, als könne er
Halans Gedanken hören. »Glaubst du, ich belausche euch?
Als ihr angefangen habt herumzubrüllen, daß bald die
Pferde scheu wurden, bin ich mir die Beine vertreten gegangen. Ich
nehme einfach an, es ging um Dinge, die mich nicht angehen - aber
ihr wußtest schließlich, daß ich in der Nähe
war. Also mach mir jetzt keinen Vorwurf.«
Halan holte tief Luft. »Janek - was habt Ihr
gehört?«
Janek klopfte der Fuchsstute auf die Flanke. »Wenn ich sage,
nichts, wirst du mir nicht glauben, denn man müßte schon
sehr dumm sein, um sich eine solche Gelegenheit entgehen zu lassen.
Wenn ich sage, alles, wirst du den ersten besten Stein aufheben und
mich erschlagen wollen, bevor ich es herumerzählen kann. Aber
wenn ich dir sage, es war in einer Lautstärke, die ein Tauber
nur schwer hätte überhören können, aber ich
habe kein Wort verstanden - wirst du mir dann glauben?«
Halan schwieg. Hatten sie - hatte Anders Elomond gesprochen? Er
wollte sich die Worte nicht in den Kopf zurückrufen
müssen, nur um die Sprache zu erkennen… Er wußte
es nicht. Schließlich sagte er: »Ihr habt Recht.«
Bestimmt hatten sie Elomond gesprochen. Sie sprachen so oft Elomond
untereinander.
Damiander hat auch Elomond gesprochen…
»So«, sagte Janek. »Und nachdem das nun soweit
geklärt wäre - wo ist Anders?«
Es gelang Halan, seine Gedanken von Damiander loszueisen.
»Er ist in den Wald hinein!« brach es aus ihm hervor.
»Er hat - wir haben uns gestritten, und dann ist er
weggerannt, in den Wald hinein.« Wieso nur fühlte er
sich, als würde er lügen?
»Nun gut«, sagte Janek ruhig. »Viel anderes war
auch nicht mehr übrig. Müssen wir ihn suchen gehen, oder
meinst du, er kommt allein wieder zurück?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Halan leise. Es
gab so vieles, um das er sich an diesem Tag gesorgt hatte - ihren
Ruf, ihre Ehre, ihre Würde - aber erst jetzt begann er, sich
um Anders zu sorgen.
»Dann geh ihn suchen!« Janek wußte, daß
sie Engelsgeborene waren, und doch gab er ihnen Befehle…
»Ich bin mit diesem Fuß nicht besonders
waldtauglich.«
Von einem Moment auf den anderen, so als hätte jemand einen
Hebel umgelegt, funktionierte Halans Verstand wieder so, wie er
sollte. Schlagartig erkannte er, wie wichtig es war, Anders zu
finden, bevor Janek ihn zu Gesicht bekam - wenn der Anders’
zerschlagene Hände sah, würde er sofort ahnen, wer
das getan hatte.
»Ich mache mich sofort auf die Suche«, sagte Halan.
»Einen Moment noch.« Mit einer Ruhe, die ihn selbst
verwunderte, ging Halan zu Anders’ Pferd hinüber und
öffnete die Gepäcktasche. Damiander hatte ihnen all ihrer
Kleider zurückgegeben - auch die Handschuhe, die Halan beinahe
fürchten gelernt hatte, waren dabei. Nur wo?
»Was suchst du?« fragte Janek.
»Ein Taschentuch«, erwiderte Halan mit so
gleichgültigen Tonfall, daß Janek nicht weiter fragte
und auch nicht auf die Idee kam, Halan selbst ein Tuch anzubieten.
Wahrscheinlich hatte er die Lüge durchschaut.
Aber das war Halan gleich. Nicht darüber reden war wichtiger
als nicht wissen… Endlich hatte er die Handschuhe gefunden,
und auch ein frisches Taschentuch, in das er die Handschuhe rasch
einschlug. Er verzichtete darauf, das Tuch auch noch erklärend
hochzuhalten - es gab zu viele Möglichkeiten, seine
Glaubwürdigkeit zu verspielen. Aber als er auf den Waldrand
zuging - langsam, denn es durfte keinen Grund geben, sich Sorgen zu
machen - tupfte er sich beiläufig mit dem Stoff den Mund ab.
Schließlich hatte er gerade gegessen, und er bedauerte es,
Janeks Wasser ausgeschlagen zu haben. Sein Mund war immer noch
erfüllt mit dem salzigen Fleischgeschmack.
Der Wald war dämmrig und kühl der Boden seltsam weich
unter Halans Füßen. Wälder waren Halan unangenehm,
zu fremd, zu wenig zu begreifen. Trotzdem sprach er ein paar
bittende Worte an Kaliander, den Engel des Waldes. Er betete
niemals zu den anderen Elomaran - selbstverständlich nicht -
aber er zollte ihnen Tribut, wenn er sich in ihrem Gebiet
aufhielt.
Erst dann - und als er hoffte, außerhalb von Janeks
Hörweite zu sein - getraute sich Halan, leise nach Anders zu
rufen.
»Bitte, komm zurück! Ich weiß, daß du nicht
weit weggelaufen bist! Komm, zeig dich!« Dann schwieg er
still und lauschte in den Wald hinein, horchte nach Anders Atmen,
vielleicht nach einem Schluchzen, aber der Wald war zu laut, es gab
zu viele Tiere und Vögel, und wo sie nicht waren, da rauschten
die Bäume im Wind.
Halan irrte ziellos umher, machte sich keine Gedanken, daß
er sich verlaufen könnte - er konnte diesen Wald nicht
ausstehen, soviel stand fest, und er hoffte, daß ihre Reise
in Tayellin ein Ende fand, daß sie niemals nach Indiradin
reisen mußten…
Es gab zu viele Bäume, aber Halan konnte immer noch sehen, wo
die Straße verlief - der einzige Ort, wo es etwas Sonnenlicht
bis zum Boden schaffte. Und kein Alexander!
Sogar seine eigenen Schritte waren zu laut. Halan setzte sich hin,
hörte auf seinen eigenen Atem, bis er ihn nicht mehr wahrnahm,
dann nahm er die Geräusche des Waldes auf. Es kam ihm sehr
langsam vor, und er wußte nicht, ob es funktionierte, aber
seine scharfen Sinne waren alles, was er im Moment hatte, und er
wollte alle falschen Laute ausschließen, alle, die nicht von
Anders stammten…
Ein Rascheln hinter ihm, Schritte. »Halan…«
Halan nickte und blickte auf. Dort stand Anders, und er sah so
kläglich aus wie in der Nacht seit seiner Krönung nicht
mehr. Sein Gesicht war bleich und verschmiert, als ob er geweint
hatte. Die Arme ließ er hängen, seine Hände waren
fast vollständig bedeckt mit Blut und Schmutz. Kälte
griff nach Halan. Aber er lächelte.
»Ich habe mir gewünscht, du wärst tot«,
flüsterte Anders. »Ich habe mir gewünscht, du
würdest mich suchen kommen. Warum hast du mir das
angetan?«
Es war so viel Anklage in Anders’ Augen, soviel
Angst… Wut schäumte in Halan auf, doch er verbarg sie -
es war Wut auf den Mann, von dem Halan bis dahin immer, wenn auch
nur mit Widerwillen, als seinem Vater gedacht hatte, auf einen
Mann, der mit seinem zwölfjährigen Bruder ins Bett ging
und ihm sagte, das sei Liebe. Halan fühlte Abscheu und Ekel
und den nie gespürten Drang sich zu übergeben. Er konnte
nicht anders, als auf diese blutverkrusteten Hände zu starren.
Er wollte den Mann verdammen, der daran schuldig war, und er
wußte, wenn er das tat, würde er statt dessen Anders
verlieren.
Immer hatte er sein menschliches Erbe gehaßt, weil es ihn
schwach und verletzlich machte. Nun verfluchte er das Blut der
Engel. In diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, ein
Bastard zu sein…
Doch nichts davon kam aus seinem Herz, oder über seine
Lippen. Er legte nur die Armen um den Jungen und drückte ihn
an sich.
»Ich liebe dich«, flüsterte Anders atemlos.
»Ich liebe dich so sehr! Wenn ich dich fragen würde, ob
du mit mir schlafen willst, jetzt und hier, auf dem Waldboden, was
würdest du antworten?«
Halan fror. Er kannte seine Antwort, doch er ahnte, welche Antwort
der verstorbene König gegeben hätte, und er wußte,
daß auch Anders das wußte. Mit so viel Wärme, wie
er noch aufbringen konnte, drückte er Anders noch enger an
sich, strich ihm über das Haar, das Gesicht, den
Rücken.
»Ich liebe dich auch«, sagte er sanft. »Ich
liebe dich sehr. Aber meine Antwort würde Nein lauten.«
Er hielt Anders fest, damit dieser sich nicht losreißen
konnte, um ihm die Worte ins Gesicht zu speien: Koris hätte
es gar nicht mehr nötig gehabt zu antworten.
Der Satz fiel nicht, aber er lag in der Luft. Halan zog
Anders’ Kopf gegen seinen, schmiegte seinen Mund gegen
Anders’ Ohrmuschel und wisperte: »Wenn du mich wirklich
liebst - wenn es wirklich ich ist, den du liebst - dann sag es
nicht.«
Anders’ Herz war leicht zu brechen, nicht aber sein
Widerstand. Er rührte den Kopf nicht, und seine Worte klangen
gedämpft durch Halans steifen Kragen: »Warum willst du
denn nicht? Wir könnten uns beweisen, wie sehr wir einander
lieben.«
»Ich weiß es auch so«, erwiderte Halan und
hoffte, daß es die richtige Antwort war. »Aber ich
hasse diesen Wald, und bei den Pferden steht Janek und kommt uns
bald selbst suchen, wenn wir nicht schnell wieder da sind, und
deine Hände…«
»Ich werde mir wieder die Handschuhe anziehen«,
murmelte Anders.
»Ich habe sie dabei«, sagte Halan. »Setz dich
hin.«
Er ließ den Jungen los, der sofort zu taumeln anfing, bis
Halan ihn mit Nachdruck hinsetzte. Es gefiel Halan gar nicht.
Wieviel Blut hatte Anders verloren?
»Wenn es weh tut, beiß mich!« sagte er.
»Schrei nicht - Janek kann es hören, und er braucht
nicht zu wissen, was du für Dummheiten machst.« Halan
wußte, daß er gerade vielleicht die noch
größere Dummheit beging - Anders’ Hände sahen
aus, als sollte sich am besten ein Heiler darum kümmern, und
wenn sie diese verdreckten Wunden nur unter Handschuhen
versteckten, konnten sie sich entzünden… »Wenn
sie bis Tayellin nicht besser geworden sind, mußt du damit
zum Heiler.«
Er nahm das Taschentuch - gut, es mitgebracht zu haben -,
zögerte einen Moment, bevor er draufspuckte und vorsichtig
begann, den gröbsten Schmutz abzuwaschen. Anders schrie nicht,
aber er biß die Zähne aufeinander, und jedesmal, wenn
Halan die offenen Stellen berührte, zuckte er
schmerzerfüllt zusammen. Die Wunden gingen tief ins Fleisch,
vor allem an der linken Hand, die schon leicht geschwollen war und
sich zu warm anfühlte. Die Narben von dem Kampf mit den
Schwänen waren wieder aufgerissen, und es gab wenig, das Halan
tun konnte - außer, die braunen Humusklümpchen nur noch
tiefer hineinreiben, und er wußte, daß er damit alles
schlimmer machte. Er schüttelte den Kopf.
»Du mußt es bis heute Abend aushalten. Dann bitte ich
den Wirt um warmes Wasser, und ich kann dir die Wunden richtig
auswaschen. Hältst du das durch?«
Anders lachte gezwungen. »Natürlich! Weißt du,
ich bin so sehr daran gewöhnt, daß meine Hände
kaputt sind…«
Halan wurde bei diesen Worten beinahe schlecht, weil er
wußte, daß sie nur zu sehr stimmten. Schnell zog er
Anders die Handschuhe über und warf das schmutzige Tuch fort.
Dann gingen sie zu Janek zurück.
Anders hielt sich tapfer. Während sie ritten, spähte
Halan immer wieder zu ihm hinüber, doch der Junge ließ
sich seine Schmerzen nicht anmerken. Halan konnte sie sehen - er
kannte Anders seit dem Tag seiner Geburt, und für ihn verriet
sich Anders in vielen Kleinigkeiten: Sein Gesicht war sonst niemals
so starr und gleichgültig, und er ritt auch sonst niemals nur
mit den Beinen - Anders hielt die Zügel natürlich in
Händen, aber gerade so, daß sie nicht herunterfielen: Er
ließ sie lose über die Daumen laufen, und die verletzten
Handflächen kehrte er zu den Seiten. Aber es gelang ihn, den
Hengst mit den Schenkeln zu dirigieren, und sicher auch nur, weil
die beiden so vollkommen aufeinander eingespielt waren. Halan
wußte, daß Anders starke Schmerzen haben mußte,
aber falls Janek das auch erkannt hatte, so erwähnte er es
doch mit keinem Wort.
Irgendwann kam der Wald endlich zu einem Ende und wich
zivilisiertem Land.
»Ich nehme an, ihr seid auf dem Weg nach Tayellin?«
fragte Janek.
Anders nickte nur - wahrscheinlich hätte seine Stimme zuviel
von ihm verraten - und so sagte Halan rasch: »Das
stimmt.«
Janek durfte nicht versuchen, eine Unterhaltung mit Anders zu
beginnen. Aber er ging auch sofort auf die Ablenkung ein.
»Wir müßten in drei oder vier Tagen über die
Grenze kommen - wenn sie uns lassen, heißt das, aber ich
wüßte nicht, warum es da Probleme geben sollte. Danach
sind es noch mal ein paar Tage - je nachdem, wie schnell wir
vorankommen.« Der Seitenblick, den er Anders zuwarf, war eine
Spur zu scharf.
»Wart Ihr schon einmal in Tayellin?« Halans Gedanken
waren viel zu sehr bei Anders’ Händen, als daß er
sich wirklich für Janeks Leben, oder Tolimanders Stadt,
interessiert hätte, aber er mußte den Mann vom Denken
abhalten.
Janek lachte. »Mein lieber Junge, ich bin seit zwölf
Jahren Söldner. Ich bin schon in den allermeisten Städten
gewesen.«
»Und Tayellin ist schön?« fragte Halan
weiter.
»Wenn du dir Mühe gibst, fällt dir vielleicht eine
noch oberflächlichere Frage ein.«
Einen Moment lang war Halan sprachlos. »Entschuldigt
bitte«, sagte er dann eisig. »Aber ich dachte, ihr
wolltet ein Gespräch mit mir beginnen - ein Irrglauben,
offenbar.«
»Unter einem Gespräch verstehe ich etwas
Sinnvolles«, erwiderte Janek.
Halan war daran gewöhnt, innerhalb seiner Familie den
untersten Platz in der Rangfolge innezuhaben, und sich
gegenüber Anders durchsetzen zu müssen, kostete ihn immer
wieder Überwindung - er hätte niemals die Position seines
Onkels angefochten. Aber wenn er noch länger zuließ,
daß Janek so mit ihm redete, war er auch bald der niederste
dieser Gruppe… Er straffte sich.
»Ich verbiete Euch diesen Ton«, sagte er. »Ich
bin bereit, Euch zu respektieren, sogar zu akzeptieren, daß
Ihr uns begleitet - auch wenn Ihr nicht bereit scheint, den Grund
hierfür zu nennen - aber ich dulde nicht die Art, wie Ihr mich
zu behandeln versucht. Ihr habt mich und meinen Onkel in einer
für uns höchst peinlichen Situation angetroffen, und
für Eure Hilfe danke ich Euch. Aber da Ihr uns nicht sagt, wer
Ihr seid, aber durchaus wißt, wer wir sind, verlange ich,
daß Ihr uns dementsprechend behandelt.«
Janek legte den Kopf in den Nacken, und Halan erwartete
höhnisches schallendes Lachen, doch das kam nicht. »Ich
war das Meinung, das täte ich. Sobald ihr anfangt, euch wie
die Erben des Engels der Weisheit zu benehmen, werde ich euch auch
so behandeln. Bis dahin sehe ich darüber hinweg, daß du
der Sohn meines ärgsten Feindes bist.«
Noch bis zum vergangenen Tag hätte Halan - bei allem
Haß auf den König - den Verstorbenen verteidigt. Nun
fühlte er statt dessen eine Verbundenheit zu Janek, der offen
aussprach, was Halan immer zu verschweigen gezwungen war. In der
Hoffnung, daß Anders ihn nicht hören würde, zischte
er zurück: »Ich bin der Sohn meines ärgsten
Feindes. Alexander ist sein Bruder. Was immer er Euch angetan haben
mag - es gibt keinen Grund, uns die Schuld daran zu geben. Wir sind
bereits bestraft.«
Im nächsten Moment wünschte er sich, es nicht gesagt zu
haben. Er hatte niemals so viel verraten wollen! Halan
schüttelte sich.
»Schon gut«, sagte Janek. »Ich mag auch nicht
darüber reden. Vielleicht heute abend. Die Vergangenheit
läuft nicht weg.« Er lachte leise. »Nur
wir.«
Halan brauchte nicht Anders’ Gabe, um die Bitterkeit in
seiner Stimme zu fühlen. Ein Schauder überlief ihn. Er
wußte jetzt, wer Janek war - und auch, daß er es nicht
sein konnte.
Seltsamerweise fiel es ihm danach leichter, mit Janek zu reiten -
vielleicht, weil es gut es, einen Haß zu teilen. Mehrmals
stand er kurz davor, Anders’ Verletzung zu erwähnen -
aber jedesmal fiel ihm rechtzeitig ein, daß Janek das nichts
anging, daß Halan nur deswegen so viel von sich erzählt
hatte, damit Janek sich schneller verraten würde…
»Ehe wir gleich absteigen«, sagte Janek - nur noch zu
Halan, denn Anders war so in sich vertieft, daß er nichts
mehr sagte, auf nichts mehr achtete als das Reiten - »wieviel
Geld habt ihr noch?«
»Wenn Ihr versuchen solltet, uns zu erpressen -«
»Ich habe es nicht nötig, euch zu erpressen. Ich habe
ein Schwert und kann damit umgehen. Ich könnte euch beide
umbringen und euer Geld und eure Pferde stehlen, wenn es mir darum
ginge. Es freut mich, daß ihr beide so eine hohe Meinung von
mir habt. Aber alles, was ich wissen wollte, ist: Wieviel Geld habt
ihr noch? Ich bin euch lang genug gefolgt, um euren Lebensstil zu
kennen, und ich wüßte gerne: Wie lang noch?«
»Wir haben genug Geld«, erwiderte Halan ausweichend.
Das war etwas, über das er nicht gern nachdachte, und das
Janek nun wirklich nichts anging.
Janek schüttelte den Kopf. »Ich gehe davon aus, du
weißt, was du tust - aber denk daran, selbst wenn ihr die
Krone in Tayellin finden solltet, müßt ihr immer noch
quer durch drei Länder zurück. Und wenn ihr kein Geld
mehr habt, müßt ihr arbeiten oder betteln. Ich habe
nichts, was ich euch abgeben könnte.« Er klopfte seinem
Pferd auf den Hals.
Halan wußte, daß Janek recht hatte. Trotzdem sagte er:
»Wir bezahlen immer nur aus Höflichkeit. In Wirklichkeit
sind die Wirte dankbar, wenn wir sie mit unserer Anwesenheit
beehren.«
»Gnädig«, sagte Janek. »Und doch
funktioniert es bestimmt - in einem Land, in dem man euresgleichen
liebt. Schade nur, daß Loringaril soviel größer
ist als Koristan…«
Halan gab es auf, widersprechen zu wollen. Er verstand Bitterkeit,
konnte selbst bitter sein, doch von anderen war er sie nicht
gewöhnt, und er konnte nichts dagegenhalten.
»Die Wahrheit ist«, flüsterte er, »wir
haben so gut wie kein Geld mehr, aber ich wage es nicht, Anders
damit zu belasten. Er hat genug darunter zu leiden, daß er
kein König werden kann, da soll er wenigstens -«
»- noch einen richtigen Absturz erleben, wenn ihr euch von
einem Tag auf den anderen nicht einmal mehr den Stall leisten
könnt«, fiel ihm Janek ins Wort. »Ihr seit
entsetzlich, einer schlimmer als der andere. Aber ich habe so etwas
vermutet. Laß mich das übernehmen. Anders hat zuviel
Respekt vor mir, als daß er mich terrorisieren würde wie
dich - ich werde mit ihm reden.«
Beide sahen zu Anders hinüber, und dann einander an. Wenn
Janek Anders’ Schmerzen nicht sehen konnte, mußte er
blind sein… Und doch fiel kein Wort darüber.
Als sie endlich den Gasthof erreichten - ein kleines, verwittert
aussehendes Gebäude, bei dem es ein Wunder war, daß
überhaupt noch Menschen darin wohnten - ließ Halan Janek
alles regeln. Er selbst blieb bei Anders, hielt ihn beim Arm, damit
er nicht hinfiel.
»Laß das!« zischte Anders durch
zusammengebissene Zähne. »Du machst mich
lächerlich. Was sollen die Leute denken?«
Niemand war in der Schankstube außer ihnen und dem Wirt,
aber Halan ließ los. Warmes Wasser, ein warmes Bett, eine
Nacht voll Schlaf und Ruhe würden alles wieder ins Lot
bringen.
Aber es gab kein warmes Wasser. Es gab keine warmen Betten. Es gab
einen Schlafsaal, einen einzigen, zwanzig Betten, die allermeisten
davon leer, und in einem von ihnen Halan, und in einem von ihnen
Anders.
Anders zog seine Handschuhe nicht aus, und die dünne Decke
bis an sein Kinn hoch, bevor er schlafen ging. Halan fürchtete
das Schlimmste; er versuchte aufzubleiben und über den Jungen
zu wachen. Doch Anders’ Schlaf schien still und friedlich,
frei von Schmerzen, und endlich konnte sich auch Halan
zurücksinken lassen und zumindest im Halbschlaf den anderen
Tag erwarten.
Es konnte nur noch besser werden.
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2000 - 2015 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.
Kommentare und Diskussionen zu diesem Kapitel
Kommentar verfassen