Ein Pochen, als sei Alexander während der Nacht ein zweites
Herz gewachsen. Er konnte es schlagen hören, es fühlen.
Es war nicht wie Schmerzen. Halan meinte die ganze Zeit, daß
Alexander Schmerzen haben mußte; er sah ihn immer so besorgt
an… Es war schön zu wissen, daß er ihm nicht egal
war, aber Halan irrte.
Alexander verspürte keine Schmerzen mehr. Alexander
spürte gar nichts. Er konnte seine linke Hand nicht mehr
bewegen. Es ging einfach nicht. Halan war klug, und auf gewisse
Weise hatte er Recht: So, wie Alexander seine Hände verletzt
hatte, müßte er nun eigentlich vor Schmerz schreien.
Aber jede Bewegung, auch jeder Versuch einer Bewegung, hätte
dieses Gefühl der Taubheit zerstört, das Alexander
erreicht hatte. Schmerzen waren gut. Schmerzen ließen ihn
wissen, daß er am Leben war.
An diesem Morgen wollte Alexander nicht am Leben sein.
Das Pochen in seiner linken Hand ließ nicht nach. Alexander
hob den Arm und starrte sie im Morgenlicht an. Sie schien zu
pulsieren unter ihrem Handschuh. Etwas Lebendiges, das an etwas
Totem hing. Alexander fühlte das Pochen. Seine Hände
fühlte er nicht.
Im Nachbarbett lag Halan und schlief. Über ihn hinweg konnte
Alexander auf das nächste Bett blicken, in dem Janek lag,
wahrscheinlich auch schlafend, aber Alexander kannte ihn nicht gut
genug, um zu wissen, ob er nicht vielleicht nur so tat als ob. Am
liebsten hätte Alexander sich über Halan gebeugt, um ihn
zu küssen, jetzt, wo er sich nicht wehren konnte…
Aber im Bett hinter Janeks lag noch ein Mann, und dahinter
wahrscheinlich noch einer, und noch einer… der ganze
Giebelraum in diesem Gasthaus war ein einziger Schlafsaal, und die
einzige Möglichkeit, ein Nachtlager zu finden. Was für
ein Unterschied zu den Zimmern bei Damiander…
Alexander schüttelte sich und merkte, daß seine
Zähne aufeinanderschlugen. Dabei ging es ihm beinahe gut, und
kalt war ihm auch nicht.
Aber woher auch immer es kam - es reichte, um Halan zu wecken.
»Anders, ist alles… bist du in Ordnung?«
murmelte er, bevor er auch nur die Augen geöffnet hatte.
»Meine Hände tun noch ein bißchen weh«,
erwiderte Alexander, der Halan viel zu gut kannte: Halan hatte
gestern die Wunden gesehen, und wenn Alexander behauptete, heute
nichts mehr von ihnen zu spüren, hätte das seinen
scharfsinnigen Geliebten nur argwöhnisch gemacht. »Und
sie jucken so.« Jucken war gut. Jucken klang nach
Heilung.
Halan setzte sich auf und blickte Alexander ins Gesicht. »Du
siehst nicht gut aus. Bist du sicher, daß du es
schaffst?«
Alexander lächelte, und es fiel ihm leicht. »Ja«,
sagte er. »Vertrau mir. Bis heute Abend halte ich durch. Dann
können wir sie uns in Ruhe ansehen. Sag Janek
nichts.«
Halan sagte Janek nichts, und auch nicht den hundert anderen
Männern im Schlafsaal. Zu dritt brachen sie auf, als wäre
alles in Ordnung - aber Alexander wurde schwindelig, als er
aufstand, und er mußte sich selbst belügen, um zu
behaupten, daß er kein Fieber hatte. Er verzichtete auf das
Frühstück, sogar auf seine warme Milch, weil er nicht
wußte, mit was er die Schale halten sollte - er hatte Durst,
entsetzlichen Durst, aber ihm fiel nichts anderes ein, als sich
über die Milch zu beugen und zu trinken wie ein Tier, und kein
Fieber, keine Schmerzen der Welt konnten ihn so tief sinken lassen.
Sein Kopf war schwer, wäre fast von selbst auf die Tischplatte
gesackt - aber Alexander riß sich zusammen. Heute konnte er
nichts mehr tun. Heute war es an Farrell, ihn zu retten.
Farrell war klug, er wußte den Weg, er verstand Alexander
besser als jeder andere, besser sogar als Halan, Farrell konnte
Alexanders Gefühle verstehen… Koris hatte ihm damals
Farrell zum Geschenk gemacht, nicht irgend ein Pferd, sondern das
Beste von allen… Erst jetzt begriff Alexander, wieviel von
seinem Bruder, von dem Mann, den er geliebt hatte und immer lieben
würde, in den Augen, in der Seele des Pferdes war… Er
war nicht verloren. Er war gerettet. Um Koris’ Liebe Willen
hatte er geblutet, und Koris würde bei ihm sein, jetzt und
heute, er ließ ihn niemals allein…
Das Glück durchflutete Alexander, als sie in den Morgen
ritten. Er nahm die Umgebung nicht wahr, nicht das kühle,
sonnige Wetter und nicht Halan oder Janek, aber er fühlte die
Liebe in sich pochen, er fühlte sie brennen, und Koris war bei
ihm.
Koris war bei ihm, und Koris hielt ihn fest, Koris trug ihn, und
Koris fing ihn auf, als Alexander seitwärts vom Pferd rutschte
und in die Schwärze stürzte.
Unter sich hörte Alexander das brausende Rauschen, und der
Wind, der ihm ins Gesicht wehte, schmeckte nach Meer. Alexander
schloß die Augen und stand einen Moment lang ganz still,
streckte langsam den Rücken durch und den Kopf in den Nacken,
und wartete darauf, vornüber zu stürzen. Vor seinen Zehen
gähnte der Abgrund der Klippe.
»Noch nicht«, sagte eine Stimme hinter ihm, eine, die
er nur allzu gut kannte. Alexander fuhr herum und hätte
beinahe das Gleichgewicht verloren, wäre gestürzt, doch
er fing sich wieder.
Er fing sich allein. Koris unternahm nichts, um ihn zu halten.
»Koris!« schrie Alexander, stürzte auf ihn zu und
schlang die Arme um ihn. »Du hast mir so gefehlt!«
Doch Koris faßte Alexanders Arme und bog sie von seinem
Körper fort. Seine Hände waren so kalt, wie es keine
lebende Hand sein konnte. »Das glaube ich nicht.« Seine
Stimme war wie das Meer: Tief, und kalt, und fern. »Du hast
mich verraten.«
»Ich wollte es nicht. Ich habe es immer geheim gehalten,
ehrlich.«
Koris schüttelte den Kopf, doch die Krone rührte sich
nicht. Alexander war froh, daß sie wieder da war, wo sie
hingehörte. »Du hast aufgehört, mich zu lieben,
Anders. Warum hast du mit meinem Sohn geschlafen, anstatt auf mich
zu warten?«
»Weil er wie du ist! Weil du tot bist, und weil du niemals
wiederkommst!« schrie Alexander.
»Ich bin jetzt wiedergekommen«, erwiderte Koris.
»Und was habe ich vorgefunden? Ich wußte, daß
mein Sohn den Namen unseres Blutes nicht verdient hat. Aber
daß ich mich auch in dir so täuschen
mußte…« Er nahm die Krone ab und wog sie in
Händen. »Siehst du das hier? Das ist Korisanders
Erbe.«
Alexander nickte, sprachlos. Der Salzgeschmack auf seiner Zunge,
die Tropfen auf seinen Wangen mußten vom Meer kommen.
‘Ich liebe dich’, wollte er sagen. ‘Ich habe dich
immer geliebt.’ Aber obwohl es mehr stimmte als jemals zuvor,
brachte er es nicht über seine Lippen.
»Dann schau her«, sagte Koris. »Wenn ich sehe,
wer mir als Erbe folgen soll, bleibt mir nur eines
übrig.« Er holte aus und schleuderte die Krone in die
Luft, über die Klippe und weit, weit ins Meer hinein.
»Und jetzt leb wohl, Anders. Ich habe einen Weg gefunden,
zurückzukommen. Ich wäre bei dir geblieben, für
immer. Aber du hast mich verraten.«
»Leb wohl, Koris«, flüsterte Alexander und senkte
den Kopf, um seinem Bruder nicht in die Augen zu schauen.
Mit seiner kalten Hand strich Koris ihm noch einmal über das
Haar, dann neigte er sich zu ihm hinunter und küßte ihn
auf die Stirn. Ein Schauder durchlief Alexander, aber kein
angenehmer - es war, als würde Koris’ eisige Lippen das
Leben aus ihm saugen, oder mehr noch, seinen Verstand.
»Leb wohl, Anders«, flüsterte Koris noch ein
letztes Mal.
Dann stieß er ihn von der Klippe.
Die Krone war in hohem Bogen geflogen, wie eine Sternschnuppe,
doch Alexander fiel wie ein Stein. Er fühlte nicht den Moment,
in dem noch Luft um ihn war, er fühlte sofort das Meer, wie es
über ihm zusammenschlug und ihn umgab. Das Meer war unendlich,
unendlich tief, und es verschluckte Alexander dankbar wie etwas,
auf das es lange gewartet hatte. Alexander kämpfte nicht gegen
das Versinken an.
»Noch nicht«, sagte eine Stimme an seinem Ohr, und von
hinten legten sich zwei Arme um ihn, hielten ihn, und zogen ihn
dann langsam zur Oberfläche. Alexanders Kopf war erfüllt
von einem pulsierenden Rauschen, das er für seinen Herzschlag
hielt, oder den seines Retters, bis er begriff, daß er nicht
gleichmäßig nach oben getragen wurde, sondern mit
kräftigen Schüben - und was er hörte, war das
Schlagen von zwei mächtigen Schwingen, mit denen der Engel des
Meeres sein Reich durchpflügte.
»Wer bist du?« wollte Alexander fragen, und »Wie
kommst du hierher?« Doch in dem Moment, in dem er den Mund
auftat, legte sich von hinten eine Hand fest darüber, und eine
Stimme sagte, mehr in seinem Kopf denn in seinen Ohren:
»Sprich kein Wort, und versuche nicht zu atmen. Du
trägst meinen Namen, kleiner Alexander, doch du bist nicht von
meinem Blute, im Wasser nur geschaffen für den Tod, nicht
für das Leben.«
Alexander versuchte, den Kopf zu schütteln - das ging nicht,
er mußte doch atmen! - als er merkte, daß der Elomaran
Recht hatte. Er durfte kein Wasser einatmen, doch er brauchte auch
keine Luft: Sein Körper verharrte, so wie er war, und
Alexander gab sich der Tiefe hin, und der rettenden Umarmung des
fremden Engels, bis sie endlich, nach langer Zeit, viel
länger, als der Sturz gedauert haben konnte und das Versinken,
die Wasseroberfläche durchbrachen.
Aber der Engel schwamm nicht an Land. Seine Flügel waren aus
Schaum, doch sie bewegten die Luft ebenso wie das Meer, und mit
seiner sterblichen Last auf den Armen stieß der Engel des
Wassers hinauf in den Himmel, hinauf bis zu der Klippe, und dort
setzte er ihn ab und befahl ihm zu atmen.
Verzweifelt blickte sich Alexander oben auf der Klippe um. Aber
dort war nur Gras, und der Engel, und er… Koris war
fort.
»Wo ist Koris?« fragte er verzweifelt, und alles
andere, was er den Engel hatte fragen wollen, war vergessen.
Der andere Alexander lächelte, aber sein Gesicht war ernst.
»Er ist nicht hier. Du solltest ihn suchen gehen. Hier kannst
du nicht bleiben.«
Seine Haare waren schwarz, doch sie hatten einen grünlichen
Glanz, der an Algen und Seetang denken ließ, und
dunkelgrün waren auch seine großen Augen. Er mochte
schön sein, doch Alexander wollte ihn nicht schön finden,
er wollte Koris wiederhaben, der zehnmal, hundertmal schöner
war.
»Geh, Alexander!« sagte der Engel noch einmal.
»Dein Engel hat dich verflucht, und du darfst an keinem Ort
verweilen. Du hast Unheil über dein Haus gebracht, nun bringe
Unheil über alle anderen Häuser, auch über
meines.«
Verwirrt blickte Alexander den Engel an. »Aber wenn du das
weißt - warum hast du mich dann gerettet?«
»Weil es deine Aufgabe ist, Unheil zu bringen, nicht, zu
ertrinken. Und weil ich einigen der anderen ein wenig Unheil
durchaus wünsche. Von meinem Haus weiß ich, daß es
stark genug ist, um zu überleben. Das Meer stärkt meine
Kinder, und solange es Ebbe und Flut gibt, wird mein Haus stark
sein. Und jetzt geh, Alexander! Nimm dies hier mit, und
geh!«
Er hielt ihm etwas hin, das so silbrig funkelte wie die feinen
Schuppen, die seine Haut bedeckten, so daß Alexander es erst
nicht erkannte. Aber es war nicht, wie er einen Moment lang
geglaubt hatte, die legendäre Perle des Meeres, sondern ein
silbernes Medaillon, das Alexander seltsam fremd und zugleich
bekannt vorkam - doch erst, als es in seiner Hand lag, erkannte er
es wieder: Es war sein eigenes Amulett, Koris’ Amulett, das
Alexander zum Angedenken tragen sollte - Wann hatte er es verloren?
Alexander wußte es nicht mehr, und das tat weh.
Das Amulett tat weh. Es brannte sich in Alexanders Handfläche
ein, als glühe es - doch er hielt es fest, er hätte es
schon damals festhalten sollen, doch er hatte es verloren.
»Geh!« wiederholte der Elomaran. »Du kannst
nicht hierbleiben. Geh!« Mit den Worten ging er zur Klippe,
und sprang.
Alexander folgte ihm; die Tiefe faszinierte ihn ebensosehr wie
seinen Neffen, und er blickte hinunter…
Das Meer war verschwunden, der Boden ausgedorrt, als sei noch
niemals ein Tropfen Wasser darüber geflossen. Und weit weit
unter, zwischen den Steinen, lag der Körper von Alexander,
Engel des Meeres…
Alexander schrie, und seine Augen öffneten sich.
Einen Moment lang glaubte Alexander, daß er in Koris’
Gesicht blickte, doch dann merkte er, daß es nur Halan war.
Aber nur einen Augenblick später verschwanden die vertrauten
Augen wieder und wichen Janeks.
»Kannst du mich hören, Anders? Kannst du mich
hören?«
Alexander nickte. »Natürlich, du mußt nicht so
-«
Brüllen, wollte er sagen, aber so weit kam er nicht. Janek
fuhr ihn an: »Hören, sagte ich, nicht quatschen! Du
hättest gestern genug Zeit gehabt, um etwas zu sagen, du und
dein feiner Neffe. Jetzt bist du ganz still! Beiß die
Zähne zusammen, und wage es nicht, noch einmal
umzukippen!«
Alexander wollte etwas erwidern, irgend etwas, erklären,
daß es ihm gut ging, daß alles in Ordnung war - doch er
mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht vor Schmerz
aufzuschreien. Seine Hände…
»Wie könnt Ihr es wagen, in diesem Ton mit ihm zu
reden?« fauchte Halan. »Sehr Ihr nicht, daß er
krank ist? Und wißt Ihr nicht, wo Ihr steht?«
Im Liegen, hilflos, ohne sich rühren zu können - ohne zu
wissen, wie es ging, wie er ohne seine Hände aufstehen sollte
- sah Alexander, wie Janek, noch kniend, herumfuhr und Halan
ohrfeigte.
»Wenn ich jetzt nicht ihn hätte, um den ich mich
kümmern muß«, knurrte Janek, »würde ich
dir eine solche Tracht Prügel verpassen, daß du
übermorgen noch nicht wieder weißt, wer du bist! Es ist
doch nur deiner Dummheit zu verdanken, daß er hier liegt -
Feiglinge seid ihr, alle beide - du auch!« fuhr er Alexander
an. »Und jetzt gib mir deine Hände!«
Alexander suchte Halans Augen - er wollte Liebe darin sehen, und
eine Entschuldigung - warum ließ Halan zu, daß Janek so
mit ihm umsprang? Warum stand er Alexander nicht bei?
In Halans Augen fand er keine Antwort, nur Angst. Doch er hielt
sich an ihnen fest, schon um nicht mit ansehen zu müssen, wie
Janek ihm die Handschuhe von den Fingern zerrte, um nicht -
Die Schmerzen rasten durch Alexanders Körper und barsten in
seinem Kopf, doch er schrie nicht. Nie in seinem Leben hatte jemand
Alexander grob behandelt, außer ihm selbst, aber Janek kannte
keine Vorsicht, er riß den Stoff mit einem brutalen Ruck
herunter, und fluchte.
Alexander warf den Kopf in den Nacken, vor Schmerzen, und vor
allem, damit er seine Hände um keinen Preis sehen mußte.
Der jähe Schmerz ließ wieder nach, wurde wieder dumpf
und vertraut.
»Schau es dir an, Halan«, knurrte Janek durch die
Zähne. »Schau es dir an, und merk dir, was du siehst.
Vielleicht kennst du es ja schon aus einem deiner Bücher. Ich
persönlich kann mich noch nicht entscheiden, was das hier
werden soll - Wundbrand oder Blutvergiftung, aber eines von beiden
mit Sicherheit.« Er ließ Alexanders Hände los, und
selbst das Loslassen was schlimm. »Jetzt knie dich hinter
ihn, leg am besten die Knie auf seine Schultern, und halt seinen
Kopf fest.« Er lachte böse. »Strafe muß
sein, Anders, wird Zeit, daß ihr das mal lernt.«
»Was habt Ihr vor?« fragte Halan mit zitternder
Stimme.
»Ich hole den Dreck raus. Ich habe nichts hier von dem, was
ein Heiler bräuchte, und ich bin auch kein Heiler. Ich
weiß nur eins - wenn ich ihn nicht tüchtig zum Bluten
bringe, hält er vielleicht nicht mal mehr bis zum
nächsten Ort durch.«
Er nahm Alexanders linke Hand, drehte sie so, daß die
Handfläche nach oben zeigte, und im nächsten Augenblick
peitschte etwas darauf, daß Alexander vor Schmerzen
barst.
Sein Schreien erstickte in Schwärze.
Die Stadt war menschenverlassen, die Häuser ohne Dach, das
Weiß ihrer Wände höhnisch grell unter den
Rußflecken. Von ihren Bewohnern gab es keine Spur. Alexander
stand allein auf der Straße, die immer noch schnurgerade den
Hügel hinaufführte. Er hatte das Gefühl, schon
einmal in dieser Stadt gewesen zu sein, doch er konnte nicht sagen,
woher er sie kannte. Sie war schon lange tot, sehr lange. Kein
Rauch lag mehr in der Luft, keine Asche, kein Tod. Als Alexander
die Luft einsog, roch er nur den Frühling, und den Regen, und,
weit entfernt, Blut.
Alexander rief nicht, fragte nicht nach Überlebenden -
daß es hier niemanden gab, konnte er fühlen. Aber oben
im Schloß… Alexander wußte nicht, ob das
für diese Ruine noch das richtige Wort war, selbst von hier
unter konnte er erkennen, daß nur noch die verkohlten
Außenmauern standen - aber er machte sich auf den Weg
dorthin.
Je weiter er kam, desto beschwerlicher wurde der Weg. Als sei
nicht ein Krieg, sondern ein Wirbelsturm über die Stadt
hereingebrochen, war die Straße immer öfter versperrt
durch zusammengestürzte, gesplitterte Balken, Ziegel- oder
Steinhaufen, doch das zeigte Alexander nur, daß er auf dem
richtigen Weg war. Der Geruch von Blut wurde stärker. Von der
Burg her konnte er Kriegslärm hören.
Doch es waren keine Menschen, die dort kämpften. Als
Alexander durch einen schwarzverkohlten Torbogen trat, blickte er
in einen leeren, verwüsteten Innenraum, ohne Wände, ohne
Decke, ohne Schutz vor dem stärker werdenden Regen. In der
Ferne donnerte es.
Zwischen den geschwärzten Steinen kämpften zwei
Engel.
Alexander erkannte Lorimander sofort, seine goldblonden Locken
naß, zerzaust und unansehnlich, sein muskulöser
Körper befleckt mit Blut. Auch seine Flügel waren
verletzt - lange, weiße Federn staken abgeknickt heraus,
lange weiße Federn lagen verstreut auf dem rußigen
Boden… Dieser Anblick entsetzte Alexander so sehr, daß
er einen Augenblick brauchte, um den zweiten Engel zu erkennen, dem
sich Lorimander so waffenlos entgegenstellt wie damals sein
Nachfahr den Löwen…
Schwarz waren die krausen Haare, schwarz waren die wutgespreizten
Flügel, nicht wie die Flügel eines Schwanes, sondern
eines Raben, und schwarz war auch das Schwert in seiner Hand, wie
gebranntes Silber. Vigilander. Und erst jetzt wußte
Alexander, woher er diese Stadt kannte. Lomar lag in
Trümmern.
Am liebsten wäre Alexander weggerannt - nichts konnte ein
größerer Fehler sein, als sich zwei kämpfenden
Engeln in den Weg zu stellen - doch er mußte bleiben, und
zusehen. Eine tödliche Faszination ging von den Beiden aus,
die so völlig in ihren wortlosen Kampf versunken schienen,
daß sie die Zerstörung um sie herum gar nicht
bemerkten.
Lorimanders Flügel waren gebrochen, er konnte nicht mehr
fliegen, doch Vigilanders Füße berührten den Boden
kaum, und seine Schwingen durchschnitten die Luft wie die Hiebe
seines Schwertes, dem Lorimander auszuweichen suchte. Warum
kämpfte der Engel der Stärke nicht? Seine Kraft
mußte doch reichen, um Vigilander Arme und Flügel
auszureißen - warum unterlag er dann?
Alexander verspürte zu keinem der beiden Engel eine besondere
Zuneigung, und er wollte keinen von ihnen gewinnen sehen - aber
auch keinen sterben. Zwei Engel hatte er bereits sterben sehen,
zwar beides nur im Traum, aber… Es war nichts, was Alexander
ein drittes Mal erleben wollte. Und Vigilander war dabei,
Lorimander zu töten. Der Engel der Rache zögerte
niemals.
Es wurde enger. Langsam, wie Regenwasser, das einen Umhang
durchsickerte, drangen ihre Gefühle in Alexander ein, beide
zugleich, und gleich stark. Alexander verspürte Todesangst und
unbändigen, wütenden Triumph, Feuer und Eis zugleich - es
riß ihn entzwei. Alexander zitterte und biß die
Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er wollte
dazwischendrängen, die Engel auseinanderzerren wie streitende
Kinder, sie mit den Köpfen zusammenschlagen und ins Bett
schicken. Er wollte sein Schwert durch Lorimander jagen, wieder und
wieder und wieder. Er wollte nicht sterben…
Alexander schüttelte sich. Seine Zähne schlugen
aufeinander, doch selbst wenn die Elomaran hörten, was um sie
herum vorging, so ertranken die Geräusche doch im Brausen des
Regens. Wieder hüllte ein Blitz das Innere der Ruine in sein
zuckendes Licht, und der Boden erbebte mit dem Donnerschlag, als
eine weitere Säule umstürzte. Alexander stürzte, er
klammerte sich an seinem Torbogen fest, als ob ihm das Schutz bot -
als er etwas bemerkte, dort hinten, in einer Ecke, etwas das im
Blitz golden aufleuchtete…
Es war wirklich nur ein goldenes Funkeln, doch Alexander
wußte sofort, was es war: Lorimanders Horn, das Horn der
Stärke. Alexander rannte los, hielt sich im Schutz der
Mauerreste und machte einen Bogen um die Kämpfenden - aber er
wollte das Horn nicht für sich. Lorimander brauchte es - ohne
seine Stärke war er verloren… Alles, was Alexander
wollte, war einen Ausgleich schaffen, um fortrennen zu können,
um nicht dabei zu sein, wenn einer der beiden starb - denn dieser
Kampf würde nicht aufhören, ehe es vorbei war, so oder
so.
Das goldene Horn lag zu Alexanders Füßen, zwischen den
zerschmetterten Steinen, doch unbeschädigt. Einen Engel konnte
man zerstören, nicht jedoch ihre Schätze…
Alexander bückte sich und hob es auf. Es war viel leichter,
als er erwartet hatte - nicht aus massivem Gold, sondern aus
geschnitztem Holz, oder auch Elfenbein, vergoldet. Aber Alexander
nahm sich nicht die Zeit, das Kunstwerk zu bewundern. Form und
Material des Horns, wie auch die filigranen Schnitzereien, die es
bedeckten, waren völlig bedeutungslos in einem Moment, in dem
es nur um Sterben und Töten ging.
Das Horn zu Lorimander zu bringen, hätte bedeutet, selbst in
den Kampf hineingerissen, vielleicht von Vigilanders Schwert
durchbohrt zu werden. Alexander blieb nur eines übrig: Er hob
das Horn an die Lippen und blies hinein.
Das Ergebnis war alles andere als eindrucksvoll: Ein
klägliches, röhrendes Röcheln, dem es kaum gelang,
das Dröhnen in Alexanders Kopf, geschweige denn den Regen zu
übertönen. Doch die Engel hörten es.
Lorimander wandte den Kopf zur Seite und sah Alexander an. Seine
Augen, blau wie der Himmel an einem klaren Sommertag, waren
dankbar, und einen Moment lang fühlte Alexander so etwas wie
Hoffnung im Engel der Stärke aufblitzen.
Es war der Augenblick, bevor Vigilander das Schwert in ihn
stieß, seinen Leib durchbohrte, daß die Klinge,
blutrot, aber darunter nicht länger schwarz, sondern silbern
glänzend, zwischen den Flügeln austrat. Der Engel der
Rache tötete immer von vorne.
Lorimander starb lautlos, doch Alexander schrie, vor Schmerzen. Er
ließ das Horn fallen und sah, wie es zu seinen
Füßen verwitterte, wie das Blattgold absprang und
schwarzes, fauliges Holz zurückließ, aus dem die Maden
brachen.
Alexanders Schrei erstarb - Tote fühlten keinen Schmerz mehr,
und alles, was er jetzt noch wahrnehmen konnte - wahrzunehmen
gezwungen wurde - war dieser gräßliche wonnige
Triumph.
Mit einem Ruck zog Vigilander das Schwert aus seinem toten Bruder
und wog es in Händen. Ohne aufzublicken sagte er: »Lauf
nicht weg, Alexander.«
In diesem Moment fand Alexander seine Sprache wieder. »Komm
nicht näher!« schrie er. »Rühr mich nicht an!
Ich bringe Unheil! Ich werde dich auch umbringen!«
Vigilander kam auf ihn zu, als hätten erst die Worte ihn dazu
aufgefordert. Sein Gesicht war nicht länger wutverzerrt - er
lächelte Alexander an. »Ich weiß, wer du bist. Wir
alle wissen es.« Er kam näher.
Alexander konnte nicht wegrennen, nur weiter zurückweichen,
gegen die eingestürzte Wand, in den Schutthaufen hinein.
»Bleib stehen! Laß mich in Ruhe!«
Vigilander kam näher, das Schwert jetzt halb erhoben.
Alexander drückte sich weiter nach hinten gegen die Mauer.
Doch er fiel nicht durch Vigilanders Hand. Er hatte nicht mit dem
Blitz gerechnet. Der Blitz schlug in Vigilanders erhobenes Schwert,
aber was dann geschah, konnte Alexander nicht mehr sagen. Alles
geschah gleichzeitig - die Blitze überall, die Mauern, die
zusammenbrachen. Der letzte Blitz traf Alexander.
Zumindest fühlte er danach keine mehr.
»Ich habe doch gesagt - nicht umkippen!«
Alexander wußte, daß die Schläge in sein Gesicht
auch von Janek stammten - Halan würde ihn niemals schlagen.
Janek dagegen…
Alexander kniff die Augen zusammen, um sich vor Janeks Händen
zu schützen, aber da war es auch schon vorbei. Es tat nicht
einmal weh. Alexander blickte sich um. Er lag immer noch am Boden.
Halan kniete hinter ihm. Er hatte geweint. Im Geist verfluchte ihn
Alexander. Warum weinte Halan jetzt, wo er doch gestern keine Miene
verzogen hatte, als sich Alexander die Hände zerschlug? Warum
hatte er ihn nicht zurückgehalten?
»Versuch aufzustehen«, sagte Janek leise. Er war nicht
böse, mehr… besorgt. »Ich glaube zwar nicht,
daß du es schaffst, ohne umzufallen, aber versuch es
wenigstens, uns zuliebe.« Endlich lächelte er. Alexander
liebte dieses Lächeln, aber man sah es viel zu
selten…
Seine Hände kribbelten. Sie schmerzten nicht mehr ganz so
sehr wie vorher, aber sie waren taub, wie eingeschlafen. Bewegen
konnte er sie nicht. Und als er versuchte, sich aufzusetzen, wurde
ihm schwindelig, schwarz vor Augen, nur für einen
Moment…
Janek faßte ihn am Arm und zog ihn hoch. »Nein, ich
frage jetzt nicht, ob alles in Ordnung ist. Du hast hohes Fieber,
und ich habe keine Lust, mich anlügen zu lassen.«
Alexander mußte lachen. Plötzlich erinnerte Janek ihn
an Aralee. »Du bist wie meine Mutter«, murmelte er, und
erst jetzt, zum ersten Mal seit der Flucht, vermißte er sie.
Aralee verstand so viel vom Heilen - nur nicht bei Koris…
Das Lachen erstarb. Alexander schluckte ein Schluchzen
hinunter.«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Janek eisig. »Nimm
ihn mir ab, Halan. Ich kann nicht aufstehen.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Bitte, noch einen
Moment… laßt mich noch einen Moment sitzen,
bitte.« Ihm war schwindelig, sein Kopf war schwer, und so
müde… »Ich will nicht zurück zu den
Engeln.« Er fuhr damit fort, den Kopf zu schütteln,
jetzt, um wieder zu sich zu kommen. »Ich rede so dumme
Sachen…«
Fast wünschte er sich seine Träume zurück. Sie
waren schrecklich, aber auf eine schöne Weise, angenehmer als
diese Schmerzen, und in ihnen war er wenigstens er selbst, klar im
Kopf. Und dort hatte er ein Ziel. Hier hatte er nichts. »Ich
will liegenbleiben.«
Halan - zumindest glaubte Alexander, daß es Halan war
- drückte ihn an sich. Bestimmt war es Halan. Janek war viel
zu grob und unfreundlich dafür. Alexander haßte ihn. Wie
hatte er diesen Mann nur jemals mögen können? Immerzu
schlug er und meckerte herum… »Komm, Anders, versuch
es, du mußt mit uns kommen!
»Du kannst gerne auch liegenbleiben«, fügte Janek
trocken hinzu. »Nur ist dann wahrscheinlich, daß du
bald gar nicht mehr aufstehst.«
Alexander biß die Zähne zusammen, hielt sich an Halan
fest und versuchte, sich aufzurichten - nicht, um aufzustehen,
sondern um Janek zu zeigen, daß es nicht ging. Doch dann zog
Halan ihn hoch, mit einer erstaunlichen Kraft, und plötzlich
stand Alexander auf den Füßen. Er fühlte sich
taumeln, doch er fiel nicht um. Nur sein Kopf wurde von nichts
gehalten, er kippte nach vorn, auf seine Brust…
Alexander riß die Augen auf, schlagartig hellwach. Er sah an
sich hinunter. Er sah Blut. Alles war voller Blut - nicht nur seine
Hände, seine Arme - die konnte er nicht einmal sehen, so wie
Halan sie hielt - aber alles andere war blutig. Sein Kleid…
Halan…
»Ist das meins?« fragte er leise, doch Halan ging
nicht darauf ein, was so gut war wie ein Ja. Trotzdem fragte
Alexander weiter: »Janek, ist das Blut von mir?« Er sah
es. Er konnte es riechen.
Auch Janek war voller Blut. Aber wenigstens nickte er. »Es
war die einzige Möglichkeit, den Dreck da rauszuholen.
Birkenreisig. Es tut mir leid, wenn es dir weh getan hat. Aber ich
mußte dich zum Bluten bringen, egal wie. Tut mir
leid.«
Jetzt erwartete er Dank von Alexander, Worte wie ‘Du hast
mir das Leben gerettet’ oder etwas in der Art, doch Alexander
wollte ihm keinen Gefallen tun. Er schuldete niemandem Dank. Wenn
er jetzt anfing, einfach irgendwelchen Leuten zu danken, sich in
ihre Schuld zu stellen, würde er alle Engel, und Koris vor
allen Dingen, nur um so mehr verraten. Also sagte er: »Es
geht schon. Ich werde es überleben. Aber tu das nie
wieder.«
Janek senkte das Gesicht, aber Alexander sah, daß er
lächelte. Es war das Letzte, was er mit Bestimmtheit sah.
Danach verschwamm alles wieder. Ein paar Dinge blieben klar: Sie
ließen ihn sich nicht wieder hinlegen, aber sie setzten ihn
auch nicht auf Farrell zurück, sondern versuchten, ihn auf ein
fremdes Pferd, Halans Pferd, zu setzen. Sie gossen ihm
übelschmeckendes, lauwarmes Wasser in den Mund und
beschimpften ihn, als er es nicht schlucken wollte. Dann saß
er auf dem Pferd, und Halan hinter ihm, und sie ritten… Es
war alles nicht wirklich. Es fühlte sich an wie ein
stundenlanger Schlaf, wie ein Traum. Alexander war so
müde…
Zwischendurch war er er selbst. Zwischendurch tötete er
Engel.
Wessen Wald war dies? Alexander glaubte es zu wissen. Er war zu
lange durch gewöhnliche Wälder geritten, um zu wissen,
daß dieser sich von ihnen so sehr unterschied wie ein
Engelsgeborener von einem gewöhnlichen Menschen. Dieser Wald
war zu schön, zu grün, zu perfekt, um einfach so vor sich
hin gewachsen zu sein. Kein modriges Laub bedeckte den Boden,
sondern sattes junges Gras, das jeden Schritt Alexanders abfederte
wie ein Kissen. Es machte das Gehen angenehmer und beschwerlicher
zugleich.
Das Sonnenlicht spielte im Grün der Bäume und wurde
golden, bis es auf den Boden tropfte. In Kalianders Wald fielen die
Blätter niemals, und niemals Schnee. Alexander rieb sich die
Augen. Immer wieder glaubte er, zwischen den Bäumen den Engel
zu erblicken, doch dann war da doch niemand. Auch wenn er den
Elomaran fühlen konnte, war er allein. Nur er, und das Licht,
und die Bäume.
Niemand sonst, und genau das war falsch: Es war zu still, viel zu
still. In diesem Wald hätten die Vögel singen
müssen, der Wind in den Bäumen rauschen. Doch dieser Wald
war wie ein Gemälde: So schön, und so leblos. Nur etwas
rührte sich, am Boden zwischen den bemoosten Steinen:
Alexander schlich näher und stand, zu Füßen eines
riesigen Baumes, vor einem kleinen Wasser. Eine Quelle schien es
nicht zu sein, doch für einen Tümpel war das Wasser zu
klar - es floß nicht, doch es war Bewegung darin, Bewegung,
die Alexanders Spiegelbild verwirbelte, daß es beinahe so
aussah, als trüge Alexander die silbernglänzende
Engelskrone auf seinem Haupt.
Er kniete sich hin, um eine Handvoll Wasser in sein glühendes
Gesicht zu spritzen, und sein Spiegelbild verschwand. Doch das Bild
der Krone blieb. Vorsichtig streckte Alexander seine Hand ins
Wasser, er wollte die Krone ergreifen, sie herausziehen, zumindest
ein einziges Mal in seinem Leben berühren - doch er war eine
Täuschung aufgesessen. Die Krone war nicht im Wasser. Sie
saß in der Spitze des Baumes, weit weit oben, und spiegelte
sich, nicht in der bewegten Wasseroberfläche, sondern in den
hellen glänzenden Steinen auf dem Grund. Alexander hob den
Kopf, und sah zu ihr auf, und erstarrte. Er kannte diese Szenerie
bereits, doch sie war nicht wirklich, nicht einmal so wirklich wie
ein Traum: Er hatte sie sich ausgedacht, für Halan: Die Krone,
im Gipfel eines Baumes hängend, und Alexander, der sie
pflücken will, und scheitert… Es war nicht echt,
nichts, was Alexander erleben wollte. Und doch war er hier, in
seiner eigenen Lüge.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf den Baum zu klettern
und sich seine Krone wiederzuholen. Vielleicht hatte er alles doch
schon einmal geträumt, vor vielen vielen Jahren, als er noch
klein war… Alexander legte, immer noch kniend, den Kopf in
den Nacken und blickte in den Baumwipfel. Dort war seine Krone,
klein und fern und silbern wie der Mond, und ebenso
unerreichbar.
Im wirklichen Leben hatte Alexander noch nie einen Baum
erklettert, nur durch die hohen Fenster gesehen, wie die
Gesindejungen im Park herumturnten. Das war kein Sport für
einen Engelsgeborenen, und er hatte sich auch immer zu alt für
solches Kinderzeug gefühlt - aber nun mußte er auf
diesen Baum steigen, schon allein, damit sich die Krone dort oben
als Hirngespinst in Luft auflösen konnte. Es war gut,
daß hier niemand war, um ihm zuzusehen.
Alexander war noch nie auf einen Baum gestiegen, und doch
wußte er instinktiv, wohin mit seinen Händen und
Füßen - doch ob es sich wirklich so anfühlen
mußte, wußte er nicht. Der Baum unter seinen
Händen erschien ebenso falsch wie zuvor der Boden unter seinen
Füßen - zu freundlich, zu geschmeidig, wie abgepolstert
- nichts, was man irgendwie fassen konnte. Alexander sah, daß
seine Hände nackt waren, glatt und makellos und weiß,
doch es war, als trüge er mehrere Handschuhe
übereinander.
Aber das Klettern ging leichter als erwartet. Wie auf einer
seltsamen Leiter stieg Alexander von Ast zu Ast, sein Ziel immer
vor Augen. Er blickte nicht nach unten - aus Angst zu fallen, und
um nicht zu wissen, wie der Baum unter ihm aussah. In der
Traumgeschichte hatte er nach und nach alles Laub verloren…
Alexander kletterte weiter auf den Wipfel zu, hin zu der Krone, die
ebenso fern schien wie zuvor. In seinen Ohren war ein Rauschen - es
mußte die Anstrengung sein, oder der Schwindel, es kam nicht
von fallenden Blättern, ganz sicher nicht, es war nicht wie in
der Geschichte…
Natürlich war es das.
Alexander kletterte den Baum hinauf, und die Zweige, an denen er
vorbeikam, warfen ihre Blätter ab.
Auch das Klettern wurde beschwerlicher. Langsam wurden Alexanders
Arme müde, verloren seine Hände den Halt, drohte er
hinunterzustürzen. Je höher er kam, desto feindseliger
fühlte sich der Baum an, und toter. Nur oben in der Spitze, wo
die Krone hing, war noch ein letzter Rest Laubs
zurückgeblieben, und auch diese wenigen Blätter
lösten sich und taumelten abwärts, als Alexander, mit
einem Arm und beiden Beinen verzweifelt Halt im schwankenden
Geäst suchend, die Hand danach ausstreckte. Fast
berührten seine Fingerspitzen die Krone. Fast konnte er sie
fühlen, als sie aus der Zweiggabelung, wo sie eben noch allem
Wehen und Schwanken getrotzt hatte, rutschte und zu fallen
begann.
Die Krone fiel langsam, als sei sie nicht schwerer als ein welkes
Blatt, tänzelte wiegend in der Luft, um Alexander noch ein
letztes Mal zu verhöhnen, und stürzte abwärts, und
abwärts…
Alexanders Augen waren gefesselt: Obwohl er den Anblick der Tiefe
fürchtete, obwohl ihm schwindelte und er wußte,
daß er jeden Moment der Krone nachfolgen mußte, zog es
seinen Blick nach unten. Kahl lag der Baum unter ihm, kahl und tot,
und kahl und tot waren auch die Bäume ringsum - nicht mehr
grün, nur noch grau, und braun, und schwarz, und Alexander
begriff, daß man einen Engel auf so viele Arten töten
konnte, sogar ohne ihm jemals von Angesicht zu Angesicht
gegenüber zu stehen. In diesem Wald war kein Engel mehr.
Aber ein Junge stand da, unter dem Baum, wo in Alexanders
Geschichte Halan gestanden hatte. Er mochte vielleicht so alt sein
wie Alexander - ein gewöhnlicher Bauernjunge, der im
wirklichen Leben so tief unter ihm stand wie nun unter dem Baum.
Alexander fragte sich, was er dort tat - er gehörte nicht
hierher, nicht in diesen Traum.
Und obwohl er so weit unten stand, daß er so winzig wie ein
Kiesel aussah, konnte Alexander ihn doch genau erkennen - es
schien, als ob dieser Junge irgendwie wichtig war. Seine
schäbige, zerschlissene Kleidung war dunkelgrau, wie alles
ringsumher, nur die aschblonden Haare des Jungen bildeten einen
kleinen Farbtupfer.
Sanft landete die Krone zu seinen Füßen. Der Junge
bückte sich und hob sie mit beiden Händen auf. Dann
blickte er zu Alexander hoch, und lächelte. Seine Augen waren
grau und sehr groß, und es dämmerte Alexander, daß
dies vielleicht doch kein gewöhnlicher Bauernjunge war - eines
machte ihn auf jeden Fall außergewöhnlich: Er hatte
Alexanders Krone.
In dem Moment, als er sie aufsetzte, als Alexander den Halt verlor
und stürzte, erkannte er, was ihm an diesen Augen so seltsam
aufgefallen war: Es waren die Augen eines Engels.
Und Alexander fiel.
Alexander erwachte in der Dämmerung. Er wußte nicht,
was aus dem Tag geworden war - geschlafen hatte er nicht, soviel
wußte er, und doch konnte er sich nur noch an Träume
erinnern, Träume, die er lieber vergessen wollte. Aber jetzt
waren sie vorbei. Jetzt war das Fieber vorbei, und Alexander,
vollkommen erschöpft und durchgeschwitzt, war wieder er
selbst.
Er lag auf einem rauhen Leinentuch, das nach seinen Vorbesitzern
roch, aber zumindest einigermaßen trocken war. Um ihn herum
war es dämmrig, und warm - er lag unter einer kratzenden
Wolldecke, die wohl eher für ein Pferd gedacht war denn
für einen Menschen, und erst recht für keinen
Engelsgeborenen. Aber Alexander beschwerte sich nicht und lag ganz
still. Die Schmerzen hatten nachgelassen, sein Kopf war wieder
klar, aber für alles außer Denken war er noch zu
schwach.
»Er bewegt sich«, sagte Halan. »Er wird
wach.«
»Er soll schlafen«, erwiderte Janek. »Laß
ihn liegen. Er dämmert gleich wieder weg.«
Halan war an Alexanders Seite, seine Hand an Alexanders Stirn. Sie
war angenehm kühl. Aber sie blieb nicht lange. Alexander sagte
nichts, kein Wort, solange Janek dabei war. Er wollte Halan sagen,
daß es ihm leid tat, wollte ihm sagen, wie sehr er ihn
liebte, und wenn es bedeutete, tagelang zu schweigen wie eine
Totenmagd. »Er hat immer noch Fieber!« sagte Halan
verzweifelt.
Janeks Stimme blieb ruhig. »Ich habe nicht gesagt, er ist
gesund bis heute Abend. Ich habe gesagt, er überlebt. Ich
meine, was ich sage.«
»Aber Ihr sagt nicht, was Ihr meint«, flüsterte
Halan.
Janek lachte leise. »Wer tut das schon?«
Alexander unterdrückte ein Lächeln. Sie sollten nicht
merken, daß er wach war. Er wollte wissen, wie Halan
über ihn redete, wenn er ihn für schlafend hielt. Halan
war so leicht zu täuschen, gerade weil er sich für
untäuschbar hielt…
»Ihr habt schnell erraten, wer wir sind«, sagte Halan.
Er nahm Alexanders Hand und hielt sie so beiläufig, wie er es
nur bei einem Schlafenden tun würde. Sicher ahnte Janek
längst, was die beiden füreinander empfanden - aber Halan
würde sich hüten, vor seinen Augen Händchen mit
Alexander zu halten, wenn es wie irgend etwas anderes aussehen
konnte als nach Krankenbeistand. In diesem Moment begriff
Alexander, was für ein Glück dieses Fieber für ihn
war, und wie sehr Halan Koris ähnelte. Doch er lächelte
nicht, und er weinte nicht. Halan fuhr fort: »Ich habe bei
Euch etwas länger gebraucht. Aber Ihr werdet mir zugestehen,
daß es schwieriger war.«
»War es das?« Janeks Stimme war abwesend und
abweisend.
Auch ohne die Augen zu öffnen, wußte Alexander,
daß Halan bei diesen Worten lächelte. »Eigentlich
nicht einmal so sehr. Aber Ihr müßt bedenken, daß
Ihr wußtet, daß wir leben, während wir
wußten, daß Ihr tot seid.«
Janek lachte kurz und bellend. »Das habt ihr wirklich
geglaubt? Ich frage mich, ob an meiner Stelle ein anderer gestorben
ist… wünschen würde ich es keinem… Aber ihr
habt Recht. Der ich damals war, ist tot. Jetzt bin ich
Janek.«
Alexander spürte wachsendes Unbehagen von beiden und hoffte,
daß sie nicht abrupt das Thema wechselten - es sah ihnen
ähnlich, allen beiden, aber Alexander wollte wissen, um was es
ging. Seit wann wußte Halan, wer Janek war? Und warum sprach
er Janek - oder wer auch immer der in Wirklichkeit war - direkt
darauf an, anstatt erst Alexander einzuweihen und um Rat zu fragen?
Alexander fühlte sich verletzt und zurückgewiesen, und
ein wenig wütend. Doch er unterdrückte es, konzentrierte
sich auf die Gefühle der beiden anderen und blieb ruhig
liegen. Halan drückte seine Hand ein wenig. Es tat weh. So,
wie er es auch im Schlaf getan hätte, zog Alexander seine Hand
zurück. Halan wollte sich also vergewissern, daß
Alexander ihn also wirklich nicht hören konnte. Halan wollte
ihn hintergehen…
»Ich möchte Euch etwas fragen«, sagte Halan.
»Ach ja? Und ich dachte, du kennst bereits alle
Antworten.«
Halan schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich weiß gar
nichts. Weniger als gar nichts. Ich kenne nur die Lügen, die
in den Chroniken stehen.«
Janek lachte. »Meinst du, das will ich ändern?«
Er stand auf. Alexander hörte das Klopfen von Janeks Gehstock
auf dem Holzfußboden, und das Schlurfen seines lahmen
Fußes. »Warte hier. Halte den Jungen im Auge. Ich komme
wieder.«
Eine Tür ging auf und schloß sich wieder, und Alexander
wußte, daß sie diesmal ein richtiges Zimmer für
sich alleine hatten, keinen Schlafsaal, als Halan ihn auf die Stirn
küßte.
»Es wird alles gut, Anders«, flüsterte Halan und
küßte ihn noch einmal. »Alles wird gut, aber tu
mir das nie wieder an.«
Auch Koris hatte ihn auf die Stirn geküßt, zum
Abschied, bevor er… Aber das war in einem Traum. Nur ein
Traum von vielen, viel zu vielen an diesem Tag…
Halan schreckte zurück und merkte so nicht, wie Alexander
sich unter seiner Berührung verkrampfte. Dann hörte auch
Alexander die klopfenden Schritte auf dem Flur. Janek kam
zurück.
»Jetzt kannst du von mir aus fragen.«
»Wo wart Ihr?« fragte Halan.
»Schulde ich dir Rechenschaft?« fragte Janek
zurück. »Bestimmt nicht. Aber ich habe Wein geholt. Ich
werde welchen brauchen.« Etwas kratzte und raschelte.
Alexander vermutete, daß es noch ein zweites Bett in dieser
Kammer gab, und daß Janek sich gesetzt hatte. »Du
kannst mich für einen Säufer halten, wenn du magst. Mir
ist ziemlich egal, was du von mir denkst. Früher habe ich mehr
getrunken. Jetzt tue ich es nur noch, wenn es sich nicht vermeiden
läßt. Du läßt mir keine Wahl.«
Halan rückte ein wenig zur Seite, und er fühlte sich
selbstsicherer an. »Wenn es Euch egal ist, warum verteidigt
Ihr Euch dann? Und ich habe Euch nicht gezwungen, Euch uns
anzuschließen. Ihr mußtet damit rechnen, daß ich
es erraten würde. Also beschwert euch nicht.«
Janek lachte leise, nicht vergnügt, aber doch zumindest
amüsiert. »Jetzt sind wir erst seit zwei Tagen
unterwegs, und du redest schon wie ich. Also los. Was wolltest du
fragen?«
Halan schwieg ziemlich lange. Mehrmals setzte er an, etwas zu
sagen, und ließ es doch. Alexander wollte schon aufspringen,
ihn schlagen, schütteln und anschreien, endlich zur Sache zu
kommen - als Halan schließlich fragte: »Habt Ihr meine
Mutter geliebt?«
Seine Stimme war ganz kalt und ruhig, und plötzlich hatte
Alexander das Gefühl, genau diesen Moment schon einmal erlebt
zu haben - er lag in einem Bett, halb ohne Bewußtsein, seine
Hände schmerzten, und Halan fragte: »Hast du meinen
Vater geliebt?«… Er konnte das Bild nicht einordnen.
Es mußte in einen Traum gehören, und Alexander wollte
jetzt nicht wieder einschlafen. Er grub seine Vorderzähne in
seine Zunge, bis der Schmerz den Schwindel vertrieb.
»Das ist eine seltsame Frage«, sagte Janek leise und
zögerlich. »Seltsam, weil sie überhaupt nichts
aussagt. Ich hätte deine Mutter lieben können, soviel ich
wollte - keinem von uns wäre etwas geschehen. Deine Mutter
hätte sich nach mir verzehren können - wir wären
beide heute noch am Leben. Ob wir uns geliebt haben, ist
völlig unbedeutend. Entscheidend ist nur die Frage, ob wir
miteinander geschlafen haben.«
»Beantwortet meine Frage: Habt Ihr meine Mutter
geliebt?«
Janek seufzte. »Wir haben nicht miteinander geschlafen,
darauf kommt es an.«
Halan rührte sich nicht, aber er war voll Wut, und sie lag so
nah unter der Oberfläche, daß Alexander angst und bang
wurde. Niemals würde Halan zulassen… Seine Stimme war
so kalt und so beherrscht wie immer. »Ich weiß, was ich
frage, und warum. Es interessiert mich nicht, ob ihr miteinander
geschlafen habt - ich weiß, daß ihr es nicht habt, ich
habe niemals auch nur einen Augenblick an der Treue meiner Mutter
gezweifelt - aber ich will wissen: Habt Ihr sie geliebt?«
»Warum?« fragte Janek. »Ich verstehe dich nicht.
Verrat mir, warum du fragst.« Er hatte Angst. Obwohl er am
anderen Ende des Raumes saß, konnte Alexander es fühlen,
und das durch die Mauer von Halan Zorn hindurch. Daß Janek -
ausgerechnet Janek! - Angst haben konnte, erschreckte Alexander. Es
gab kein Gefühl mehr, in daß er sich flüchten
konnte - Angst oder Zorn oder Schmerz, was war ihm lieber?
Halan atmete tief durch, doch ruhiger wurde er nicht. »Warum
ich frage«, sagte er langsam, »ist: Ihr und meine
Mutter wurdet eingekerkert. Ihr wurdet beide zum Tode verurteilt.
Meine Mutter wurde hingerichtet. Ihr sitzt hier, und lebt. Wenn Ihr
fliehen konntet - warum habt Ihr Eurer eigenes Leben gerettet, und
nicht das meiner Mutter?«
Janek antwortete nicht. Halan wartete geduldig, während
Alexander vor Anspannung so schwindelig war, daß er am
liebsten aufgesprungen wäre, um sich zu übergeben. Er
wollte sich an irgend etwas festhalten, aber es gab nichts, keinen
Menschen, und keine Gefühle.
Dann endlich fragte Halan, sanfter: »Habt Ihr meine Mutter
geliebt?«
Und Janek sagte: »Nein.«
Halan atmete auf, seine Wut und Anspannung ließen nach, und
endlich bekam auch Alexander wieder Luft.
Selbst Janek schien das zu spüren, denn seine Worte kamen nun
flüssiger: »Deine Mutter war eine wunderschöne
Frau, Halan, das steht außer Frage, aber sie war gut und
gerne acht Jahre älter als ich und deinem Vater so treu
ergeben, daß sie für mich nicht in Frage kam. Ich war
ein junger Spund von Anfang Zwanzig, und am Hof gab es genug Frauen
von meinem Stand und in meinem Alter, die ich durchaus interessant
fand. Das Problem war nur - sie alle waren unsterblich verliebt in
deinen Vater. Ich war sicherlich gutaussehend, niemand stellte mich
als Hauptmann in Frage, obwohl ich noch sehr jung dafür war -
aber es ist leider unmöglich, das Herz einer flatterhaften
jungen Frau zu gewinnen, wenn es einen echten Engelsgeborenen in
Sichtweite gibt… Aber sie wußten alle im Grunde ihres
Herzens, daß sie ihn niemals bekommen würden, und dann
war ich zumindest eine gute zweite Wahl. Ich war nie auch nur in
der Verlegenheit, mich ernsthaft in jemanden verlieben zu
müssen, weder in deine Mutter noch sonst jemanden. Ab und an
ein wenig Vergnügen mag schön sein, aber meine Laufbahn
war mir wichtiger.«
Alexander versuchte, sich Janek als jungen Mann vorzustellen, als
den Hauptmann, der Koris ins Unglück gestürzt hatte, aber
es gelang ihm nicht. Koris hatte seinen Namen niemals erwähnt,
ebensowenig, wie er jemals von seiner Frau sprach, und Alexander
war dem Hauptmann nie begegnet. Kein Wunder, daß er Janek
nicht erkannt hatte…
Janek schwieg, und Alexander hörte, wie er von seinem Wein
trank. Dann sagte Halan: »Danke. Ich wußte, daß
mein Vater die Anklagen nur vorgebracht hat, um seine Frau
loszuwerden… Aber Ihr hättet sie retten müssen an
Eurer Statt. Sie war eure Königin.« Kein Vorwurf mehr in
seiner Stimme, keine Wut. Halan tat am meisten weh, wenn er so
ruhig war.
»Ich konnte sie nicht retten«, erwiderte Janek.
»Ich habe es auch nicht versucht. Ich habe nicht einmal daran
gedacht. Damals habe ich sie gehaßt. Ich hasse sie heute
noch, glaube ich, auch wenn sie ebensowenig Schuld trifft wie
mich… Du hast mich mit der Frage überrumpelt. Ich war
auf alle vorbereitet außer dieser. Ich hasse nichts mehr, als
überrumpelt zu werden… Glaub mir, ich habe mir oft
genug vorgeworfen, daß ich sie nicht gerettet habe. Aber
für die Vorwürfe hatte ich dreizehn Jahre, und um zu
fliehen nur eine Nacht. Meine Männer mochten mich. Jene, die
mich bewachen sollten, waren meine Freunde. Sie haben mich nicht
freigelassen, aber meine Zelle war nicht richtig versperrt…
Ich habe einen Mann niedergeschlagen und bin davongerannt, in der
Nacht. Durch das Tor konnte ich nicht entkommen, aber ich bin auf
einen Baum geklettert und über die Mauer gesprungen… Es
war das letzte Mal, daß ich so etwas getan habe.« Er
lachte bitter.
»Euer Fuß?« fragte Halan - interessiert, nicht
mitleidig.
»Die Mauer war zu hoch; ich bin falsch gelandet. Ich war ein
Mann auf der Flucht, konnte nicht einfach zu einem Heiler gehen,
nicht, solange ich in der Nähe von Koristir war. Der Knochen
ist schief zusammengewachsen. Ich werde bis zum Ende meines Lebens
ein Krüppel sein. Und das verdanke ich alles deiner
Mutter.«
»Meinem Vater«, verbesserte Halan ihn kalt. Alexander
fror.
»Beiden«, sagte Janek. »Natürlich, sie
konnte nichts dafür und hat diese Intrige mit ihrem Leben
bezahlt. Aber wenn sie nicht so langweilig für deinen Vater
geworden wäre… Sie war schön, aber sie konnte
Aralee nicht das Wasser reichen. Aralee war jung und schön und
hatte ein Temperament, das sich hinter dem von Anders nicht zu
verstecken braucht. Desara - deine Mutter - war zu ruhig und zu
blaß neben ihr. Es ist kein Wunder, daß der König
ihre jüngere Rivalin begehrte und einen Weg finden
mußte, sich seiner Frau zu entledigen.«
Nicht Koris. Sie sprachen nicht über Koris. Sie konnten nicht
Koris meinen mit diesen Worten. Koris war nicht so. Koris hatte
seine Frau geliebt, und nachdem sie ihn verriet - wenn nicht mit
Janek, dann mit irgend jemand anderem, der gerade zur Hand war -
liebte er niemanden mehr, bis er Alexander erkannte, oben am
Fenster, mit einem Blick, der über das Land strich und eine
Hand über Alexanders Rücken, und ihre Liebe vereinte
sich… Alexander mußte sich losreißen,
mußte sich in Halans Kälte hüllen, um nicht zu
weinen und sich zu verraten. Nicht Koris.
»Ihr seid ungerecht«, sagte Halan.
»Ich bin ungerächt. Das ist etwas anderes.«
»Sie ist tot. Ihr lebt.«
»Aber wie?«
»Sagt mir nicht, daß Ihr lieber tot wärt. Ihr
hattet dreizehn Jahre Zeit, Euch umzubringen.« Wieder
schweigen beide für eine Weile. Dann sagte Halan,
versöhnlicher: »Aber Euch werfe ich nichts vor. Ich
weiß nicht, was ich an Eurer Stelle täte. Aber
-«
Janek unterbrach ihn. »Du bist auch der Letzte, um mir
Vorwürfe zu machen! Oder soll ich einmal zur Abwechslung dich
etwas fragen? Soll ich dich fragen, was mit Anders’
Händen geschehen ist?«
»Er ist hingefallen«, erwiderte Halan. »Es war
ihm peinlich Euch gegenüber, weil es ihn wie ein kleines Kind
erscheinen ließ. Also haben wir ihm die Handschuhe
übergezogen, und es hat sich entzündet -«
»Ich habe nicht gefragt«, sagte Janek scharf.
»Ich sagte nur, ich könnte fragen. Ich
könnte jetzt auch sagen, daß ich die Wunden
gesehen habe, und daß ich weiß, welche Wunden wie
aussehen. Oder, daß Anders’ Fieber noch einen anderen
Grund haben muß. Ich laß es bleiben.« Er erhob
sich.
»Wartet«, sagte Halan schnell. »Wenn Ihr noch
Wein wollt - den kann ich für euch holen. Ihr habt heute schon
so viel für uns getan.«
»Das fällt dir aber früh ein«, höhnte
Janek. »Danke für dein Angebot, ich halte es in Ehren -
aber für heute habe ich wirklich genug von euch beiden.
Vielleicht nicht nur für heute. Ich gehe jetzt runter und
trinke unten weiter. Du kümmerst dich um Anders - man sollte
ihn unter keinen Umständen allein lassen. Kann sein, daß
ihr mich morgen nicht mehr seht. Euch zu verfolgen war in Ordnung,
aber ich hätte mich euch nicht anschließen dürfen.
Bringt nur Ärger.«
Er lachte und hinkte zu Tür. Halan stand auf.
»Wartet«, sagte er noch einmal. »Falls Ihr Euch
entscheiden solltet zu gehen - lebt wohl. Ihr könnt nicht
erwarten, daß ich Euch zum Bleiben auffordere, aber danke.
Ihr habt Anders heute das Leben gerettet. Und das, was geschehen
ist, tut mir leid. Wenn Alexander erst König ist, wird er Euch
offiziell freisprechen, und Ihr könnt nach Koristan
zurückkehren und Euren alten Namen wieder annehmen…
Jurik.«
Janek lachte lauter, trunken vor Bitterkeit. »Gibt er mir
dann auch meinen Fuß zurück, dein hübscher kleiner
König?« Er öffnete die Tür. »Und bitte,
laß es bei Janek bleiben. Jurik ist tot.«
»Wartet«, sagte Halan zum dritten Mal. »Nur eine
letzte Frage. Ihr liebt sie noch immer, nicht wahr?«
Janek schnaubte. »Ich sagte dir doch, ich habe sie nie
-«
»Nicht meine Mutter«, fiel Halan ihm ins Wort.
»Aralee.«
Mit einem Knall zog Janek die Tür zu. Seine schweren Schritte
verloren sich auf der Treppe.
Das Gespräch war vorbei. Alexander mußte sich nicht
länger schlafend stellen; er konnte jetzt aufwachen und mit
Halan reden - wenn er auch nicht wußte, worüber. Er
wollte Koris verteidigen mit aller Liebe und Vehemenz - aber er
durfte ja nichts davon wissen…
Halan sagte nichts mehr, setzte sich nur zu Alexander auf die
Bettkante, und seufzte.
Alexander wollte nicht mit ihm reden. Aber als er aufstehen
wollte, um zumindest einen Schluck Wasser zu trinken, konnte er
seine Augen nicht öffnen, und seinen Kopf nicht heben. Er
hatte nicht gemerkt, wie müde er in Wirklichkeit war, und wie
sehr es ihn anstrengte, sich zu verstellen.
Vielleicht hatte er sich gar nicht verstellt? Vielleicht hatte er
auch dies alles nur geträumt?
Alexander schlief ein.
Einst war dies ein Garten. Einst war dieses Gebüsch ein
Busch, war diese Wildnis eine Wiese. Aber die Zeit kannte weder
Gnade noch Gerechtigkeit, und sie hatte diesem Garten von seiner
Schönheit genommen, was sie wollte. Es mußte viel Zeit
gewesen sein, viele Jahre, und doch konnte man den Garten immer
noch als Garten erkennen: Hohe graue Mauern umgaben das
Gelände, und nur ein schmiedeeisernes Tor, verrostet und halb
aus seinen Angeln gebrochen, führte hinein. Manchmal
fühlte Alexander noch Kies unter seinen Füßen
knirschen, und er wußte, wo die Wege waren - etwas in ihm
kannte diesen Garten, obwohl er nicht wußte, woher - die
Wildnis war hierher zurückgekehrt, lange bevor Alexander
geboren wurde. Und der Garten war immer noch schön, oder sogar
noch schöner. Niemand kam mehr, um zurückzuschneiden, was
blühen wollte - die Büsche, die Bäume, sogar das
Gras - alles durfte blühen.
Der Weg, dem Alexander folgte, war zu gerade, zu ordentlich, um
noch hierher zu passen, und doch führte er ihn zu einem Engel.
Alexander sah ihn auf einer Art Bank sitzen, eine große
geflügelte Gestalt, schwarz vor der Dämmerung, und lief
auf ihn zu.
Doch es war kein wirklicher Engel. Er war aus Stein. Nur eine
Statue, bewachsen mit Moos und Brombeerranken. Alexander
berührte sie - es war wirklich nur ein behauener Stein.
Alexander seufzte, mehr vor Erleichterung denn vor Sorge. Steinerne
Engel konnten ihm nichts tun. Und doch hoffte er einen Moment lang,
daß er Korisander in diesem Garten treffen würde, oder
Koris.
Er ging weiter, folgte seinem Weg bis zur nächsten Statue,
einem stehenden Engel, der zu Boden blickte. Alexander erkannte ihn
nicht - in dem grauen Stein konnte man weder Haar, noch Augenfarben
darstellen, und der Bildhauer hatte dem Engel auch keine Attribute
mitgegeben. Es war einfach nur ein wunderschöner, toter,
namenloser Engel.
Er war nicht der letzte. Nachdem Alexander einmal auf die Engel
aufmerksam geworden war, entdeckte er immer mehr: Leblose
Gestalten, die halb von Sträuchern umwuchert waren, im
Schatten von Bäumen standen oder, wie er Erste, auf steinernen
Bänken saßen. Zuerst dachte Alexander, daß es nur
sieben waren, doch dann fand er den achten. Er lag umgestürzt
im hohen Gras. Sein Kopf war abgebrochen und lag ein paar Fuß
weit daneben, die blicklosen Augen starr nach oben, zum
grauverhangenen Himmel gerichtet. Das Gesicht war zu klar
gemeißelt. Es war das von Koris.
Alexander lachte auf. Davon ließ er sich nicht beeindrucken.
Er trat mit dem Fuß nach dem steinernen Kopf, um ihn zur
Seite zu treten, um zu zeigen, daß das nur eine Figur war,
die wie Koris aussah, weil man alle Engel mit seinem Gesicht
darstellte. Aber er trat härter zu, als es ihm gut tat in
seinen leichten Sandalen - der Kopf, vielleicht seit Jahrzehnten an
dieser Stelle, rührte sich nicht, und Alexander humpelte
davon. Sein Fuß fühlte sich an, als wäre er
gebrochen. Es tat weh, auf eine fremde, dumpfe Weise.
Auf einem Bein hüpfte er vorwärts, wütend auf sich
selbst und darauf, daß er es hier an nichts auslassen konnte.
Er fühlte sich dumm und lächerlich, und das einzig
Tröstliche war, daß ihn hier zumindest niemand so sehen
konnte.
Ein leises Lachen ließ ihn zusammenfahren. Beinahe wäre
Alexander hingefallen, doch er biß die Zähne zusammen
und stand auf beiden Füßen. Links von ihm standen die
Überreste eines runden Springbrunnens - ausgetrocknet,
bemoost, halb in sich zusammengefallen. Doch die Gestalt auf dem
Rand war nicht aus Stein. Alexander blickte in zwei große
goldene Augen, in denen all das Leben lag, das den acht
versteinerten Engeln fehlte.
»Also hast du mich endlich gefunden?« fragte
Damiander.
»Ich habe dich nicht gesucht«, erwiderte Alexander.
»Ich suche meinen Bruder.«
»Auch dann bist du am Ziel angelangt«, lächelte
der Engel. »Tritt näher und wage einen Blick in die
Tiefe!«
Alexander rührte sich nicht. Irgend etwas war falsch an der
Art, wie Damiander dort saß, aber er kam nicht darauf, was es
war.
»Worauf wartest du? Willst du nicht zu ihm?«
Zögerlich trat Alexander heran. Sein Fuß zwickte noch
ein wenig, aber es war nicht schlimm. Nicht im Vergleich zu der
Angst.
»Bevor du in den Brunnen schaust«, sagte Damiander,
»schau mich an, und beantworte mir eine Frage: Wen begehrst
du am meisten auf der ganzen Welt?«
Damiander. Alexander begehrte Damiander. Es war unmöglich,
jemand anderen zu begehren, während man Damiander ansah.
Alexander schluckte. Dann sagte er: »Koris.«
Der Engel sah ihn scharf an. »Und wenn du dich entscheiden
müßtest?« Er bewegte sich nicht, während er
sprach. Nicht einmal seine Lippen.
Alexander schwieg.
»Du mußt nicht antworten. Du hast dich bereits
entschieden. Nun schau in den Brunnen!«
Der Brunnen war aus verwittertem grauem Stein, vielleicht zwei
Schritt im Durchmesser, und das Becken ragte Alexander bis zur
Hüfte. Alexander erwartete, einen rissigen Steinboden zu
sehen, vielleicht etwas Moos, vielleicht ein paar wilde Blumen,
Birkenschößlinge oder Brombeeren.
Doch es gab keinen Boden. Fast hätte Alexander das
Gleichgewicht verloren, als er in einen grundlosen, tiefschwarzen
Abgrund blickte. Nur die jähe Kälte, die ihm ins Gesicht
schlug, rettete ihn.
»Fall nicht!« sagte Damiander freundlich. »Ich
sagte hineinblicken, nicht hineinspringen.« Mit einer Hand
hielt er Alexander am Arm fest, die andere spielte er mit dem
Kelch.
Alexander schnappte nach Luft und Worten. »Das… das
ist… der Abgrund!« stammelte er.
Damiander drehte ihn um, so daß er nicht mehr in die Tiefe
blicken mußte. Er lächelte. »Ja. Das
müßtest du doch inzwischen wissen. Überall, wo ein
Himmel ist, ist auch ein Abgrund. Und umgekehrt. Du weißt,
warum ich ihn dir gezeigt habe?«
Alexander nickte. Die Worte fielen ihm leicht, so dicht neben dem
Nilomar. Vielleicht konnte Koris ihn hören. »Mein Bruder
ist dort unten«, sagte er leise.
»Dann hast du ihn jetzt gefunden.« Damiander
rückte ein Stück zur Seite, als wolle er den Beckenrand
für Alexander frei machen.
Alexander schrak zurück. »Nein! Ich kann das nicht! Ich
kann nicht -« Warum sagte er nicht: Will nicht?
Damiander stellte den Kelch auf dem Brunnenrand ab, stand auf und
drückte Alexander an sich. »Aber - aber.« Nur
einen Moment lang durchflutete seine Wärme Alexander.
»Niemand verlangt von dir, daß du dich in den Abgrund
stürzt… Blicken, nicht springen.«
Ein fremder Name bildete sich in Alexanders Kopf. Halan
wäre gesprungen. Wer war Halan?
»Nun hör auf zu zittern«, sagte Damiander.
»Und sieh hin.« Er ließ Alexander wieder los,
nahm seinen Kelch und tauchte ihn in den Abgrund, so tief,
daß sein Arm bis zur Schulter im Nichts versank. Dann zog er
seine Hand langsam wieder heraus und streckte Alexander den Kelch
hin. Er war bis an den Rand gefüllt mit einer
Flüssigkeit, die so schwarz war wie der Abgrund, und
glänzte.
»Nimm«, sagte Damiander, »und trink.«
Alexander stellte keine Fragen, aber seine Hände zitterten so
sehr, daß er nicht selbst zugreifen konnte. Vorsichtig, so
daß nichts von der Schwärze überschwappte, legte
Damiander Alexanders Finger um den Kelch. Dann nickte er.
Alexander hob den Kelch - und hätte ihn im nächsten
Moment vor Schmerz beinahe fallen gelassen. Die Wunden an seinen
Händen brachen auf, und Blut quoll daraus hervor, kaltes
schwarzes Blut. Es rann über seine Unterarme und tropfte auf
seine Füße.
Doch Damiander schien es nicht einmal zu bemerken. »Worauf
wartest du noch? Trink.« Er sagte es freundlich, und dennoch
war es ein Befehl. Nichts in Alexander wollte sich
wiedersetzen…
Er konnte nur kläglich flüstern: »Aber…
dann sterbe ich!«
»Ja«, sagte Damiander ruhig. »Aber wenn du das
Ende aus meiner Hand empfängst, wird es dir wunderschön
erscheinen.«
Alexander starrte ihn an, den Kelch mit blutenden Händen
umklammernd. Erst jetzt fielen ihm die großen dunklen
Schatten hinter Damianders Rücken auf. Sie hatten sie Form von
Flügeln.
»Du… du bist der Engel des Todes!« stieß
er hervor.
Damiander lachte. »Nein. Ich bin der Engel des Rausches. Das
macht mich zum Herrn über Leben und Tod.«
Alexander zwang sich, nicht mehr zu zittern, als er kleine
Schritte vorwärts machte und endlich den Kelch auf dem
Brunnenrand abstellte. Er schaute Damiander dabei in die Augen -
nicht, weil es ihn stärker erscheinen ließ, sondern nur,
um die tiefe nicht sehen zu müssen. »Ich werde das nicht
trinken«, sagte er fest. »Ich werde leben. Fahr wohl,
Damiander.«
Er wandte sich zum Gehen. Die Wunden an seinen Händen
begannen sich langsam zu schließen, aber das Blut sickerte
immer noch aus ihnen, und seine Beine waren so wacklig, daß
er zu fallen fürchtete.
»Wo willst du hin?« fragte Damiander.
»Heim. Zu Halan. Leben.«
»Aber das kannst du nicht«, sagte der Engel.
»Was glaubst du denn, wo du bist? In wessen Reich?«
»In deinem. Aber du wirst mich gehen lassen.«
Damiander schüttelte den Kopf. »Mein Reich kennst du
doch, Anders. Dies ist das Reich meines Bruders Eomander. Ich bin
hier nur ein Gast, wie du. Aber ich kann kommen und gehen, wie ich
will.«
»Eomander?« fragte Alexander verwirrt. »Aber das
bedeutet -«
»Der Engel der Träume«, sagte Damiander.
»Von allen meinen Brüdern ist er mir der liebste.
Korisander hat uns beide verleugnet. Aber nun bist du
hier.«
»Ich will fort«, murmelte Alexander. »Sag ihm,
er soll mich gehen lassen!«
»Das kann er nicht«, erwiderte Damiander. »Er
hat dich in dieses Land geholt, und von hier gibt es zwei Auswege.
Du mußt entscheiden.«
»Zwei?« fragte Alexander und mußte wieder auf
den Kelch starren.
»Zwei. Es gibt immer zwei Möglichkeiten. Es gibt immer
einen Abgrund, und immer einen Himmel.«
»Dann wähle ich den Himmel«, sagte Alexander.
»Ah«, sagte Damiander. »Das ändert
natürlich einiges. Warte!«
Er legte den Kopf in den Nacken und schaute gen Himmel. Alexander
folgte seinem Blick, als er ein leises Rauschen hörte. Von
fern nahte ein Schwarm Schwäne. Sie waren noch zu weit
entfernt, um sie zu zählen, aber Alexander fühlte, wie
wieder die Furcht nach ihm griff. Er haßte Schwäne mehr
als irgend etwas anderes, mehr noch, als er Koris und Halan liebte,
aber sie waren die Boten des Himmels, die heiligen Vögel der
Elomaran.
Damiander legte eine Hand hinter seinen Kopf, die andere streckte
er nach oben, und als die Schwäne über ihm waren -
Alexander wußte, daß Damiander keinen der Vögel
berührte. Sie waren viel zu hoch über ihm. Damiander
griff nur in die Luft. Aber der Leitvogel stieß einen
jähen Schrei aus, daß Alexander meinte, sein Kopf
müsse ihm zerspringen, und begann dann langsam zu fallen, in
trudelnden Kreisen, wie ein welkes Blatt.
Ebenso langsam nahm Damiander seine Hand wieder herunter und
öffnete sie. Ein blutiges Stück Fleisch lag darin, mehr
nicht, aber Alexander wußte, daß es das Herz des Vogels
war. Es schlug noch - zuckte in sich zusammen, mehr nicht, und
Alexander fühlte einen Schmerz, der nicht seiner war - und
dann war es still. Irgendwo im Garten schlug der Leib des toten
Vogels auf. Damiander schloß die Hand wieder.
Dann nahm er einen Kelch - woher, wußte Alexander nicht, er
war einfach plötzlich in Damianders Hand - und drückte
das Herzblut hinein, wie Wasser aus einem Schwamm. Kälte griff
nach Alexander, doch er konnte nicht fortlaufen. Er wußte,
gleich würde Damiander ihm den Kelch hinstrecken wie den
ersten, würde sagen »Trink« - und dann?
Mußte Alexander es trinken, so wie… damals.
»Trink«, sagte Damiander und streckte ihm den Kelch
hin. Alexander nahm nicht an. Damiander stand ruhig da, sagte
nichts, drängte nicht und zog die Hand nicht zurück. Die
Flüssigkeit in diesem Kelch war genauso nachtschwarz wie die
aus der Tiefe - genauso bedrohlich, genauso tödlich.
Damiander nahm auch den ersten Kelch vom Brunnenrand und hielt sie
beide Alexander hin, der nun nicht einmal mehr sagen konnte,
welcher Kelch welcher war. Damianders Stimme war sanft.
»Du mußt dich entscheiden. Eines von beiden mußt
du trinken - das Blut der Tiefe oder das Blut des
Himmels.«
»Aber welches ist das richtige?« fragte Alexander
stimmlos.
»Es ist beides das wahre Blut, aber nur eines ist der wahre
Kelch. Das Blut der Tiefe wird dich töten. Das Blut des
Himmels wird dich schmerzen. Entscheide dich.«
Er stellte beide Kelche auf dem Rand des Abgrundbrunnens ab,
machte zwei Schritte zurück, wartete noch einen Augenblick,
und als Alexander sich immer noch nicht rührte, noch immer
keine Entscheidung traf, wandte er sich zum Gehen.
Zwei Kelche auf steinerner Kante, beide gleich, darüber der
Himmel, darunter der Abgrund. Zwei Spiegel schwarzen Glanzes, wie
Augen im Nebel, eines wie das andere… Alexander wollte fort.
Alexander wollte leben.
»Damiander!« rief er. Der Engel war schon fast
verschwommen im aufsteigenden Zwielicht, doch er blieb stehen.
Alexander atmete tief durch, riß seinen Blick von den Kelchen
fort und lief zu Damiander hinüber. Der Engel schüttelte
den Kopf.
»Es tut mir leid, aber diesmal kann ich dir nicht
helfen.«
Alexander blickte ihm in die Augen. »Doch«, sagte er.
»Bring mich zu deinem Bruder.«
Gold glomm in Damianders Augen auf, als er lächelte und
nickte. »Gut«, sagte er, und »komm.«
Er streckte Alexander die Hand hin, und Alexander nahm sie, und
Damiander brachte ihn zum Engel der Träume.
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