Siebtes Kapitel

Ein Pochen, als sei Alexander während der Nacht ein zweites Herz gewachsen. Er konnte es schlagen hören, es fühlen. Es war nicht wie Schmerzen. Halan meinte die ganze Zeit, daß Alexander Schmerzen haben mußte; er sah ihn immer so besorgt an… Es war schön zu wissen, daß er ihm nicht egal war, aber Halan irrte.
Alexander verspürte keine Schmerzen mehr. Alexander spürte gar nichts. Er konnte seine linke Hand nicht mehr bewegen. Es ging einfach nicht. Halan war klug, und auf gewisse Weise hatte er Recht: So, wie Alexander seine Hände verletzt hatte, müßte er nun eigentlich vor Schmerz schreien. Aber jede Bewegung, auch jeder Versuch einer Bewegung, hätte dieses Gefühl der Taubheit zerstört, das Alexander erreicht hatte. Schmerzen waren gut. Schmerzen ließen ihn wissen, daß er am Leben war.
An diesem Morgen wollte Alexander nicht am Leben sein.
Das Pochen in seiner linken Hand ließ nicht nach. Alexander hob den Arm und starrte sie im Morgenlicht an. Sie schien zu pulsieren unter ihrem Handschuh. Etwas Lebendiges, das an etwas Totem hing. Alexander fühlte das Pochen. Seine Hände fühlte er nicht.
Im Nachbarbett lag Halan und schlief. Über ihn hinweg konnte Alexander auf das nächste Bett blicken, in dem Janek lag, wahrscheinlich auch schlafend, aber Alexander kannte ihn nicht gut genug, um zu wissen, ob er nicht vielleicht nur so tat als ob. Am liebsten hätte Alexander sich über Halan gebeugt, um ihn zu küssen, jetzt, wo er sich nicht wehren konnte…
Aber im Bett hinter Janeks lag noch ein Mann, und dahinter wahrscheinlich noch einer, und noch einer… der ganze Giebelraum in diesem Gasthaus war ein einziger Schlafsaal, und die einzige Möglichkeit, ein Nachtlager zu finden. Was für ein Unterschied zu den Zimmern bei Damiander…
Alexander schüttelte sich und merkte, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Dabei ging es ihm beinahe gut, und kalt war ihm auch nicht.
Aber woher auch immer es kam - es reichte, um Halan zu wecken. »Anders, ist alles… bist du in Ordnung?« murmelte er, bevor er auch nur die Augen geöffnet hatte.
»Meine Hände tun noch ein bißchen weh«, erwiderte Alexander, der Halan viel zu gut kannte: Halan hatte gestern die Wunden gesehen, und wenn Alexander behauptete, heute nichts mehr von ihnen zu spüren, hätte das seinen scharfsinnigen Geliebten nur argwöhnisch gemacht. »Und sie jucken so.« Jucken war gut. Jucken klang nach Heilung.
Halan setzte sich auf und blickte Alexander ins Gesicht. »Du siehst nicht gut aus. Bist du sicher, daß du es schaffst?«
Alexander lächelte, und es fiel ihm leicht. »Ja«, sagte er. »Vertrau mir. Bis heute Abend halte ich durch. Dann können wir sie uns in Ruhe ansehen. Sag Janek nichts.«
Halan sagte Janek nichts, und auch nicht den hundert anderen Männern im Schlafsaal. Zu dritt brachen sie auf, als wäre alles in Ordnung - aber Alexander wurde schwindelig, als er aufstand, und er mußte sich selbst belügen, um zu behaupten, daß er kein Fieber hatte. Er verzichtete auf das Frühstück, sogar auf seine warme Milch, weil er nicht wußte, mit was er die Schale halten sollte - er hatte Durst, entsetzlichen Durst, aber ihm fiel nichts anderes ein, als sich über die Milch zu beugen und zu trinken wie ein Tier, und kein Fieber, keine Schmerzen der Welt konnten ihn so tief sinken lassen. Sein Kopf war schwer, wäre fast von selbst auf die Tischplatte gesackt - aber Alexander riß sich zusammen. Heute konnte er nichts mehr tun. Heute war es an Farrell, ihn zu retten.
Farrell war klug, er wußte den Weg, er verstand Alexander besser als jeder andere, besser sogar als Halan, Farrell konnte Alexanders Gefühle verstehen… Koris hatte ihm damals Farrell zum Geschenk gemacht, nicht irgend ein Pferd, sondern das Beste von allen… Erst jetzt begriff Alexander, wieviel von seinem Bruder, von dem Mann, den er geliebt hatte und immer lieben würde, in den Augen, in der Seele des Pferdes war… Er war nicht verloren. Er war gerettet. Um Koris’ Liebe Willen hatte er geblutet, und Koris würde bei ihm sein, jetzt und heute, er ließ ihn niemals allein…
Das Glück durchflutete Alexander, als sie in den Morgen ritten. Er nahm die Umgebung nicht wahr, nicht das kühle, sonnige Wetter und nicht Halan oder Janek, aber er fühlte die Liebe in sich pochen, er fühlte sie brennen, und Koris war bei ihm.
Koris war bei ihm, und Koris hielt ihn fest, Koris trug ihn, und Koris fing ihn auf, als Alexander seitwärts vom Pferd rutschte und in die Schwärze stürzte.

Unter sich hörte Alexander das brausende Rauschen, und der Wind, der ihm ins Gesicht wehte, schmeckte nach Meer. Alexander schloß die Augen und stand einen Moment lang ganz still, streckte langsam den Rücken durch und den Kopf in den Nacken, und wartete darauf, vornüber zu stürzen. Vor seinen Zehen gähnte der Abgrund der Klippe.
»Noch nicht«, sagte eine Stimme hinter ihm, eine, die er nur allzu gut kannte. Alexander fuhr herum und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, wäre gestürzt, doch er fing sich wieder.
Er fing sich allein. Koris unternahm nichts, um ihn zu halten.
»Koris!« schrie Alexander, stürzte auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. »Du hast mir so gefehlt!«
Doch Koris faßte Alexanders Arme und bog sie von seinem Körper fort. Seine Hände waren so kalt, wie es keine lebende Hand sein konnte. »Das glaube ich nicht.« Seine Stimme war wie das Meer: Tief, und kalt, und fern. »Du hast mich verraten.«
»Ich wollte es nicht. Ich habe es immer geheim gehalten, ehrlich.«
Koris schüttelte den Kopf, doch die Krone rührte sich nicht. Alexander war froh, daß sie wieder da war, wo sie hingehörte. »Du hast aufgehört, mich zu lieben, Anders. Warum hast du mit meinem Sohn geschlafen, anstatt auf mich zu warten?«
»Weil er wie du ist! Weil du tot bist, und weil du niemals wiederkommst!« schrie Alexander.
»Ich bin jetzt wiedergekommen«, erwiderte Koris. »Und was habe ich vorgefunden? Ich wußte, daß mein Sohn den Namen unseres Blutes nicht verdient hat. Aber daß ich mich auch in dir so täuschen mußte…« Er nahm die Krone ab und wog sie in Händen. »Siehst du das hier? Das ist Korisanders Erbe.«

Korisander. gemalt von Aeyolscaer

Alexander nickte, sprachlos. Der Salzgeschmack auf seiner Zunge, die Tropfen auf seinen Wangen mußten vom Meer kommen. ‘Ich liebe dich’, wollte er sagen. ‘Ich habe dich immer geliebt.’ Aber obwohl es mehr stimmte als jemals zuvor, brachte er es nicht über seine Lippen.
»Dann schau her«, sagte Koris. »Wenn ich sehe, wer mir als Erbe folgen soll, bleibt mir nur eines übrig.« Er holte aus und schleuderte die Krone in die Luft, über die Klippe und weit, weit ins Meer hinein. »Und jetzt leb wohl, Anders. Ich habe einen Weg gefunden, zurückzukommen. Ich wäre bei dir geblieben, für immer. Aber du hast mich verraten.«
»Leb wohl, Koris«, flüsterte Alexander und senkte den Kopf, um seinem Bruder nicht in die Augen zu schauen.
Mit seiner kalten Hand strich Koris ihm noch einmal über das Haar, dann neigte er sich zu ihm hinunter und küßte ihn auf die Stirn. Ein Schauder durchlief Alexander, aber kein angenehmer - es war, als würde Koris’ eisige Lippen das Leben aus ihm saugen, oder mehr noch, seinen Verstand.
»Leb wohl, Anders«, flüsterte Koris noch ein letztes Mal.
Dann stieß er ihn von der Klippe.
Die Krone war in hohem Bogen geflogen, wie eine Sternschnuppe, doch Alexander fiel wie ein Stein. Er fühlte nicht den Moment, in dem noch Luft um ihn war, er fühlte sofort das Meer, wie es über ihm zusammenschlug und ihn umgab. Das Meer war unendlich, unendlich tief, und es verschluckte Alexander dankbar wie etwas, auf das es lange gewartet hatte. Alexander kämpfte nicht gegen das Versinken an.
»Noch nicht«, sagte eine Stimme an seinem Ohr, und von hinten legten sich zwei Arme um ihn, hielten ihn, und zogen ihn dann langsam zur Oberfläche. Alexanders Kopf war erfüllt von einem pulsierenden Rauschen, das er für seinen Herzschlag hielt, oder den seines Retters, bis er begriff, daß er nicht gleichmäßig nach oben getragen wurde, sondern mit kräftigen Schüben - und was er hörte, war das Schlagen von zwei mächtigen Schwingen, mit denen der Engel des Meeres sein Reich durchpflügte.
»Wer bist du?« wollte Alexander fragen, und »Wie kommst du hierher?« Doch in dem Moment, in dem er den Mund auftat, legte sich von hinten eine Hand fest darüber, und eine Stimme sagte, mehr in seinem Kopf denn in seinen Ohren:
»Sprich kein Wort, und versuche nicht zu atmen. Du trägst meinen Namen, kleiner Alexander, doch du bist nicht von meinem Blute, im Wasser nur geschaffen für den Tod, nicht für das Leben.«
Alexander versuchte, den Kopf zu schütteln - das ging nicht, er mußte doch atmen! - als er merkte, daß der Elomaran Recht hatte. Er durfte kein Wasser einatmen, doch er brauchte auch keine Luft: Sein Körper verharrte, so wie er war, und Alexander gab sich der Tiefe hin, und der rettenden Umarmung des fremden Engels, bis sie endlich, nach langer Zeit, viel länger, als der Sturz gedauert haben konnte und das Versinken, die Wasseroberfläche durchbrachen.
Aber der Engel schwamm nicht an Land. Seine Flügel waren aus Schaum, doch sie bewegten die Luft ebenso wie das Meer, und mit seiner sterblichen Last auf den Armen stieß der Engel des Wassers hinauf in den Himmel, hinauf bis zu der Klippe, und dort setzte er ihn ab und befahl ihm zu atmen.
Verzweifelt blickte sich Alexander oben auf der Klippe um. Aber dort war nur Gras, und der Engel, und er… Koris war fort.
»Wo ist Koris?« fragte er verzweifelt, und alles andere, was er den Engel hatte fragen wollen, war vergessen.
Der andere Alexander lächelte, aber sein Gesicht war ernst. »Er ist nicht hier. Du solltest ihn suchen gehen. Hier kannst du nicht bleiben.«
Seine Haare waren schwarz, doch sie hatten einen grünlichen Glanz, der an Algen und Seetang denken ließ, und dunkelgrün waren auch seine großen Augen. Er mochte schön sein, doch Alexander wollte ihn nicht schön finden, er wollte Koris wiederhaben, der zehnmal, hundertmal schöner war.
»Geh, Alexander!« sagte der Engel noch einmal. »Dein Engel hat dich verflucht, und du darfst an keinem Ort verweilen. Du hast Unheil über dein Haus gebracht, nun bringe Unheil über alle anderen Häuser, auch über meines.«
Verwirrt blickte Alexander den Engel an. »Aber wenn du das weißt - warum hast du mich dann gerettet?«
»Weil es deine Aufgabe ist, Unheil zu bringen, nicht, zu ertrinken. Und weil ich einigen der anderen ein wenig Unheil durchaus wünsche. Von meinem Haus weiß ich, daß es stark genug ist, um zu überleben. Das Meer stärkt meine Kinder, und solange es Ebbe und Flut gibt, wird mein Haus stark sein. Und jetzt geh, Alexander! Nimm dies hier mit, und geh!«
Er hielt ihm etwas hin, das so silbrig funkelte wie die feinen Schuppen, die seine Haut bedeckten, so daß Alexander es erst nicht erkannte. Aber es war nicht, wie er einen Moment lang geglaubt hatte, die legendäre Perle des Meeres, sondern ein silbernes Medaillon, das Alexander seltsam fremd und zugleich bekannt vorkam - doch erst, als es in seiner Hand lag, erkannte er es wieder: Es war sein eigenes Amulett, Koris’ Amulett, das Alexander zum Angedenken tragen sollte - Wann hatte er es verloren? Alexander wußte es nicht mehr, und das tat weh.
Das Amulett tat weh. Es brannte sich in Alexanders Handfläche ein, als glühe es - doch er hielt es fest, er hätte es schon damals festhalten sollen, doch er hatte es verloren.
»Geh!« wiederholte der Elomaran. »Du kannst nicht hierbleiben. Geh!« Mit den Worten ging er zur Klippe, und sprang.
Alexander folgte ihm; die Tiefe faszinierte ihn ebensosehr wie seinen Neffen, und er blickte hinunter…
Das Meer war verschwunden, der Boden ausgedorrt, als sei noch niemals ein Tropfen Wasser darüber geflossen. Und weit weit unter, zwischen den Steinen, lag der Körper von Alexander, Engel des Meeres…
Alexander schrie, und seine Augen öffneten sich.

Einen Moment lang glaubte Alexander, daß er in Koris’ Gesicht blickte, doch dann merkte er, daß es nur Halan war. Aber nur einen Augenblick später verschwanden die vertrauten Augen wieder und wichen Janeks.
»Kannst du mich hören, Anders? Kannst du mich hören?«
Alexander nickte. »Natürlich, du mußt nicht so -«
Brüllen, wollte er sagen, aber so weit kam er nicht. Janek fuhr ihn an: »Hören, sagte ich, nicht quatschen! Du hättest gestern genug Zeit gehabt, um etwas zu sagen, du und dein feiner Neffe. Jetzt bist du ganz still! Beiß die Zähne zusammen, und wage es nicht, noch einmal umzukippen!«
Alexander wollte etwas erwidern, irgend etwas, erklären, daß es ihm gut ging, daß alles in Ordnung war - doch er mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Seine Hände…
»Wie könnt Ihr es wagen, in diesem Ton mit ihm zu reden?« fauchte Halan. »Sehr Ihr nicht, daß er krank ist? Und wißt Ihr nicht, wo Ihr steht?«
Im Liegen, hilflos, ohne sich rühren zu können - ohne zu wissen, wie es ging, wie er ohne seine Hände aufstehen sollte - sah Alexander, wie Janek, noch kniend, herumfuhr und Halan ohrfeigte.
»Wenn ich jetzt nicht ihn hätte, um den ich mich kümmern muß«, knurrte Janek, »würde ich dir eine solche Tracht Prügel verpassen, daß du übermorgen noch nicht wieder weißt, wer du bist! Es ist doch nur deiner Dummheit zu verdanken, daß er hier liegt - Feiglinge seid ihr, alle beide - du auch!« fuhr er Alexander an. »Und jetzt gib mir deine Hände!«
Alexander suchte Halans Augen - er wollte Liebe darin sehen, und eine Entschuldigung - warum ließ Halan zu, daß Janek so mit ihm umsprang? Warum stand er Alexander nicht bei?
In Halans Augen fand er keine Antwort, nur Angst. Doch er hielt sich an ihnen fest, schon um nicht mit ansehen zu müssen, wie Janek ihm die Handschuhe von den Fingern zerrte, um nicht -
Die Schmerzen rasten durch Alexanders Körper und barsten in seinem Kopf, doch er schrie nicht. Nie in seinem Leben hatte jemand Alexander grob behandelt, außer ihm selbst, aber Janek kannte keine Vorsicht, er riß den Stoff mit einem brutalen Ruck herunter, und fluchte.
Alexander warf den Kopf in den Nacken, vor Schmerzen, und vor allem, damit er seine Hände um keinen Preis sehen mußte. Der jähe Schmerz ließ wieder nach, wurde wieder dumpf und vertraut.
»Schau es dir an, Halan«, knurrte Janek durch die Zähne. »Schau es dir an, und merk dir, was du siehst. Vielleicht kennst du es ja schon aus einem deiner Bücher. Ich persönlich kann mich noch nicht entscheiden, was das hier werden soll - Wundbrand oder Blutvergiftung, aber eines von beiden mit Sicherheit.« Er ließ Alexanders Hände los, und selbst das Loslassen was schlimm. »Jetzt knie dich hinter ihn, leg am besten die Knie auf seine Schultern, und halt seinen Kopf fest.« Er lachte böse. »Strafe muß sein, Anders, wird Zeit, daß ihr das mal lernt.«
»Was habt Ihr vor?« fragte Halan mit zitternder Stimme.
»Ich hole den Dreck raus. Ich habe nichts hier von dem, was ein Heiler bräuchte, und ich bin auch kein Heiler. Ich weiß nur eins - wenn ich ihn nicht tüchtig zum Bluten bringe, hält er vielleicht nicht mal mehr bis zum nächsten Ort durch.«
Er nahm Alexanders linke Hand, drehte sie so, daß die Handfläche nach oben zeigte, und im nächsten Augenblick peitschte etwas darauf, daß Alexander vor Schmerzen barst.
Sein Schreien erstickte in Schwärze.

Die Stadt war menschenverlassen, die Häuser ohne Dach, das Weiß ihrer Wände höhnisch grell unter den Rußflecken. Von ihren Bewohnern gab es keine Spur. Alexander stand allein auf der Straße, die immer noch schnurgerade den Hügel hinaufführte. Er hatte das Gefühl, schon einmal in dieser Stadt gewesen zu sein, doch er konnte nicht sagen, woher er sie kannte. Sie war schon lange tot, sehr lange. Kein Rauch lag mehr in der Luft, keine Asche, kein Tod. Als Alexander die Luft einsog, roch er nur den Frühling, und den Regen, und, weit entfernt, Blut.
Alexander rief nicht, fragte nicht nach Überlebenden - daß es hier niemanden gab, konnte er fühlen. Aber oben im Schloß… Alexander wußte nicht, ob das für diese Ruine noch das richtige Wort war, selbst von hier unter konnte er erkennen, daß nur noch die verkohlten Außenmauern standen - aber er machte sich auf den Weg dorthin.
Je weiter er kam, desto beschwerlicher wurde der Weg. Als sei nicht ein Krieg, sondern ein Wirbelsturm über die Stadt hereingebrochen, war die Straße immer öfter versperrt durch zusammengestürzte, gesplitterte Balken, Ziegel- oder Steinhaufen, doch das zeigte Alexander nur, daß er auf dem richtigen Weg war. Der Geruch von Blut wurde stärker. Von der Burg her konnte er Kriegslärm hören.
Doch es waren keine Menschen, die dort kämpften. Als Alexander durch einen schwarzverkohlten Torbogen trat, blickte er in einen leeren, verwüsteten Innenraum, ohne Wände, ohne Decke, ohne Schutz vor dem stärker werdenden Regen. In der Ferne donnerte es.
Zwischen den geschwärzten Steinen kämpften zwei Engel.
Alexander erkannte Lorimander sofort, seine goldblonden Locken naß, zerzaust und unansehnlich, sein muskulöser Körper befleckt mit Blut. Auch seine Flügel waren verletzt - lange, weiße Federn staken abgeknickt heraus, lange weiße Federn lagen verstreut auf dem rußigen Boden… Dieser Anblick entsetzte Alexander so sehr, daß er einen Augenblick brauchte, um den zweiten Engel zu erkennen, dem sich Lorimander so waffenlos entgegenstellt wie damals sein Nachfahr den Löwen…
Schwarz waren die krausen Haare, schwarz waren die wutgespreizten Flügel, nicht wie die Flügel eines Schwanes, sondern eines Raben, und schwarz war auch das Schwert in seiner Hand, wie gebranntes Silber. Vigilander. Und erst jetzt wußte Alexander, woher er diese Stadt kannte. Lomar lag in Trümmern.
Am liebsten wäre Alexander weggerannt - nichts konnte ein größerer Fehler sein, als sich zwei kämpfenden Engeln in den Weg zu stellen - doch er mußte bleiben, und zusehen. Eine tödliche Faszination ging von den Beiden aus, die so völlig in ihren wortlosen Kampf versunken schienen, daß sie die Zerstörung um sie herum gar nicht bemerkten.
Lorimanders Flügel waren gebrochen, er konnte nicht mehr fliegen, doch Vigilanders Füße berührten den Boden kaum, und seine Schwingen durchschnitten die Luft wie die Hiebe seines Schwertes, dem Lorimander auszuweichen suchte. Warum kämpfte der Engel der Stärke nicht? Seine Kraft mußte doch reichen, um Vigilander Arme und Flügel auszureißen - warum unterlag er dann?
Alexander verspürte zu keinem der beiden Engel eine besondere Zuneigung, und er wollte keinen von ihnen gewinnen sehen - aber auch keinen sterben. Zwei Engel hatte er bereits sterben sehen, zwar beides nur im Traum, aber… Es war nichts, was Alexander ein drittes Mal erleben wollte. Und Vigilander war dabei, Lorimander zu töten. Der Engel der Rache zögerte niemals.
Es wurde enger. Langsam, wie Regenwasser, das einen Umhang durchsickerte, drangen ihre Gefühle in Alexander ein, beide zugleich, und gleich stark. Alexander verspürte Todesangst und unbändigen, wütenden Triumph, Feuer und Eis zugleich - es riß ihn entzwei. Alexander zitterte und biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er wollte dazwischendrängen, die Engel auseinanderzerren wie streitende Kinder, sie mit den Köpfen zusammenschlagen und ins Bett schicken. Er wollte sein Schwert durch Lorimander jagen, wieder und wieder und wieder. Er wollte nicht sterben…
Alexander schüttelte sich. Seine Zähne schlugen aufeinander, doch selbst wenn die Elomaran hörten, was um sie herum vorging, so ertranken die Geräusche doch im Brausen des Regens. Wieder hüllte ein Blitz das Innere der Ruine in sein zuckendes Licht, und der Boden erbebte mit dem Donnerschlag, als eine weitere Säule umstürzte. Alexander stürzte, er klammerte sich an seinem Torbogen fest, als ob ihm das Schutz bot - als er etwas bemerkte, dort hinten, in einer Ecke, etwas das im Blitz golden aufleuchtete…
Es war wirklich nur ein goldenes Funkeln, doch Alexander wußte sofort, was es war: Lorimanders Horn, das Horn der Stärke. Alexander rannte los, hielt sich im Schutz der Mauerreste und machte einen Bogen um die Kämpfenden - aber er wollte das Horn nicht für sich. Lorimander brauchte es - ohne seine Stärke war er verloren… Alles, was Alexander wollte, war einen Ausgleich schaffen, um fortrennen zu können, um nicht dabei zu sein, wenn einer der beiden starb - denn dieser Kampf würde nicht aufhören, ehe es vorbei war, so oder so.
Das goldene Horn lag zu Alexanders Füßen, zwischen den zerschmetterten Steinen, doch unbeschädigt. Einen Engel konnte man zerstören, nicht jedoch ihre Schätze… Alexander bückte sich und hob es auf. Es war viel leichter, als er erwartet hatte - nicht aus massivem Gold, sondern aus geschnitztem Holz, oder auch Elfenbein, vergoldet. Aber Alexander nahm sich nicht die Zeit, das Kunstwerk zu bewundern. Form und Material des Horns, wie auch die filigranen Schnitzereien, die es bedeckten, waren völlig bedeutungslos in einem Moment, in dem es nur um Sterben und Töten ging.
Das Horn zu Lorimander zu bringen, hätte bedeutet, selbst in den Kampf hineingerissen, vielleicht von Vigilanders Schwert durchbohrt zu werden. Alexander blieb nur eines übrig: Er hob das Horn an die Lippen und blies hinein.
Das Ergebnis war alles andere als eindrucksvoll: Ein klägliches, röhrendes Röcheln, dem es kaum gelang, das Dröhnen in Alexanders Kopf, geschweige denn den Regen zu übertönen. Doch die Engel hörten es.
Lorimander wandte den Kopf zur Seite und sah Alexander an. Seine Augen, blau wie der Himmel an einem klaren Sommertag, waren dankbar, und einen Moment lang fühlte Alexander so etwas wie Hoffnung im Engel der Stärke aufblitzen.
Es war der Augenblick, bevor Vigilander das Schwert in ihn stieß, seinen Leib durchbohrte, daß die Klinge, blutrot, aber darunter nicht länger schwarz, sondern silbern glänzend, zwischen den Flügeln austrat. Der Engel der Rache tötete immer von vorne.
Lorimander starb lautlos, doch Alexander schrie, vor Schmerzen. Er ließ das Horn fallen und sah, wie es zu seinen Füßen verwitterte, wie das Blattgold absprang und schwarzes, fauliges Holz zurückließ, aus dem die Maden brachen.
Alexanders Schrei erstarb - Tote fühlten keinen Schmerz mehr, und alles, was er jetzt noch wahrnehmen konnte - wahrzunehmen gezwungen wurde - war dieser gräßliche wonnige Triumph.
Mit einem Ruck zog Vigilander das Schwert aus seinem toten Bruder und wog es in Händen. Ohne aufzublicken sagte er: »Lauf nicht weg, Alexander.«
In diesem Moment fand Alexander seine Sprache wieder. »Komm nicht näher!« schrie er. »Rühr mich nicht an! Ich bringe Unheil! Ich werde dich auch umbringen!«
Vigilander kam auf ihn zu, als hätten erst die Worte ihn dazu aufgefordert. Sein Gesicht war nicht länger wutverzerrt - er lächelte Alexander an. »Ich weiß, wer du bist. Wir alle wissen es.« Er kam näher.
Alexander konnte nicht wegrennen, nur weiter zurückweichen, gegen die eingestürzte Wand, in den Schutthaufen hinein. »Bleib stehen! Laß mich in Ruhe!«
Vigilander kam näher, das Schwert jetzt halb erhoben. Alexander drückte sich weiter nach hinten gegen die Mauer.
Doch er fiel nicht durch Vigilanders Hand. Er hatte nicht mit dem Blitz gerechnet. Der Blitz schlug in Vigilanders erhobenes Schwert, aber was dann geschah, konnte Alexander nicht mehr sagen. Alles geschah gleichzeitig - die Blitze überall, die Mauern, die zusammenbrachen. Der letzte Blitz traf Alexander.
Zumindest fühlte er danach keine mehr.

»Ich habe doch gesagt - nicht umkippen!«
Alexander wußte, daß die Schläge in sein Gesicht auch von Janek stammten - Halan würde ihn niemals schlagen. Janek dagegen…
Alexander kniff die Augen zusammen, um sich vor Janeks Händen zu schützen, aber da war es auch schon vorbei. Es tat nicht einmal weh. Alexander blickte sich um. Er lag immer noch am Boden. Halan kniete hinter ihm. Er hatte geweint. Im Geist verfluchte ihn Alexander. Warum weinte Halan jetzt, wo er doch gestern keine Miene verzogen hatte, als sich Alexander die Hände zerschlug? Warum hatte er ihn nicht zurückgehalten?
»Versuch aufzustehen«, sagte Janek leise. Er war nicht böse, mehr… besorgt. »Ich glaube zwar nicht, daß du es schaffst, ohne umzufallen, aber versuch es wenigstens, uns zuliebe.« Endlich lächelte er. Alexander liebte dieses Lächeln, aber man sah es viel zu selten…
Seine Hände kribbelten. Sie schmerzten nicht mehr ganz so sehr wie vorher, aber sie waren taub, wie eingeschlafen. Bewegen konnte er sie nicht. Und als er versuchte, sich aufzusetzen, wurde ihm schwindelig, schwarz vor Augen, nur für einen Moment…
Janek faßte ihn am Arm und zog ihn hoch. »Nein, ich frage jetzt nicht, ob alles in Ordnung ist. Du hast hohes Fieber, und ich habe keine Lust, mich anlügen zu lassen.«
Alexander mußte lachen. Plötzlich erinnerte Janek ihn an Aralee. »Du bist wie meine Mutter«, murmelte er, und erst jetzt, zum ersten Mal seit der Flucht, vermißte er sie. Aralee verstand so viel vom Heilen - nur nicht bei Koris… Das Lachen erstarb. Alexander schluckte ein Schluchzen hinunter.«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Janek eisig. »Nimm ihn mir ab, Halan. Ich kann nicht aufstehen.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Bitte, noch einen Moment… laßt mich noch einen Moment sitzen, bitte.« Ihm war schwindelig, sein Kopf war schwer, und so müde… »Ich will nicht zurück zu den Engeln.« Er fuhr damit fort, den Kopf zu schütteln, jetzt, um wieder zu sich zu kommen. »Ich rede so dumme Sachen…«
Fast wünschte er sich seine Träume zurück. Sie waren schrecklich, aber auf eine schöne Weise, angenehmer als diese Schmerzen, und in ihnen war er wenigstens er selbst, klar im Kopf. Und dort hatte er ein Ziel. Hier hatte er nichts. »Ich will liegenbleiben.«
Halan - zumindest glaubte Alexander, daß es Halan war - drückte ihn an sich. Bestimmt war es Halan. Janek war viel zu grob und unfreundlich dafür. Alexander haßte ihn. Wie hatte er diesen Mann nur jemals mögen können? Immerzu schlug er und meckerte herum… »Komm, Anders, versuch es, du mußt mit uns kommen!
»Du kannst gerne auch liegenbleiben«, fügte Janek trocken hinzu. »Nur ist dann wahrscheinlich, daß du bald gar nicht mehr aufstehst.«
Alexander biß die Zähne zusammen, hielt sich an Halan fest und versuchte, sich aufzurichten - nicht, um aufzustehen, sondern um Janek zu zeigen, daß es nicht ging. Doch dann zog Halan ihn hoch, mit einer erstaunlichen Kraft, und plötzlich stand Alexander auf den Füßen. Er fühlte sich taumeln, doch er fiel nicht um. Nur sein Kopf wurde von nichts gehalten, er kippte nach vorn, auf seine Brust…
Alexander riß die Augen auf, schlagartig hellwach. Er sah an sich hinunter. Er sah Blut. Alles war voller Blut - nicht nur seine Hände, seine Arme - die konnte er nicht einmal sehen, so wie Halan sie hielt - aber alles andere war blutig. Sein Kleid… Halan…
»Ist das meins?« fragte er leise, doch Halan ging nicht darauf ein, was so gut war wie ein Ja. Trotzdem fragte Alexander weiter: »Janek, ist das Blut von mir?« Er sah es. Er konnte es riechen.
Auch Janek war voller Blut. Aber wenigstens nickte er. »Es war die einzige Möglichkeit, den Dreck da rauszuholen. Birkenreisig. Es tut mir leid, wenn es dir weh getan hat. Aber ich mußte dich zum Bluten bringen, egal wie. Tut mir leid.«
Jetzt erwartete er Dank von Alexander, Worte wie ‘Du hast mir das Leben gerettet’ oder etwas in der Art, doch Alexander wollte ihm keinen Gefallen tun. Er schuldete niemandem Dank. Wenn er jetzt anfing, einfach irgendwelchen Leuten zu danken, sich in ihre Schuld zu stellen, würde er alle Engel, und Koris vor allen Dingen, nur um so mehr verraten. Also sagte er: »Es geht schon. Ich werde es überleben. Aber tu das nie wieder.«
Janek senkte das Gesicht, aber Alexander sah, daß er lächelte. Es war das Letzte, was er mit Bestimmtheit sah. Danach verschwamm alles wieder. Ein paar Dinge blieben klar: Sie ließen ihn sich nicht wieder hinlegen, aber sie setzten ihn auch nicht auf Farrell zurück, sondern versuchten, ihn auf ein fremdes Pferd, Halans Pferd, zu setzen. Sie gossen ihm übelschmeckendes, lauwarmes Wasser in den Mund und beschimpften ihn, als er es nicht schlucken wollte. Dann saß er auf dem Pferd, und Halan hinter ihm, und sie ritten… Es war alles nicht wirklich. Es fühlte sich an wie ein stundenlanger Schlaf, wie ein Traum. Alexander war so müde…
Zwischendurch war er er selbst. Zwischendurch tötete er Engel.

Wessen Wald war dies? Alexander glaubte es zu wissen. Er war zu lange durch gewöhnliche Wälder geritten, um zu wissen, daß dieser sich von ihnen so sehr unterschied wie ein Engelsgeborener von einem gewöhnlichen Menschen. Dieser Wald war zu schön, zu grün, zu perfekt, um einfach so vor sich hin gewachsen zu sein. Kein modriges Laub bedeckte den Boden, sondern sattes junges Gras, das jeden Schritt Alexanders abfederte wie ein Kissen. Es machte das Gehen angenehmer und beschwerlicher zugleich.
Das Sonnenlicht spielte im Grün der Bäume und wurde golden, bis es auf den Boden tropfte. In Kalianders Wald fielen die Blätter niemals, und niemals Schnee. Alexander rieb sich die Augen. Immer wieder glaubte er, zwischen den Bäumen den Engel zu erblicken, doch dann war da doch niemand. Auch wenn er den Elomaran fühlen konnte, war er allein. Nur er, und das Licht, und die Bäume.
Niemand sonst, und genau das war falsch: Es war zu still, viel zu still. In diesem Wald hätten die Vögel singen müssen, der Wind in den Bäumen rauschen. Doch dieser Wald war wie ein Gemälde: So schön, und so leblos. Nur etwas rührte sich, am Boden zwischen den bemoosten Steinen: Alexander schlich näher und stand, zu Füßen eines riesigen Baumes, vor einem kleinen Wasser. Eine Quelle schien es nicht zu sein, doch für einen Tümpel war das Wasser zu klar - es floß nicht, doch es war Bewegung darin, Bewegung, die Alexanders Spiegelbild verwirbelte, daß es beinahe so aussah, als trüge Alexander die silbernglänzende Engelskrone auf seinem Haupt.
Er kniete sich hin, um eine Handvoll Wasser in sein glühendes Gesicht zu spritzen, und sein Spiegelbild verschwand. Doch das Bild der Krone blieb. Vorsichtig streckte Alexander seine Hand ins Wasser, er wollte die Krone ergreifen, sie herausziehen, zumindest ein einziges Mal in seinem Leben berühren - doch er war eine Täuschung aufgesessen. Die Krone war nicht im Wasser. Sie saß in der Spitze des Baumes, weit weit oben, und spiegelte sich, nicht in der bewegten Wasseroberfläche, sondern in den hellen glänzenden Steinen auf dem Grund. Alexander hob den Kopf, und sah zu ihr auf, und erstarrte. Er kannte diese Szenerie bereits, doch sie war nicht wirklich, nicht einmal so wirklich wie ein Traum: Er hatte sie sich ausgedacht, für Halan: Die Krone, im Gipfel eines Baumes hängend, und Alexander, der sie pflücken will, und scheitert… Es war nicht echt, nichts, was Alexander erleben wollte. Und doch war er hier, in seiner eigenen Lüge.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf den Baum zu klettern und sich seine Krone wiederzuholen. Vielleicht hatte er alles doch schon einmal geträumt, vor vielen vielen Jahren, als er noch klein war… Alexander legte, immer noch kniend, den Kopf in den Nacken und blickte in den Baumwipfel. Dort war seine Krone, klein und fern und silbern wie der Mond, und ebenso unerreichbar.
Im wirklichen Leben hatte Alexander noch nie einen Baum erklettert, nur durch die hohen Fenster gesehen, wie die Gesindejungen im Park herumturnten. Das war kein Sport für einen Engelsgeborenen, und er hatte sich auch immer zu alt für solches Kinderzeug gefühlt - aber nun mußte er auf diesen Baum steigen, schon allein, damit sich die Krone dort oben als Hirngespinst in Luft auflösen konnte. Es war gut, daß hier niemand war, um ihm zuzusehen.
Alexander war noch nie auf einen Baum gestiegen, und doch wußte er instinktiv, wohin mit seinen Händen und Füßen - doch ob es sich wirklich so anfühlen mußte, wußte er nicht. Der Baum unter seinen Händen erschien ebenso falsch wie zuvor der Boden unter seinen Füßen - zu freundlich, zu geschmeidig, wie abgepolstert - nichts, was man irgendwie fassen konnte. Alexander sah, daß seine Hände nackt waren, glatt und makellos und weiß, doch es war, als trüge er mehrere Handschuhe übereinander.
Aber das Klettern ging leichter als erwartet. Wie auf einer seltsamen Leiter stieg Alexander von Ast zu Ast, sein Ziel immer vor Augen. Er blickte nicht nach unten - aus Angst zu fallen, und um nicht zu wissen, wie der Baum unter ihm aussah. In der Traumgeschichte hatte er nach und nach alles Laub verloren… Alexander kletterte weiter auf den Wipfel zu, hin zu der Krone, die ebenso fern schien wie zuvor. In seinen Ohren war ein Rauschen - es mußte die Anstrengung sein, oder der Schwindel, es kam nicht von fallenden Blättern, ganz sicher nicht, es war nicht wie in der Geschichte…
Natürlich war es das.
Alexander kletterte den Baum hinauf, und die Zweige, an denen er vorbeikam, warfen ihre Blätter ab.
Auch das Klettern wurde beschwerlicher. Langsam wurden Alexanders Arme müde, verloren seine Hände den Halt, drohte er hinunterzustürzen. Je höher er kam, desto feindseliger fühlte sich der Baum an, und toter. Nur oben in der Spitze, wo die Krone hing, war noch ein letzter Rest Laubs zurückgeblieben, und auch diese wenigen Blätter lösten sich und taumelten abwärts, als Alexander, mit einem Arm und beiden Beinen verzweifelt Halt im schwankenden Geäst suchend, die Hand danach ausstreckte. Fast berührten seine Fingerspitzen die Krone. Fast konnte er sie fühlen, als sie aus der Zweiggabelung, wo sie eben noch allem Wehen und Schwanken getrotzt hatte, rutschte und zu fallen begann.
Die Krone fiel langsam, als sei sie nicht schwerer als ein welkes Blatt, tänzelte wiegend in der Luft, um Alexander noch ein letztes Mal zu verhöhnen, und stürzte abwärts, und abwärts…
Alexanders Augen waren gefesselt: Obwohl er den Anblick der Tiefe fürchtete, obwohl ihm schwindelte und er wußte, daß er jeden Moment der Krone nachfolgen mußte, zog es seinen Blick nach unten. Kahl lag der Baum unter ihm, kahl und tot, und kahl und tot waren auch die Bäume ringsum - nicht mehr grün, nur noch grau, und braun, und schwarz, und Alexander begriff, daß man einen Engel auf so viele Arten töten konnte, sogar ohne ihm jemals von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. In diesem Wald war kein Engel mehr.
Aber ein Junge stand da, unter dem Baum, wo in Alexanders Geschichte Halan gestanden hatte. Er mochte vielleicht so alt sein wie Alexander - ein gewöhnlicher Bauernjunge, der im wirklichen Leben so tief unter ihm stand wie nun unter dem Baum. Alexander fragte sich, was er dort tat - er gehörte nicht hierher, nicht in diesen Traum.
Und obwohl er so weit unten stand, daß er so winzig wie ein Kiesel aussah, konnte Alexander ihn doch genau erkennen - es schien, als ob dieser Junge irgendwie wichtig war. Seine schäbige, zerschlissene Kleidung war dunkelgrau, wie alles ringsumher, nur die aschblonden Haare des Jungen bildeten einen kleinen Farbtupfer.
Sanft landete die Krone zu seinen Füßen. Der Junge bückte sich und hob sie mit beiden Händen auf. Dann blickte er zu Alexander hoch, und lächelte. Seine Augen waren grau und sehr groß, und es dämmerte Alexander, daß dies vielleicht doch kein gewöhnlicher Bauernjunge war - eines machte ihn auf jeden Fall außergewöhnlich: Er hatte Alexanders Krone.
In dem Moment, als er sie aufsetzte, als Alexander den Halt verlor und stürzte, erkannte er, was ihm an diesen Augen so seltsam aufgefallen war: Es waren die Augen eines Engels.
Und Alexander fiel.

Alexander erwachte in der Dämmerung. Er wußte nicht, was aus dem Tag geworden war - geschlafen hatte er nicht, soviel wußte er, und doch konnte er sich nur noch an Träume erinnern, Träume, die er lieber vergessen wollte. Aber jetzt waren sie vorbei. Jetzt war das Fieber vorbei, und Alexander, vollkommen erschöpft und durchgeschwitzt, war wieder er selbst.
Er lag auf einem rauhen Leinentuch, das nach seinen Vorbesitzern roch, aber zumindest einigermaßen trocken war. Um ihn herum war es dämmrig, und warm - er lag unter einer kratzenden Wolldecke, die wohl eher für ein Pferd gedacht war denn für einen Menschen, und erst recht für keinen Engelsgeborenen. Aber Alexander beschwerte sich nicht und lag ganz still. Die Schmerzen hatten nachgelassen, sein Kopf war wieder klar, aber für alles außer Denken war er noch zu schwach.
»Er bewegt sich«, sagte Halan. »Er wird wach.«
»Er soll schlafen«, erwiderte Janek. »Laß ihn liegen. Er dämmert gleich wieder weg.«
Halan war an Alexanders Seite, seine Hand an Alexanders Stirn. Sie war angenehm kühl. Aber sie blieb nicht lange. Alexander sagte nichts, kein Wort, solange Janek dabei war. Er wollte Halan sagen, daß es ihm leid tat, wollte ihm sagen, wie sehr er ihn liebte, und wenn es bedeutete, tagelang zu schweigen wie eine Totenmagd. »Er hat immer noch Fieber!« sagte Halan verzweifelt.
Janeks Stimme blieb ruhig. »Ich habe nicht gesagt, er ist gesund bis heute Abend. Ich habe gesagt, er überlebt. Ich meine, was ich sage.«
»Aber Ihr sagt nicht, was Ihr meint«, flüsterte Halan.
Janek lachte leise. »Wer tut das schon?«
Alexander unterdrückte ein Lächeln. Sie sollten nicht merken, daß er wach war. Er wollte wissen, wie Halan über ihn redete, wenn er ihn für schlafend hielt. Halan war so leicht zu täuschen, gerade weil er sich für untäuschbar hielt…
»Ihr habt schnell erraten, wer wir sind«, sagte Halan. Er nahm Alexanders Hand und hielt sie so beiläufig, wie er es nur bei einem Schlafenden tun würde. Sicher ahnte Janek längst, was die beiden füreinander empfanden - aber Halan würde sich hüten, vor seinen Augen Händchen mit Alexander zu halten, wenn es wie irgend etwas anderes aussehen konnte als nach Krankenbeistand. In diesem Moment begriff Alexander, was für ein Glück dieses Fieber für ihn war, und wie sehr Halan Koris ähnelte. Doch er lächelte nicht, und er weinte nicht. Halan fuhr fort: »Ich habe bei Euch etwas länger gebraucht. Aber Ihr werdet mir zugestehen, daß es schwieriger war.«
»War es das?« Janeks Stimme war abwesend und abweisend.
Auch ohne die Augen zu öffnen, wußte Alexander, daß Halan bei diesen Worten lächelte. »Eigentlich nicht einmal so sehr. Aber Ihr müßt bedenken, daß Ihr wußtet, daß wir leben, während wir wußten, daß Ihr tot seid.«
Janek lachte kurz und bellend. »Das habt ihr wirklich geglaubt? Ich frage mich, ob an meiner Stelle ein anderer gestorben ist… wünschen würde ich es keinem… Aber ihr habt Recht. Der ich damals war, ist tot. Jetzt bin ich Janek.«
Alexander spürte wachsendes Unbehagen von beiden und hoffte, daß sie nicht abrupt das Thema wechselten - es sah ihnen ähnlich, allen beiden, aber Alexander wollte wissen, um was es ging. Seit wann wußte Halan, wer Janek war? Und warum sprach er Janek - oder wer auch immer der in Wirklichkeit war - direkt darauf an, anstatt erst Alexander einzuweihen und um Rat zu fragen? Alexander fühlte sich verletzt und zurückgewiesen, und ein wenig wütend. Doch er unterdrückte es, konzentrierte sich auf die Gefühle der beiden anderen und blieb ruhig liegen. Halan drückte seine Hand ein wenig. Es tat weh. So, wie er es auch im Schlaf getan hätte, zog Alexander seine Hand zurück. Halan wollte sich also vergewissern, daß Alexander ihn also wirklich nicht hören konnte. Halan wollte ihn hintergehen…
»Ich möchte Euch etwas fragen«, sagte Halan.
»Ach ja? Und ich dachte, du kennst bereits alle Antworten.«
Halan schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich weiß gar nichts. Weniger als gar nichts. Ich kenne nur die Lügen, die in den Chroniken stehen.«
Janek lachte. »Meinst du, das will ich ändern?« Er stand auf. Alexander hörte das Klopfen von Janeks Gehstock auf dem Holzfußboden, und das Schlurfen seines lahmen Fußes. »Warte hier. Halte den Jungen im Auge. Ich komme wieder.«
Eine Tür ging auf und schloß sich wieder, und Alexander wußte, daß sie diesmal ein richtiges Zimmer für sich alleine hatten, keinen Schlafsaal, als Halan ihn auf die Stirn küßte.
»Es wird alles gut, Anders«, flüsterte Halan und küßte ihn noch einmal. »Alles wird gut, aber tu mir das nie wieder an.«
Auch Koris hatte ihn auf die Stirn geküßt, zum Abschied, bevor er… Aber das war in einem Traum. Nur ein Traum von vielen, viel zu vielen an diesem Tag…
Halan schreckte zurück und merkte so nicht, wie Alexander sich unter seiner Berührung verkrampfte. Dann hörte auch Alexander die klopfenden Schritte auf dem Flur. Janek kam zurück.
»Jetzt kannst du von mir aus fragen.«
»Wo wart Ihr?« fragte Halan.
»Schulde ich dir Rechenschaft?« fragte Janek zurück. »Bestimmt nicht. Aber ich habe Wein geholt. Ich werde welchen brauchen.« Etwas kratzte und raschelte. Alexander vermutete, daß es noch ein zweites Bett in dieser Kammer gab, und daß Janek sich gesetzt hatte. »Du kannst mich für einen Säufer halten, wenn du magst. Mir ist ziemlich egal, was du von mir denkst. Früher habe ich mehr getrunken. Jetzt tue ich es nur noch, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Du läßt mir keine Wahl.«
Halan rückte ein wenig zur Seite, und er fühlte sich selbstsicherer an. »Wenn es Euch egal ist, warum verteidigt Ihr Euch dann? Und ich habe Euch nicht gezwungen, Euch uns anzuschließen. Ihr mußtet damit rechnen, daß ich es erraten würde. Also beschwert euch nicht.«
Janek lachte leise, nicht vergnügt, aber doch zumindest amüsiert. »Jetzt sind wir erst seit zwei Tagen unterwegs, und du redest schon wie ich. Also los. Was wolltest du fragen?«
Halan schwieg ziemlich lange. Mehrmals setzte er an, etwas zu sagen, und ließ es doch. Alexander wollte schon aufspringen, ihn schlagen, schütteln und anschreien, endlich zur Sache zu kommen - als Halan schließlich fragte: »Habt Ihr meine Mutter geliebt?«
Seine Stimme war ganz kalt und ruhig, und plötzlich hatte Alexander das Gefühl, genau diesen Moment schon einmal erlebt zu haben - er lag in einem Bett, halb ohne Bewußtsein, seine Hände schmerzten, und Halan fragte: »Hast du meinen Vater geliebt?«… Er konnte das Bild nicht einordnen. Es mußte in einen Traum gehören, und Alexander wollte jetzt nicht wieder einschlafen. Er grub seine Vorderzähne in seine Zunge, bis der Schmerz den Schwindel vertrieb.
»Das ist eine seltsame Frage«, sagte Janek leise und zögerlich. »Seltsam, weil sie überhaupt nichts aussagt. Ich hätte deine Mutter lieben können, soviel ich wollte - keinem von uns wäre etwas geschehen. Deine Mutter hätte sich nach mir verzehren können - wir wären beide heute noch am Leben. Ob wir uns geliebt haben, ist völlig unbedeutend. Entscheidend ist nur die Frage, ob wir miteinander geschlafen haben.«
»Beantwortet meine Frage: Habt Ihr meine Mutter geliebt?«
Janek seufzte. »Wir haben nicht miteinander geschlafen, darauf kommt es an.«
Halan rührte sich nicht, aber er war voll Wut, und sie lag so nah unter der Oberfläche, daß Alexander angst und bang wurde. Niemals würde Halan zulassen… Seine Stimme war so kalt und so beherrscht wie immer. »Ich weiß, was ich frage, und warum. Es interessiert mich nicht, ob ihr miteinander geschlafen habt - ich weiß, daß ihr es nicht habt, ich habe niemals auch nur einen Augenblick an der Treue meiner Mutter gezweifelt - aber ich will wissen: Habt Ihr sie geliebt?«
»Warum?« fragte Janek. »Ich verstehe dich nicht. Verrat mir, warum du fragst.« Er hatte Angst. Obwohl er am anderen Ende des Raumes saß, konnte Alexander es fühlen, und das durch die Mauer von Halan Zorn hindurch. Daß Janek - ausgerechnet Janek! - Angst haben konnte, erschreckte Alexander. Es gab kein Gefühl mehr, in daß er sich flüchten konnte - Angst oder Zorn oder Schmerz, was war ihm lieber?
Halan atmete tief durch, doch ruhiger wurde er nicht. »Warum ich frage«, sagte er langsam, »ist: Ihr und meine Mutter wurdet eingekerkert. Ihr wurdet beide zum Tode verurteilt. Meine Mutter wurde hingerichtet. Ihr sitzt hier, und lebt. Wenn Ihr fliehen konntet - warum habt Ihr Eurer eigenes Leben gerettet, und nicht das meiner Mutter?«
Janek antwortete nicht. Halan wartete geduldig, während Alexander vor Anspannung so schwindelig war, daß er am liebsten aufgesprungen wäre, um sich zu übergeben. Er wollte sich an irgend etwas festhalten, aber es gab nichts, keinen Menschen, und keine Gefühle.
Dann endlich fragte Halan, sanfter: »Habt Ihr meine Mutter geliebt?«
Und Janek sagte: »Nein.«
Halan atmete auf, seine Wut und Anspannung ließen nach, und endlich bekam auch Alexander wieder Luft.
Selbst Janek schien das zu spüren, denn seine Worte kamen nun flüssiger: »Deine Mutter war eine wunderschöne Frau, Halan, das steht außer Frage, aber sie war gut und gerne acht Jahre älter als ich und deinem Vater so treu ergeben, daß sie für mich nicht in Frage kam. Ich war ein junger Spund von Anfang Zwanzig, und am Hof gab es genug Frauen von meinem Stand und in meinem Alter, die ich durchaus interessant fand. Das Problem war nur - sie alle waren unsterblich verliebt in deinen Vater. Ich war sicherlich gutaussehend, niemand stellte mich als Hauptmann in Frage, obwohl ich noch sehr jung dafür war - aber es ist leider unmöglich, das Herz einer flatterhaften jungen Frau zu gewinnen, wenn es einen echten Engelsgeborenen in Sichtweite gibt… Aber sie wußten alle im Grunde ihres Herzens, daß sie ihn niemals bekommen würden, und dann war ich zumindest eine gute zweite Wahl. Ich war nie auch nur in der Verlegenheit, mich ernsthaft in jemanden verlieben zu müssen, weder in deine Mutter noch sonst jemanden. Ab und an ein wenig Vergnügen mag schön sein, aber meine Laufbahn war mir wichtiger.«
Alexander versuchte, sich Janek als jungen Mann vorzustellen, als den Hauptmann, der Koris ins Unglück gestürzt hatte, aber es gelang ihm nicht. Koris hatte seinen Namen niemals erwähnt, ebensowenig, wie er jemals von seiner Frau sprach, und Alexander war dem Hauptmann nie begegnet. Kein Wunder, daß er Janek nicht erkannt hatte…
Janek schwieg, und Alexander hörte, wie er von seinem Wein trank. Dann sagte Halan: »Danke. Ich wußte, daß mein Vater die Anklagen nur vorgebracht hat, um seine Frau loszuwerden… Aber Ihr hättet sie retten müssen an Eurer Statt. Sie war eure Königin.« Kein Vorwurf mehr in seiner Stimme, keine Wut. Halan tat am meisten weh, wenn er so ruhig war.
»Ich konnte sie nicht retten«, erwiderte Janek. »Ich habe es auch nicht versucht. Ich habe nicht einmal daran gedacht. Damals habe ich sie gehaßt. Ich hasse sie heute noch, glaube ich, auch wenn sie ebensowenig Schuld trifft wie mich… Du hast mich mit der Frage überrumpelt. Ich war auf alle vorbereitet außer dieser. Ich hasse nichts mehr, als überrumpelt zu werden… Glaub mir, ich habe mir oft genug vorgeworfen, daß ich sie nicht gerettet habe. Aber für die Vorwürfe hatte ich dreizehn Jahre, und um zu fliehen nur eine Nacht. Meine Männer mochten mich. Jene, die mich bewachen sollten, waren meine Freunde. Sie haben mich nicht freigelassen, aber meine Zelle war nicht richtig versperrt… Ich habe einen Mann niedergeschlagen und bin davongerannt, in der Nacht. Durch das Tor konnte ich nicht entkommen, aber ich bin auf einen Baum geklettert und über die Mauer gesprungen… Es war das letzte Mal, daß ich so etwas getan habe.« Er lachte bitter.
»Euer Fuß?« fragte Halan - interessiert, nicht mitleidig.
»Die Mauer war zu hoch; ich bin falsch gelandet. Ich war ein Mann auf der Flucht, konnte nicht einfach zu einem Heiler gehen, nicht, solange ich in der Nähe von Koristir war. Der Knochen ist schief zusammengewachsen. Ich werde bis zum Ende meines Lebens ein Krüppel sein. Und das verdanke ich alles deiner Mutter.«
»Meinem Vater«, verbesserte Halan ihn kalt. Alexander fror.
»Beiden«, sagte Janek. »Natürlich, sie konnte nichts dafür und hat diese Intrige mit ihrem Leben bezahlt. Aber wenn sie nicht so langweilig für deinen Vater geworden wäre… Sie war schön, aber sie konnte Aralee nicht das Wasser reichen. Aralee war jung und schön und hatte ein Temperament, das sich hinter dem von Anders nicht zu verstecken braucht. Desara - deine Mutter - war zu ruhig und zu blaß neben ihr. Es ist kein Wunder, daß der König ihre jüngere Rivalin begehrte und einen Weg finden mußte, sich seiner Frau zu entledigen.«
Nicht Koris. Sie sprachen nicht über Koris. Sie konnten nicht Koris meinen mit diesen Worten. Koris war nicht so. Koris hatte seine Frau geliebt, und nachdem sie ihn verriet - wenn nicht mit Janek, dann mit irgend jemand anderem, der gerade zur Hand war - liebte er niemanden mehr, bis er Alexander erkannte, oben am Fenster, mit einem Blick, der über das Land strich und eine Hand über Alexanders Rücken, und ihre Liebe vereinte sich… Alexander mußte sich losreißen, mußte sich in Halans Kälte hüllen, um nicht zu weinen und sich zu verraten. Nicht Koris.
»Ihr seid ungerecht«, sagte Halan.
»Ich bin ungerächt. Das ist etwas anderes.«
»Sie ist tot. Ihr lebt.«
»Aber wie?«
»Sagt mir nicht, daß Ihr lieber tot wärt. Ihr hattet dreizehn Jahre Zeit, Euch umzubringen.« Wieder schweigen beide für eine Weile. Dann sagte Halan, versöhnlicher: »Aber Euch werfe ich nichts vor. Ich weiß nicht, was ich an Eurer Stelle täte. Aber -«
Janek unterbrach ihn. »Du bist auch der Letzte, um mir Vorwürfe zu machen! Oder soll ich einmal zur Abwechslung dich etwas fragen? Soll ich dich fragen, was mit Anders’ Händen geschehen ist?«
»Er ist hingefallen«, erwiderte Halan. »Es war ihm peinlich Euch gegenüber, weil es ihn wie ein kleines Kind erscheinen ließ. Also haben wir ihm die Handschuhe übergezogen, und es hat sich entzündet -«
»Ich habe nicht gefragt«, sagte Janek scharf. »Ich sagte nur, ich könnte fragen. Ich könnte jetzt auch sagen, daß ich die Wunden gesehen habe, und daß ich weiß, welche Wunden wie aussehen. Oder, daß Anders’ Fieber noch einen anderen Grund haben muß. Ich laß es bleiben.« Er erhob sich.
»Wartet«, sagte Halan schnell. »Wenn Ihr noch Wein wollt - den kann ich für euch holen. Ihr habt heute schon so viel für uns getan.«
»Das fällt dir aber früh ein«, höhnte Janek. »Danke für dein Angebot, ich halte es in Ehren - aber für heute habe ich wirklich genug von euch beiden. Vielleicht nicht nur für heute. Ich gehe jetzt runter und trinke unten weiter. Du kümmerst dich um Anders - man sollte ihn unter keinen Umständen allein lassen. Kann sein, daß ihr mich morgen nicht mehr seht. Euch zu verfolgen war in Ordnung, aber ich hätte mich euch nicht anschließen dürfen. Bringt nur Ärger.«
Er lachte und hinkte zu Tür. Halan stand auf.
»Wartet«, sagte er noch einmal. »Falls Ihr Euch entscheiden solltet zu gehen - lebt wohl. Ihr könnt nicht erwarten, daß ich Euch zum Bleiben auffordere, aber danke. Ihr habt Anders heute das Leben gerettet. Und das, was geschehen ist, tut mir leid. Wenn Alexander erst König ist, wird er Euch offiziell freisprechen, und Ihr könnt nach Koristan zurückkehren und Euren alten Namen wieder annehmen… Jurik.«
Janek lachte lauter, trunken vor Bitterkeit. »Gibt er mir dann auch meinen Fuß zurück, dein hübscher kleiner König?« Er öffnete die Tür. »Und bitte, laß es bei Janek bleiben. Jurik ist tot.«
»Wartet«, sagte Halan zum dritten Mal. »Nur eine letzte Frage. Ihr liebt sie noch immer, nicht wahr?«
Janek schnaubte. »Ich sagte dir doch, ich habe sie nie -«
»Nicht meine Mutter«, fiel Halan ihm ins Wort. »Aralee.«
Mit einem Knall zog Janek die Tür zu. Seine schweren Schritte verloren sich auf der Treppe.
Das Gespräch war vorbei. Alexander mußte sich nicht länger schlafend stellen; er konnte jetzt aufwachen und mit Halan reden - wenn er auch nicht wußte, worüber. Er wollte Koris verteidigen mit aller Liebe und Vehemenz - aber er durfte ja nichts davon wissen…
Halan sagte nichts mehr, setzte sich nur zu Alexander auf die Bettkante, und seufzte.
Alexander wollte nicht mit ihm reden. Aber als er aufstehen wollte, um zumindest einen Schluck Wasser zu trinken, konnte er seine Augen nicht öffnen, und seinen Kopf nicht heben. Er hatte nicht gemerkt, wie müde er in Wirklichkeit war, und wie sehr es ihn anstrengte, sich zu verstellen.
Vielleicht hatte er sich gar nicht verstellt? Vielleicht hatte er auch dies alles nur geträumt?
Alexander schlief ein.

Einst war dies ein Garten. Einst war dieses Gebüsch ein Busch, war diese Wildnis eine Wiese. Aber die Zeit kannte weder Gnade noch Gerechtigkeit, und sie hatte diesem Garten von seiner Schönheit genommen, was sie wollte. Es mußte viel Zeit gewesen sein, viele Jahre, und doch konnte man den Garten immer noch als Garten erkennen: Hohe graue Mauern umgaben das Gelände, und nur ein schmiedeeisernes Tor, verrostet und halb aus seinen Angeln gebrochen, führte hinein. Manchmal fühlte Alexander noch Kies unter seinen Füßen knirschen, und er wußte, wo die Wege waren - etwas in ihm kannte diesen Garten, obwohl er nicht wußte, woher - die Wildnis war hierher zurückgekehrt, lange bevor Alexander geboren wurde. Und der Garten war immer noch schön, oder sogar noch schöner. Niemand kam mehr, um zurückzuschneiden, was blühen wollte - die Büsche, die Bäume, sogar das Gras - alles durfte blühen.
Der Weg, dem Alexander folgte, war zu gerade, zu ordentlich, um noch hierher zu passen, und doch führte er ihn zu einem Engel. Alexander sah ihn auf einer Art Bank sitzen, eine große geflügelte Gestalt, schwarz vor der Dämmerung, und lief auf ihn zu.
Doch es war kein wirklicher Engel. Er war aus Stein. Nur eine Statue, bewachsen mit Moos und Brombeerranken. Alexander berührte sie - es war wirklich nur ein behauener Stein. Alexander seufzte, mehr vor Erleichterung denn vor Sorge. Steinerne Engel konnten ihm nichts tun. Und doch hoffte er einen Moment lang, daß er Korisander in diesem Garten treffen würde, oder Koris.
Er ging weiter, folgte seinem Weg bis zur nächsten Statue, einem stehenden Engel, der zu Boden blickte. Alexander erkannte ihn nicht - in dem grauen Stein konnte man weder Haar, noch Augenfarben darstellen, und der Bildhauer hatte dem Engel auch keine Attribute mitgegeben. Es war einfach nur ein wunderschöner, toter, namenloser Engel.
Er war nicht der letzte. Nachdem Alexander einmal auf die Engel aufmerksam geworden war, entdeckte er immer mehr: Leblose Gestalten, die halb von Sträuchern umwuchert waren, im Schatten von Bäumen standen oder, wie er Erste, auf steinernen Bänken saßen. Zuerst dachte Alexander, daß es nur sieben waren, doch dann fand er den achten. Er lag umgestürzt im hohen Gras. Sein Kopf war abgebrochen und lag ein paar Fuß weit daneben, die blicklosen Augen starr nach oben, zum grauverhangenen Himmel gerichtet. Das Gesicht war zu klar gemeißelt. Es war das von Koris.
Alexander lachte auf. Davon ließ er sich nicht beeindrucken. Er trat mit dem Fuß nach dem steinernen Kopf, um ihn zur Seite zu treten, um zu zeigen, daß das nur eine Figur war, die wie Koris aussah, weil man alle Engel mit seinem Gesicht darstellte. Aber er trat härter zu, als es ihm gut tat in seinen leichten Sandalen - der Kopf, vielleicht seit Jahrzehnten an dieser Stelle, rührte sich nicht, und Alexander humpelte davon. Sein Fuß fühlte sich an, als wäre er gebrochen. Es tat weh, auf eine fremde, dumpfe Weise.
Auf einem Bein hüpfte er vorwärts, wütend auf sich selbst und darauf, daß er es hier an nichts auslassen konnte. Er fühlte sich dumm und lächerlich, und das einzig Tröstliche war, daß ihn hier zumindest niemand so sehen konnte.
Ein leises Lachen ließ ihn zusammenfahren. Beinahe wäre Alexander hingefallen, doch er biß die Zähne zusammen und stand auf beiden Füßen. Links von ihm standen die Überreste eines runden Springbrunnens - ausgetrocknet, bemoost, halb in sich zusammengefallen. Doch die Gestalt auf dem Rand war nicht aus Stein. Alexander blickte in zwei große goldene Augen, in denen all das Leben lag, das den acht versteinerten Engeln fehlte.
»Also hast du mich endlich gefunden?« fragte Damiander.
»Ich habe dich nicht gesucht«, erwiderte Alexander. »Ich suche meinen Bruder.«
»Auch dann bist du am Ziel angelangt«, lächelte der Engel. »Tritt näher und wage einen Blick in die Tiefe!«
Alexander rührte sich nicht. Irgend etwas war falsch an der Art, wie Damiander dort saß, aber er kam nicht darauf, was es war.
»Worauf wartest du? Willst du nicht zu ihm?«
Zögerlich trat Alexander heran. Sein Fuß zwickte noch ein wenig, aber es war nicht schlimm. Nicht im Vergleich zu der Angst.
»Bevor du in den Brunnen schaust«, sagte Damiander, »schau mich an, und beantworte mir eine Frage: Wen begehrst du am meisten auf der ganzen Welt?«
Damiander. Alexander begehrte Damiander. Es war unmöglich, jemand anderen zu begehren, während man Damiander ansah. Alexander schluckte. Dann sagte er: »Koris.«
Der Engel sah ihn scharf an. »Und wenn du dich entscheiden müßtest?« Er bewegte sich nicht, während er sprach. Nicht einmal seine Lippen.
Alexander schwieg.
»Du mußt nicht antworten. Du hast dich bereits entschieden. Nun schau in den Brunnen!«
Der Brunnen war aus verwittertem grauem Stein, vielleicht zwei Schritt im Durchmesser, und das Becken ragte Alexander bis zur Hüfte. Alexander erwartete, einen rissigen Steinboden zu sehen, vielleicht etwas Moos, vielleicht ein paar wilde Blumen, Birkenschößlinge oder Brombeeren.
Doch es gab keinen Boden. Fast hätte Alexander das Gleichgewicht verloren, als er in einen grundlosen, tiefschwarzen Abgrund blickte. Nur die jähe Kälte, die ihm ins Gesicht schlug, rettete ihn.
»Fall nicht!« sagte Damiander freundlich. »Ich sagte hineinblicken, nicht hineinspringen.« Mit einer Hand hielt er Alexander am Arm fest, die andere spielte er mit dem Kelch.
Alexander schnappte nach Luft und Worten. »Das… das ist… der Abgrund!« stammelte er.
Damiander drehte ihn um, so daß er nicht mehr in die Tiefe blicken mußte. Er lächelte. »Ja. Das müßtest du doch inzwischen wissen. Überall, wo ein Himmel ist, ist auch ein Abgrund. Und umgekehrt. Du weißt, warum ich ihn dir gezeigt habe?«
Alexander nickte. Die Worte fielen ihm leicht, so dicht neben dem Nilomar. Vielleicht konnte Koris ihn hören. »Mein Bruder ist dort unten«, sagte er leise.
»Dann hast du ihn jetzt gefunden.« Damiander rückte ein Stück zur Seite, als wolle er den Beckenrand für Alexander frei machen.
Alexander schrak zurück. »Nein! Ich kann das nicht! Ich kann nicht -« Warum sagte er nicht: Will nicht?
Damiander stellte den Kelch auf dem Brunnenrand ab, stand auf und drückte Alexander an sich. »Aber - aber.« Nur einen Moment lang durchflutete seine Wärme Alexander. »Niemand verlangt von dir, daß du dich in den Abgrund stürzt… Blicken, nicht springen.«
Ein fremder Name bildete sich in Alexanders Kopf. Halan wäre gesprungen. Wer war Halan?
»Nun hör auf zu zittern«, sagte Damiander. »Und sieh hin.« Er ließ Alexander wieder los, nahm seinen Kelch und tauchte ihn in den Abgrund, so tief, daß sein Arm bis zur Schulter im Nichts versank. Dann zog er seine Hand langsam wieder heraus und streckte Alexander den Kelch hin. Er war bis an den Rand gefüllt mit einer Flüssigkeit, die so schwarz war wie der Abgrund, und glänzte.
»Nimm«, sagte Damiander, »und trink.«
Alexander stellte keine Fragen, aber seine Hände zitterten so sehr, daß er nicht selbst zugreifen konnte. Vorsichtig, so daß nichts von der Schwärze überschwappte, legte Damiander Alexanders Finger um den Kelch. Dann nickte er.
Alexander hob den Kelch - und hätte ihn im nächsten Moment vor Schmerz beinahe fallen gelassen. Die Wunden an seinen Händen brachen auf, und Blut quoll daraus hervor, kaltes schwarzes Blut. Es rann über seine Unterarme und tropfte auf seine Füße.
Doch Damiander schien es nicht einmal zu bemerken. »Worauf wartest du noch? Trink.« Er sagte es freundlich, und dennoch war es ein Befehl. Nichts in Alexander wollte sich wiedersetzen…
Er konnte nur kläglich flüstern: »Aber… dann sterbe ich!«
»Ja«, sagte Damiander ruhig. »Aber wenn du das Ende aus meiner Hand empfängst, wird es dir wunderschön erscheinen.«
Alexander starrte ihn an, den Kelch mit blutenden Händen umklammernd. Erst jetzt fielen ihm die großen dunklen Schatten hinter Damianders Rücken auf. Sie hatten sie Form von Flügeln.
»Du… du bist der Engel des Todes!« stieß er hervor.
Damiander lachte. »Nein. Ich bin der Engel des Rausches. Das macht mich zum Herrn über Leben und Tod.«
Alexander zwang sich, nicht mehr zu zittern, als er kleine Schritte vorwärts machte und endlich den Kelch auf dem Brunnenrand abstellte. Er schaute Damiander dabei in die Augen - nicht, weil es ihn stärker erscheinen ließ, sondern nur, um die tiefe nicht sehen zu müssen. »Ich werde das nicht trinken«, sagte er fest. »Ich werde leben. Fahr wohl, Damiander.«
Er wandte sich zum Gehen. Die Wunden an seinen Händen begannen sich langsam zu schließen, aber das Blut sickerte immer noch aus ihnen, und seine Beine waren so wacklig, daß er zu fallen fürchtete.
»Wo willst du hin?« fragte Damiander.
»Heim. Zu Halan. Leben.«
»Aber das kannst du nicht«, sagte der Engel. »Was glaubst du denn, wo du bist? In wessen Reich?«
»In deinem. Aber du wirst mich gehen lassen.«
Damiander schüttelte den Kopf. »Mein Reich kennst du doch, Anders. Dies ist das Reich meines Bruders Eomander. Ich bin hier nur ein Gast, wie du. Aber ich kann kommen und gehen, wie ich will.«
»Eomander?« fragte Alexander verwirrt. »Aber das bedeutet -«
»Der Engel der Träume«, sagte Damiander. »Von allen meinen Brüdern ist er mir der liebste. Korisander hat uns beide verleugnet. Aber nun bist du hier.«
»Ich will fort«, murmelte Alexander. »Sag ihm, er soll mich gehen lassen!«
»Das kann er nicht«, erwiderte Damiander. »Er hat dich in dieses Land geholt, und von hier gibt es zwei Auswege. Du mußt entscheiden.«
»Zwei?« fragte Alexander und mußte wieder auf den Kelch starren.
»Zwei. Es gibt immer zwei Möglichkeiten. Es gibt immer einen Abgrund, und immer einen Himmel.«
»Dann wähle ich den Himmel«, sagte Alexander.
»Ah«, sagte Damiander. »Das ändert natürlich einiges. Warte!«
Er legte den Kopf in den Nacken und schaute gen Himmel. Alexander folgte seinem Blick, als er ein leises Rauschen hörte. Von fern nahte ein Schwarm Schwäne. Sie waren noch zu weit entfernt, um sie zu zählen, aber Alexander fühlte, wie wieder die Furcht nach ihm griff. Er haßte Schwäne mehr als irgend etwas anderes, mehr noch, als er Koris und Halan liebte, aber sie waren die Boten des Himmels, die heiligen Vögel der Elomaran.
Damiander legte eine Hand hinter seinen Kopf, die andere streckte er nach oben, und als die Schwäne über ihm waren -
Alexander wußte, daß Damiander keinen der Vögel berührte. Sie waren viel zu hoch über ihm. Damiander griff nur in die Luft. Aber der Leitvogel stieß einen jähen Schrei aus, daß Alexander meinte, sein Kopf müsse ihm zerspringen, und begann dann langsam zu fallen, in trudelnden Kreisen, wie ein welkes Blatt.
Ebenso langsam nahm Damiander seine Hand wieder herunter und öffnete sie. Ein blutiges Stück Fleisch lag darin, mehr nicht, aber Alexander wußte, daß es das Herz des Vogels war. Es schlug noch - zuckte in sich zusammen, mehr nicht, und Alexander fühlte einen Schmerz, der nicht seiner war - und dann war es still. Irgendwo im Garten schlug der Leib des toten Vogels auf. Damiander schloß die Hand wieder.
Dann nahm er einen Kelch - woher, wußte Alexander nicht, er war einfach plötzlich in Damianders Hand - und drückte das Herzblut hinein, wie Wasser aus einem Schwamm. Kälte griff nach Alexander, doch er konnte nicht fortlaufen. Er wußte, gleich würde Damiander ihm den Kelch hinstrecken wie den ersten, würde sagen »Trink« - und dann? Mußte Alexander es trinken, so wie… damals.
»Trink«, sagte Damiander und streckte ihm den Kelch hin. Alexander nahm nicht an. Damiander stand ruhig da, sagte nichts, drängte nicht und zog die Hand nicht zurück. Die Flüssigkeit in diesem Kelch war genauso nachtschwarz wie die aus der Tiefe - genauso bedrohlich, genauso tödlich.
Damiander nahm auch den ersten Kelch vom Brunnenrand und hielt sie beide Alexander hin, der nun nicht einmal mehr sagen konnte, welcher Kelch welcher war. Damianders Stimme war sanft.
»Du mußt dich entscheiden. Eines von beiden mußt du trinken - das Blut der Tiefe oder das Blut des Himmels.«
»Aber welches ist das richtige?« fragte Alexander stimmlos.
»Es ist beides das wahre Blut, aber nur eines ist der wahre Kelch. Das Blut der Tiefe wird dich töten. Das Blut des Himmels wird dich schmerzen. Entscheide dich.«
Er stellte beide Kelche auf dem Rand des Abgrundbrunnens ab, machte zwei Schritte zurück, wartete noch einen Augenblick, und als Alexander sich immer noch nicht rührte, noch immer keine Entscheidung traf, wandte er sich zum Gehen.
Zwei Kelche auf steinerner Kante, beide gleich, darüber der Himmel, darunter der Abgrund. Zwei Spiegel schwarzen Glanzes, wie Augen im Nebel, eines wie das andere… Alexander wollte fort. Alexander wollte leben.
»Damiander!« rief er. Der Engel war schon fast verschwommen im aufsteigenden Zwielicht, doch er blieb stehen. Alexander atmete tief durch, riß seinen Blick von den Kelchen fort und lief zu Damiander hinüber. Der Engel schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, aber diesmal kann ich dir nicht helfen.«
Alexander blickte ihm in die Augen. »Doch«, sagte er. »Bring mich zu deinem Bruder.«
Gold glomm in Damianders Augen auf, als er lächelte und nickte. »Gut«, sagte er, und »komm.«
Er streckte Alexander die Hand hin, und Alexander nahm sie, und Damiander brachte ihn zum Engel der Träume.

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