Achtes Kapitel

In der Nacht wachte Halan an Anders’ Seite, um endlich einen Moment lang mit ihm allein sein zu können. Er wollte bei ihm sein, wenn er aufwachte. Anders schlief so unruhig, daß Halan ihn nicht allein lassen durfte - er brauchte jemanden, wenn dieser Traum vorüber war, und mehrmals hätte Halan ihn beinahe geweckt - aber es war gut, daß Anders endlich schlief.
Halans Hand ruhte auf Alexanders Arm. Er vermißte den Schlaf nicht. Anders’ Gesicht glänzte vom Fieber; rote Flecken brannten auf seinen Wangen, doch nichts konnte ihm seine Schönheit rauben… Es war leichter, ihn zu lieben, wenn er schlief.
Einen Moment lang nickte Halan ein, doch er schreckte sofort wieder hoch, als Janek ohne anzuklopfen in die Kammer polterte. »Schwerter«, knurrte er. »Ihr habt Schwerter. Wo sind die?«
»Was ist?« fragte Halan alarmiert. »Müssen wir kämpfen? Werden wir angegriffen?«
»Red nicht! Wo sind die Schwerter?«
Halan zog Anders die Decke bis zum Kinn hoch, als ob das den Jungen irgendwie beschützen konnte; dann blickte er Janek tadelnd an. »Ihr seid betrunken.«
Janek lachte, doch es war zu laut, nicht mehr sein leises, bitteres Lachen von früher; es paßte nicht zu ihm. »Euer Freund Damiander ist der beste Reisegefährte, besser als ihr jedenfalls, wenn’s darauf ankommt.« Er stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab und kniff die Augen zusammen, als er sich suchend umsah. Seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. »Ich brauch eure Schwerter.«
Halan rutschte vor, bis er noch gerade so eben auf der Bettkante saß, so verkrampft, daß er beinahe nicht mehr atmen konnte. In keiner Gesellschaft fühlte er sich unwohler als in der von Betrunkenen. »Ich wüßte nicht«, sagte er spitz, »was Ihr mitten in der Nacht mit unseren Schwertern anfangen solltet.«
»Euch die Köpfe abschlagen, wenn du weiterfragst.« Janek atmete durch und straffte sich. »Ich hab da unten jemanden, der kauft sie mir ab. Ich brauche Geld.«
»Wenn Ihr Eure Zeche nicht bezahlen könnt«, erwiderte Halan eisig, »solltet Ihr Euer eigenes Schwert verkaufen oder weniger trinken.«
Janek stürzte auf ihn zu und wäre beinahe hingefallen. Halan bemerkte, daß er seinen Gehstock nicht dabei hatte. »Halt den Mund - noch einmal sag ich das nicht! Wer bezahlt denn dieses Zimmer? Wer hat dem Heiler Geld gegeben? Also gib mir die Schwerter, oder ich verkaufe eure Pferde. Wo die sind, weiß ich wenigstens.«
»Bitte, schreit nicht so«, flüsterte Halan. »Er schläft.«
Wieder lachte Janek schallend und setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Das ganze Zimmer roch nach Wein. »Keine Angst, ich werde schon auf ihn aufpassen, während du die Schwerter holst.« Etwas ruhiger fügte er hinzu: »Zur Zeit zahlen sie hier einen guten Preis für Schwerter. Der König rüstet zum Krieg. Mit dem Geld für die Schwerter kommt ihr bis Tayellin und zurück - wenn ihr endlich lernt, damit umzugehen.«
Halan rührte sich nicht. Er wollte Anders vor Janek beschützen können - oder erhoffte er sich von Anders Schutz vor dem Betrunkenen? Vielleicht von beidem etwas… »Die Schwerter sind im Gepäck«, sagte er vage. »Ihr könnt sie haben.« In Wirklichkeit war er mehr als froh, die Waffen endlich los zu sein. Halan konnte lediglich nicht damit umgehen, aber in Anders’ Händen konnte ein Schwert allzu schnell den Tod für jemanden bedeuten.
»Ich hätte sie euch früher oder später sowieso weggenommen«, lachte Jurik. »Das sind Waffen. Nichts für euch Kinder. Und jetzt hol sie endlich!«
Halan gehorchte nicht. Er hatte sich Janek einmal zu oft untergeordnet. »Verkauft die Schwerter von mir aus. Vertrinkt das Geld, wenn Ihr es für nötig haltet. Aber nehmen müßt Ihr sie schon selbst, die Taschen sind dort in der Ecke, und wenn Ihr das nicht mehr könnt, tut Ihr mir leid, aber das habt Ihr Euch selbst zuzuschreiben. Aber mit Schwertern oder ohne, Ihr steht sofort auf und verlaßt dieses Zimmer!«
»Ah!« rief Janek höhnisch. »So singt das Vögelchen nun also! Hast Angst, ich tu deinem Kleinen was, wenn du aufstehst!«
Halans Blut gefror. »Hinaus!« sagte er. »Sofort!«
Janek lachte, und mit Seelenruhe beugte er sich über Anders, packte ihn bei den Schultern und begann ihn zu schütteln. »Aber der wacht so schnell nicht auf«, sagte er. »Hat den ganzen Nachmittag geschlafen, hat den Heiler verschlafen, würde mich nicht wundern, wenn er überhaupt nicht mehr -«
»Laßt ihn los!« zischte Halan. »Und verschwindet!« Er hätte Janek am liebsten von Anders weggezerrt, doch er wußte, daß er das nicht konnte. Aber er stand auf, ging zu dem Bündel, in dem die Schwerter verschnürt waren, und löste es. Das eine Schwert trat er quer über den Boden, daß es zu Janeks Füßen zu liegen kam. Das andere nahm er auf. »Ich habe noch nie ein Schwert geführt«, flüsterte er, »aber ich habe gelesen, was man damit macht. Und indem ich lese, lerne ich.« Er erhob das Schwert gegen Janek. »Hinaus!«
Vielleicht hätte er das Schwert tatsächlich benutzt. Vielleicht hätte er Janek durchbohrt, wütend genug war er dafür allemal - wenn nicht in diesem Moment Anders aufgewacht wäre.
»Halan«, murmelte er. »Hilf mir.« Seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Halan ließ das Schwert sinken, doch er konnte nicht Janek zuvorkommen.
»Oh, er wird dir schon helfen.« Die Worte kamen leise und freundlich, wenn auch undeutlich. »Wir werden dir alle helfen, und glaub mir, du wirst auch schnell lernen, damit zu leben, auch wenn es dir am Anfang sicher nicht leicht fallen wird.«
Anders blickte ihn aus großen dunklen Augen reglos an. Seine Lippen waren zusammengekniffen, als wolle er Worte zurückhalten, die nur Halan galten.
»Laßt ihn in Frieden«, sagte Halan und warf das Schwert zu dem anderen.
»Ich tu ihm schon nichts«, murrte Janek. »Will ihn nur schonend darauf vorbereiten…« Er schob die Decke zurück, so daß Anders seine Arme sehen konnte, die beide bis zum Ellbogen verbunden waren. Der Heiler hatte zwar geschimpft und geflucht, aber nicht an den Binden gespart. Halan hoffte, daß auch darunter alles in Ordnung war, aber zumindest sahen die Hände jetzt nicht mehr so schlimm aus.
»Du hast ‘ne Blutvergiftung bekommen«, erklärte Janek schonungslos und fuhr fort, bevor Halan wußte, worauf er aus war: »Wir waren gezwungen, dir die linke Hand abzuschlagen. Du wärst uns sonst weggestorben.«
Halan konnte ihn nur fassungslos anstarren, doch Anders lächelte.
»Ich weiß, daß du lügst«, sagte er leise. »Ich kann es doch fühlen.«
»Juckt es? Tut es weh? Alle Männer, die im Kampf ein Bein oder einen Arm verloren haben, können es noch lange danach spüren. Manche verlieren dabei den Verstand.« Janek lachte leise.
Anders schüttelte den Kopf. »Du versuchst, mich auf billige Weise zu verhöhnen. Du hast getrunken, sonst kämst du nicht auf die Idee. Aber wenn es wahr wäre, hättest du nicht ein solches Vergnügen daran. Dafür kenne ich dich zu gut.« Anders’ Stimme blieb schwach und kraftlos, doch das Funkeln in seinen Augen schien erstmals an diesem Tag nicht vom Fieber zu kommen. »Es tut mir leid, aber du bist hier bis auf weiteres der einzige Krüppel.« Die nächsten Worte murmelte er auf Elomond, und sie jagten Halan einen Schauer über den Rücken. »Wenn ich sie mir nicht selbst abschlage.«
Janek zuckte zurück, als habe Anders ihm ins Gesicht geschlagen, und stand auf. »Das wird dir noch leid tun«, zischte er, als er sich bückte und die Schwerter aufhob. »Das wird euch beiden noch leid tun.« Er humpelte zur Tür.
Anders blickte ihm beunruhigt nach. »Halan - was will Janek mit unseren Schwertern?«
»Er wird sie vertrinken«, erwiderte Halan erstaunlich gleichmütig - eben war er noch mit einem Schwert auf den Mann losgegangen… »Wir brauchen sie nicht. Nicht wirklich. Mach dir keine Sorgen. Schlaf weiter. Morgen wird er sich entschuldigen.«
Anders schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr schlafen. Er haßt mich.«
»Nein, das mußt du verstehen!« Halan fragte sich, ob Anders vielleicht im Schlaf doch etwas gehört hatte von dem abendlichen Gespräch mit Janek. »Er ist wütend und hat zuviel getrunken. Aber er haßt dich nicht.« Es war Halan, den Janek haßte…
»Ich meine ihn doch überhaupt nicht! Es ist mir völlig egal, was Janek denkt. Er kann mir nichts tun. Aber Eomander…«
»Wer ist Eomander?« fragte Halan. Dann mußte er lächeln. »Du hast wieder schlecht geträumt, Anders.«
Doch die Worte, die Anders eigentlich beruhigen sollten, waren es, die sein Gesicht in nackte Furcht hüllten. »Er ist der Engel der Träume«, flüsterte Anders, und dann brach es aus ihm heraus: »Sie sind wahre Elomaran, beide, er und Damiander. Aber niemand weiß von ihnen, weil Korisander sie verstoßen und verleugnet hat, und darum hassen sie uns jetzt. Sie sind wirklich, Halan…«
Halan drückte den Jungen an sich, strich ihm über die Haare, die feucht waren vom Fieberschweiß, über die heiße Stirn. »Du hast geträumt, Anders«, sagte er noch einmal. »Es sind nur Träume. Du mußt lernen, sie zu vergessen, so wie ich.«
Zitternd preßte Alexander sein Gesicht gegen Halans Schulter. »So muß Korisander geredet haben, so wie du.« Die Worte wurden fast vom Stoff von Halans Gewand verschluckt, waren mehr zu fühlen denn zu erraten. »Darum hassen sie mich jetzt, obwohl sie eigentlich dich hassen müßten - ich glaube wenigstens an meine Träume.«
Und darum hat Korisander dir die Krone fortgenommen. Halan sagte es nicht, aber er dachte es. So wenig von dem, was Anders tat, wie Anders war, hatte etwas mit der Weisheit zu tun, für welche die Krone stand. »Sie sind nicht wirklich«, sagte er. »Sie jagen dir nur Angst ein.«
Anders schüttelte den Kopf, ohne Halan loszulassen. »Damiander ist -« Plötzlich riß er sich los. »Ich kann es beweisen!« keuchte er. »Ich habe geträumt -« Er brach ab und fing noch einmal von vorn an. »In der Nacht, als Koris starb, ist mir im Traum ein Engel erschienen. Es war Korisander.« Seine Stimme war abwesend, schien von weit her zu kommen, und von einem anderen. »Er hieß mich aus einem Kelch trinken, und diesen Kelch habe ich später wiedergesehen - in Damianders Händen. Du weißt, welchen Kelch ich meine, den Kelch. Ich habe ihn nicht sofort wiedererkannt, aber gerade war Damiander in meinem Traum, und der Kelch… und er hatte Flügel…«
»Man sieht soviel in Träumen«, sagte Halan leise. »Das muß nichts heißen.« Aber etwas in ihm wußte, daß Anders Recht hatte. Damiander sprach Elomond… Halan schob Anders in die Decken zurück. »Du kannst ruhig schlafen, Anders. Ich bin bei dir.«
Anders kroch zur Wand. »Legst du dich zu mir?«
Halan zögerte. Die Tür ließ sich nicht verriegeln, und das hieß - jeder konnte hereinkommen… Dann lächelte er. »Ich bin bei dir«, sagte er. Und legte sich zu ihm.

Als es Morgen wurde, war Halan voller Träume. Immer wieder kam Janek in die Kammer gestürzt, um Rache an ihnen zu nehmen - immer wieder überraschte er die beiden Engelsgeborenen in einem Bett und überschüttete sie mit seinem Hohn. Doch nichts davon geschah wirklich. Alles, was Halan immer wieder aus dem Schlaf riß, waren die Tritte und Stöße, die Anders ihm versetzte. Halan kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um die Schatten der Nacht zu vertreiben. Dann weckte er vorsichtig Anders.
»Glaubst du, du kannst wieder aufstehen? Kannst du reiten? Wir müssen weiter, und in Tayellin finden wir bestimmt noch bessere Heiler.«
Anders setzte sich auf. Das Fieber schien über Nacht gesunken zu sein, und auch wenn er immer noch weit davon entfernt war, gesund auszusehen - dafür hatte er am Vortag viel zuviel Blut verloren - ging es ihm doch schon wieder deutlich besser. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich wollte euch nicht aufhalten… Natürlich reiten wir heute weiter. Und ich reite selbst - und wenn ich die Zügel nicht halten kann, muß ich eben beweisen, daß es auch ohne geht.« Er lächelte grimmig. »Jurik wird sich noch wundern.«
Halan starrte ihn an. »Du meinst Janek!« Was hatte Anders mitbekommen? Was auch immer - es war zuviel. Aber früher oder später mußte er es ohnehin erfahren.
Anders nickte. »Das hast du gut gemacht. Ich bin stolz auf dich. Janek weniger, vermute ich. Ihr solltet euch beieinander entschuldigen, alle beide. Immerhin muß ich sonst darunter leiden - und ich habe keine Lust mehr zu leiden, kein Bißchen!«
Halan widersprach ihm nicht. Doch Janek war fort.
Von dem Mann war nichts zu sehen, als sie die Treppe zur Wirtsstube hinunterstiegen, in der sie sich in einem von Halans Träumen geprügelt hatten. Aber das verwunderte Halan nicht.
»Er war sehr betrunken gestern Nacht«, meinte er. »Wahrscheinlich wird er schlafen, bis es Mittag ist, wenn wir ihn nicht wecken.« Es gab nichts, was er lieber getan hätte, als sofort und ohne Janek aufzubrechen, aber er mußte Anders’ Entscheidung akzeptieren, und er mußte Janek die Möglichkeit geben, sich für sein unmögliches Verhalten zu entschuldigen - aber vor allem, auch wenn er das niemals gegenüber Anders zugeben durfte, wollte er wissen, was aus dem Geld für die Schwerter geworden war.
Da kam auch schon die Wirtin, um ihnen voller Überschwang einen guten Morgen zu wünschen. Halan machte einen Schritt rückwärts; Anders blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Frau entgeistert an - aber die schien das nicht zu kümmern. »Oh, junger Herr, Ihr seid wieder auf den Beinen! Das ging aber schnell! Na, war das eine Aufregung, als man Euch gestern hereingetragen hat! Und Ihr wollt heute schon weiterreisen? Na, wenn das nicht etwas früh ist! Wo soll es denn hingehen?« Einen Moment lang sah sie beinahe aus, als wolle sie Anders mit ihren riesigen Händen an sich drücken. Als weder Halan noch Anders Anstalten machten, auf sie einzugehen und ihre Fragen zu beantworten, fuhr sie fort: »Aber nun setzt Euch doch erst einmal, und gleich bekommt Ihr etwas warme Milch, die Euch stärken wird… So einen weiten Weg habt Ihr noch vor Euch, nicht wahr?«
Anders schob sich etwas näher an Halan heran. »Achte nicht auf sie«, zischte er. »Gehen wir. Ich sag es dir gleich.«
Halan nickte unauffällig. Hier war etwas gewaltig im Argen…
Sie machten einen Schritt zur Seite, und wieder stand die Wirtin direkt vor ihnen. »Nun setzt Euch doch erst mal! Ihr seid noch ganz blaß!«
Halan sog die Luft ein. »Gute Frau, wir haben Euch für die Übernachtung bezahlt, und werden ein Frühstück auch sicher zu schätzen wissen - aber wir sind müde und nicht gesprächig, und wir müssen nach unseren Pferden sehen.«
Dann nahm er Anders beim Arm und führte ihn in den Stall. Erst dort brach es aus ihm heraus: »Janek! Bei allem was Recht ist - das geht zu weit! Was glaubst du, was er der Wirtin heute Nacht alles erzählt hat?«
»Wie kommst du darauf?« fragte Anders und zwinkerte.
»Gestern war diese Person abweisend und nur an unserem Geld interessiert - daß du Hilfe brauchtest, war ihr völlig gleichgültig. Aber plötzlich verschlingt sie sich förmlich vor Sorge…«
Anders schüttelte den Kopf. »Keine Sorgen«, sagte er leise. Mit dem verbundenen rechten Arm strich er vorsichtig über Farrells Kuppe, dann legte er sein Gesicht gegen den Hals des Pferdes. Kurzes schwarzes Haar klebte an seiner Haut, als er Halan wieder anblickte. Es sah drollig aus, doch Anders’ Gesicht war zu traurig, als daß Halan auch nur gelächelt hätte. »Gier«, sagte er. »Gestern habe ich nicht viel von dieser Frau gesehen oder gefühlt, aber heute genügt mir. Sie sieht uns, und in ihrem Herz klimpern die Münzen so laut, daß ich es hören kann. Mag sein, daß Janek ihr in der Nacht sein Leben erzählt hat - aber wenn er ihr kein Geld dafür gegeben hat, wird sie ihm nur schwerlich zugehört haben.«
Halan nickte, langsam, während er versuchte, einen unliebsamen Gedanken zu widerlegen. »Du meinst - jemand hat sie bezahlt, damit sie uns heute früh aushorcht?« Warum fragte er das eigentlich noch? Sie wußten es doch beide.
Anders nickte, und plötzlich stutzte er, weiteten sich seine Augen. Halan folgte seinem Blick. Vier Pferde waren in den Stallungen abgestellt - ihre beiden, und ein Brauner, der schon am Vortag dagestanden hatte, und ein Schimmel - aber die Box, in die Janek sein Pferd geführt hatte, stand leer.
Er kniff die Lippen zusammen. »Also ist er fort«, sagte er. »Wahrscheinlich die beste Lösung…« Fort mit dem Geld, dachte er und unterdrückte es schnell, bevor Anders die Sorgen fühlen konnte.
»Das meine ich nicht«, erwiderte Anders unwirsch. »Aber sieh dir dieses Pferd an! Eine Pracht ist der Knabe! Hast du so etwas schon einmal gesehen?« Er lief zu dem Schimmel hinüber.
Halan folgte ihm. Auch im Dämmerlicht des Stalles war zu erkennen, daß die Farbe dieses Pferdes ein perfektes Weiß war. Ein schönes Tier, so groß wie Farrell, mit schlankem Hals und zierlichen Fesseln. Halan, der keine Pferde mochte, mußte lächeln. Wenn Anders schon wieder auf so etwas achten konnte, bedeutete es, daß es ihm wirklich schon besser gehen mußte. Dann begriff er schlagartig, und er nickte. »Mehrmals. Drei oder vier Mal in meinem Leben. Zuletzt -«
»- an Lorimanders Hof in Lomar«, vollendete Anders. »Das ist doch ein interessantes Zusammentreffen, nicht wahr?«
»Jemand folgt uns«, sagte Halan leise und bedächtig. »Jemand vom Hof.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Aber das kann eigentlich nicht sein! Er hat die Wirtin bezahlt, damit sie herausbringt, wo wir hinwollen - aber die Berater haben mich doch selbst zu Tolimander geschickt. Und sie wissen, was ich dort erfahren will…« Plötzlich taumelte er und fiel gegen einen hölzernen Pfosten; Halan sah es nicht schnell genug, um ihn aufzufangen.
»Anders! Geht es dir gut?«
Anders verdrehte die Augen, während er sich an der Wand aufrichtete. »Mir ist schwindelig… klappen gleich die Beine weg… ich habe Durst.« Erst jetzt fiel Halan ein, daß Anders völlig ausgedörrt sein mußte; sie hatten ihm zwar zwischendurch Wasser eingeflößt und den Trank des Heilers, aber das konnte kaum ausreichen…
Doch Anders straffte sich. »Starr mich nicht so an! Gib mir deinen Arm, und bring mich in die Gaststube zurück. Mir wurde warme Milch angeboten, und dafür nehme ich sogar die Wirtin in Kauf.«
Halan beeilte sich, ihm endlich zur Hilfe zu kommen. »Aber erzähl ihr nichts«, flüsterte er, während er den Jungen zur Tür schob. »Und wenn du es schaffst, halt die Augen offen, ob du irgendwelche Loringarim entdecken kannst.«
Anders gluckste, drehte sich zu ihm um und küßte ihn blitzschnell ins Gesicht. »Dummkopf!« sagte er. »Wir sind in Loringaril. Es wimmelt hier nur so von Loringarim!« Doch er hatte ihn auch so verstanden.
Die Wirtin strahlte über das ganze breite Gesicht, als sie zurückkamen, doch Halan und Anders ignorierten ihre Fragen, so gut es ging, und antworteten auf keine. Sie setzten sich auf eine Bank, die möglichst abgelegen in einer Ecke im Schatten lag - es mußte nicht jeder direkt sehen, daß Anders mit den Verbänden noch nicht einmal seine Schale halten konnte und halb gefüttert werden mußte. Außerdem hatten sie von dort einen guten Blick über die Gaststube, aber es gab niemanden, zu dem das weiße Pferd gepaßt hätte.
Anders war unruhig - daß er mit den Händen nichts tun konnte, ließ seine Beine zappeln; er rutschte und wippte hin und her, daß Halan ihn am liebsten zurechtgewiesen hätte. Aber plötzlich hielt er inne, blickte Halan geheimnisvoll an und rutschte dann langsam unter den Tisch.
Alarmiert schossen Halans Blicke durch den Raum - zur Treppe, zum Tresen, zur Tür, zu den anderen Tischen - wen hatte Anders gesehen, vor dem er sich verstecken wollte? - als der schon wieder auftauchte.
»Du mußt mir helfen, ich kann ihn nicht aufheben!«
»Was?« fragte Halan irritiert.
»Unter dem Tisch - da liegt Janeks Stock!«
Ein böses Lächeln schlich in Halans Gesicht. »So? Und wo liegt Janek?«
»Er ist fort«, erwiderte Anders. »Verhöhn ihn nicht noch weiter! Du bist doch schuld, daß er gegangen ist!«
Halan schüttelte den Kopf - er würde sich nicht mit Anders streiten, noch dazu, wenn der Junge gestern im Fieber alle Dinge falsch verstanden hatte - was wirklich vorgefallen war, konnte Halan ihm unterwegs immer noch erklären. Hier hatten nicht nur die Wände Ohren… Aber Halan konnte doch nicht vor allen Leuten unter den Tisch kriechen!
Anders mußte seine Gedanken erraten haben, denn er fegte mit dem Schwung seines linken Armes seinen Löffel zu Boden. »Heb auf!« befahl er mit schneidender Stimme, und Halan gehorchte.
Halb unter der Bank lag ein Stock, und der konnte eigentlich nur Janeks sein. Halan hob ihn auf, aber er hielt ihn unter dem Tisch, so daß niemand von außen es sehen konnte. Den Löffel legte er wieder auf die Tischplatte.
Er hatte sich Janeks Gehstock niemals genauer angesehen - wie auch, wenn Janek ihn immer bei sich trug? - aber nun verstand er, daß dies nicht irgendein beliebiges Stück Holz war. Der Griff war geschnitzt in der Form eines springenden Fuchses, dunkel und glattpoliert vom langjährigen Gebrauch - das war kein Stock, den man einfach so zurückließ, um sich einen neuen zu suchen…
»Janek ist noch in der Nacht aufgebrochen«, sagte Halan leise.
»Woher willst du das wissen?« fragte Anders schnippisch. »Hat da noch ein Brief von ihm gelegen?«
Halan lächelte. Anders war wieder so, wie er sein sollte - regte sich über Kleinigkeiten auf… »Kannst du dir vorstellen, daß Janek seinen Gehstock vergessen würde? Bestimmt nicht. Aber so betrunken, wie er in der Nacht war - und wütend, weil er auf diesen Stock angewiesen ist, und weil du ihn einen Krüppel genannt hast -«
»Bewunderungswürdig, wie gut du dich plötzlich mit den Gefühlen anderer Leute auskennst«, unterbrach ihn Anders, und auch wenn sein Tonfall neckisch klang, steckte doch schon wieder Anklage dahinter. Halan beschloß, es ebensosehr zu ignorieren wie zuvor die Wirtin.
Sie verloren keine unnötigen Worte mehr, bis sie aufbrachen, und es sah so aus, als sei die Gefahr eines Streites schnell wieder verschwunden - bis sie dann aneinandergerieten, als Halan die Pferde bepackte.
»Ich werde den Stock mitnehmen«, erklärte Anders.
Halan schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht! Er gehört Janek, und der wird bestimmt hierher zurückkehren, wenn er wieder nüchtern ist und merkt, daß er ihn hier vergessen hat.«
Anders hielt den Stock unter den Arm geklemmt und sah nicht so aus, als wolle er ihn jemals wieder loslassen. »Wir treffen ihn nachher wieder, darauf kannst du dich verlassen, und dann kann ich ihm das gute Stück persönlich zurückgeben.«
»Sei nicht kindisch, Anders!« sagte Halan. Er wußte, daß er das zu oft sagte, aber es war ein Satz, auf den Anders meistens hörte. »Du weißt nicht einmal, in welcher Richtung er geritten ist.« Und etwas sagte ihm, daß Janek beileibe genug davon hatte, ihnen zu folgen.
»Dann behalte ich den Stock als Andenken.« Jetzt wurde Anders wirklich kindisch. »Janek hat mir mein Schwert weggenommen - da ist es nur gerecht, wenn ich mich statt dessen hiermit verteidige. Was denkt er sich eigentlich - wir werden verfolgt, und er läßt uns einfach im Stich? Wie will er mich da beschützen?«
Halan schüttelte den Kopf. Es war sicher noch das Fieber. »Behalt den Stock, wenn es dich glücklich macht - aber hör bitte damit auf, so zu tun, als wärst du ein kleiner Junge. Du bist König.«
Anders biß trotzig die Lippen zusammen.
»Bitte«, sagte Halan ruhig. »Ich liebe dich.«
Dann konnten sie endlich aufbrechen.

Sie ritten schneller, als ihnen vermutlich gut tat - Halan wollte dem Verfolger kein allzu leichtes Spiel bieten, und Anders wollte beweisen, wie gut er reiten konnte, auch ohne seine Hände zu gebrauchen - aber auch wenn es gut war, daß sie endlich wieder vorankamen, fürchtete Halan doch jeden Moment, daß einer von ihnen stürzen könnte. Jetzt machte sich bemerkbar, daß er in dieser Nacht zu wenig Schlaf gefunden hatte - er konnte sich auf den Ritt nicht so konzentrieren, wie es nötig gewesen wäre, und Anders tat zwar sein Bestes, konnte aber niemanden darüber hinwegtäuschen, daß er viel schwächer war als gewöhnlich. Er sprach nur über seine Bandagen, niemals aber über seine Hände - Halan fragte sich, ob sie immer noch schmerzten, aber Anders fragte er nicht.
Doch plötzlich begann Anders aufgeregt zu winken. »Schau - da ist er! Ich sagte doch, wir holen ihn bald ein!«
Halan blinzelte. Obwohl es bald Mittag war und die Sonne ihnen im Rücken stand, dauerte es einen Moment zu lang, bis er Janek erkannte, der am Wegrand unter einem Baum saß, das kranke Bein ausgestreckt, und ihnen entgegenblickte, das Gesicht mit der Hand so geschützt, daß es nur zu erahnen war - aber es war Janek, kein Zweifel, den Mantel mit dem Fuchskragen gab es sicher kein zweites Mal, nicht mit so vielen Flicken…
Halan und Anders fielen in Schritt. Janek rappelte sich auf und griff im hohen Gras neben sich nach einem Stock - es war ein gewöhnlicher Ast, an den meisten Stellen noch mit Borke bedeckt und unregelmäßig gekrümmt - um sich darauf zu stützen. Die Sonne zeigte mit unbarmherziger Härte, daß die Nacht an Janek nicht vorübergegangen war, ohne Spuren zu hinterlassen - er war bleich, übernächtigt und unrasiert, und seine Kleider, die zwar alt waren und abgenutzt, aber doch sonst immer ordentlich, verrieten nun, daß er in ihnen geschlafen hatte, und zwar auf dem nackten Boden im Gras, wahrscheinlich sogar unter diesem Baum. Halan verzog keine Miene - er würde Janek nicht grüßen, bevor er wußte, was von dieser Begegnung zu halten war.
Janek lächelte, wenn auch reichlich verzerrt. Anstelle eines Grußes sagte er: »Wenigstens habt ihr heute nicht so getrödelt.«
»Hast du auf uns gewartet?« fragte Anders.
»Wie sieht es denn für dich aus?« fragte Janek zurück.
Anders gab etwas von sich, das wie ein leises Knurren klang, und blickte von Janek zu Halan und zurück. »Ehe ihr jetzt wieder mit euren Spielchen beginnt«, sagte er leise, »werdet ihr euch beieinander entschuldigen. Sofort!«
Janek blinzelte spöttisch zu ihm hinauf. »Wie Majestät wünschen…«
»Nein!« fuhr Anders ihn an. »So nicht! Nicht mit mir! Ich bin nicht bereit, dieses Verhalten von euch - wie ihr miteinander umgeht - noch länger zu dulden. Ich lasse euch beide hier stehen und reite alleine weiter, wenn ihr nicht sofort -«
Aber da unterbrach ihn Janek auch schon. Seine Stimme war so müde wie seine Augen. »Laß gut sein, Anders. Es tut mir leid. Ich habe mich… unangemessen verhalten.«
»Ach ja?« fragte Halan kalt. »Und welches Verhalten wäre Eurer Ansicht nach angemessen gewesen?« Er würde keine Entschuldigung akzeptieren, solange sie nicht auch an ihn gerichtet war.
Anders’ Blick gefror. »Das galt auch für dich, Harold.« Wie immer, wenn er diesen Namen aussprach, verzerrte er ihn höhnisch. »Du entschuldigst dich jetzt bei ihm. Und dann werdet ihr euch beide bei mir entschuldigen für das, was ihr über meinen Bruder gesagt habt.« Er zitterte vor Wut wie schon lange nicht mehr.
Halan wollte ihn beruhigen, wollte glauben, daß das Fieber zurückgekehrt war - aber er hätte lügen müssen, denn es war kein Fieber in Anders’ Augen. Aber Janek - ausgerechnet Janek - befreite ihn aus der Lage, reagieren zu müssen.
»Nein«, sagte Janek. »Das kannst du nicht von mir verlangen, denn was ich sagte, war nicht für deine Ohren bestimmt, es geht nur mich etwas an, und deinen Bruder, und vielleicht auch Halan - es tut mir leid, wenn du es mitanhören mußtest - aber ich entschuldige mich nicht. Und auch Halan braucht nicht um deine Vergebung zu betteln, er ist dir keine Rechenschaft schuldig für einen Streit, den er mit mir hatte.« Er humpelte näher an Halan heran. Anders sah ihm mit eingefrorener Miene zu - er sah beinahe so aus wie früher, nur die Schminke fehlte - und hielt den geschnitzten Stock unter dem Arm, so daß Janek ihn sehen mußte, machte aber keine Anstalten, ihn zurückzugeben.
»Halan«, sagte Janek leise, »ich werde mich bei dir entschuldigen - aber da, wo er uns nicht zuhören kann, also steig vom Pferd und folge mir, oder verzichte darauf.«
Halan schüttelte den Kopf. »Ich kann Anders jetzt nicht allein lassen.« Schnell fügte er hinzu: »Aber ich akzeptiere Eure Entschuldigung jetzt schon, Janek.«
»Jurik«, sagte er. »Mein Name ist Jurik. Wir heißen, wie wir heißen, auch wenn wir uns manchmal wünschen, es vergessen zu können.«
»Seid ihr bald fertig?« rief Anders zu ihnen hinüber. »Und kommst du mit uns, Janek, oder hältst du uns hier nur auf?«
Er hob den Gehstock wie eine Waffe. Halan mußte plötzlich wieder daran denken, daß sie womöglich verfolgt wurden. »Wir sollten wirklich weiterreiten!« sagte er, vielleicht eine Spur zu hastig. Wenn sie erst einmal wieder unterwegs waren, würde Anders beileibe genug mit Reiten zu tun haben. »Wo ist Euer Pferd, Jurik? Wir können später weiterreden. Und Ihr werdet doch kaum hier auf der Landstraße übernachten wollen?«
Jurik biß die Zähne zusammen, und plötzlich verzog sich sein übernächtigtes Gesicht zu einem Schmunzeln, dann einem Grinsen.
Halan merkte, wie sich seine eigenen Mundwinkel zu kräuseln begannen. »Ich meine - nicht noch eine Nacht«, sagte er so ernst er konnte, dann nahm er schnell die Hand vor den Mund und tat, als müsse er husten.
Alexander, der nicht wie gewöhnlich mit den Fingern klopfen konnte, um seine Ungeduld anzuzeigen, schlug langsam die Kiefer aufeinander - ein unheimliches Geräusch. Aber sein Anblick - die Augenbrauen finster zusammengekniffen - brachte Halan erst recht zum Lachen. Jurik sah ihm kopfschüttelnd zu.
»Es hilft nichts«, meinte er dann. »Mir zumindest nicht, und darauf kommt es schließlich an - ich muß euch zwei wohl noch einige Zeit ertragen.«
»Bist du dir sicher?« fragte Anders bissig. »Können wir endlich weiterreiten?«
Und Halan fragte gleichzeitig: »Also habt Ihr Euch entschieden?«
Jurik nickte, schlagartig wieder ernst. »Meint ihr vielleicht, ich suche keine Gerechtigkeit?«

Gerechtigkeit. In großen Lettern prangte das Wort über dem Stadttor, in Stein gemeißelte Zeichen, die kaum ein Mensch lesen konnte und die doch so viel bedeuteten. Schon von weitem sprangen sie Halan ins Auge.
Das Tor bestand aus nichts als vier massiven achteckigen Säulen, die von einem Giebeldach gekrönt wurden, und es war der einzige Hinweis darauf, daß sie gerade in nichts geringeres ritten als die Hauptstadt von Landalon. Das Tor stand für sich alleine. Es gab keine Stadtmauer, und auch ein Torwächter war nirgends zu sehen. Man konnte einfach in die Stadt hineinreiten. Selbst die Grenze zwischen Koristan und Loringaril war besser bewacht. Zwischen Loringaril und Landalon dagegen gab es nur einen einzigen Grenzposten, und der Trug Lorimanders Farben.
»Sie laden ihre Feinde ja geradezu ein«, meinte Alexander und schnaubte verächtlich. »Wenn wir nun ihren König töten und das Buch stehlen wollten, oder die Stadt erobern - wer sollte uns daran hindern?«
Halan ließ Jurik auf diese Frage antworten - da er selbst nur wenig über Tayellin wußte, wollte er sich keine Blöße geben. Aber Jurik lachte nur. »Mein lieber Junge, schau dich um! Und dann sag mir - wer würde diese Stadt erobern wollen
Halan lächelte. Jetzt begriff er, warum der Hauptmann all seinen Fragen über Tayellin immer ausgewichen war - diese Stadt spottete jeder Beschreibung. Es war nicht nur keine schöne Stadt - Halan war sich nicht einmal sicher, ob Tayellin überhaupt eine Stadt war. Wie in den kleinen Dörfern und Weilern, die ihren Weg gesäumt hatten, lagen auch hier die Häuser nur links und rechts der Landstraße, es gab weder Ringstraßen, noch so etwas wie einen Stadtkern - aber dann wieder waren diese Häuser größer als alle, die Halan jemals gesehen hatte: Aus Ziegelsteinen erbaut, schwindelerregende fünf Stockwerke hoch und jedes von ihnen gut und gerne hundert Schritt lang - wie viele Menschen hinter den kleinen rechteckigen Fenstern leben mochten, wollte Halan lieber gar nicht erst wissen. Er fühlte sich beobachtet…
Die Straße war menschenverlassen, nicht einmal Hunde oder Katzen liefen herum, oder Kinder, oder Bettler. Nur diese merkwürdigen schweigenden Häuser, eines neben dem anderen, so weit das Auge reichte.
Wortlos ritten sie weiter, im Schrittempo, und hielten Ausschau nach einem Gebäude, das sich von den anderen unterschied - ein Wirtshaus, zum Beispiel, oder die Poststation, oder der königliche Palast. Aber hier schien es nichts davon zu geben.
Dann, endlich, eine Abwechslung: Die Straße kreuzte eine zweite. Doch auch in dieser zogen sich nur links und rechts die riesenhaften Häuser gen Himmel, und auch hier fehlte jeder Hinweis aus menschliches Leben. Halan und Anders blickten sich kurz an und schüttelten die Köpfe. Eine merkwürdigere Stadt als diese gab es wohl auf der ganzen Welt nicht.
Sie ritten geradeaus weiter - nicht, weil sie sich sonst verwirrt hätten, aber weil sie keinen Grund zum Abbiegen sahen. Vielleicht war dies nur die Vorstadt, vielleicht leerstehende Häuser, auf Vorrat gebaut, um ein plötzliches Anschwellen der Bevölkerung auffangen zu können, vielleicht kam das eigentliche Tayellin erst noch - vor ihnen lag ein weiteres Tor, vier Säulen unter einem flachen Giebel, ein genauer Zwilling des ersten. Dahinter ging die Straße weiter - aber links und rechts von ihr lagen nur Wiesen und Felder. Auch dieses Tor grüßte seine Besucher mit dem Wort Gerechtigkeit. Für den, der die Stadt verließ, gab es keine Botschaft.
»Eine Frage, Jurik«, sagte Halan, sehr vorsichtig. Noch herrschte zwischen dem Hauptmann und ihm vielleicht Achtung, aber keine Freundschaft, und Halan wußte, daß eine einzige Unwissenheit genügte, um in Juriks Ansehen wieder zu sinken. »Aber wo liegt Tayellin?«
Jurik lachte schallend, aber nicht so, wie man über ein dummes Kind lachte - es war etwas Anerkennendes dabei. »Ich wunderte mich schon, wie lange du für diese Frage brauchen würdest. Die entscheidenden Gebäude liegen direkt an der Kreuzung - aber sie fallen nicht auf, wenn man nicht genau hinsieht. Und die anderen Gebäude sind auch nicht alle so gleich, wie sie von außen aussehen. Teile der Richterakademie sind zum Beispiel darin untergebracht.«
»Das hättet Ihr uns schon früher mitteilen können«, entgegnete Halan zornig, »anstatt uns jetzt zu verhöhnen.«
»Oh, aber ich verhöhne euch nicht. Als ich zum ersten Mal hier war - Jahre ist das inzwischen leer - hat mich Tayellin genau so an der Nase herumgeführt wie euch jetzt. Wenn ich also etwas gesagt hätte -«
Er machte eine Pause und blickte so lange spöttisch Anders an, bis der fauchte: »Was dann?«
»Dann wäre es nicht… gerecht.«
Über diesen Scherz lachten sie nicht. Lachen war nichts, das in eine Stadt wie Tayellin so recht passen wollte. Grimmig ritten sie zurück zur Kreuzung, ärgerlich auf Jurik, und Tayellin, und sich selbst. Die Häuser, welche die vier Eckpunkte der Kreuzung bildeten, unterschieden sich von den anderen; allerdings nur, wenn man darauf achtete. Sie waren in ihrer Grundfläche nicht länglich, sonder quadratisch, und zur Straße hin hatten sie breite Tore, wo bei den anderen nur schmale Türen waren. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar noch die Worte erkennen, die in die Türstürze eingemeißelt, grau und angewittert: Akademie, stand an einem Haus, und an den anderen Markthalle, Gildensaal, und Richter. Keines der Tore stand offen.
Halan saß ab. »Wenn Ihr einen Moment lang auf die Pferde achtgeben könntet, Jurik, während wir uns erkundigen?« Jurik nickte lächelnd. »Kommst du, Alexander?«
Anders glitt vom Pferd und streckte Halan seine Arme hin. »Nimm mir die Verbände ab… Bitte. Du hast versprochen, daß ich sie hier nicht mehr tragen muß.«
Halan hatte nichts in der Art versprochen. »Ich sagte, wir zeigen sie hier noch einem Heiler.«
»Aber sie haben hier keinen Heiler - nur Richter. Und ich kann nicht als König auftreten, wenn ich so aussehe! Ich will meine Handschuhe!« Er funkelte Halan wütend an.
Halan schüttelte den Kopf. Es half nichts, darauf hinzuweisen, daß sie die Handschuhe schon vor Tagen fortgeworfen hatten. »Du trägst die Verbände, bis dir ein Heiler erlaubt, sie abzunehmen. Ich will nicht noch einmal daran schuld sein, daß du zusammenbrichst. So kann ich wenigsten sicher sein, daß du niemanden verletzt. Und du siehst auch nicht besonders königlich aus, wenn du mich so anstarrst.«
»Hör besser auf ihn!« Halan haßte es, wenn Jurik sich einmischte, schon allein, weil Anders dem Hauptmann nahezu immer gehorchte. »Du willst doch nicht als König auftreten, sondern als verstoßener König. Sie haben dich vertrieben… sie haben dich verwundet… Noch heute bist du nicht wieder voll genesen. Du bist hier, weil du Hilfe brauchst - so glaubt es dir zumindest jeder.«
»Ihr seid abscheulich«, schnitt ihm Halan das Wort ab, während er ihm die Zügel in die Hand drückte. »Wenn wir es für nötig halten, irgend jemandes Mitleid zu erregen, werden wir auf Euch zurückgreifen. Komm jetzt, Anders.« Der beste Ort, um sich zu erkundigen, war sicherlich die Markthalle…
Innen gähnte die Leere. Lange, aber verlassene Tische zogen sich in weiten Reihen durch die hohe, kahle Halle, die ganz in Halbdunkel getaucht war. Fast hätte Halan begonnen zu glauben, daß Tayellin bereits seit Jahren verlassen war, doch dann fiel ihm ein Geruch von welkem Gemüse auf, der in der staubigen Luft lag - und eine Bewegung in der erntgegengesetzten Ecke.
Eine Frau in dunkelblauem Kittelkleid fegte mit einem großen Besen die Überreste des Markttages zusammen. Sie bemerkte Halan und Anders im gleichen Moment und nickte ihnen zu. Dann kam sie zu ihnen hinüber, den Besen immer noch in der Hand.
»Einen guten Tag wünsche ich euch, Reisende«, sagte sie und lächelte. Halan konnte sie nur anstarren - das einzige lebende Wesen in dieser toten Stadt… Aber es gelang ihm, sein Staunen hinter einer Erwiderung ihres Lächelns zu verbergen.
Auch Anders lächelte, beide Arme hinter dem Rücken verborgen. »Dank für den Gruß, gute Frau. Könnt Ihr uns weiterhelfen, oder uns zu jemandem bringen, der es kann?« Halan hatte ihn selten so höflich und bezaubernd erlebt, vor allem nicht einer Frau gegenüber, deren Hände grau und rissig waren und die ihr Haar unter dem grauen Kopftuch einer Arbeiterin verbarg.
Sein warmer Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht. Die Frau strahlte ihn an. »Ihr sucht Gerechtigkeit, Reisende?«
Anders lachte. »Natürlich tun wir das, aber im Moment suchen wir einen Gasthof, etwas zu essen, und Euren König.«
»Und einen Heiler«, fügte Halan schnell hinzu.
Jetzt war es an der Frau zu lachen. »Ihr seid Ausländer, Reisende, und nicht die ersten, die unseren König suchen - dabei müßte sich doch irgendwann herumgesprochen haben, daß es hier keinen König gibt.« Ihre Stimme war geduldig und frei von Hohn, sogar Respekt lag darin - und doch hätten ihre Worte Halan nicht mehr verspotten können. Unwissend - wann hatte jemals ein Mensch Halan unwissend nennen können? Was war es, das so hartnäckig versuchte, aus seiner Erinnerung, seinem Wissen zu entkommen?
»Wir suchen den Erben Eures Engels«, versuchte Anders gerade zu erklären, als es Halan endlich einfiel: Der richtige Titel.
»Wir suchen den Alondras«, sagte er. »Wir haben ein Anliegen an ihn.« Noch im selben Augenblick begriff er, wie dumm er wirklich war, wie dumm sie beide. Alondras - nicht König nannten die Landalai ihren Herrscher, sondern Richter. Und Richter stand an der Tür des Gebäudes, das der Markthalle gegenüber lag…
»So ist es besser«, sagte die Frau, als belehre sie ein ungezogenes Kind. »Wir mögen es nicht, wenn jemand den Alondras König nennt, und er mag es noch weniger. Aber sorgt euch nicht. Der Alondras wird euch empfangen.«
Halan runzelte die Stirn. Wer war diese Frau, die ihnen so selbstverständlich Audienzen versprechen konnte? »Woher wißt Ihr das?« fragte er. »Und wer seid Ihr?«
Sie verneigte sich nicht, als sie sich vorstellte, sondern blickte ihnen direkt ins Gesicht. »Ich bin Kilan, Reisende«, sagte sie, und Spott blitzte in ihren Augen, weil Halan und Anders sich selbst nicht vorgestellt hatten. »Was immer euch dieses Wissen nutzen mag. Der Alondras empfängt jeden, der ein Anliegen an ihn hat - aber ich werde euch zeigen, wo ihr euch anmelden müßt.«
Als sie die beiden auf die Straße zurückführte, blickte sie sich hektisch nach den Seiten um und bewegte dann ihren Besen so nachdrücklich über den Boden, als gelte es, die Steine unter dem Staub glatt zu scheuern. Ohnehin hatte Halan noch nie eine derart saubere Straße gesehen. Früher hätte es ihn nur gefreut; er verabscheute Schmutz und war gewöhnt an die blankpolierten Bodenfliesen im Schloß, aber nun wußte er, wie es außerhalb aussah, egal wo sie hinkamen, und er wunderte sich.
»Sehr ihr die Halle dort drüben?« fragte Kilan und wies mit einem Nicken über den Platz. »Dort wird man euch in die Listen eintragen und euch einen Ort zuweisen, an dem ihr…« Dann traf ihr Blick auf Jurik, und für einen Moment verstummten ihre Worte wie auch ihr Besen.
Halan konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. Jurik thronte auf seinem schäbigen alten Pferd und hielt die Zügel Farrells und des Grauen, als wären es bloße Packpferde. Die Sonne, welche Halan und Anders im grauen Schatten der Markthalle alleinstehen ließ, beleuchtete seine schlanke, entspannte Gestalt und gab seinem Haar die Farbe von Herbstlaub. Halan wäre nie auf die Idee gekommen, den mürrischen, spöttischen Jurik als schön zu bezeichnen, aber in dieser Stadt, in der auch ein König nur ein Richter war, verschwammen die Unterschiede sogar zwischen einem Krüppel und einem Engelsgeborenen. Halan wußte, daß Anders im Grunde seines Herzens auch Jurik begehrte, und jetzt verstand er auch ein wenig, warum.
Aber Anders blieb nicht stehen, Anders achtete nicht auf Jurik, und nicht auf die Frau, sondern lief direkt zum Tor des Richtergebäudes, wo er stehenblieb, sich umdrehte und Halan ungeduldig zuwinkte, bevor er sich daran machte, die großen messingbeschlagenen Türen mit der Schulter aufzudrücken.
Halan wandte sich ein letztes Mal Kilan zu. »Dank für Eure Hilfe«, sagte er. »Wir haben Euch schon zu lange von Eurer Arbeit abgehalten« - bei diesen Worten zuckte die Frau zusammen und begann wieder wie im Fieber zu fegen - »Aber vielleicht bedarf auch unser Freund noch Eures Rates.« Dann ließ er die beiden allein und folgte Anders, der zwischen den Türflügeln stand und vor Wut zitterte.
»Diese Frau!« fauchte der Junge auf Elomond. »Diese entsetzliche Frau!« Er schüttelte sich.
»Beruhige dich!« Halan legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte mit der anderen das Tor weiter auf, damit sie beide eintreten konnten. »Sie war unverschämt und anmaßend, aber auf eine gewisse Weise -«
»Sie ist abstoßend! Ich hasse sie!«
»Was?« fragte Halan alarmiert und suchte Zeichen des Fiebers in Anders’ Augen. »Geht es dir gut?«
Anders zischte durch die Zähne. »Erst zwingt sie mich, alle Gefühle zu unterdrücken, weil sie mich will - und kaum sieht sie Janek, will sie statt dessen ihn
Halan trat hinter ihn und legte beide Hände auf Anders’ Schultern, um sie vorsichtig zu massieren. »Was genau«, fragte er ruhig, »wirfst du ihr vor? Ich dachte, du willst nicht, daß Frauen… etwas von dir wollen.« Anders hatte einmal, es lag schon ein oder zwei Jahre zurück, ein Zimmermädchen halbtot geschlagen und niemals erklärt, warum - aber inzwischen hatte Halan begriffen, was es brauchte, um Anders so aus der Haut fahren zu lassen. Jetzt war nichts passiert, aber Anders’ Muskeln waren völlig verspannt… »Wenn du nicht mit den Gefühlen anderer Leute umgehen kannst, dann bitte, laß es sein, zumindest bist du wieder ganz gesund bist und wir das hier hinter uns haben.«
»Keine Vorwürfe«, flüsterte Anders. »Mach mir keine Vorwürfe. Kannst du atmen, ohne etwas zu riechen?«
Halan schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Atme durch den Mund.« Er schloß die Augen. Noch hatten sie mit niemandem gesprochen als dieser Frau. Noch konnten sie umkehren. Aber sie standen bereits im Vorraum des Richterhauses, waren weit gereist, um hierher zu kommen - Halan konnte schlecht erst jetzt zugeben, daß er gar nicht wollte, daß Anders König wurde. Anders war das Liebste, was Halan hatte - aber einen guten Herrscher würde er ganz sicher nicht abgeben, zumindest jetzt noch nicht. Wenn sie nur irgendwo ein Haus hätten, draußen auf dem Land, mit einer Bibliothek und niemandem, der sie zwang, Verantwortung zu tragen… Aber das sagte Halan nicht. Der Richter sollte darüber entscheiden. In Tolimanders Buch stand niemals etwas anderes geschrieben als die Wahrheit.
Drei Türen führten aus dem Vorzimmer: Zwei große doppelflüglige, die beide verschlossen waren, und eine schmale links davon, die einen Spalt weit offen stand. Halan und Anders traten, ohne weitere Worte zu wechseln, ein. Sie mußten vorsichtig sein. An Lorimanders Hof konnten sie Elomond wie eine Geheimsprache benutzen, doch sie mußten damit rechnen, daß der Alondras und seine Verwandten sie verstehen konnten - sie sollten es zumindest…
»Seid gegrüßt, Reisende«, sagte der Mann am Schreibpult, und lächelte.
»Wir wünschen den Alondras zu sprechen«, erwiderte Anders, und Halan bereitete sich im Geiste schon auf eine Diskussion wie in Lomar vor, als der Schreiber auch schon antwortete: »Selbstverständlich.«
Gemächlich tunkte er seine Feder in das Tintenfaß vor ihm. »Nennt mir nur eure Namen, dann werde ich euch auf die Liste setzen.«
Anders wuchs um mehrere Zoll, als er Antwort gab: »Alexander von Korisanders Blute.«
Keine Reaktion, nicht einmal ein Erröten, oder ein Brauenheben, als der Mann langsam auf eine Pergamentrolle schrieb: Alexander.
»Von Korisanders Blute«, wiederholte Anders.
Der Schreiber nickte verständnisvoll, und lächelte, und ließ die Feder ruhen.
»Von Korisanders Blute«, sagte Anders mit Nachdruck.
»Ja«, sagte der Schreiber. »Ich hörte es bereits. Und du?« Er blickte Halan erwartungsvoll an.
»Harold«, sagte Halan. »Von Korisanders Blute.« Mehr Kälte konnte er nicht in seine Stimme legen.
Die Augen des Schreibers verengten sich. »Wenn ihr hierherkommt«, sagte er leise, »und den Alondras aufsucht, dann erkennt ihr auch die Gerechtigkeit an. Und der Gerechtigkeit ist es egal, von welchem Blute ihr seid.«
Anders hielt die Arme reglos hinter dem Rücken, und nichts drückte seine Wut aus außer einem leichten Sträuben seiner Nackenhaare und daß er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Der Hohn in seiner Stimme erinnert an Jurik. »Ich verstehe«, sagte er gedehnt. »Also kann auch ein jeder Alondras werden? Tolimanders Blut bedeutet nichts ins diesem Land?«
Der Schreiber erblaßte. »Tolimander hat allen Menschen die Gerechtigkeit geschenkt«, sagte er fest. Seine Finger waren tintenfleckig. »Aber wir sind das einzige Volk, das ihn ehrt.«
»Ehrt?« fragte Anders weiter. »Wo sind dann seine Statuen? Wo, an welcher Wand, steht auch nur sein Name geschrieben?«
»Wir ehren sein Erbe!« erwiderte der Schreiber, plötzlich hitzig. »Akzeptiert es, oder ich streiche euch beide wieder aus der Liste!«
Halan sah, daß Anders bereit war, sich auf einen Streit einzulassen, in dessen Folge man sie des Landes verweisen konnte, und ging schnell dazwischen. »Laßt gut sein«, sagte er. »Wir werden lernen, uns Euren Sitten anzupassen, solange wir hier sind.« Wenn das Reisen mit Anders und Jurik eines war, dann eine Schulung. »Sagt uns lieber, wo wir und unser Begleiter unterkommen können, und wann der Alondras bereit sein wird, uns zu empfangen.«
»Ah«, sagte der Schreiber, und sein hölzernes Lächeln kehrte zurück. »Ich werde euch Wohnraum zuweisen. Willkommen in Tayellin.«

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